Simonelli

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Adam Savage

Es war warm und fast windstill. Das wurde am häufigsten genannt, wenn sich die Leute später erinnerten, wenn sie über den Tag sprachen, an dem der berühmte Anker der RMS Titanic an seinen Geburtsort in Netherton, England, zurückkehren sollte. Ein Freitagnachmittag, warm und ohne Wind.

Der Junge erkannte niemanden, während er versuchte, sich unbemerkt an den Erwachsenen vorbeizuschlängeln, die über die schmalen Gehsteige eilten. Hauptsächlich Leute aus den benachbarten Dörfern. Keiner von denen kannte seine Eltern. Die Märzluft war von einer Aufgeregtheit erfasst, die er sonst nur die wenigen Male erlebt hatte, als sein Vater ihn ins Stadion mitgenommen hatte. Die Stimmung, die von großen Menschenmengen ausging, löste etwas in ihm aus, von dem er nicht klar sagen konnte, ob es Furcht oder Vorfreude war. Manche der Leute trugen ihre

 

An der Ecke Halesowen kam die Menge zum Stehen. Die Straße war abgesperrt. Jemand trat dem Jungen auf den Fuß. Die Leute rochen schlecht. Immer wieder spielte die Kapelle kurz ihr Lied an und verstummte dann wieder. Sie waren noch dabei, Aufstellung zu nehmen, vielleicht bekamen sie Anweisungen von den Filmleuten. Das waren nur Proben, dachte der Junge und versuchte, zwischen den Leuten hindurchzugucken, zu sehen, wie weit er noch von den Absperrungen, hinter denen die Dreharbeiten stattfinden würden, entfernt war.

In der Schule hatten Zettel ausgehangen. Ein historischer Umzug, die Leute aus dem Dorf waren eingeladen. Es würden dort Aufnahmen für einen Film zum hundertjährigen Jubiläum des Titanic-Ankers stattfinden. Mit Erscheinen würde man sich einverstanden erklären, auch gefilmt zu werden.

 

Jedes Kind in Netherton kannte die Titanic-Geschichte. Sie hatten sie von ihren Vätern und Großvätern erzählt bekommen. Sogar in der Schule wurde es besprochen. Ein Stück

 

Kleinkinder auf den Schultern ihrer Väter. Es war untypisch warm. Windstill und sonnig. Der Junge schwitzte unter seiner Jacke. Waren die Tage sonst noch grau und von starken Böen begleitet, die sich über die Hügelketten der Midlands schoben und Regen brachten, klarte es an diesem Tag überraschend auf. Es war ein Geschenk. Die Filmemacher brachten Trubel und Abwechslung in die für die Parade geschmückten Straßen, und dafür wurden sie mit ausreichend Licht und perfekten Konditionen für ihre Dreharbeiten belohnt. Gefilmt wurde an gleich zwei Orten, so hatte es auf dem Zettel gestanden, den einige in der Menge um ihn herum in Manteltaschen bei sich trugen und immer wieder beim Warten herauskramten, um unsichere Blicke darauf zu werfen.

Der Anker sollte wie damals mit einem Pferdegespann zu seinem Ziel gebracht werden, und die zwanzig Shire-Pferde würden auf dem Stück gleich hinter der Tribüne Anlauf nehmen müssen, um die vier ansteigenden Meilen vom alten Marktplatz hinauf zum jetzigen Zentrum zu schaffen. Der Junge hatte sich über Schleichwege vom Elternhaus

 

Hinter den Absperrgittern löste sich das Gedränge auf. Die Tribünen standen kurz vor dem Dorfeingang am Ende der Landstraße. Von den obersten Plätzen konnte man weit über die Hügelketten blicken, bis hinüber nach Dudley.

Die Leute mussten warten. Die Väter bedienten sich an den Freibierständen, wo die Aushilfen, die die Produktionsfirma angeheuert hatte, nervös wurden, da die Biervorräte so rasant schwanden. Die allgemeine Aufgeregtheit vor den Absperrungen war einer bräsigen Langeweile gewichen. Noch konnte man die breite Hauptstraße überqueren und zwischen den Absperrgittern die Fahrbahn kreuzen. Der Wagen verspätete sich. Abgesehen von den paar Filmleuten und dem Schwenkkran, auf dem eine Kamera montiert war, gab es nichts, was diesen Nachmittag von einem der alljährlichen Prunkumzüge der Dorfclubs unterschied; gegen Mittag würden alle besoffen sein, und eine Menge Müll würde auf der Straße zurückbleiben. Vielleicht gab es eine Schlägerei, von der tags darauf keiner mehr wissen würde, wer sie angezettelt hatte.

Sie verteilten Heliumballons, die an Kleinkinderarme und die Griffe von Kinderwagen geknotet wurden. Die Leute auf den Tribünen zogen ihre Jacken aus, schirmten mit den Händen die Augen gegen die Sonne ab, während sie immer

 

Die Sonne und der künstliche Jubel für die Kameras der Filmcrew. Man schickte die Blaskapelle die Straße rauf und wieder runter, übte mit den Leuten das Applaudieren auf Kommando. Der Kameraarm bewegte sich ein paar Mal sirrend über die Menge. In den Tagen danach, wenn die Leute über die Vorfälle an diesem Nachmittag sprechen würden, würde es merkwürdig klingen, wenn sie die Umstände aufzählen würden. Es würde sich für sie selbst wie eine Lüge anhören, obwohl sie alles mit eigenen Augen gesehen hatten. Der Junge hielt seine Jacke in der Hand und musste dringend pinkeln.

 

Im Schatten der Tribüne, ein wenig abseits, hingen ein paar Jungs aus seiner Schule herum. Sie rauchten Zigaretten und hatten Freibier aufgetrieben. Sie ließen die Kippen und Becher herumgehen und redeten über das, was sie sahen, ohne sich beeindruckt zu zeigen. Auch wenn ihnen weder das eine noch das andere schmeckte, nahmen sie immer wieder männliche Schlucke vom schalen Bier.

«Humsworth, was ist eigentlich mit deinem Hausarrest?»

Der Junge versuchte, einen Rauchkringel zu blasen.

«Scheiß ich drauf!»

«Da scheißt er drauf, sagt er.»

«Und was, wenn dich hier einer sieht?»

«Die sind alle drüben beim Park und warten da auf den Wagen, und wenn schon, scheiß ich auch drauf.»

«Da scheißt er auch drauf!»

«Wetten, der Kran mit der Kamera da drauf kostet eine Million?»

 

Das Filmteam machte Aufnahmen von der Kapelle. Sie ließen die Gruppe immer wieder neu Aufstellung nehmen und das Stück vor den Tribünen entlanglaufen. Der Mann mit dem Megaphon wies die Menge an, der Kapelle zuzujubeln. Auf Kommando sollten sie winken, dann klatschen. Proben für den Ernstfall. Das Freibier würde bald leer sein.

Das Team hatte nur diese eine Chance. Keine Wiederholungen, keine Proben. Der Wagen würde vorbeifahren, ohne anzuhalten. Sie brachten alles auf Position, gaben der Kapelle das Zeichen, und die Leute begannen zu jubeln.

 

Der Junge pisste gegen eine Bretterwand. Über ihm das Ächzen der Metallplatten. Er war tiefer in die Tribüne geklettert, um einen Platz zu finden, an dem ihn niemand sehen konnte. Er hörte, wie die Leute auf den Stahltraversen sich von ihren Plätzen erhoben. Die Pferde waren wohl bereits in Sichtweite. Der Junge spannte die Muskeln noch stärker an, als von der anderen Seite etwas hart gegen die Wand schlug, gegen die sein Urin zischte. Er konnte hinter den nicht ganz bis zum Boden reichenden Brettern die Schuhe eines Mannes erkennen, dann, nach einem weiteren Stoß gegen die Wand, ein zweites Paar Füße. Zwei Männerstimmen, die jedoch im nun losgehenden Jubel über ihnen untergingen. Er knöpfte die Hose zu und wich ein Stück zurück, um besser unter den Brettern hindurchzuschauen.

Ein weiteres Geräusch drang nun durch die Musik, ein hartes Getrappel. Der Wagen, er musste schon ganz nah sein, der Junge konnte hören, wie das Schlagen der Hufe auf den Asphalt der Halesowen Road sich näherte.

Der Mann am Boden sah den Jungen nur ausdruckslos an. Er war hinter den Brettern hervorgekommen und stand

 

Ein hektisches Trappeln auf dem Asphalt der Bundesstraße. Die Pferde, die vor wenigen Augenblicken erst noch am Horizont auszumachen waren, preschen am Kameramann vorbei. Drei Männer sind es auf dem hölzernen Karren. Zwei fahren hinten mit, eine Hand jeweils auf den tonnenschweren Anker gestützt, als könnte sie so im Notfall etwas ausrichten. Der Dritte vorn, im Kostüm eines Kutschers, die Leinen des absurd langen Geschirrs fest in den Fäusten. Die Kraft von zwanzig Tieren zerrt an den Riemen. Die knarrenden Holzräder und das Schlagen von vierzig Paar Hufen, ein höllischer Lärm. Die beiden Männer hinten beim Anker in Drillichhosen und Baumwollhemden, die Kluft der Arbeiter, die vor hundert Jahren am Dampfhammer gestanden hatten. Begleitet vom harten Getrappel der Hufe schauen sie starr nach vorn, nicht etwa auf die Köpfe der Pferde, deren Mähne im Wind flattert, oder auf den Hügel vor ihnen – ihr Blick ist auf einen unbestimmten Punkt in der Zukunft gerichtet. Sie sind aus der Zeit gefallen. Vor Entschlossenheit strotzend rasen sie dahin, auf dem alten Holzkarren, der unter seiner tonnenschweren Last ächzt.

Der weiße Anker so gleißend hell in der Mittagssonne, die Buchstaben dunkel auf dem weiß gestrichenen Stahl: HINGLEY. NETHERTON. Eine der Kameras wurde seitlich am Wagen befestigt, der Bildausschnitt zeigt die rotierenden Speichen der Holzräder und die auf den Boden

Nur ein paar wilde Funksprüche plärren durch die Funkgeräte der Crew.

«Zuschauer auf der Fahrbahn! Zuschauer auf der Fahrbahn!»

Der Mann im Kutscherkostüm hatte keine Chance gehabt.

Seitlich unter dem Schlitten befanden sich die drei ins Metall geprägten japanischen Schriftzeichen, die auf die Schmiede von Kijirō Nambu hinwiesen. So viel hatte Simonelli bereits herausfinden können. Er kratzte mit den Fingernägeln ein wenig Dreck vom Stahl, wischte über das Griffstück. Die eine Seite der hölzernen Griffschalen war durch Kunststoff ersetzt worden, der mit der Zeit trüb geworden war. Er ließ etwas Spucke darauf tropfen, rieb mit dem Ärmel darüber, bis die Umrisse der Figur zum Vorschein kamen. Ausgeblichen und über die Jahre hinweg ganz blass geworden: Der Kamera den nackten Rücken zugekehrt, wandte die Frau auf der Fotografie den Blick über die Schulter. Es war, als gälte ihr selbstgefälliges Lächeln ganz ihm. Als forderte sie Simonelli heraus.

Er begann zu tippen. Ja, er wäre gewillt, die Waffe zu verkaufen. Er hatte sich lediglich auf sein Gespür verlassen.

 

Er hatte lange seinen Keller durchsucht, ohne etwas zu finden, mit dem er seinen Kater anständig begraben konnte. Er schaltete das Kellerlicht wieder aus. Im Dunkeln konzentrierte er sich auf das Dröhnen in seinem Kopf, den leichten Schwindel. Er würde noch fahren können. Er war schließlich auch schon hergefahren, so betrunken war er nicht. Und wenn schon, scheiß drauf. Die Transportbox stand noch hinten im Lieferwagen. Er hätte nicht mehr als ein in OP-Laken gewickeltes Bündel erkannt. Als er die Kiste auf der Ladefläche abgestellt hatte, vermied er es dennoch hineinzuschauen.

Er fuhr schnell und ohne sich später an irgendetwas auf dem Weg zu erinnern. Die Bäume auf Henris Grundstück rauschten. Der Sturm tobte, immer wieder drückten Böen das Gras platt. Der Alte kam nickend auf ihn zu, und Simonelli sagte, ohne darüber nachzudenken, er sei jetzt da. Der Wind riss seine Worte mit, weshalb es ihm vorkam, als hätte er zu sich selbst gesprochen. Er ging gerade und aufrecht, wie jemand, der eine Aufgabe hatte.

 

Beide Männer waren zunächst nicht stehen geblieben, hatten nur ihre Schritte verlangsamt, als sie aufeinander zugingen, Henri paffte an seiner Zigarre, deren im Wind aufglühende Spitze wenig Asche bildete. Er blieb als Erstes stehen.

«Ja», begann er nur und machte eine Bewegung mit seinem Arm, als wollte er Simonelli an der Schulter berühren. Auf halbem Weg überlegte er es sich anders, und seine Hand wanderte zum Zigarrenstummel zwischen seinen Lippen.

«Wo ist der Kater?», fragte er nur.

«Im Wagen. Ich brauche etwas, in das ich ihn hineinlegen kann.»

Henri machte eine Bewegung mit dem Kopf, weder Nicken noch Kopfschütteln, sagte, er müsse nachschauen und er wolle ihn wissen lassen, dass es ihm leidtue, er wisse schon, schöne Scheiße, ja.

Simonelli hatte den Blick auf den Schuppen neben dem Teich gerichtet und sah ihm nun zum ersten Mal ins Gesicht. Unter den wilden Brauen erkannte er, dass die Augen des Alten wässrig waren. In zwanzig Jahren hatte er seinen Freund noch nie so gesehen.

Die Stiele waren morsch. Die Werkzeuge verrostet. Er brach einen Schaufelkopf ab beim Versuch, ihn in den kalten Boden zu stoßen. Henri hatte ihn von drinnen beobachtet, wie er die blaue Kunststoffkiste aus dem Wagen genommen, über den Rasen getragen hatte und damit hinter dem Schuppen verschwunden war. Die Gartengeräte hatten einem Nachbarn gehört, der war vor kurzem verstorben, rief Henri ihm zu, als Simonelli vom Wagen zurückkam.

«Nimm, was du brauchst.»

Simonelli schwitzte. Er hatte eine Stelle zwischen einem Strauch und einer jungen Birke ausgesucht. Seine Stiefel wurden dreckig. Die Erde war fest und grau und von Unkraut bedeckt. Die Kiste hatte sich beim Anheben anders angefühlt. Das Gewicht darin leblos, nicht wie die unzähligen Male zuvor, als er mit dem Kater zur Praxis gefahren war und jedes Mal, wenn er die Box am Henkel anhob, gespürt hatte, wie das Tier darin sein Gleichgewicht suchte. Er hatte das Gefühl, die Kiste war nun schwerer geworden.

Es dauerte länger und war anstrengender als erwartet.

«Ich hab das hier gefunden», sagte Henri.

Simonelli blickte ihn über die Schulter an, die Hand noch an dem in der Erde steckenden Spaten.

«Ich hab eine Hacke kaputt gemacht, tut mir leid.»

«Ist eh alles alter Schrott», antwortete Henri und trat mit seinen Hausschuhen gegen die an die Schuppenwand gelehnten Werkzeuge. Eine Spitzhacke fiel um.

«Meinst du, das geht?»

Henri hielt ihm ein Unkraut-Vlies hin, und Simonelli bemerkte den leichten Tremor, den er von sich selbst nur von den wenigen Malen kannte, als er mit dem Trinken aufhören wollte.

«Ich hab keinen Karton oder so», sagte Henri.

Noch eine Weile blieb er stehen und beobachtete Simonelli, wie er weiter Erde aus dem Loch schaufelte.

«Lässt noch immer nicht nach.» Er schaute zu den Baumkronen, die unter der Last der aufbrausenden Windböen ächzten.

Simonelli unterbrach seine Bewegungen nicht und achtete auch nicht auf den Wind, nicht auf die Bäume und das immer wieder durch den Garten tönende Knacken, wenn irgendwo im Dickicht an den Grundstücksgrenzen kleine Äste abbrachen.

«Du fährst also morgen?»

«Ja.»

«England, hm?»

«Ja, England.»

«Mal wieder Kino?»

«Nein», sagte Simonelli, stach mit dem Spaten in das Loch und kippte die Erde auf den kleinen Haufen neben der blauen Kiste. Er zögerte einen Moment.

«Ein Dokumentarfilm. Ist etwas schwierig zu erklären.»

«Bevor du nachher gehst, komm noch mal rein, hab was mit dir zu besprechen. Ist wichtig.»

Henri lehnte das Werkzeug wieder an die Wand. Den erloschenen Zigarrenstummel zwischen den Fingern klopfte er seine Taschen nach Feuer ab.

«War’s schwer?», fragte er und wies mit dem Kinn auf die Kiste.

Simonelli nickte nur.

 

Wegen des Sturms hatte man den Haupteingang benutzen sollen. An der Terrassentür, über die man sonst ins Wartezimmer gelangen konnte, hatte ein Zettel im Wind geflattert. Simonelli hatte diesen Eingang bei seinen vorigen Besuchen nie genommen, auch wenn er beim Warten in dem gekachelten Raum, der mit großformatigen Fotografien von Hauskatzen, Hunden und Papageien dekoriert war, immer wieder Leute durch die Eingangstüre hatte treten sehen. Die meisten kamen mit ihren Hunden an der Leine oder, wie er, mit Transportboxen durch die Terrassentür, die sonst immer offen stand.

Eine Windböe erfasste ihn, und er musste die Kiste mit beiden Händen vor der Brust festhalten. Er spürte, wie der Kater sein Gewicht darin verlagerte. Seit den letzten Besuchen hatte er nicht mehr protestiert, nicht mehr miaut und sich teilnahmslos in die Box heben lassen.

Die Praxishelferin erkannte Simonelli. Fast wöchentlich war er in den letzten Monaten dort gewesen. Sie verstand seinen Blick und vermerkte nichts auf ihrem Klemmbrett, als Simonelli nur mit einem Kopfschütteln geantwortet hatte. Sie gebe drinnen Bescheid, sagte sie leise und verschwand.

Auf der Bank ihm gegenüber saß eine Frau mit einem immer wieder bellenden Hund auf dem Schoß.

Als Simonelli in den Behandlungsraum getreten war, fragte die Ärztin, wie es dem Kater gehe, und noch bevor er die Kiste auf dem Tisch stellen konnte, brach er in Tränen aus.

Sie erklärte ihm, wie alles ablaufen würde, und er starrte zu dem kleinen Balkon hinaus. Er würde ganz einfach einschlafen, ohne Schmerzen. Simonelli starrte auf die leeren Käfige, die auf dem Balkon standen, auf die Wiese und auf den Fluss weiter hinten, der Hochwasser führte. Keines ihrer Worte drang zu ihm durch.

«Eine Stunde», sagte sie, «dann können Sie wiederkommen.»

«Wiederkommen?», fragte er.

«Möchten Sie ihn nicht begraben?»

Er war verblüfft, dass er nicht daran gedacht hatte. So, wie er sich alles vorgestellt hatte, wäre es für ihn mit der Übergabe des Katers abgeschlossen. Er dachte nicht darüber nach, was sein würde, wenn der Kater tot wäre.

«Nein», sagte Simonelli, ließ die Kiste auf dem Behandlungstisch stehen und ging hinaus, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Später konnte er sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so die Fassung verloren hatte. Als Kind vielleicht. Ihm fiel keine Situation in seinem Erwachsenenleben ein, in der er so hemmungslos geweint hatte wie jetzt im Wagen. Er hatte zuvor versucht, es sich auszumalen – den Weg zur Praxis und was er dort sagen würde. In seiner Vorstellung hätte er auf das Lenkrad geschlagen, den Rückspiegel abgerissen, mit der Faust auf das Radio gedroschen. Es war nicht sein Wagen, in dem er saß. Henri hatte ihm den Transporter geliehen, auch wenn er wusste, dass Simonelli keinen Führerschein mehr hatte. Sie hatten schon Dinge getan, die härtere Konsequenzen nach sich gezogen hätten. Simonelli hatte nirgends draufgeschlagen, nichts kaputt gerissen. Er hatte zum Handschuhfach gegriffen und die Flasche hervorgeholt. Nicht seine Marke, aber am Morgen hatte es am Kiosk nichts anderes gegeben. Er trank hastig, wartete nur ab, bis er betrunken genug war, um wieder hineingehen zu können.

Die Aufkleber von Henris Antiquitätenhandel waren längst von den Schiebetüren entfernt. Man konnte noch schwach erkennen, wo die Buchstaben einst den Schriftzug gebildet hatten. Ein großer, leerer Sprinter. Grotesk, dieses

 

Simonelli kam mit leeren Händen in die Wohnung zurück und hätte sich gewünscht, etwas festhalten zu können, als er sie betrat. Die blaue Kunststoffbox, aus der er wochenlang nach jedem Besuch den Kot und das Erbrochene des Katers gewischt hatte, für die es nun keine Verwendung mehr gab, hatte er neben den Müllcontainern im Parkhaus stehen gelassen.

«Ja», sagte er abwesend und starrte zur Terrasse hinaus, auf der seine matschverkrusteten Stiefel standen. «Das war es also.»

Seine Worte fühlten sich stumpf und dumm an in der leeren Wohnung. In zehn Tagen wäre alles anders. Er würde unter dem Vorwand des Dokumentarfilmjobs nach England reisen und die japanische Pistole dort verkaufen. Ein haltloses Gefühl überkam ihn, als klinkte er sich von einer Sicherungsleine aus. Mehr als ein Jahrzehnt hatte er mit ihm verbracht. Was waren da schon zehn Tage?

Er ließ einen Topf voll Wasser laufen und zog sein Telefon hervor. Wie seit Tagen zeigte das Display unzählige Anrufe. Meist dieselbe Nummer. Noch bevor er zum Ende der Liste wischen konnte, rief der Mann, dem er die Pistole gestohlen hatte, erneut an. Er ließ das vibrierende Gerät in den Topf gleiten, das Display erlosch. Am Abend brauchte er keine zwanzig Minuten, um zu packen.