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Kursivtext im Original deutsch
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Kursivtext im Original deutsch
Wenige sind es, die ein Blatt wahrnehmen. Manche sogar den Wald vor Bäumen nicht. Aber was würden wir von der Liebe eines Menschen halten, der nicht schon hundert und tausend Mal die Brauen der Geliebten betrachtet hätte oder jene blaue Ader, die sich vom Spann, dem scharf abfallenden Knochenkamm folgend, zu den Zehen verzweigt? Wer allerdings, von seiner Leidenschaft getrieben, überhaupt nichts anderes mehr beachtet, und wem es höllische Qualen bereitet, wenn er den Blick abwenden muss, weil er sich auch dann, hinaus aus dieser rohen Schattenwelt, nur noch zu erinnern, das Geschaute heraufzubeschwören sucht, der wird, wenn auch nichts anderes, auch nicht und niemals die Geliebte, so doch zumindest den Charakter der Achtsamkeit kennenlernen.
Vielleicht braucht es einen schwülen Sommernachmittag, damit wir das eine Blatt zwischen den anderen gewahren. Wenn der Himmel von schweren Wolken bedeckt ist, die Luft unter dem Druck reglos wird. Nicht einmal die Vögel geben noch einen Laut, und niemand weiß, ob ein Gewitter ausbricht oder ob unmerklich vorüberzieht, woraus es hervorgehen könnte. Die Hitze ist unausstehlich, der Druck unerträglich. Wenn sich ein Lebewesen aber solch überspitzten und definitiven Gedanken überlässt, dann hofft es, dass Donnerschlag und Erdrutsch kämen, es selbst freilich noch mit heiler Haut entkommt. Möge der Blitz einschlagen, der Sturm das Dach über seinem Nest hinwegwirbeln, Hagel die kostbare Ernte zu Boden schlagen, das Hochwasser Brücke, Hafen und Stadt mitreißen; das sehnt es herbei. Die Hoffnung muss mit der Angst Hand in Hand gehen, und auch die Angst kann nicht anders, sie fasst die Hoffnung bei der Hand. Doch noch gibt es keinerlei Bewegung. Was bedeutet, dass das, was jetzt noch nicht ist, irgendwo in Überfülle da sein muss, und wenn es da sein wird, dann anderswo in der gleichen Fülle all das in Bereitschaft stehen muss, ohne das, was im nächsten Augenblick kommen muss, jetzt noch nicht ist und nicht sein kann. Zu solcher Stunde legen die Hunde ihren Kopf kleinmütig zwischen die Vorderpfoten, und auch die klugen Augen der Eidechsen sind nicht mehr zu sehen.
Nur dann, nie sonst wird man gewahr, wie sich an der Spitze eines Zweiges, in der Tiefe des Gartens, etwas in Bewegung setzt. Es ist nicht das ewige Vibrieren der Blätter, alle übrigen sind regungslos. Ein einziges Blättchen wiegt sich, rotiert. Man weiß nicht, ob diese Bewegung einen Anfang hatte, ihr Gewahrwerden bestimmt. Zu warten, bis es zur Ruhe kommt, wäre töricht, es bleibt nur, sich abzuwenden. Nicht wie beim Tautropfen, der dich wie ein Bril- lantauge aus dem Grün anfunkelt, verschwindet, wieder aufglänzt; vielleicht ist er am Halm herabgerollt und nicht mehr zu sehen: Der trockene Boden mag ihn aufgesogen haben. Wenn kein Windhauch da ist, auch nicht eine einzige Luftbewegung, dann können die Zweige nicht schwingen und schaukeln, dann kann sich auch ein Blatt nicht am Stängel drehen. Der Blattkörper ist von so geringer Schwere, dass er in der Schwere der Luft hängen bleibt.
Das Blatt gehört zum Zweig, der Zweig zum Baum, und jeder Baum hat ein verborgenes Muster unter der Erde. Das Muster des Blattes ist natürlich nicht mehr als auf Feuchtigkeit und Salze reagierende, transparente, in gewisser Weise verfärbte Faser. Die Musterung setzt oben am Stängel an und zieht sich wulstig über den Rücken oder die Rückseite des Blattes, verzweigt sich, und auch die Verzweigungen verzweigen sich weiter. Die unterirdischen Verzweigungen können die oberirdischen Muster vielleicht spüren, aber niemals sehen. Obgleich das Wachstum der einen das der anderen ist, sie schwellen gemeinsam, siechen und sterben gemeinsam. Auch das Gewicht des Blattes wird nicht unter der Erde bestimmt, sondern durch den winzigen Gewichtsunterschied, der es von der Luft scheidet. Wenn kein Licht da ist, sind auch die Gewichtsunterschiede nicht zu erkennen. Es hat viele Voraussetzungen, dass sich ein Blatt vor meinen Augen so sensibel und lustvoll drehen kann.
Es gibt unruhig veranlagte, es gibt experimentierfreudige Menschen. Die machen sich in einem solchen Fall auf, um das in der Tiefe des Gartens pendelnde Blättchen von nahem in Augenschein zu nehmen. Durch ihr Näherkommen setzen sie natürlich die Luft in Bewegung, erzeugen kleine Wirbel. Sie müssen wissen, dass es keinen Versuch gibt, der nicht mit Bewegung einherginge, und keine Bewegung, die nicht weitere Bewegungen in Gang setzte. Also müssen sie zu einer List greifen und sich bewegungslos stellen, während das Auge rotiert. Und das einzelne Blatt an seinem Stängel. Die übrigen halten so still wie der, der Bewegungslosigkeit vortäuscht; bereit, wofür auch immer.
Ich mag alle Gesetzmäßigkeiten aller Bewegungen kennen, doch wenn unter den Dingen eines ist, das offensichtlich nach anderen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, komme ich zwangsläufig zu der Annahme, dass dazu ein Gesetz gehört, das ich noch nicht kenne. Gibt es aber ein solches Gesetz, dann kenne ich auch die anderen nicht richtig. Und obwohl ich weiß, dass ich, um das herauszukriegen, mich beispielsweise nicht bewegen dürfte, habe ich mich schon bewegt, noch ehe ich mich vom Platz gerührt hätte. Auch ein Gedanke kann nicht untätig herumsitzen. Der unruhig veranlagte oder experimentierfreudige Mensch streckt in dem Moment vorsichtig seine Hand zu dem Blatt aus.
Er bewegt sich nach Maßgabe seiner aus Bewegungen gewonnenen Erfahrungen, obwohl er sich gerade nach ihrer Maßgabe nicht bewegen dürfte, weder vorsichtig noch unvorsichtig. Auch Gedanken können sich nicht bewegen, ohne von Gedanken bewegt zu werden. Da muss, sagt er sich, eine Luftbewegung sein, die aus dem ganzen Weltall ausschließlich dieses eine Blatt anspricht. Und es könnte auch ebenso sein, dass nicht der Luftzug das Blatt, sondern das Blatt ihn anspricht. Es könnte aber auch sein, dass unter der Erde ein Maulwurf wühlt und gerade an das sensible Muster des Blattes gerührt hat. Denn die auf jeden Fall unvorsichtige Hand spürt nichts von einer Luftbewegung, die dazu bestimmt sein könnte, dieses einzige Blättchen zu bewegen. Und das Blatt pendelt dennoch, nickt, bewegt sich, als sei nichts geschehen. Wäre unser Mann nicht so unruhig veranlagt oder so experimentierfreudig, würde er nicht unentwegt nach Gründen suchen, um sich von seinem Platz zu rühren, sondern die Sache an sich betrachten, und dann würde ihm sicher bewusst, noch nie in seinem Leben, wohl aber jetzt, dieses eine Mal, einem Blatt begegnet zu sein.
Er müsste auch nicht jubeln und schreien, jetzt endlich den Faden gefunden zu haben, der aus dem Gesetzesknäuel hervorlugt und also das Gesetz sein müsste; er müsste nichts als schauen, so wie der Liebende, der nicht weiß, warum und wie lange er schon schaut, doch für den es die höchste Qual wäre, wenn er etwas anderes als die Geliebte betrachten müsste. Die wenigen, die ein Blatt wahrnehmen, können in ihm das Betrachtenswerteste sehen. Diejenigen aber, die niemals ihr Augenmerk darauf richten, schauen fürwahr umsonst, sie sehen auch das Blatt nicht. Genauso wenig wie die, die nicht aufmerksam schauen, um das Blatt zu sehen, sondern begierig auf ihre eigene Wahrnehmungsfähigkeit sind.
(1989)
Zu meinen, der Untergang könne nur von einem Augenblick auf den anderen eintreten, unerwartet und plötzlich wie Blitz oder Donnerschlag, ist fürwahr nichts als gefällige Selbstbeschwichtigung. Als wäre nicht alles Belebte und Unbelebte vom Augenblick seiner Geburt oder seiner Verwandlung an Objekt des Untergangs und Verfallsgeschichte. Dass ich Stein bin, ist nur eine Benennung meiner Erscheinungsform in einer Welt, in der auch andere Erscheinungsformen Namen erhalten haben. Und dass ich dann durch Wind und Wasser zunächst zerbröckele und dann zu Sand werde, ändert nichts daran, dass ich meinem Wesen nach Erscheinungsform war und bin.
Es gab ein kleines Dorf, das hieß Salomfa, solange es da war. Heute ist es in einem Zustand, dass es weder auf Schildern noch Karten angezeigt werden muss; was jedoch nur nach allgemeinem Begriff Nichtvorhandensein bedeutet. Denn es gibt kahle Mauern, es gibt Schutthaufen an den Stellen, wo Häuser standen, es gibt Apfelbäume, die unverändert ihre Früchte unter sich ausbreiten, es gibt zerfallene Brunnenkränze und darin das Glitzern stehenden Wassers, es gibt Weinreben, und sie ranken sich Jahr für Jahr an den Büschen weiter, es gibt Zaunpfähle, es gibt einen Glockenstuhl, von dessen Dach der Wind die meisten Schindeln schon heruntergerissen hat, es gibt eine schwere Glocke, und sogar das Glockenseil mit dem geknoteten Ende ist noch da. Es lässt sich gar nicht aufzählen, was alles noch da ist.
Andererseits gibt es das Dorf auch laut seiner Verfallsgeschichte, und darüber gibt es, wenn auch verstreut, schriftliche Dokumente. Zum ersten Mal wurde es während der Türkenherrschaft zerstört, aber irgendetwas, vielleicht nur die Stätte, muss davon übrig geblieben sein, dass es zu neuem Leben erwachen und später von der Pest verwüstet werden konnte. In seinem heutigen Zustand aber muss es noch in der lebendigen Erinnerung derer existieren, die es nicht vergessen können, weil sie dort geboren sind. Diese blasse Existenz kann allerdings nur so lange anhalten, als diese Menschen, wenigstens andernorts, noch am Leben sind. Weder Dokumente noch Erinnerungen aber können uns sagen, ob das Dorf noch ein andersartiges Leben haben wird, als es bisher gehabt hat.
Zum Beispiel erzählt man sich, dass es dort vor der letzten Verwandlung immer berühmte Bälle gab. Diese Bälle wurden in einer großen Scheune veranstaltet, und wenn sich die Nachricht von einem solchen Ball im Umkreis verbreitete, kamen die Menschen auf unwegsamen Wegen von weither zu Fuß herbei. Außerdem erzählt man sich, der gestampfte Boden der Scheune sei stark abschüssig gewesen und die Tänzer hätten deshalb zuerst abwärts und dann aufwärts tanzen müssen. Vielleicht war der Tanzplatz wegen dieser ungewöhnlichen, der menschlichen Natur durchaus entgegenkommenden Gegebenheit so beliebt. Denn wenn ich mich selbst der Erdanziehung anvertrauen und ihr meine Partnerin überlassen kann, ist das eine feine Sache. Und nicht minder, wenn ich mich mit meiner Partnerin zusammen dieser Anziehungskraft widersetzen muss.
Nicht nur von der denkwürdigen Scheune gibt es keine Spur mehr, inzwischen sind auch jene unwegsam genannten Wege unauffindbar, die zu ihr hingeführt haben. Denn Wege haben kein besseres Schicksal. Diese Fährten, Fußpfade und Hotterwege bildeten sinnreiche Muster in der Landschaft. Vielleicht sehen Vögel ihre Spuren noch aus großer Höhe. Sie durchschnitten die Wälder und Wiesen nach der Art, wie die sie benutzenden Menschen aufgrund lose miteinander getroffener Vereinbarungen, sich den Gegebenheiten des Geländes und des Bodens anpassend, für sich und andere, heute und morgen, ihre Lebensbedingungen geschaffen haben. Für den, der Pfade benutzt, ist es einfach, den Boden unter seinen Füßen kennenzulernen, und doch besitzt er ein reiches Wissen. Wer Gräser, Büsche, Bäume und die darin heimischen Lebewesen kennt und aus der Kenntnis dieser Zusammenhänge folgert, wie er jetzt und künftig das eigene Dasein unter ihnen sichern kann, der muss von einem Ganzen wissen, an dem er gerade durch seine eigene Hinfälligkeit teilhat, er muss also um die Unzerstörbarkeit des Ganzen wissen; was wahrhaft kein gefälliges und sich selbst beschwichtigendes Wissen ist.
Eine Sache ist es, Einzelheiten in einem Ganzen zu beobachten, eine andere, aus der Beobachtung von Einzelheiten auf Zusammenhänge zu schließen, zu denen es noch kein gesuchtes Ganzes gibt.
Die Hohlwege haben sich dadurch vertieft, dass an den Stellen, wo kein Wasser abfließt, jahraus, jahrein von den Rädern Schlamm weggedrückt wurde. Und das Wasser fließt dort nicht ab, wo der Weg am tiefsten verläuft. Erfahrung, in Erfahrungen eingedrückt, zieht eine Furche, die eine Summe von Erfahrungen darstellt, aber unter ihnen nicht einzig sein kann. Auch auf den Wegen kann es nicht anders zugehen als im menschlichen Hirn.
Von den einstigen Fuhrwegen, Fährten und Pfaden zeugen heute nur noch ein paar bruchstückhafte Abschnitte an den am tiefsten gelegenen Stellen, wo sich selbst die zum Pflügen, Säen, Ernten und Giftsprühen eingesetzten gelben Kraftmaschinen mit ihren riesigen gezahnten Gummireifen nicht sicher fortbewegen können. Von weitem sehen diese Stellen wie verwahrloste Wäldchen aus, unten aber scheiden sich klar die Böschungszonen des einstigen Weges im ewig feuchten Dunst; Akazien, Haselnuss, Weißdorn und Holunder gedeihen hier, auf sonnenbeschienenen Flecken Brennnesseln. Der zwischen ihnen stapfende Fuß kann leicht in der letzten Wagenspur umknicken. Jemandem, der an solchen Orten verweilt, könnte es im Übrigen scheinen, als würde sein Denken blockiert. Schwer lässt sich der Wagen vorstellen, der hier als letzter durchfuhr, und auch der auf dem Bock saß, konnte nicht wissen, dass er der letzte war. Wiewohl es einen solchen gab, es einen solchen letzten Wagen und Menschen gegeben haben muss. Und es wäre sicher gut, man könnte es sich so vorstellen, dass, nachdem er ans Ziel gekommen war, die Fügung oder die Vorsehung ihm und allen anderen das Wegenutzungsrecht entzogen hat. Denn dann könnten wir uns auch den Untergang einfach wie Blitz oder Donnerschlag vorstellen.
Der Mensch, der im Sattel der auf Riesenrädern rollenden gelben Maschine sitzt, ist in diesem Glauben befangen, mit ihm prescht er blind voran. Er braucht weder über Gräser noch Büsche noch die darin heimischen Lebewesen etwas zu wissen, sondern nur so viel über seine Maschine, wie er zuvor über jene hätte wissen müssen. Doch damit er seine Maschine störungsfrei einsetzen kann, muss der Boden eben sein, müssen die Pflanzen gleichmäßig in die Höhe wachsen und darf keinerlei nutzloses Lebewesen das Wachstum stören. Und wie kann jemand die Ordnung der Dinge in sich selbst wahrnehmen, wenn er sie nicht im anderen wahrnimmt. Im Grunde sieht ein solcher Mensch überhaupt nichts, obgleich er noch Augen besitzt. Er wird höchstens über die Leistung seiner Maschine und die Nutzbarmachung des daraus entstehenden Gewinns nachsinnen. Selbst das Geräusch des Windes sagt ihm nichts, denn sein von Gedröhn erfülltes Ohr vernimmt nichts von dem, was darin enthalten ist.
(1989)
Hunderttausende ziehen lärmend durch die abendlichen Straßen. Der eine Redner sagt, was du denkst, der andere das, was ich denke. Andere Hunderttausende ziehen stumm über die geöffneten Landesgrenzen. Alle müssen auf einmal ganz verschiedene Dinge tun und über dasselbe reden. In dem allgemeinen Stimmengewirr scheint es eine stark harmonisierende, gemeinsame Stimme zu geben. Doch zwar können sie reden, kannst du reden, die erste Person Plural kommt hingegen zu keiner in Worte fassbaren Rede. Denn in diesem berühmten Herbst, da die Ideen der persönlichen und der nationalen Selbstbestimmung auf so bewegende wie begeisternde Weise als gemeinsame Stimme aus dem Stimmengewirr hervorgehen, stehen die kahlen Bäume ohne Worte da, und auch die Tiere haben diese Sprache nicht zu verstehen gelernt.
Sie haben keine gewählten Sprecher, und sie werden auch keine haben. Die Techniken demokratischer Meinungsbildung sind im Dialog mit ihnen nicht anwendbar. Obwohl eine Veränderung unserer gemeinsamen Lebensbedingungen nicht länger aufschiebbar ist. Und inzwischen auch auf der Hand liegt, dass ohne sie nicht länger sinnvoll in der ersten Person Plural geredet werden kann. Wer wir sagt und damit nur den geliebten Menschen, eine Interessengruppe, eine Partei, eine Klasse, ein Volk oder gar eine ganze Nation meint und in seinen rhetorischen Plural nicht die anders geartete Sprache von Wasser, Boden, Bäumen, Lebewesen aller Art, um nicht zu sagen, der Luft einbezieht, dessen Rede ist nicht nur hoffnungslos dumm, sondern zerstörerisch. Er weckt falsche Hoffnungen, wenn er davon ausgeht, dass noch irgendwer oder irgendwas aus der ersten Person Plural auszuschließen sei. Selbstbestimmung ist eine schöne und begeisternde Idee, und man kann lange darüber streiten, ob die persönliche oder die nationale Selbstbestimmung vorrangig ist, doch es gibt keine Person und keine Nation, die diese auf sie selbst bezogene und nach den Regeln der Sprache seit jeher nur auf sie selbst bezogene Idee nicht vom Standpunkt der Selbstbestimmung der Natur überdenken müsste, um nicht die eigenen Existenzbedingungen zu zerstören.
Der Frage, wie ich die Bedingungen meiner Existenz vom Standpunkt der Selbstbestimmung der Natur überdenken kann, haben sich bis jetzt meistens nur die Lyriker gewidmet. Wir brauchten wohl noch viele Jahre, um zu verstehen, warum der Poet Dezső Tandori seine Sperlinge füttert, quält, pflegt, rettet und betrauert, und so viele Jahre werden wir wahrscheinlich nicht haben. Er projiziert sich jedenfalls nicht in sie hinein, er erblickt nicht sich in ihnen, sondern sie in sich. Oder Fernando Pessoa, der die Bäume nicht deswegen liebt, weil sie grün sind, und auch nicht, weil sie Schatten spenden, sondern weil es Bäume sind, was immer er selber denkt. Und wer so über Sperlinge oder Bäume denkt, denkt auf jeden Fall anders als der Jäger, der Förster, der Zimmermann oder der Tischler darüber und erklärt dem alles durchsetzenden Prinzip der Nützlichkeit und Nutzbarmachung nicht nur ihnen gegenüber den Krieg, sondern haut darüber hinaus uns allen unsere auf naturfeindliche Prinzipien gegründete Ästhetik um die Ohren. In einer Welt, in der die Menschen das ihnen Nützliche mit dem Guten gleichsetzen, hält man die Dinge je nach Nützlichkeit oder Nutzlosigkeit für schön beziehungsweise hässlich, und diese Urteile können an die wahre Natur der Dinge nicht einmal rühren. Wenn die Lyrikerin Ágnes Nemes Nagy von der Möglichkeit menschlichen Wissens spricht, an die wahre Natur der Dinge zu rühren, pocht ihre strenge Stimme wie der Fingerknöchel des Lehrers auf dem hohlen Pult. «Wir müssen sie studieren.» Wen? «Die winterlichen Bäume.» Ein Selbstappell in Aussageform. «Wie sie von oben bis unten bereift sind.» Wer «das unsagbare Tun der Bäume» hier nicht lernend begreifen kann, dessen Verstand endet dort, wo der letzte Punkt gepocht wird.
Im allgemeinen Stimmengewirr dieses Herbstes ist das Pochen kaum zu vernehmen. Und wie wenig ließe sich ein solcher Selbstappell für alle die erklären, die ihren blutspuckenden kleinen Trabant nun endlich gegen einen Mazda eintauschen wollen, und nicht minder brächte er diejenigen auf, die sich noch geradere, noch vielspurigere, noch endlosere Straßen unter ihren Mazda wünschen. Das ist allenfalls grünes Geschwätz, Dichtergeraune. Na gut, schützen wir die Robbe, den Lotus, den Taschenkrebs und die Borstenhirse vor mir. So weit reicht der Menschenverstand in den organisierten und nicht organisierten Massengesellschaften. Setzt doch den Umweltminister ab, sollen doch Staat und Regierung in Ordnung bringen, was ich zerstört habe und noch zerstören werde. So lautet der Selbstappell im Unisono der organisierten wie nicht organisierten Massengesellschaften.
In der Art, wie der Begriff Umweltschutz allgemein verwendet wird, müsste er eigentlich zum Gegenstand allgemeinen Gespötts werden. So als gebe es mich und außerhalb von mir eine anders geartete Umwelt, die gleichzeitig von anderen vor mir und den Auswirkungen meiner Handlungen geschützt werden müsse. Aber wie könnte irgendjemand etwas, das ich von mir abhängig weiß, vor den Auswirkungen meines Handelns schützen, wenn mir zugleich bewusst ist, dass ich einzig und allein durch ebendieses Handeln meine Existenz in dieser Umgebung sichern kann? Vielleicht sollte ich so handeln, dass ich die anderen Wesen und Dinge in meiner Umwelt nicht um ihre Existenzbedingungen bringe und dadurch auch mir selbst nicht meine eigenen Existenzbedingungen nehme. Wenn meine eigene Existenz jedoch an die Existenz der anderen Wesen und Dinge meiner Umwelt gebunden ist, bin dann nicht vielmehr ich auf sie angewiesen, und ist das Abhängigkeitsverhältnis also nicht gerade umgekehrt? Wenn es Sache der Robbe, des Lotus, des Taschenkrebses und der Borstenhirse wäre, sich selbst zu schützen, käme es ihnen dann in den Sinn, ihre Umwelt zu schützen? Und an was sonst als die eigene Natur könnten sie sich bei ihrem Selbstschutz halten? Wenn dagegen Robben und Menschen nicht getrennter Natur sind, wenn die Möglichkeiten der menschlichen Selbstbestimmung genau da enden, wo auch die Selbstschutzmöglichkeiten aller anderen Lebewesen enden, wo bleibt dann die vielbeschworene Überlegenheit des menschlichen Geistes? Und wenn es sie nirgends gibt, auf welche neueren Techniken ist dann Verlass?
Auch Hans Jonas, der Moralphilosoph, dessen von grüblerischem und zärtlichem Verantwortungsgefühl zerfurchtes Gesicht dem vom Alter geadelten Greisenantlitz eines Tieres ähnlich geworden war, rechnete nicht damit, dass Weisheit, wissenschaftliche Voraussicht, technische Findigkeit oder politischer Verstand noch irgendetwas ausrichten könnten. Die Naturforscher erklären und mutmaßen, während die Techniker und Politiker weiter auf dem trüben Strom sakrosankter Bedürfnisse und falscher Zivilisationsvorstellungen schwimmen. Mittlerweile, so Jonas, produziert die Natur kleine Katastrophen und gibt regelmäßig Warnsignale ab. Angesichts all dessen hofft Jonas allein darauf, dass die allen Lebewesen ureigene Angst vielleicht in uns Wurzeln schlagen, das zerstörerische Überlegenheitsgefühl umschlingen und ersticken wird. Er hofft auf unsere Sinne, auf alles, was noch nicht ganz und gar von unserer Geist oder Verstand genannten Unwissenheit und Dummheit angefressen ist. Denn er vertraut darauf, dass die durch die kleinen Katastrophen geweckte kreatürliche Angst zu einer Einsicht führen kann, die uns vor größeren Katastrophen bewahrt. Hinsichtlich des Selbstschutzvermögens der menschlichen Gesellschaften sind seine Erwartungen nicht zuversichtlicher, da es, wie er sagt, in einer Gesellschaft, die als demokratisch und liberal bezeichnet wird, dem freien Unternehmertum und dem freien Markt exzeptionelle Schwierigkeiten bereitet, sich irgendeine Art von Stillstand vorzustellen. Wir dürfen hinzufügen, dass jenen Gesellschaften, die sich, mit jahrzehntelang unterdrückten und kaum kontrollierten Energien aufgeladen, in ebendiesem Herbst endlich auf den Weg ins lange ersehnte Paradies aufgemacht haben, eine derartige Vorstellung noch schwerer fällt.
(1989)
Mehr und mehr haben wir es mit Zeitungsnachrichten, Agenturmeldungen und Fernsehberichten zu tun, und die Meinungsbildungstechniken dieser Medien machen uns einigermaßen gleichgültig gegenüber der fundamentalen Frage, wer das sagt, was wir da hören und lesen. Als ergäbe sich die Authentizität des Gesagten nicht durch die sprechende Person, sondern durch die Kommunikationstechnik. Die Schwierigkeiten der öffentlichen Meinungsbildung beschränken sich natürlich nicht auf diese Gattungen, das Problem ist weit verbreitet und sehr alt. Um festzustellen, wie zuverlässig, sagen wir, eine Biographie ist, benötigten wir mitunter die Biographie des Biographen. In dem Fall stünden wir freilich wieder nur vor der Frage, wer die Biographie des Biographen verfasst hat, und so fort. Denn wer über die Stammkneipe hinauskommt und das Auf-den-Tisch-Hauen nicht für die allein seligmachende Argumentationsform hält, der muss sich den grundlegendsten Problemen der öffentlichen Meinungsbildung selbst dann stellen, wenn sie letztlich unlösbar sind. Und auf diese letztlich unlösbaren Probleme reagiert ein Mitglied der organisierten Massengesellschaften natürlich anders als ein Mitglied der nicht organisierten Massengesellschaften.
In organisierten Massengesellschaften (die unsrige ist noch keine solche) bilden sich Kontrollsysteme für die öffentliche Meinungsbildung. Das sind Gremien, die mit der Möglichkeit ausgestattet sind, den Methoden der nicht persönlichen Meinungsbildung laufend auf gesetzlich geregelte Weise nachzuspüren, wobei die Personen, aus denen sie bestehen, namhaft zu machen und öffentlich verantwortlich sind. Oder es sind andere für die nicht persönliche Meinungsbildung geeignete Einrichtungen, die sich mit der Übermittlung von Meinungen bestimmter Personen befassen und in denen die Mitarbeiter wechselseitig anhand von Nachweisen die Authentizität ihrer Meinungsbildung kontrollieren. Der Anspruch auf Rechtmäßigkeit und Nachweislichkeit durchdringt in diesen organisierten Massengesellschaften in gewissem Maß sogar die Kneipenatmosphäre. Ich darf nur auf den Tisch hauen, wenn ich die anderen Zuhörer damit nicht verletze, und ich kann mit Nachweisen die Rechtmäßigkeit meines Gebrülls vor jedem Gericht verteidigen. Der Mensch der organisierten Massengesellschaft wird in Sachen Meinungsbildung äußerst vorsichtig, aber selbst diese hochdifferenzierten Systeme sind nicht in der Lage, die fundamentalen Fragen menschlicher Kommunikation zu beantworten. Und diese Fragen lauten: Wer spricht? Wie redet er? Warum sagt er dies und warum so? Welches Interesse hat er, dies so zu sagen, und nicht etwas anderes, auf andere Weise?
Diese Fragen muss jeder beantworten, sobald er vor der Öffentlichkeit spricht. Wenn wir nicht wissen, wer der ist, der spricht, können wir nicht wissen, was er sagt.
Wenn wir mit Zeitungsnachrichten, Agenturmeldungen oder Fernsehsendungen zu tun haben, suchen wir andersworin Anhalt, als wenn wir am Kneipentisch sitzen, eine Novelle lesen oder eben eine Biographie. Beim Lesen einer gut geschriebenen Biographie zum Beispiel ersteht in uns, quasi unabhängig von den Intentionen des Autors, ein die Richtung vorgebendes Psychogramm des Autors, und insofern hangelt sich die von einem beliebigen Menschen berichtende Biographie gleichsam an dieser Kette elementarer Fragen entlang. Der Autor sagt über sich selbst fast so viel aus wie über die Person, von der er spricht. Oder er beantwortet diese Fragen auf seine Weise, und dann sehen wir zwei Menschen im Dialog. Die Authentizität der Lebensgeschichte des einen oder die sich daran knüpfenden Zweifel sind von der lebendig atmenden Seele des anderen vorgezeichnet. Als ob sich beide in der Winterkälte gegenüberstünden und miteinander redeten und der Atemdunst des einen sich mit dem des anderen vermengte oder darin aufginge.
Vor einigen Monaten bereitete ich einen Aufsatz über Yukio Mishima vor. Von seinen sechsunddreißig Büchern kannte ich sieben Romane, zahlreiche Novellen und einige Aufsätze, und aufgrund dieser Arbeiten war in mir ein Bild von ihm entstanden, das zu überprüfen und durch die Vorstellungen anderer zu ergänzen ich als notwendig empfand. Unter anderem las ich die Arbeit von Henry Scott Stokes, eine äußerst anspruchsvolle Biographie, die sich hinsichtlich der gerade erwähnten Fragen als eigentümlicher Grenzfall erwies. Stokes ist nämlich kein Wissenschaftler, sondern ein Journalist, der mit Mishima in persönlichem Kontakt stand. Sein Stil, der in diesem Fall auch die ganze menschliche Haltung kennzeichnet, ist auf das Kommunikationsprinzip der organisierten Massengesellschaften ausgerichtet, beziehungsweise neigt der Autor seiner Haltung nach offensichtlich dazu, seinen Stil auf etwas auszurichten. Stokes spricht so, als würde ihn das, was ihn persönlich interessiert, persönlich nicht berühren. Dem Genre entsprechend muss er allerdings interessant sein und kann seine Person deshalb nicht völlig aus seiner Darstellungsweise ausklammern, nach den gleichen Genreregeln darf sein Interesse jedoch nicht an persönliche Interessen geknüpft sein, sondern muss im Sinne des öffentlichen Interesses in allen Teilen belegbar bleiben. Was natürlich das Gegenteil von Modus und damit auch Stil der persönlichen Meinungsbildung bedeutet.
Wenn Martin Luther sagt, hier stehe ich, ich kann nicht anders, dann haben wir keine weiteren Fragen, denn wir wissen, wer er ist. Das Verhältnis von Wort und Tat verleiht seiner Person Authentizität. Die am allgemeinen oder Gruppeninteresse ausgerichtete Meinung dagegen weist immer nur durch die involvierten Erwägungen auf die Person des Meinungsbildners hin und ist deshalb auf eine umfangreiche, letztlich niemals befriedigende Dokumentation angewiesen. Die unpersönliche Meinungsbildung ersetzt das Fehlen persönlicher Authentizität durch im Sinn der Erwägungen gesammelte Belege und ist psychisch sozusagen nicht greifbar. Und eben deshalb habe ich vorhin betont, dass Stokes’ Buch ein eigentümlicher Grenzfall ist. Einerseits denkt er nicht daran, das elementare Interesse zu verbergen, das ihn mit Mishima verband, und in diesem Sinn ist sein Interesse ein persönliches, andererseits gestattet er sich als braver Gefolgsmann der angelsächsischen Schule vorsichtiger Meinungsbildung ausschließlich im Netz des allgemeinen Interesses einfangbare und faktisch belegbare Meinungen und hält so ständig jene Gefühle unter Verdeck, die ihn eigentlich zur Offenheit drängten. Vielleicht ist es nicht ganz überflüssig, auf die Möglichkeit einer solchen Methode der Meinungsbildung hinzuweisen, solange die Schreiberlinge und Redner unter unseren weniger organisierten Verhältnissen bei der Meinungsbildung noch eher zur Stammtischmethode neigen.
Albert Einstein hat dazu etwas Beherzigenswertes gesagt. Der Mensch, sagt er, erlebt in einer Art optischer Täuschung seines Bewusstseins sich selbst, sein Denken und Fühlen wie etwas, wovon alles andere abweicht. Und diese Täuschung ist ein Gefängnis, in dem sich unsere persönliche Begierde und Neigung auf einige uns nahestehende Personen beschränkt. Ich darf hinzusetzen, wer sich nicht aus seinem eigenen Gefängnis befreit hat, kann nicht zu anderen authentisch über andere sprechen. Ohne Selbstkenntnis sind wir allenfalls Gefängniswärter füreinander.
(1989)