rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2021
Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Für das E-Book wurde die Bibliographie aktualisiert, Stand: Oktober 2021
Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten
Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung any.way, Hamburg
Coverabbildung Paula Modersohn-Becker Stiftung, Bremen (Paula Modersohn-Becker, Foto von 1895)
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01254-7
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-01254-7
Günter Busch: Paula Modersohn – Heute. In: Paula Modersohn-Becker zum hundertsten Geburtstag. 1976, o.S.
Aus dem «Album», Briefe, S. 98
Tagebuch, undatiert, Briefe, S. 147
Ebd.
Vgl.Petzet: Bildnis, S. 89
Ebd.
U.a. abgedr. in: Paula Modersohn-Becker. Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke. Frankfurt a.M. 2003, S. 81–88
Petzet: Bildnis, S. 92
Murken-Altrogge: Paula Modersohn-Becker, S. 6
Hamann: Die deutsche Malerei, S. 456
Vgl.Briefe, S. 12
Zit. nach Petzet: Bildnis, S. 134f.
Ebd., S. 148f.
Vgl.Briefe, S. 483f.
Ebd., S. 207; auch: Stock: Paula Modersohn-Becker, S. 54
Zit. nach Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker, S. 255
Tagebuch Otto Modersohn, 12. April 1906, zit. nach Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker, S. 247
Vgl.Benn: Altern, S. 24f.
Vgl.Herzogenrath: Paula Modersohn-Becker und die Kunsthalle in Bremen, S. 19
Vgl.Werner: Paula Modersohn-Becker von Dresden her, S. 11
Ebd., S. 85
Ebd., S. 89
Ebd., S. 92
Vgl.Brief an die Eltern vom 18. Oktober 1897
Otto Modersohn, Tagebuch vom 3. Juli 1889, s. Bohlmann-Modersohn: Otto Modersohn, S. 40
Vogeler: Werden, S. 64
Minder: Lüneburger Heide, S. 305f.
Vgl.Briefe, S. 74
Vgl. Röver: Die Nachzeichnungen, S. 210
Vgl.Briefe, S. 207
Vgl.Herzogenrath: Paula-Modersohn-Becker und Gustav Pauli, S. 47–62
Weser-Zeitung, 20. Dezember 1899, S. 2
Bremer Courir, 24. Dezember 1899, sowie Brief an Paula Becker vom 23. Dezember 1899
Vgl.Nierhoff: Der Künstlerstreit 1911, S. 148–153
Christian Modersohn: Das Erbe meines Vaters, CD 2005
Vgl.Rilke: Tagebücher, S. 295
Vgl.Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker, S. 129f.
Otto Modersohn, Tagebuch vom 22. März 1901, zit. nach Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker, S. 170f.
Otto Modersohn, Tagebuch, Spätsommer 1900, zit. nach Bohlmann-Modersohn: Otto Modersohn, S. 99
Rilke: Tagebücher, S. 238
Ebd., S. 250
Ebd., S. 226f.
Ebd., S. 253f.
Vgl.Briefe, Anmerkungen, S. 543
Vgl.Petzet: Bildnis, S. 140f.
Vgl.Rilke: Werke in drei Bänden. Frankfurt a.M. 1966
Rilke: Tagebücher, S. 264, Eintrag vom 11. September 1900
Ebd., S. 237, Eintrag vom 16. September 1900
Petzet: Von Worpswede nach Moskau, S. 72
Vogeler: Werden, S. 68
Vgl.Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker, S. 120
Zit. nach ebd., S. 168
Stamm: Paula Modersohn-Becker, Briefwechsel, S. 40
Ebd., S. 8f.
Ebd., S. 41
Rilke: Tagebücher, S. 268f.
Ebd., S. 282f.
Vgl.Briefe, S. 23
Stamm: Paula Modersohn-Becker, Briefwechsel, S. 9
Rilke: Tagebücher, S. 275
Otto Modersohn, Tagebuch vom 7. Juli 1902, zit. nach Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker, S. 192
Zit. nach v. Reinken: Paula Modersohn-Becker, S. 70f.
Vgl.Briefe, S. 359, und Bohlmann-Modersohn: Otto Modersohn, S. 145f. (Tagebuchstellen vom 1. März 1903 und 23. März 1903. Entweder sind Zitate zusammengefasst oder falsch zusammengestellt)
Zum Teil Briefe, S. 369f., auch Bohlmann-Modersohn: Paula und Otto Modersohn, S. 148f.
Zit. nach Petzet: Bildnis, S. 91
Zit. nach Briefe, S. 515
Zit. nach Stock: Paula Modersohn-Becker. Ein Buch der Freundschaft, S. 51
Zit. nach ebd., S. 19
Bohlmann-Modersohn: Paula und Otto Modersohn, S. 115
Noteboom, in: Die Zeit, 13. Juli 2006
Vgl.Busch, in: Paula Modersohn-Becker. Retrospektive, S. 23f.
Vgl.Murken-Altrogge: Paula Modersohn-Becker, S. 54
Vgl.Uhde-Stahl: Paula Modersohn-Becker, S. 112f.
Vgl.Busch, in: Paula Modersohn-Becker. Retrospektive, S. 43
Vgl.Stock: Paula Modersohn-Becker. Ein Buch der Freundschaft, S. 79
Vgl.Erinnerungen der Schwester Herma Weinberg, in: Paula Modersohn-Becker. Werkverzeichnis, Bd. 1, S. 44–47, oder Hetsch, in: Stock: Paula Modersohn-Becker. Ein Buch der Freundschaft, S. 12
Brief von Grete Schroeter an Hermine Overbeck-Rothe vom 1. November 1904. Autograph in der Stiftung Overbeck, Bremen-Vegesack. Zit. nach Daugelat: Rilke, S. 88
Stock: Paula Modersohn-Becker. Ein Buch der Freundschaft, S. 79
Berger: Malerinnen, S. 318
Vogeler: Werden, S. 79f.
Zit. nach Petzet: Bildnis, S. 112
Am 17. Juni 1906, zit. nach Stamm: Paula Modersohn-Becker. Briefwechsel, S. 62
Rilke starb am 29. Dezember 1926 in Valmont/Schweiz.
Vgl.Busch: Paula Modersohn-Becker, S. 61
Vgl.Bohlmann-Modersohn: Otto Modersohn, S. 165
Am 11. April 1906 an Carl Hauptmann, in: Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker, S. 243
Vgl.Briefe, S. 572, Anmerkung zum 30. Juni 1906
Stock: Paula Modersohn-Becker. Ein Buch der Freundschaft, S. 11
Vogeler: Werden, S. 119
Stamm: Paula Modersohn-Becker. Briefwechsel, S. 62
Ebd., S. 65
Ebd., S. 69
Beide Briefe von Carl Hauptmann zit. nach Bohlmann-Modersohn: Paula Modersohn-Becker, S. 247 und S. 254
Briefe, S. 473
Bohlmann-Modersohn: Otto Modersohn, S. 184
Zit. nach Petzet: Bildnis, S. 135f.
Vgl.Briefe, S. 572, Anmerkung zum 30. Juni 1906
Rilke-Westhoff, in: Stock: Paula Modersohn-Becker. Ein Buch der Freundschaft, S. 54
Busch, Nachwort, in: Paula Modersohn-Becker. Aus dem Skizzenbuch, S. 50
Vgl.Briefe, Vorbemerkung zum Kapitel 1905–1907 von L.v. Reinken, S. 391
Pauli: Paula Modersohn-Becker, zit. nach v. Reinken: Paula Modersohn-Becker, S. 149
Murken-Altrogge: Paula Modersohn-Becker, S. 117f.
Zit. nach Werner: Paula Modersohn-Becker von Dresden her, S. 151. Auslassungen wie in Quelle zitiert
Busch: Worpswede, S. 11
Busch: Paula Modersohn-Becker, S. 106
Wer in einem Museum, zum Beispiel in der Bremer Kunsthalle, wo ihr ein ganzer Raum gewidmet ist, oder im Paula Modersohn-Becker Museum in den Kunstsammlungen der Bremer Böttcherstraße, den Gemälden von Paula Modersohn-Becker gegenübersteht, dem fällt sofort auf, dass in ihrer Kunst etwas ganz Eigenes, ganz Charakteristisches, selten bei anderen Bildern zu Empfindendes liegt. Zunächst könnte das Dumpfe, Schwere erschrecken, das auf den Betrachter einwirkt. Dazu trifft selten Licht von außen auf die Gegenstände, Landschaften oder Gesichter. Dafür liegt ein ruhiges Leuchten, ein gedämpftes Strahlen nicht auf den gegeneinander abgestuften konturierten Flächen, sondern ist in die Farben selbst eingeprägt. Jeder Farbton ist auf das Ganze bezogen.
Die Bilder der Malerin, meist auf Pappe gemalt, manchmal auf Leinwand, einige auf Schiefertafeln, brauchen Ausstellungen oder Zusammenführungen. Erst dann kann man die erstaunliche Ausnahmeerscheinung Paula Modersohn-Becker richtig einschätzen. Die Bilder «deuten sich gegenseitig», wie Günter Busch schreibt, nach dem Zweiten Weltkrieg einer ihrer besten Fürsprecher.[1] Die Verfahren des Vergleichs, die Zusammenschau und die Gegenüberstellung innerhalb eines Werks und in der Beziehung zu anderen, liefern fruchtbare Einsichten in der Kunstgeschichte. So wird es leichter, einem Gewirr von Interpretationen zu entgehen.
Paula Modersohn-Beckers Werke sind international bekannt und vertreten, von Bremen bis New York, Berlin bis Detroit. Selbst nicht so bedeutende Bilder – andere kommen sowieso nicht auf den Markt – erzielen hohe Preise. Sie kann als eine der Wegbereiterinnen für die Aufnahme weiblicher Künstler in die großen Museen gelten, was bis heute nur wenigen Malerinnen in der Nachfolge Angelika Kauffmanns gelungen ist. Modersohn-Becker war niemals eine feministische Vorkämpferin. Sie schöpfte ihre Kunst zwar aus dem Potenzial eines weiblichen Blickwinkels, lernte aber von männlichen Vorbildern und respektierte die Männer ihrer Umgebung. Während diese mehr dem regionalen oder nationalen Wirkungskreis verhaftet blieben, gelang Paula Modersohn-Becker postum der Aufstieg in die Sphäre anerkannt großer Kunst.
Die Tochter des Malers Josef Johann Kauffmann, in Chur geboren, in Rom gestorben, wuchs in Jungenkleidung auf und wurde eine erfolgreiche Porträtmalerin, gelobt für ihr weiches Kolorit. Mit ihrem zweiten Mann Antonio Zucchi lebte sie in Rom, wo sie Berühmtheiten, unter anderem 1764 Johann Joachim Winckelmann und 1787 Johann Wolfgang von Goethe, malte. Ihre Büste steht im römischen Pantheon.
Wie konnte diese junge Frau eine Eigenständigkeit entwickeln, die ihr den Mut gab, trotz ihrer Wünsche nach Ehe und Kind einen Beruf zu ergreifen, der wichtiger wird als die «weibliche Erfüllung» im Sinne ihrer bürgerlichen Herkunft? Und das, obwohl die Anerkennung ausblieb. Sie war zeit ihres Lebens eine Einsame, die ihren Weg ohne Vertraute, ohne Publikum gehen musste, deren Ziele sich von denen der Familie, der Freunde und des Ehemannes immer mehr entfernten. Ein Kind ihrer Zeit, aber weder der Frauenemanzipation noch der Reformbewegung zuzuordnen, sondern eine Einzelne, kein Gemeinschaftsmensch. Ihrem Selbstverständnis nach keine Frau, deren Geschlechtszugehörigkeit ihr künstlerisches Streben behinderte, sondern eine Künstlerin, die ihr «Naturrecht», Frau zu sein, gleichzeitig mit der Kunst leben wollte. Ihr Menschenbild, wie es in den Bildnissen alter Bauersfrauen und Kinder, in Aktdarstellungen und vielen Selbstbildnissen erscheint, ist von diesem Recht auf Würde und individuelle Eigenart geprägt.
Paula Modersohn-Becker: Nicht ganz einig waren sich die Biographen über den Namen. Häufig tauchte sie auch als Becker-Modersohn auf. Und sie selbst? Wie hätte sie sich genannt, wenn sie gewusst hätte, dass ihr Name überlebt? Wie wichtig die mit dem Namen verbundene Identitätsfrage für sie war, zeigt nicht nur die folgende Passage aus einem Brief an den Dichterfreund Rainer Maria Rilke vom 17. Februar 1906: Und nun weiß ich gar nicht wie ich mich unterschreiben soll. Ich bin nicht Modersohn und ich bin auch nicht mehr Paula Becker. Ich bin Ich, und hoffe, es immer mehr zu werden.
Geborene Becker, verheiratete Modersohn, später, in der kurzen Trennungsphase, trotzig wieder Becker. Heute hätte sie ihren Ehenamen angehängt. Aber Modersohn, als der klangvollere Name einprägsamer, wurde zu ihrem Markenzeichen, mit ihm verbindet die Öffentlichkeit mehr sie als ihren Mann Otto, ebenfalls Maler und schon zu Lebzeiten berühmt, aber im Nachruhm weit von ihr überflügelt. Ihre Bilder signierte wohl Otto Modersohn, wenn überhaupt, nach ihrem Tod mit P.M.-B., aber auch P.B.-M. Sie selbst hat nur Jahreszahlen vermerkt.
Wenn man einmal von der künstlerischen Bedeutung Modersohn-Beckers absieht, gibt es drei Gründe für das Interesse an ihrer Biographie. Da ist zum Ersten ihre Verbundenheit mit Deutschlands bekanntester Künstlerkolonie, die bis heute publikumswirksam wachgehalten wird. Zum Zweiten die Freundschaft mit Rainer Maria Rilke, dem auch heute noch anerkannten und verehrten Dichter, rezitiert von den besten Schauspielern und nach wie vor ein Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft. Der dritte Grund ist der Erfolg ihrer Briefe und Tagebücher, die in unterschiedlichen Ausgaben seit 1917 veröffentlicht wurden und in fast keinem Bücherschrank nach dem Zweiten Weltkrieg fehlten.
Ende des 19. Jahrhunderts gehörte das Führen eines Tagebuchs für junge Leute ebenso zum guten Ton wie die Pflege der Briefkultur. Diese verbreiteten Formen des Alltagsschreibens und der Reflexion hat auch Paula Modersohn-Becker mehr oder weniger intensiv betrieben. Auch in ihrem Fall verdanken wir diesen gesammelten Zeugnissen ein genaues Bild ihrer Lebens umstände, ihrer geistigen und emotionalen Entwicklung. Und ihr Werdegang als Malerin wird nachvollziehbar.
Tagebücher werden auch von denen gern gelesen, die mit fiktionaler Literatur nicht viel anfangen können. Ob es Neugier ist, Suche nach Identifikation oder der Vergleich mit eigenen Lebensplänen, Tagebücher, auch fragmentarische, faszinieren durch ihren privaten Charakter, sie sind in der Regel leicht zu lesen, leicht auch zu vergessen. Wer die über den Alltag hinausweisenden Erkenntnisse Paula Modersohn-Beckers wirklich erfassen möchte, muss ihre Bilder betrachten. Im malerischen Werk findet sich, was in den Tagebüchern Lebens- und Erfahrungsstoff ist, in Runenschrift verwandelt. Die Art, wie Mackensen die Leute hier auffaßt, ist mir nicht groß genug, zu genrehaft. Wer es könnte, müßte sie mit Runenschrift schreiben. […] Ich fühle es größer werden in mir und weiter. Wolle Gott, es würde etwas aus mir, schreibt sie am 1. Dezember 1902 in ihr Tagebuch und distanziert sich damit von ihrem Lehrer Fritz Mackensen. Ihr zunächst befremdlicher Satz, alles in Runenschrift darstellen zu wollen, meint nicht das äußere Abbild, sondern das Wesentliche, was hinter den Erscheinungen aufleuchtet. Dieses Programm verfolgt sie von Anfang bis Ende mit großer Konzentration und Konsequenz. Sie verwirklicht damit einen Ausspruch ihrer verehrten Lehrerin in Berlin, Jeanne Bauck, den sie in ihrem Album, einer Sammlung für sie wichtiger Zitate, notiert hat: Von allem, was man zeichnet, muß man eine Vorstellung in sich fühlen. Je lebhafter und kräftiger diese Vorstellung, desto künstlerischer das Resultat.[2] Dann sagt sie über sich selbst: Wenn ich überhaupt Begabung zur Malerei habe, wird im Porträt doch immer mein Schwerpunkt liegen, das habe ich wieder gefühlt. Das Schönste wäre, wenn ich jenes unbewußte Empfinden, was manchmal leicht und lieblich in mir summt, figürlich ausdrücken könnte.
In diesem Brief an die Eltern, den sie um den 10. Juni 1898 herum schreibt, bleibt sie noch vorsichtig und will diese Entwicklung kommenden Jahrzehnten überlassen, nicht ahnend, dass sie bereits in den nächsten Jahren tragend wird. Noch schreibt sie von ihrem Malkater, der sie gelegentlich heimsucht, aber auch schon, dass sie die Zeiten herbeisehnt, wenn ich das erst kann, was ich jetzt möchte (25. November 1898). Im Tagebuch aus dieser Zeit steht: Mich befriedigt das Zeichnen nicht. Ich bin atemlos. Ich will immer weiter, weiter. Ich kann die Zeit nicht erwarten, bis ich was kann.[3] Wie ein Mantra wiederholt sie es, eine endlose Selbstbeschwörung: Und ich lechze nach mehr, mehr, unermüdlich will ich danach streben mit allen meinen Kräften. Auf daß ich einst etwas schaffe, in dem meine ganze Seele liegt. (Tagebuch, 24. Januar 1899) Immer wieder gelingt es ihr in der zuspitzenden Direktheit ihrer Briefe und Tagebücher, Zusammenhänge aufzudecken, die erstaunlich sind. Ihr gelingen psychologische Einsichten und treffende Formulierungen. Ein Eintrag unter dem Eindruck ihrer Lektüre des «Zarathustra» von Friedrich Nietzsche lautet: Dies Umschaffen und Neuschaffen der Werte! Dies Predigen gegen die falsche Nächstenliebe und Aufopferung seiner selbst. Falsche Nächstenliebe lenkt ab vom großen Ziele.[4]
Kraft, unermüdliches Streben, das Anerzogene, Geschauspielerte zu vermeiden und zu einer vibrierenden Einfachheit zu finden, das ist ihr Potenzial. Indem sie an sich arbeitet, arbeitet sie für ihre Kunst. Ihr wird deutlich, dass Einsamkeit für sie notwendig ist: Hier in der Einsamkeit reduziert sich der Mensch auf sich selber. […] Ich arbeite an mir. Ich arbeite mich um, halb wissentlich, halb unbewußt. Ich werde anders, ob besser? Jedenfalls vorgeschrittener, zielbewußter, selbständiger. […] In mir fühle ich es wie ein leises Gewebe, ein Vibrieren, ein Flügelschlagen, ein zitterndes Ausruhen, ein Atemanhalten: wenn ich einst malen kann, werde ich das malen. (Tagebuch, 19. Januar 1899)
Ausgerechnet der Landschaftsmalerei, dem Schwerpunkt fast aller anderen Maler Worpswedes, vor allem ihres Ehemannes Otto Modersohn, hat Paula Modersohn-Becker weniger eigenständige Bedeutung zugemessen, auch wenn ihr ganz eigene und großartige «Landschaftsporträts» gelungen sind. Bei ihr tritt die Landschaft nach 1902/03 in den Hintergrund, begleitet eine Figur zwar als tragende Umrahmung, aber ist, je weiter ihr Werk fortschreitet, immer weniger darin präsent. Das Perspektivische der Landschaft ist nach Aussage Paula Modersohn-Beckers für sie zu naturalistisch, sie will eine den äußeren Erscheinungen zugrunde liegende innere Ordnung darstellen.
Sie malt – außer einer großen Anzahl von Stillleben – vor allem Menschen. Alte, Kinder, Mädchen, ihre Schwester, die Freundin Clara – und am eindringlichsten sich selbst. Das Interesse für sich selbst wurde ihr oft vorgeworfen. In der Familie galt sie als egoistisch, weil sie alles ihrer Kunst und damit ihren eigenen Wünschen unterordnete.
Mit ihren Selbstbildnissen stellt sie sich in eine lange künstlerische Tradition. Das Rätsel, das seine Existenz dem Menschen aufgibt, versucht sie in Spiegeln zu ergründen, auf eine Leinwand zu bannen. Der hohe Anteil an Selbstbildnissen, die Beschäftigung mit dem eigenen Ausdruck, der eigenen Gestalt – als eine der ersten Künstlerinnen malt sie sich selbst als Akt –, erklärt sich vielleicht durch die mangelnde Anerkennung der anderen. So wurde die Künstlerin auf sich selbst verwiesen. So konnte sie unabhängig von Kollegen- und Publikumseinflüssen ganz aus sich selbst heraus arbeiten und allenfalls Einwirkungen gelten lassen, die ihrem Wesen entsprachen. Gerade weil ihre Kunst noch nicht im Interesse einer Öffentlichkeit stand, könnte ihr diese Entwicklung möglich geworden sein. Sie hielt sich abseits, verbarg ihre Passion vor der Öffentlichkeit, sogar vor Freunden, und schulte dabei ihr Urteilsvermögen, nahm das auf, was ihr selbst entsprach: Paul Cézanne, damals noch nicht auf der Höhe seines späteren Ruhms, wurde für sie nicht nur Vorbild, sondern ein Gleichgesinnter. Gerade weil Familie und Kollegen, außer Otto Modersohn, der sie uneingeschränkt anerkannte, sie nicht ernst genug nahmen, gelang ihr durch ungeheure Zielstrebigkeit der Entwicklungssprung in die Moderne, in die Vorstufen eines flächigen, bei aller Figürlichkeit fast schon abstrakten Ausdrucks. So vorbereitet, konnte die plötzliche und unerwartete Anerkennung durch Bernhard Hoetger in Paris 1906 eine letzte, exzessive Schaffensphase auslösen.
hat der modernen Kunst entscheidende Impulse gegeben. Er war ein Jugendfreund des Schriftstellers Émile Zola, der sich für die Impressionisten einsetzte. An deren Ausstellungen nahm auch Cézanne teil, zog sich aber dann von ihnen zurück. Unabhängig durch das väterliche Vermögen, lebte er zurückgezogen in seinem Geburtsort Aix-en-Provence. In seinem Spätwerk dominieren absolute Farben und Kontraste bei Vernachlässigung der Perspektive. Er gilt als eines der Vorbilder von Paula Modersohn-Becker, auch wenn ihr Mann lieber Vincent van Gogh nennt, den sie aber nirgends erwähnt.
Immer wieder wird in Katalogbeiträgen und Biographien betont, dass Modersohn-Becker alles, was sie in ihrer Kunst auszusagen vermochte, in ihren schriftlichen Zeugnissen bei weitem nicht erreicht. Schon Rilke gab dies als Grund an, als er sich weigerte, die Herausgeberschaft für ihre Tagebücher und Briefe zu übernehmen, die ihm die Mutter Mathilde Becker 1916 angetragen hatte. Er war dagegen, diese schlichten Alltagszeugnisse überhaupt zu veröffentlichen. Die Familie Becker gab ihm als Erstem den schriftlichen Nachlass zu lesen, natürlich mit der Absicht, durch einen berühmten Herausgeber der Verstorbenen eine größere Wirkung zu sichern. Schließlich war er einer der engsten Freunde, der wichtigste Schriftsteller, mit dem sie in enger Verbindung gestanden hatte.
Wie immer, wenn es um Paula Modersohn-Becker ging, verhielt Rilke sich zwiespältig. Ihrem Bruder Kurt Becker gegenüber hatte er nach der Lektüre einiger veröffentlichter Ausschnitte in der «Güldenkammer» 1913, einem Bremer Journal, den Wunsch geäußert, alles Hinterlassene der Malerin veröffentlicht zu sehen.[5] Dennoch lässt er das Manuskript zunächst ungeöffnet liegen. Und dann kommt er, schon nach einer ersten Durchsicht gemeinsam mit seiner Frau Clara, zu dem Entschluss, sich an der Herausgabe nicht zu beteiligen. Zwar würde vieles Eigentümliche mitgeteilt, aber «nur das Vorbereitete in ihr, nicht ihre Freiheit, nicht ihr großes leistendes Herz, nichts von dem steilen Aufstieg, der in den Stufen ihrer Arbeit sicher bewiesen und erhalten bleibt», so lautete seine Antwort an die Mutter Becker vom 26. Dezember 1916.[6] Die Nachwelt habe zwar ein Recht auf die Äußerungen von Kunstschaffenden, aber er führt Vincent van Gogh an und stellt dessen Briefe und Tagebücher als anspruchsvolles Beispiel dar, dem Paula Modersohn-Becker nicht standhalten könne. Völlig den Charakter ihrer Aufzeichnungen verkennend, die sehr wohl auch einiges Erhellende zu ihrem künstlerischen Werdegang beitragen, hat er so einen Grund, sich der Arbeit und damit auch einer nochmaligen Stellungnahme zu enthalten. Für ihn ist mit seinem gerühmten «Requiem für eine Freundin» – für Paula Modersohn-Becker ein Jahr nach ihrem Tod vom 31. Oktober bis 2. November 1908 geschrieben – alles gesagt.[7]
Er schreibt der Mutter zum Abschluss: «Ich bin, so stark wie ich es nur je war, überzeugt zu Paula Modersohns Gestalt und im selben Augenblick davon ausgeschlossen, der Herausgeber jener Schriften zu sein, die Sie mir abwartend in die Hände gelegt haben. Denn wie sollte ich mich entschließen können, während ihr größeres Bild in mir aufsteigt, ein minderes, vorläufiges zusammenzustellen und zu vertreten.»[8]
Natürlich hätte er es erreichen können, dass Leser dieses größere Bild ebenfalls erkennen. So kann er sich darauf zurückziehen, dass aus ihrer letzten Zeit kaum Aufzeichnungen vorhanden sind, und die wären es vielleicht eher wert gewesen, veröffentlicht zu werden.
An die nicht zur Veröffentlichung gedachten Tagebücher und Briefe eines Autors oder Künstlers werden niemals dieselben Maßstäbe angelegt wie an seine Kunst. Deshalb teile ich nicht das Argument, dass durch die Beliebtheit ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft «ihre Malerei bis in die heutigen Tage mehr verdunkelt als erhellt» wurde.[9] Kaum ein Leser hat den Anspruch, dass die Tagebücher und Briefe Modersohn-Beckers mehr sein sollen als ein Zeitdokument, eine Ergänzung zum Werk. Und wenn einige Betrachter sich durch die Lektüre dem malerischen Werk intensiver widmen als vorher, ist das nur von Vorteil. Umgekehrt ist auch nicht gesagt, dass diejenigen Leser, die sich nur von den Schilderungen aus dem Leben der jungen Frau ansprechen lassen oder empfindsam mitleiden, ihre malerischen Werke dagegen vernachlässigen, ohne die Herausgabe der Schriften besseren Zugang zu ihrer Kunst hätten. Keineswegs würden heutige Leser dem Urteil des misogynen Kunsthistorikers Richard Hamann zustimmen, der überhaupt kein Verständnis für die Malerin hatte, alles als «das rührend Häßliche» bezeichnete und sarkastisch behauptete, dass man zu den Bildern «immer Briefe und Tagebücher vorlesen muß, damit das, was sich mit der Hülle reiner Kunst gibt, vollends in Gemüt schwimmt».[10] Niemals hat Paula Modersohn-Becker sich so verschwommen ausgedrückt wie dieser Kritiker, im Gegenteil. Eine anspruchsvolle, heute verlorene Briefkultur gilt es zu entdecken. Gewisse sprachliche Schwächen wie eine übertriebene Vorliebe für Diminutive – es häufen sich -chen und -lein – müssen der Spontaneität des Schreibens und zeitgeschichtlichen Einflüssen zugerechnet werden. Vor allem bei delikaten Sachverhalten drückt sie sich so aus. Beispielsweise bittet sie ihren Mann im Juli 1907, ihr Hemdlein und Höslein nach Holzhausen zu schicken, wo sie sich gerade bei Hoetgers aufhält.
Zum Glück besaß Rilke die Fähigkeit, hinter Hamanns «Hülle» zu blicken, aber den entscheidenden Augenblick für echte Hilfe hat er immer verpasst. Zuerst in Worpswede mit seiner überstürzten Abreise ohne Erklärung; dann in Paris, wo er die Künstlerin, die sich gerade aus ihrer Ehe und von Worpswede lösen wollte, zwar besuchte, sich sogar von ihr hat porträtieren lassen, aber sich nicht in die Ehegeschichte einmischen wollte, als Otto Modersohn in ihr Pariser Atelier kam. Er verschwand einfach und gab Arbeit vor. Die von ihr erbetene gemeinsame Reise mit seiner Familie im Sommer 1906 sagte er mit fadenscheinigen Gründen ab. Könnte es nicht sein, dass Rilke vor allem deshalb zögerte, weil seine Rolle in ihrem Leben voller Unklarheiten war? Wem sonst als einem Mann, dessen tiefere Gefühle sie ahnt, schreibt eine Frau so zartfühlend wie Paula Becker im Brief vom 12. November 1900, als sie ihm von ihrer Liebe zu Otto Modersohn berichtet: Sie wissen davon, nicht wahr. Es ist schon lange; schon vor Hamburg. Ich habe Ihnen nicht davon gesprochen. Ich dachte, Sie wüßten. Sie wissen ja immer und das ist so schön.
Nach Rilkes Absage scheint es nicht leicht gewesen zu sein, jemanden zu finden, der sich der Briefe und Tagebuchblätter annahm. Anton Kippenberg vom Insel-Verlag wollte die Herausgabe ebenso wenig wagen wie der Dichter Rudolf Alexander Schröder, der zunächst nichts anderes darin erkennen konnte als Jungmädchenaufzeichnungen und das Briefkonvolut wortlos der Familie zurückgab.[11]
Worin aber liegt dann der große Erfolg der schriftlichen Hinterlassenschaft der jungen Malerin? Nur in den Einblicken in die Überschwänglichkeiten eines Jungmädchenlebens um die Jahrhundertwende? Nur im sentimentalen Nachempfinden? Sicherlich fällt auf, dass die Briefe und Tagebücher auch von Menschen gelesen und geschätzt werden, die mit der Kunst Paula Modersohn-Beckers nicht viel anfangen können. Könnte es trotzdem nicht doch sein, dass die ansprechende Unmittelbarkeit der Texte bis in die Tiefe ihrer künstlerischen Ausdruckskraft führt? Die biographische Neugier, viel gescholten und doch von großer Wirkung, gibt den Weg frei für tiefere Erkenntnisse. Das empfindet wohl auch Rilke, der nach der Lektüre der ersten veröffentlichten Schriften in der «Güldenkammer» 1913 an den Bruder Kurt schreibt: «[…] wen von denen, die sie kannten, wird’s nicht aus diesen Blättern heraus angerührt haben und ergriffen […]. Denn sie, in diesen hingerissenen Augenblicken, die ihr Leben sind, sprach wie für immer, stellte sich mit jeder bewegt oder müde, zweifelnd oder froh hingeschriebenen Zeile in ein Verhältnis zum Ganzen.»[12]
[13]