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Norbert Bolz

Keine Macht der Moral!

Politik jenseits von Gut und Böse

Fröhliche Wissenschaft 196

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Inhalt

Entmoralisierung und Remoralisierung der Politik

Die antike Kontrastfolie

Machiavelli und die Selbstbehauptung des Politischen

Hobbes und die Konstruktion des modernen Staates

Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen

Max Weber und der Pakt mit dem Teufel

Carl Schmitt und die Faszination des Ausnahmezustandes

Exkurs über das Kulturhindernis der Aggression

Rousseau und das Weltgericht

Literatur

Entmoralisierung und Remoralisierung der Politik

Die großen politischen Probleme unserer Zeit können nicht sinnvoll diskutiert werden, weil sie in den Sog eines rigorosen Moralismus hineingeraten sind. Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal von der »Gefahr der Entdifferenzierung« gesprochen und damit die unheilvolle Tendenz gemeint, dass der moderne Staat dazu neigt, die für die Neuzeit spezifische Ausdifferenzierung der sozialen Systeme wieder aufzuheben – und zwar zugunsten einer grenzenlosen Politisierung aller Lebensverhältnisse.

Gerade die aktuellen Protestbewegungen richten sich gegen die funktionale Ausdifferenzierung, also das Grundprinzip der modernen Gesellschaft. Diese umfasst die Autonomie und Eigenlogik von Wirtschaft und Politik, Recht und Wissenschaft, Religion und Kunst und ist das Resultat einer gesellschaftlichen Evolution, die um 1500 einsetzt. Diese neuzeitliche Ausdifferenzierung ist zunächst nur kritisch wahrgenommen worden, etwa unter Titeln wie »Entzweiung« bei Hegel oder »Entfremdung« bei Marx.

Der Prozess der Entdifferenzierung heute vollzieht sich dagegen im Medium des Moralismus, der politische Probleme eben nicht politisch, sondern moralisch beurteilt. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, ist ein Blick in die Begriffsgeschichte des Staates hilfreich. Dabei zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen der Ausdifferenzierung und der Entmoralisierung des Politischen zu Beginn der Neuzeit. Dem entspricht heute die genau entgegengesetzte Tendenz zur Entdifferenzierung und Remoralisierung der Politik.

Seit 2500 Jahren wird die westliche Welt durch ein heftiges dialektisches Oszillieren zwischen Politik und Antipolitik geprägt. Die antike Polis ist noch die Stadt, die der Bürger nicht nur bewohnt, sondern ist. Das Wesen des Menschen ist öffentlich, er ist Zoon politikon, ein von Natur aus politisches Lebewesen, dessen höchstes Gut im Wohlergehen seiner Stadt liegt. Es ist eine Welt des Wettkampfs und des Siegenwollens. Die Umwertung der Werte durch Paulus könnte nicht radikaler sein. Der antike Grieche konnte das Christentum nur als Verweichlichung seiner Kultur empfinden: Das eine, das nun nottut, ist das Seelenheil, das man nur im Glauben findet. In ihrer radikalen Urform propagiert diese Umwertung der antiken Werte den Akosmismus eines Reichs, das nicht von dieser Welt ist.

Das Ausbleiben der triumphalen Wiederkehr Christi hat alsbald die Kirche als Machtform ins Leben gerufen. Es beginnt der jahrhundertelange Kampf zwischen kirchlicher und weltlicher Macht, also Papst und Kaiser. Beide Seiten bedienen sich dabei auch der Waffen des Gegners; so säkularisiert die Politik theologische Konzepte, und die Kirche betätigt sich politisch als indirekte Gewalt.

Erst Niccolò Machiavelli bricht mit der antiken und christlichen Tradition. Er steht für die neuzeitspezifische Selbstbehauptung des Politischen, emanzipiert von der Religion und jenseits von Gut und Böse. Hieran kann die Lehre von der Staatsraison anknüpfen, die nüchtern das Gewaltpragma des Politischen ins Zentrum aller Überlegungen stellt. Für Machiavelli steht nichts über der Politik. Er bleibt in Platons Höhle – ohne den philosophischen Weg zur Wahrheit gehen zu wollen. Gerade dadurch aber gelingt ihm der entscheidende Schlag gegen den politischen Moralismus.

Die Emanzipation des Politischen von der Moralität ermöglicht schließlich die Konstruktion des modernen Staates. Doch obwohl Machiavelli den modernen Begriff des Politischen entwickelt, schafft er es noch nicht, den Rahmen eines traditionellen Fürstenspiegels zu sprengen und zu einer Theorie des modernen Staates durchzudringen. Das gelingt erst Thomas Hobbes’ Leviathan – mythischer Name für die große Maschine des modernen Staates. Entscheidend für die Wendung zum modernen Staat ist die Orientierung nicht mehr am summum bonum, dem höchsten Gut, sondern am summum malum, nämlich dem gewaltsamen Tod, der jedem von jedem droht. Hegel wird das »die Furcht des Todes, des absoluten Herrn« nennen. Vor diesem Hintergrund bildet sich eine völlig neue Form von Rationalität, die für die Neuzeit bestimmend wird. Hegel, der schon in dem berühmten Herr-Knecht-Kapitel der Phänomenologie des Geistes an Hobbes anschließt, bringt diese Rationalität dann in eine endgültige Fassung: der Staat als Wirklichkeit des Vernünftigen. Allerdings bleibt diese Lösung des Problems noch an die Form der Monarchie gebunden.

Wer die politische Theorie Thomas Hobbes’ nur mit Absolutismus assoziiert, verfehlt das Zentrum seines Denkens genauso wie derjenige, der Machiavellis Lehre mit dem Vulgärbegriff des Machiavellismus verwechselt. Dass man Machiavelli und Hobbes meist derart missverstanden hat, liegt unter anderem daran, dass man sich in der Sekurität biedermeierlicher und wirtschaftlich prosperierender Zeiten nicht mehr in die Verzweiflung eines Bürgerkriegs versetzen konnte – vielleicht ist unsere Gegenwart hier ja besser disponiert.

Der Rückblick auf Machiavelli und Hobbes lehrt, den Staat und das Politische als historische Begriffe zu verstehen. Der Staat im neuzeitlichen Sinne hat nur sehr wenig mit der griechischen Polis oder der römischen res publica zu tun – aber eben auch nur wenig mit unserem gegenwärtigen paternalistischen Wohlfahrtsstaat. Die Politik der Neuzeit steht in einer moralisch-religiösen Klammer. Früher, also vorneuzeitlich, war Politik mit Religion und Moral amalgamiert. Heute haben wir es mit einer Überdehnung des modernen Staates zu tun, und zwar sowohl wohlfahrtsstaatlich wie ökologisch. Mit dem Wohlfahrtsstaat, der eigentlich schon in der traditionellen Gemeinwohlformel angelegt ist, kehrt das summum bonum zurück: das größte Glück der größten Zahl; der gehobene Lebensstandard wird als politisches Recht definiert. Das hat schon Max Weber sehr scharf gesehen. Neu hinzugekommen ist die ökologische Forderung. Sie hat sich ebenfalls sehr rasch als Überforderung des Staates erwiesen. Während die wohlfahrtsstaatliche Überforderung von einem politischen Moralismus ausgeht, steht hinter der ökologischen Überforderung die Ersatzreligion der Umweltbewegung.

Max Weber in seiner Rede über Politik als Beruf und Carl Schmitt in seiner Schrift über den Begriff des Politischen markieren Rückzugspositionen – gewissermaßen ein Ausharren auf verlorenem Posten. Aber gerade von dort geraten die Tabus heutiger Politik besonders gut in den Blick. Webers Grundthese, dass Politik Kampf ist und nicht ohne Gewalt auskommt, wird heute genauso verdrängt wie Schmitts politische Grundunterscheidung von Freund und Feind. Diese Verdrängung erweist sich immer deutlicher als ein Kampf gegen das Politische selbst – ein Kampf, der mit den Waffen der Emotionalisierung und der Begriffspolitik geführt wird.

Natürlich gab es die antipolitische Politik des Liebesakosmismus schon immer; man kann sie zumindest bis zum Urchristentum zurückverfolgen: Damals hat die absolute Ethik des Evangeliums in der Bergpredigt gefordert, dem Übel nicht mit Gewalt zu widerstehen. Heute orchestriert dieser Liebesakosmismus seinen Kampf gegen die Staatsraison mit dem Universalismus der Menschenrechte, mit Nächstenliebe als Fernstenliebe und dem Traum von der One World, dem Weltstaat, der kein Außen mehr kennt. Für Weber und Schmitt hingegen ist es selbstverständlich, dass die Politik die Moral auf Distanz halten muss. Deshalb halten sie dem Gott der Liebe den Dämon der Politik entgegen und der Feindesliebe die Unterscheidung von Freund und Feind. Webers Kritik der Gesinnungsethiker ist heute genauso aktuell wie Schmitts Kritik der indirekten Gewalten – nur dass sich die Gesinnungsethiker heute hinter dem Begriff Verantwortung verstecken und die indirekten Gewalten als Protestbewegungen und NGOs auftreten. Die indirekten Gewalten geben sich den Anschein des Unpolitischen, um den Staat zur Durchsetzung ihrer Interessen zu nutzen. Niklas Luhmann nennt sie »sich selbst ermächtigende ›parademokratische‹ Repräsentanten«.

Der Staat kommt dieser Entwicklung entgegen. Seine spezifisch europäische Geschichte beginnt bei Hobbes mit protection and obedience, also Schutz und Gehorsam, und endet heute mit overprotection im Daseinsfürsorgestaat – nudge heißt das einschlägige Stichwort: der Schubser in die richtige Richtung. Früher hat der Staat die Menschen vor Gefahren geschützt; heute werden wir, so die schöne Formulierung von W. van den Daele, vor der »Gefahr, Gefahren nicht zu erkennen«, geschützt. Genau wie die sozialistischen Emanzipationsprogramme neigt auch eine Politik, die die Menschen vor sich selbst schützen will, zum Paternalismus und behandelt sie als unmündig.

Neben den ökologischen Sorgen und den wohlfahrtsstaatlichen Ansprüchen gibt es noch einen dritten Faktor der Remoralisierung unserer Politik. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs setzt ein politischer Moralismus ein, der durch seine Praxis der Tribunalisierung radikal mit dem neuzeitlichen Begriff des Politischen bricht. Nun gibt es wieder gerechte Kriege und ungerechte Feinde, die eigentlich schon als Verbrecher behandelt werden. Mit anderen Worten: Wenn man den Krieg aufgrund seines unvergleichlichen Ausmaßes nicht mehr als politische Möglichkeit akzeptieren kann, setzt die Moralisierung durch einen diskriminierenden Kriegsbegriff ein. Das impliziert auch, dass Staatsräson und Realpolitik ein negatives Vorzeichen bekommen. Das gilt bis zur Gegenwart.

Wo ist unser historischer Ort? Hegel sah seine Gegenwart am Ende der Geschichte angelangt. Der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit hat im Staat als der Wirklichkeit des Vernünftigen sein Ziel erreicht. Doch schon Nietzsche macht die Gegenrechnung auf: Wir leben im Zeitalter des »letzten Menschen«, dem die Obrigkeit ein »Gehäuse der Hörigkeit« präpariert hat, dessen schicksalhafte Bürokratie dann das Lebensthema Max Webers wurde. Die Rechte spricht von »sekundären Systemen« (Hans Freyer) und kultureller Kristallisation (Arnold Gehlen), die Linke nennt es »verwaltete Welt« (Theodor Adorno). Von Heidegger philosophisch überhöht heißt das Gehäuse der Hörigkeit »Gestell«, und Helmuth Schelsky spricht nüchterner vom technischen Staat. Es ist aber leicht zu erkennen, dass dies nur verschiedene Namen desselben Sachverhalts sind: Nichts geht mehr – wir leben im Posthistoire.

Max Weber und Carl Schmitt hoffen noch auf die Sprengung dieses stahlharten Gehäuses. Ein Schlüsselbegriff Webers lautet Außeralltäglichkeit, und die schreibt er nicht nur dem prinzipiell nicht institutionalisierbaren Charisma des wahren Führers, sondern auch der intimen Erfahrung erotischer Exaltation zu. Dem entspricht bei Schmitt die Faszination durch den Ausnahmezustand. So heißt es in seiner Politischen Theologie: »In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik.« Man mag das heute als romantische oder gefährliche Nostalgie einschätzen – anschlussfähig ist es nicht.

Wir müssen anders ansetzen, nämlich bei den Prozessen der Entpolitisierung, Entdifferenzierung und Remoralisierung – also beim Kampf gegen das eigentlich Politische, das schon in der Definition der Situation steckt: Was ist das Problem? Wie ist die Lage? Um diese Fragen zu beantworten, kann die Politik nicht auf das Wissen warten. Das bedeutet aber, dass man politische Urteile nicht beweisen, sondern nur bewähren kann. Denn es gibt keine Tatsachen im Politischen. Und was man in der Politik als Fakten behandelt, sind immer Konstruktionen von interessierter Seite. Deshalb hat Max Weber Augenmaß und Verantwortung gefordert. Das sind Grundbegriffe einer Kritik der politischen Urteilskraft.

Die Geschichte der Bundesrepublik war bis zur Jahrtausendwende durch einen verantwortungsbewussten Reformismus geprägt. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Nicht nur die Protestbewegungen, sondern auch öffentlichrechtliche Medien und Gesinnungspolitiker wollen den gordischen Knoten gesellschaftlicher Komplexität mit Moral durchhauen. So kollabiert die Differenz zwischen Politik und Moral im politischen Moralismus von heute. Das ist der Grund für den Niedergang der Debattenkultur und die Ohnmacht der Argumente. Denn das Moralisieren macht jede Verständigung unmöglich.

Man muss kein Dialektiker sein, um zu erkennen, dass die Moralisierung der Politik eine Politisierung der Moral impliziert. Diesen Prozess der Entdifferenzierung hat der Philosoph Hermann Lübbe so charakterisiert: »Die Moral, die ihren Unterschied von der Politik nicht erträgt und ihn aufzuheben versucht, zerstört damit lediglich jene Schranken, jenseits derer die Politik einen totalen Charakter annimmt.« Im Klartext heißt das: Der politisierten Moral entspricht eine totalitäre Politik.

Das Syndrom des politischen Moralismus lässt sich auf die Formel bringen: Je schwächer der gesunde Menschenverstand, desto stärker die Gesinnung. Und wo Gefühle statt Argumente die Debatten bestimmen, kommt es ganz unvermeidlich zur Verteufelung der Andersdenkenden. Alle Sachfragen geraten in den Sog moralistischer Polemik, und so wird heute ganz selbstverständlich der politische Gegner als unwählbar behandelt. Im Extremfall, der leider immer häufiger eintritt, sieht der politische Moralist im politischen Gegner einen Unmenschen. So wird die Exkommunikation wieder aktuell – als sozialer Boykott.

Die politische Szene, nicht nur in Deutschland, aber hier vor allem, wird zunehmend von der bornierten Gewissheit und Selbstgerechtigkeit eines von Angst legitimierten moralischen Urteils geprägt, in dem immer auch die Sanktion der Missachtung des Andersdenkenden spürbar ist. Wenn Politik auf Moral reduziert wird, disqualifiziert man den politischen Gegner als unmoralisch, und das heißt, man grenzt ihn aus der Politik aus. Der Soziologe Niklas Luhmann bemerkt dazu: »Wer sich moralisch engagiert hat, kann schwer nachgeben, weil seine Selbstachtung auf dem Spiel steht.« So wird das Polemische der Politik von der Moral ins Inquisitorische gesteigert. Es geht nicht mehr um die Sache, sondern um Identität.

Die antike Kontrastfolie

Den antiken Begriff »Polis« lässt man am besten unübersetzt. Er meint weder den Staat im modernen Sinne noch die Nation. Und auch Übersetzungen mit »Vaterland« oder »bürgerliche Gesellschaft« verdecken mehr, als sie erhellen. Oswald Spengler hat die Polis einmal als das »Ideal des Staates als Statue« bezeichnet; das sollte den homogenen, übersichtlichen, aber partikularistischen Charakter dieser Gemeinschaftsform hervorheben: nach innen zunftartig geschlossen, nach außen im permanenten Kampf aller gegen alle. Für die Bürger der Polis sind Religion und Politik, Recht und Moral noch nicht voneinander getrennt. Dem entspricht, dass die Bürgerschaft nicht nur in der Polis lebt, sondern selbst ihre Verfassung ist. Nicht nur in der Polis leben, sondern sie sein – das hat Nietzsche das »Stadt-sein« der antiken Griechen genannt. Jeder Bürger ist hier repräsentativ für das Ganze.

Die durch Aristoteles berühmt gewordene Definition des Menschen als Zoon politikon muss man zunächst einmal in diesem Zusammenhang einer Öffentlichkeit der antiken Existenz in der Polis verstehen: Ich bin meine öffentliche Erscheinung. Die antike Polis ist also der Raum des Auftretens, des Erscheinens der Bürger vor ihresgleichen. Was dann durch das christliche Verbot der Exzellenz und des Stolzes diskriminiert worden ist, steht für das antike Menschsein im Zentrum, nämlich das öffentliche Hervorragen des Einzelnen. Immer der Erste zu sein und vorzustreben vor anderen – das ist die Formel der agonalen Existenz. Agon heißt Streit und Wettkampf, also eine Gegnerschaft ohne Feindschaft. Auf dem Marktplatz, der Agora, traten die Griechen in rhetorische und athletische Wettkämpfe ein, um sich zu unterscheiden und auszuzeichnen. Sich mit anderen zu messen, war die einzig akzeptierte Form der Selbstdarstellung. Die Griechen hatten also auch ein agonales Verhältnis zu sich selbst.

Das setzt voraus, dass die anderen die Arbeit tun – also Sklaverei. Hannah Arendt formuliert: »Politik fing an, wo Sorge um das Leben aufhörte.« Politik war für die Griechen eine Seinsweise. Christian Meier spricht in diesem Zusammenhang von »bürgerlicher Gegenwärtigkeit«: Alles ist personen- und situationsbezogen. Die Bürger hatten alle politischen Dinge selbst in der Hand. Politisches Leben im eigentlichen Sinne war für die Griechen nur das Leben des aktiven Bürgers in der Stadt. In ihr könne der Mensch seine höchsten Möglichkeiten verwirklichen, so Aristoteles.

Das politische Leben ist das Leben des freien Stadtbürgers, und die Polis ist die Gemeinschaft der Freien: koinonía ton eleuthéron. Entscheidend ist nun aber, dass sich diese Freien mit Haut und Haaren von der Polis konsumieren lassen und individuelle Freiheit in unserem modernen Sinne gar nicht kennen. Jacob Burckhardt spricht von der »Hingebung der ganze Existenz« und charakterisiert diese Unentrinnbarkeit der Polis scharf als »Staatsknechtschaft des Individuums«. Der Bürger gehört der Polis.

Wie lässt sich dieser Widerspruch von Freiheit und Knechtschaft auflösen? Die Definition des Menschen als Zoon politikon versteht man nur, wenn man sich klar macht, was Aristoteles unter der Natur eines Wesens versteht: Natur ist der Zustand, den ein Einzelnes erreicht, wenn seine Entwicklung zum Abschluss gekommen ist. Der Naturzustand ist also das Ziel. Nur in diesem Sinne lässt sich davon sprechen, dass der Staat »von Natur« existiert und dass der Mensch »von Natur aus« ein staatenbildendes Wesen ist. In der Politik des Aristoteles findet sich die berühmte Formel »anthropos phýsei politikon zoon«. Zu Deutsch: Menschsein heißt in der Polis leben – und wer dies nicht tut, ist entweder ein Tier oder ein Gott. Wenn aber die Polis die Natur des Menschen verwirklicht, dann müssen wir uns das Glück als bürgerliche Praxis vorstellen. Es kann deshalb auch nicht überraschen, dass die alten Griechen Erziehung in aller Unbefangenheit als Züchtung verstanden. Der Mensch ist das Kunstwerk der Polis.

Die berühmtesten Sätze über die Polis und den antiken Bürger finden sich schon am Anfang der Politik des Aristoteles. Olof Gigon übersetzt missverständlich, »dass der Staat zu den naturgemäßen Gebilden gehört und dass der Mensch von Natur ein staatenbildendes Lebewesen ist«. Im griechischen Original lautet die Stelle: »hoti ton physei hä polis esti, kai hoti anthropos physei politikon zoon«. Man müsste also übersetzen, dass die Stadt zu dem gehört, was von Natur ist, und dass der Mensch von Natur das in der Stadt lebende Wesen ist. Die Polis macht den Menschen erst zum Menschen im eigentlichen Sinne, sie ist das Potenzial seines Seinkönnens. Insofern ermöglicht die Polis dem Bürger das beste Leben.

Für Aristoteles erreicht ein Wesen seinen Naturzustand also erst am Ende seiner Entwicklung. Dass der Mensch von Natur ein Zoon politikon sei, zeige sich eben im freien bürgerlichen Leben der Polis. Hobbes sieht das ganz anders, der Mensch müsse alles daransetzen, um sich vom Naturzustand zu befreien. Natürlich weiß auch Aristoteles, dass es bei der Organisation der Polis zunächst um gegenseitigen Beistand, um Verkehrs- und Wirtschaftsvereinbarungen geht. Doch der Stadtstaat hat ein Ziel und einen Zweck, die weit über eine Schutz- und Komfortgemeinschaft hinausreichen. Politeia ist die Sorge um die Tugend, eine Kultur des guten, edlen Lebens – »zunächst um des bloßen Lebens willen entstanden, dann aber um des vollkommenen Lebens willen bestehend«. Das gute Leben lässt sich demnach nicht auf Selbsterhaltung reduzieren. Es erfordert die gute Gesellschaft, die gleichsam als Transzendenzbegriff der klassischen politischen Philosophie fungiert – die von Natur aus richtige politische Ordnung.

Die aristotelische Unterscheidung zwischen dem Entstehen der Polis um des Überlebens willen und ihrem Bestehen um des vollkommenen Lebens willen ermöglicht es auch heute noch, den aus der Not des konfessionellen Bürgerkriegs geborenen modernen Staat, dessen theoretische Grundlagen von Hobbes gelegt worden sind, von der guten Gesellschaft abzuheben. Wir können hier nicht verfolgen, wie aus dem Zoon politikon schon bei Seneca und dann bei Thomas von Aquin das animal socialis wird, werden diesem aber in der Gesellschaftstheorie Rousseaus wiederbegegnen.

Um 400 v. Chr. bietet Thukydides in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg ein ganz anderes Bild von der griechischen Politik. Vergleicht man es mit der politischen Philosophie des Aristoteles, so könnte man von einer politischen Wirklichkeitswissenschaft im Gewand der Geschichtsschreibung sprechen. Der Melier-Dialog des Thukydides ist das erste Dokument der Staatsräson, das die Eigengesetzlichkeit der Macht offenbart. Werner Jaeger zeigt, wie Thukydides bei der Erforschung der Ursachen des Peloponnesischen Krieges auf einen medizinischen Ursachenbegriff, nämlich próphasis