Claudia Reitinger
Existenzanalytisches Traumverstehen
Die Autorin
Dr.in MMag.a Claudia Reitinger ist Philosophin, Biologin und Psychotherapeutin für Existenzanalyse in freier Praxis in Salzburg und St. Johann im Pongau. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Anthropologie psychotherapeutischer Schulen, der angewandten Phänomenologie und der angewandten Ethik.
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Umschlagbild: © Klaus Kilian, www.klauskilian.de
Satz: Wandl Multimedia-Agentur, Großweikersdorf
Lektorat: Mag. Katharina Schindl, Wien
Druck und Bindung: Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien
Printed in Austria
ISBN 978-3-7089-2144-0 (Print)
ISBN 978-3-99111-376-8 (E-Pub)
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Hinführung
2.1 Traumverstehen als Ausdruck des Zeitgeistes
2.2 Sigmund Freud und die Traumdeutung
2.3 Kritik an der Traumdeutung Freuds seitens der Phänomenologie
3 Phänomenologisches Verstehen von Träumen
3.1 Phänomenologie – philosophischer Hintergrund
3.2 Phänomenologie in der Psychotherapie
3.3 Phänomenologische Zugänge zum Traum
4 Existenzanalytisches Verstehen von Träumen
4.1 Existenzanalyse – relevante Grundzüge
4.2 Die vier Grundbedingungen menschlicher Existenz – Grundlagen und Traumbeispiele
4.3 Existenzanalytisches Traumverstehen – Phänomenologie und die vier Grundbedingungen
5 Träume im existenzanalytischen Prozess
5.1 Fallbeispiele: Einzelne Träume im therapeutischen Prozess
5.2 Fallbeispiele: Wiederkehrende Träume im therapeutischen Prozess
6 Abschließende Gedanken
Danksagung
Literaturverzeichnis
Stichwort- und Personenverzeichnis
1 Einleitung
Im Traum schafft unsere Fantasie ganz von selbst ihre eigene Welt. Wir begegnen realen Menschen oder fiktiven Gestalten, verknüpfen das, was in der Wirklichkeit nicht verknüpfbar ist, lassen Getrenntes ineinanderfließen oder fliegen durch die Lüfte, ohne dass uns daran irgendetwas fragwürdig vorkommt. Wir erfahren Großartiges, Schreckliches oder ganz Alltägliches. Die Naturgesetze sind aufgehoben, ohne dass uns dies auch nur für einen Moment sonderbar erscheint. Ganz selbstverständlich springen wir durch Zeit und Raum. In der Traumwelt ist alles möglich und gleichzeitig unkontrollierbar. Wir erleben uns als autonome Akteur*innen und sind dennoch unfrei wie Marionetten auf einer hinter unserem Rücken von uns selbst kreierten Bühne.
Der Traum ist eine zutiefst rätselhafte Erfahrung, die wir je nach Interpretationsfolie ganz unterschiedlich verstehen können. Im Laufe der Geschichte entstehen theologische, metaphysische und wissenschaftliche Erklärungsmodelle, wechseln einander ab oder existieren parallel zueinander.
In Anbetracht dessen, wie lange wir uns als Menschheit schon mit dem Phänomen des Traums beschäftigen, ist die psychologische und psychotherapeutische Interpretation noch sehr jung. Gut hundertzwanzig Jahre liegt die Veröffentlichung der Traumdeutung Freuds zurück, und ungeachtet dessen, dass die Thesen Freuds teils kritisch gesehen wurden und werden, ist sein Ausgangspunkt, dass Träume sinnhafte Gebilde sind, die etwas über die psychische Welt des Menschen aussagen, die Eingangstüre zu allen weiteren psychologischen und psychotherapeutischen Erklärungsmodellen.
Als existenzanalytische Psychotherapeutin knüpfe ich an die Annahme an, dass jeder Traum eine sinnvolle Konstruktion ist, die uns Informationen über das (Innen-)Leben des*der Träumenden und dessen*deren Bezug zur Welt und zu den anderen gibt, mag der Inhalt auf den ersten Blick noch so absurd erscheinen.
Im therapeutischen Prozess kommen der Beschäftigung mit Träumen meines Erachtens zwei verschiedene Aufgaben zu.
Träume verweisen uns erstens in einer unverstellten Weise auf Themen, mit denen der*die Träumende beschäftigt ist, und geben uns Auskunft über dessen*deren momentanes In-der-Welt-Sein. Dabei können sie sowohl auf Schwierigkeiten verweisen, als auch mögliche Lösungen oder alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Egal, ob sich in Träumen Problematisches oder Gelingendes zeigt, können sie auf diese Weise eine Richtschnur für den weiteren Therapieverlauf geben. Wird in der Therapie ein Traum erzählt, geht es ohne Umwege und Abzweigungen immer um etwas Wesentliches.
Zweitens zeigt sich im Laufe einer Psychotherapie oft, dass sich Traummotive verändern oder immer wiederkehrende Themen gänzlich verschwinden. Kann diese Veränderung in Zusammenhang mit dem therapeutischen Prozess gebracht werden, findet sich hier eine Möglichkeit, den Therapieverlauf zu evaluieren.
Während Träume insbesondere in den Anfängen der psychotherapeutischen Arbeit als zentraler Bestandteil des psychotherapeutischen Prozesses angesehen wurden, verliert die Beschäftigung mit diesem Phänomen angesichts störungsspezifischer Kurzzeittherapien zunehmend an Bedeutung. Eine Ausnahme stellen tiefenpsychologische Ansätze und die Daseinsanalyse dar, die Traumarbeit immer noch als wesentliches Moment der therapeutischen Behandlung begreifen. Meiner eigenen Erfahrung nach finden sich im Austausch mit anderen Psychotherapeut*innen oder in Supervisionsgruppen kaum Traumberichte, ebenso wie sie in der Ausbildung in Existenzanalyse nur eine untergeordnete Rolle spielen. Aus persönlicher Sicht finde ich es bedauernswert, diesen sehr direkten Zugang zur Innenwelt der Patient*innen in einem therapeutischen Prozess nicht zu berücksichtigen. Da ich selbst die Arbeit mit Träumen – sowohl mit meinen eigenen als auch mit denen von Patient*innen – als äußerst fruchtbar und spannend erlebt habe und erlebe, möchte ich mit diesem Buch einen Anstoß zur erneuten Integration von Träumen in den therapeutischen Prozess geben und eine phänomenologisch-existenzielle Lesart von Träumen vorstellen.
Der Aufbau des Buches verläuft von einer kurzen, allgemeinen Hinführung zum Thema über eine detaillierte Darstellung von unterschiedlichen phänomenologischen Ansätzen bis hin zu einer phänomenologisch-Existenziellen Lesart von Träumen, die sich an den Grundlagen meiner eigenen psychotherapeutischen Ausbildung, der Existenzanalyse nach Alfried Längle, orientiert.
Weil sich das phänomenologische Traumverstehen, wie es von Ludwig Binswanger und Medard Boss entwickelt wurde, vor allem in Abgrenzung zu einer psychoanalytischen Herangehensweise versteht, werden in einem hinführenden Teil die zentralen Annahmen einer psychoanalytischen Herangehensweise und die Kritik daran seitens der Phänomenologie nachgezeichnet. Dabei möchte ich selbst die Position einnehmen, dass es grundsätzlich nicht die eine „richtige“ Herangehensweise an Träume gibt, so wie es auch nicht die eine „richtige“ psychotherapeutische Anthropologie oder Methode gibt. Vielmehr werden durch die Brille einer Anthropologie bestimmte Aspekte des Menschen und des Traumes sichtbar, während andere unsichtbar bleiben. In der Herangehensweise an Träume zeigen sich die jeweiligen anthropologischen Grundannahmen und eröffnen ein spezifisches Traumverstehen, während sie es gleichzeitig einschränken.
Im Hauptteil des Buches möchte ich meine eigene Zugangsweise zu Träumen darstellen, die auf zwei Bausteinen der Existenzanalyse fußt: der Phänomenologie und dem Strukturmodell.
Die Existenzanalyse versteht sich explizit als phänomenologische Psychotherapierichtung. Das Verständnis der Phänomenologie innerhalb der Existenzanalyse knüpft an Martin Heideggers Dreischritt-Methode der Reduktion, Konstruktion und Destruktion an und ist eine Haltung der Gesprächsführung, die auf das Verstehen des subjektiv Erlebten abzielt. Im Kontext des Traumverstehens entspricht dies einem nicht interpretativen Zugang, der den Traum aus sich selbst verstehen möchte, ohne auf unbewusste Wünsche, auf eine subjekt- und objektstufige Deutung oder auf die Unterscheidung zwischen manifestem und latentem Trauminhalt zurückzugreifen. Träume werden, einfach gesagt, behandelt wie wirkliche Erlebnisse.
Gleichzeitig bezieht sich die Existenzanalyse auch auf vier Grundbedingungen menschlicher Existenz, aus deren Blickwinkel sie den Menschen an sich und psychische Störungen im Speziellen betrachtet. Die Grundbedingungen können zwar auch phänomenologisch verstanden werden, dennoch unterscheidet sich das Traumverstehen der Existenzanalyse dadurch deutlich von demjenigen der Daseinsanalyse.
Nach der theoretischen Darstellung des existenzanalytisch-phänomenologischen Modells des Traumverstehens wird dieses in einem praktischen Teil anhand von vier Fallbeispielen dargestellt. Dabei wird gezeigt, wie sich die Arbeit mit Träumen in den therapeutischen Prozess integrieren lässt. Neben einzelnen Träumen wird dabei ein spezielles Augenmerk auf wiederkehrende Traummotive gelegt und gezeigt, welche existenziellen Grundmotive sich darin finden lassen und auf welche Weise sich diese Träume im Laufe des therapeutischen Prozesses verändern.
Für die Ermöglichung dieses praktischen Teils möchte ich meinen Patient*innen danken, die sich mit ihrer Geschichte und ihren Traumbeispielen zur Verfügung gestellt haben und ohne deren Zustimmung und Mitarbeit dieser letzte Teil nicht zustande gekommen wäre.
2 Hinführung
Eine holzschnittartige Zuwendung zu den verschiedenen Lesarten von Träumen im Laufe der Geschichte soll ein langsames Eintauchen in die Thematik ermöglichen und den Blick dafür öffnen, auf welch unterschiedliche Weisen das Phänomen des Traums verstanden werden kann und wie eng der Zusammenhang zwischen den Annahmen über Mensch und Welt und dem Traumverstehen ist. Je nachdem, auf welcher Hintergrundfolie wir Träume lesen, werden wir ganz Unterschiedliches in ihnen finden: Weissagungen von Göttern, den Ausdruck der Weltseele, Zukunftsvisionen, einen Zugang zur mystischen Welt, Ängste, sinnlose Fantasiegebilde, verdrängte Wünsche, Konflikte.
Den Zusammenhang zwischen Weltanschauung, metaphysischen Annahmen über die Wirklichkeit, anthropologischen Annahmen und dem Traumverstehen im Blick zu haben erscheint mir wichtig, um möglichen dogmatischen Ansprüchen des eigenen Traumverstehens entgegenzuwirken und sich die Relativität der jeweiligen Position ins Bewusstsein zu rufen.
2.1 Traumverstehen als Ausdruck des Zeitgeistes
Mit Ludwig Binswanger können wir drei verschiedene Zugänge zu Träumen unterscheiden: den theologischen, den metaphysischen und den wissenschaftlichen, wobei zu letzterem auch die psychologischen Deutungsmodelle gezählt werden können (vgl. Binswanger, 1928, S. 1ff.). Diese drei Interpretationszugänge sind nicht rein chronologisch zu verstehen, sondern existieren parallel zueinander, wobei sich innerhalb der Epochen bestimmte Vorlieben abzeichnen. Theologische und metaphysische Betrachtungen treten im Laufe der Geschichte zugunsten eines wissenschaftlichen Verständnisses in den Hintergrund.
Theologische Deutungen von Träumen finden wir hauptsächlich in der Antike: bei Homer, den Vorsokratikern, im babylonischen Talmud, im alten Ägypten, in der Bibel, aber ebenso bei unterschiedlichen Philosophen der Neuscholastik. Kennzeichnend für einen theologischen Zugang zu Träumen ist, dass diese als ein Phänomen angesehen werden, das von außen auf den Menschen trifft und nicht aus ihm selbst heraus entsteht. Der Ursprung der Träume sind die Götter, die den Schlaf der Menschen dafür nutzen, ihnen Botschaften zu schicken, und dadurch in das Leben eingreifen können (vgl. Fromm, 2020, S. 78).
Der Traum bildet diesem Verständnis gemäß eine Schnittstelle zwischen Transzendenz und Immanenz und vermag aufgrund seiner Zwischenposition eine Verbindung zwischen diesen beiden Welten durch die*den Träumende*n herzustellen. Der*die Träumende nimmt dabei einerseits teil am Weltgeschehen, andererseits wird der Traum von Mächten gesteuert, die über die*den Träumende*n hinausgehen (vgl. Heraklit, 2007, B75; Alt, 2011, S. 32). Die Götter beeinflussen das Traumgeschehen, senden Träume, erscheinen in unterschiedlichen Gestalten oder sprechen direkt zum*zur Träumenden, um dessen*deren Handeln zu lenken.
In den homerischen Epen sind Träume Boten der Götter; die Götter können auf verschiedenartige Weise in die Träume eingreifen. Sie treten im Traum selbst auf oder wechseln ihre Gestalt, können Wahrträume schicken oder den Menschen bewusst täuschen. So schickt Zeus dem Agamemnon in einem trügerischen Traum den weisen Nestor, um ihn zu einer voreiligen Schlacht zu bewegen. Nach dem Erwachen des Königs wird eine Zusammenkunft der Achäer einberufen, die von Agamemnons Traum so beeindruckt sind, dass sich das kriegsmüde Heer noch einmal zu einem Angriff überreden lässt.
Daran anknüpfend entwickeln die Vorsokratiker unterschiedliche Theorien darüber, was den Zustand des Schlafs im Vergleich zum Wachen auszeichnet, um offen für die Aufnahme des Göttlichen oder Kosmischen zu sein. Im Schlaf, so vermutet Demokrit, können frei flottierende Bilder über die Poren der Haut in den Körper des*der Schlafenden eindringen und in der Seele des*der Schlafenden sichtbar werden. Für Xenophon ist die Seele im Schlaf in einer Zwischenwelt, in der sie frei von den Bedürfnissen und Sorgen der immanenten Welt und daher offen gegenüber den göttlichen Botschaften ist (vgl. Alt, 2011, S. 33).
Die Träume, die in der Bibel aufgezeichnet sind, bilden einen Teil der Botschaft Gottes an die Menschen und haben oftmals prophetischen Charakter. Beispielsweise wurde Joseph von Nazareth in einem Traum von Gott mitgeteilt, dass er, seine Frau und sein Sohn nach Ägypten fliehen sollen, um dem Tod durch König Herodes zu entgehen. Später ließ Gott Joseph durch einen Traum wissen, dass Herodes gestorben war und dass er nun in sein Heimatland zurückkehren konnte.
Auch wenn dies manchmal so erscheinen mag, sind diese Traumbilder aus sich heraus nicht verständlich. Sie müssen von Wahrsagern, Priestern oder Weisen ausgelegt werden, die das göttliche Wissen vertreten und einen speziellen Zugang zur transzendenten Welt haben. Dadurch kommt ihnen eine spezielle Deutungshoheit zu, die sie von Laien abgrenzt. In der Bibel treten Josef und Daniel als exemplarische Weise auf, denen von Gott die Fähigkeit zur Traumdeutung mitgegeben wurde. Ebenso werden Traumbücher für die Auslegung herangezogen, beispielsweise um die konträren Träume der pharaonischen Beamten zu deuten (vgl. Gen 40: 9–11, 16f.).
Parallel zu theologischen Deutungen entstehen in der Antike auch wissenschaftlich-psychologische Erklärungen. Sowohl Platon als auch Aristoteles weisen die Ansicht, dass Träume durch Mächte außerhalb des Subjekts entstehen, zurück und nehmen dadurch die Haltung eines psychologischen Verständnisses von Träumen vorweg.
Platon führt den Traum im Timaios auf die Bewegungen der Seele zurück und vollzieht damit einen ersten Schritt in Richtung Traumpsychologie. Er geht dabei von einer sinnespsychologischen Begründung aus. Das Sehen kommt bei Platon dadurch zustande, dass innere und externe Strahlung zusammentreffen. Die Augen senden nach dieser Auffassung einen Strahl nach außen, der mit den Erscheinungen zusammenstößt und diese erhellt. Im Schlaf gibt es Nachwirkungen, sodass Träume als Fantasiebilder entstehen:
Wenn aber das verwandte Feuer des Auges in die Nacht vergeht, so ist auch das innere Licht verhalten, und so ist auch das innere Licht zurückgehalten, wenn die Augen geschlossen sind, und so besänftigen und ebnen sich alle inneren Bewegungen. Sind aber einige hervorstechende Bewegungen noch zurückgeblieben, so werden, welcherlei Bewegungen und an welchen Punkten sie zurückgelassen worden, eben solche und so vielerlei Bilder der Phantasie erscheinen. (Platon, Timaios, 45d/e)
Während Platon im Timaios eine wertneutrale, sinnesphysiologische Erklärung für die Entstehung von Traumbildern gibt, vertritt er in der Politeia die Auffassung, dass sich während des Schlafes – wenn der vernünftige Seelenteil nicht aktiv ist – die Begierden in Träumen zeigen.
[Die Lüste,] welche während des Schlafes zu erwachen pflegen, wenn nämlich einerseits der eine Bestandteil der Seele, der Vernunft, Humanität und Beherrschung jenes begierlichen Teiles in sich begreift, im Schlafe liegt, und wenn andrerseits der tierische und wilde Teil der Seele, von Speise oder Trank angefüllt, sich bäumt und nach Abschüttelung des Schlafes durchzugehen und seine Triebe zu befriedigen sucht. Du weißt, daß letzterer dann in solchem Zustande sich alle möglichen Dinge erlaubt, weil er nun aller Scham und Vernunft los und ledig ist. Denn er trägt kein Bedenken, sowohl seiner Mutter, wie er wähnt, beizuwohnen, als auch jedem anderen Gegenstand seiner Lust, sei es Gott, Mensch oder Tier. (Platon, Politeia, Buch 9)
Ebenso wie später Freud geht Platon von einem triebhaften Teil der Seele – dem Epithymetikon – und einem vernünftigen Teil – dem Logistikon – aus. Im Schlaf wird der triebhafte Teil der Seele nicht mehr vom Logistikon im Zaum gehalten. So können sich in Träumen unterschiedliche menschliche Begierden in deutlicher Weise zeigen.
Aristoteles knüpft an die sinnesphysiologische Begründung von Platon an und setzt sich in De insomniis mit den Phänomenen des Schlafes und des Träumens auseinander. Für ihn ist der Urheber der Träume der Mensch selbst. Er versteht den Traum als Vorstellungsfunktion des sensitiven Seelenteils, die sich im Schlaf deshalb realisiert, weil Sinneseindrücke aus dem Wachleben übrigbleiben, die man im Wachzustand nicht bemerkt hat. Erst im Schlaf – wenn keine Eindrücke und Bewegungen mehr von außen auf den Menschen einwirken – können die feinen Bewegungen in der Seele sichtbar werden und sich im Traum zeigen:
Es ist also hieraus offensichtlich, daß nicht nur, wenn man wach ist, die Bewegungen, die aus den Wahrnehmungsaffekten hervorgehen – sowohl diejenigen, die von außen stammen, wie diejenigen, die aus dem Körper stammen – in den Wahrnehmungsorganen anwesend sind, sondern auch, wenn jene Affektion, die Schlaf genannt wird, eingetreten ist; und besonders dann erscheinen sie. Denn tagsüber werden sie durch die Affektivität der Sinne und der Vernunft verdrängt und unsichtbar gemacht, wie ein kleineres Feuer neben einem großen und wie schwache Schmerzen und Lüste neben starken, wenn diese aber aufgehört haben, kommen auch die kleineren zur Oberfläche. (Aristoteles, 1994, 462a)
Und dann träumen wir.
Metaphysisch-naturphilosophische Spekulationen ziehen sich quer durch die Geschichte. Schon bei den Vorsokratikern mischen sich theologische mit naturphilosophischen Deutungen. Im Mittelalter finden wir mystisch-astrologische Traumbetrachtungen, beispielsweise bei Albertus Magnus, der voraussagende Träume durch kosmische Einflüsse erklärt und darin eine Verbindung zwischen der Weltintelligenz und der individuellen Seele sieht (vgl. Binswanger, 1928, S. 24f.).
Den Höhepunkt erreicht das metaphysisch-naturphilosophische Traumverstehen in der Romantik, die den Traum, wie auch das individuelle Leben selbst, als eingebettet in eine harmonisch-organische Ganzheit versteht. Bei der vertiefenden Beschäftigung mit dem eigenen Seelenleben geht es nicht darum, eigene Dynamiken oder innere Konflikte zu verstehen und zu lösen, sondern darum, eine tiefere Einsicht in das menschliche Wesen und die Welt an sich zu erlangen. Dadurch, dass die Romantik das Subjekt metaphysisch auflädt und als Projektionsraum der Welt versteht, wohnt der Selbsterkenntnis immer schon das Verstehen von tieferen, umfassenderen Zusammenhängen inne. Durch diese Verwobenheit von Mensch, Naturseele und Welt bilden Selbsterkenntnis und Welterkenntnis zwei Seiten einer Medaille. Der Traum stellt für die romantische Literatur einen ausgezeichneten Zugang zu dieser metaphysischen Ordnung dar. Er wird zu einer überpersönlichen Ausdrucksform der Weltseele hochstilisiert (vgl. Binswanger, 1928, S. 38ff.; Alt, 2011, S. 243ff.). Der wohl bekannteste Traum ist der von der blauen Blume in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, der die Exposition des Romans bildet (vgl. Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Kapitel 1).
Heinrich schläft im Haus seiner Eltern. Es ist Sommersonnenwende, eine Zeit der Veränderung. Heinrich spürt im Dämmerzustand, wie sein Bewusstsein langsam schwindet und über die Fantasie in den Schlaf driftet. Er durchreist fremde Gegenden, bis er eine Höhle am Fuße eines Berges entdeckt. Er schwimmt durch ein blau schimmerndes Wasserbecken bis zum anderen Ende. Er fällt in einen Schlummer und erwacht inmitten dunkelblauer Felsen auf weichem Rasen am Rande einer Quelle.
Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe lichtblaue Blume, die zunächst an der Quelle stand, und ihn mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte. Rund um sie her standen unzählige Blumen von allen Farben und der köstlichste Geruch erfüllte die Luft. Er sah nichts als die blaue Blume und betrachtete sie lange mit unnennbarer Zärtlichkeit. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen und zu verändern anfing; die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stängel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der sonderbaren Verwandlung. (ebd., S. 196)
In diesem Moment fließen Sehnsucht und Hoffnung zusammen. In der Blume zeigt sich nun ein zartes Gesicht, das Heinrich später in Mathilde wiedererkennt.
Heinrich sieht in diesem Traum keinen Zufall in seinem Leben, sondern das Eintauchen in die Verwobenheit von Selbst und einer metaphysischen Weltordnung, die alles durchwirkt. In der blauen Blume verbinden sich Mensch, Natur und Geist und das Streben nach Selbst- und Welterkenntnis. Sie wird zum Symbol für die Romantik und die Sehnsucht nach Liebe, dem Unendlichen und der Erkenntnis von Selbst und Natur.
In der Romantik wird der Traum ebenso wie in der Psychoanalyse als Ausdruck von etwas Dahinterliegendem verstanden. Das, was dahinterliegt, sind allerdings keine verdrängten Wünsche oder Konflikte, sondern es ist ein metaphysischer Zusammenhang, der sich im Traum, in der Dichtkunst oder in der Mystik offenbart.
Aus diesem Blickwinkel nimmt der Traum in der Romantik eine Stellung zwischen einer theologischen und einer psychologischen Position ein. Träume sind weder etwas Fremdes, das von außen auf den Menschen einwirkt, noch sind sie bloßer Ausdruck der Innenwelt. Für ein Subjekt, das in eine metaphysische Weltordnung eingebettet und von dieser ganz durchwirkt ist, werden Träume zu einer Erkenntnisquelle tieferer mystischer Zusammenhänge.
Die idealistische Grundhaltung der Romantik kann als Gegenbewegung zum rationalistischen Weltbild der Aufklärung verstanden werden, die den Begriff der Wirklichkeit auf das Berechenbare, naturwissenschaftlich Fassbare einschränkt. Der Mensch wird aus ebendiesem Blickwinkel betrachtet und seine Subjektivität letztlich in ein mechanistisches Kräftespiel aufgelöst. Der Traum wird zunächst konsequent vom Feld der wissenschaftlichen Beobachtungen ferngehalten. Als das unklare, diffuse, bildhaft-fantastische Gebilde kann der Traum gemäß dem Paradigma der Aufklärung nicht als Mittel zur Selbst- und Welterschließung angesehen werden, steht er doch außerhalb der Vernunft.
Jean Paul bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: „Im Traume ist keine Vernunft und also keine Freiheit. […] Fürchterlich tief leuchtet der Traum in den uns gebauten Epikurs- und Augias-Stall hinein: und wir sehen in der Nacht all die wilden Grabtiere oder Abendwölfe lebendig umherstreifen, die am Tage die Vernunft an Ketten hielt.“ (Jean Paul, Über das Träumen, in: Briefe und bevorstehender Lebenslauf, 5. Brief)
Bei Kant bilden Freiheit und Vernunft eine untrennbare Einheit. Wenn wir unser Tun an der Vernunft ausrichten und nicht an unseren Neigungen oder Trieben, dann verwirklichen wir dadurch unsere Freiheit und handeln gleichzeitig moralisch richtig. Da Träume für Kant nichts mit Rationalität zu tun haben, sondern bloß „erdichtet“ sind, haben sie für ihn keine erkenntnisrelevante Bedeutung. Sie sind – ebenso wie die Dichtkunst – Teil der Fantasie oder innere Spinnerei und stehen als solche der Verrücktheit nahe.
„Solange der Mensch träumt, ist er nicht fähig, Wahrheit und Falschheit zu unterscheiden, man nennt auch denjenigen einen wachenden Träumer, bei welchem keine äußeren Veränderungen und Empfindungen haften und Eindrücke machen, doch ist ihm dieses nicht zu verdenken, weil er sich in seiner erdichteten Welt erholen kann.“ (Kant, 1997, S. 328) Kant beschäftigt sich auch mit der Neigung, die Zukunft vorhersagen zu wollen, und ordnet die Auffassung, dass auch Träume prospektiv sein können, diesem Wunsch unter.
Während Träumen also keine Erkenntnisfunktion zukommt, schreibt Kant ihnen später eine lebenserhaltende Funktion zu.
Der Schlaf, als Abspannung alles Vermögens äußerer Wahrnehmungen und vornehmlich willkürlicher Bewegungen, scheint allen Tieren, ja selbst den Pflanzen [...] zur Sammlung der im Wachen aufgewandten Kräfte notwendig; aber eben das scheint auch der Fall mit den Träumen zu sein, so daß die Lebenskraft, wenn sie im Schlafe nicht durch Träume immer rege erhalten würde, erlöschen und der tiefste Schlaf zugleich den Tod mit sich führen müßte. […] Das Träumen ist eine weise Veranstaltung der Natur zur Erregung der Lebenskraft durch Affekte […]. (Kant, 2020, S. 77ff.)
Spielt die Beschäftigung mit Träumen in der Aufklärung eine Rolle, geht es dabei nicht darum, sich mit dem Inhalt des Traumes und einer möglichen Deutung zu beschäftigen, sondern das Phänomen als naturwissenschaftlichen Forschungsgegenstand zu betrachten. Dabei stehen zwei Fragen im Zentrum: Was sind die physiologischen Bedingungen des Träumens? Und was sind die psychologischen?
Die Aufklärung bereitet somit den Boden für wissenschaftliche Erklärungsmodelle von Träumen, wie sie bis heute in differenzierter Weise fortgeführt werden. Dabei zeigt sich jedoch ein grundlegender Unterschied zur zeitgenössischen Traumforschung. Während von der Zeit der Aufklärung bis ins zwanzigste Jahrhundert der Traum als objektiver gegenstand behandelt wurde und Untersuchungen des Traums sich auf die äußeren Bedingungen beziehen, wird mit Freud der Trauminhalt selbst zum wissenschaftlichen Objekt. Psychologische Fragestellungen zur Bedeutung von Träumen für das Subjekt wurden dabei außer Acht gelassen, weil sie als unwissenschaftlich angesehen wurden. Ein Grund dafür war, dass die Psychologie bis zum zwanzigsten Jahrhundert als eine Hilfswissenschaft der Physiologie betrachtet wurde.
Ein Paradigmenwechsel, hin zu einer strukturierten Untersuchung des Trauminhalts, wurde erst mit Freuds Traumdeutung vollzogen.
2.2 Sigmund Freud und die Traumdeutung
Freuds Anliegen in der Traumdeutung war es, die Beschäftigung mit dem Trauminhalt auf eine psychologisch-wissenschaftliche Basis zu stellen und ein Verfahren zu entwickeln, mit dem ein Traum als „sinnvolles psychisches Gebilde“ (Freud, 2013, S. 7) herausgestellt werden kann. „Das wissenschaftliche Verständnis des Traumes ist nämlich trotz mehrtausendjähriger Bemühung sehr wenig weit gediehen. Das wird von den Autoren so allgemein zugegeben, daß es überflüssig scheint, einzelne Stimmen anzuführen.“ (ebd.)
Freud betritt also mit diesem Vorhaben wissenschaftliches Neuland, und seine Theorie wird von der Fachwelt zuerst mit wenig Interesse aufgenommen. Später wird sie der Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Diskurses über unterschiedliche Möglichkeiten des Traumverstehens werden. Alle weiteren psychologischen Theorien zum Thema des Traums beginnen in Auseinandersetzung und in Abgrenzung zur Freud’schen Traumdeutung. Psychoanalytische und tiefenpsychologische Ansätze werden wesentliche Elemente der Freud’schen Traumdeutung beibehalten, wie die Annahme eines Unbewussten (wenn auch in unterschiedlicher Form), die Unterscheidung zwischen manifestem und latentem Trauminhalt oder die Methode der freien Assoziation. Humanistische und phänomenologisch-existenzielle Ansätze werden den Zugang zu Träumen auf eine andere anthropologische Basis stellen und diese wesentlichen GrundAnnahmen der Psychoanalyse aufgeben. Auch Ludwig Binswanger, der Begründer der Daseinsanalyse, wird ein Schüler von Freud werden und ihm in lebenslanger Freundschaft verbunden bleiben,1 selbst wenn sich sein Zugang zu Träumen und seine Anthropologie durch die Bezugnahme auf die Philosophie – vornehmlich Husserl und Heidegger – grundlegend von derjenigen Freuds unterscheidet.
Freuds Traumdeutung besteht aus den folgenden Kerngedanken:
(1) Jeder Traum stellt eine sinnhafte Äußerung dar, wenn sie in einen persönlichen Bedeutungszusammenhang gestellt wird.
Auf den folgenden Blättern werde ich den Nachweis erbringen, daß es eine psychologische Technik gibt, welche gestattet, Träume zu deuten, und daß bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychisches Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachens einzureihen ist. Ich werde ferner versuchen, die Vorgänge klarzulegen, von denen die Fremdartigkeit und Unkenntlichkeit des Traumes herrührt, und aus ihnen einen Rückschluß auf die Natur der psychischen Kräfte ziehen, aus deren Zusammen- oder Gegeneinanderwirken der Traum hervorgeht. (Freud, 2013, S. 7)