Ich widme dieses Buch meiner Frau Renate Petra Mehrwald. Es soll ein immer währender Dank für unsere gemeinsame Zeit sein.

Originalausgabe 2021

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© 2021 Jörg Mehrwald

Lektorat: Eric Kästchen

ISBN: 978-3-7534-1598-7

Über den Autor

Jörg Mehrwald war 8 Jahre Chef und Filmvorführer des Zeltkinos Hiddensee und 2020 im „Corona-Kino-Team" dort tätig. Er machte aus dem Zelt eine Kinokultstätte und nahm 2019 den Kinokulturpreis des Landes MV entgegen. Mehrwald drehte die Kino-Musikdoku "Karussell - Vier Tage auf Hiddensee", in der das Zeltkino selbst eine Rolle spielte und die zum erfolgreichsten Film der Saison 2015 auf der Insel wurde. Am Ende seiner 9 Jahre auf Hiddensee hatte er 14 Filme, meistens Dokus, gedreht und an drei Filmfestivals teilgenommen. Er schrieb vor dieser Zeit 12 Romane, mehrere Sachbücher, war Autor für Hörspiele und TV-Produktionen wie "7 Tage, 7 Köpfe". Mehrwald arbeitete für Produktionen von fünf deutschen TV-Anstalten als Drehbuch- und Gag-Autor und schrieb mehrere Theaterstücke. Auf der Insel Hiddensee gründete er 2013 das Kabarett "Lach- & Nordlichter" für das Zeltkino Hiddensee, wo er 17 Kabarettprogramme schrieb und spielte. Außerdem erfand er eine Reihe von Events wie "Das große Inselsingen“. Seine Hörbücher erschienen kürzlich in einer zweiten Auflage als Wiederveröffentlichungen.

Mehrwald verließ 2020 Hiddensee. Er ist heute einer der Gastgeber im UNESCO-Welterbe-Forum im Nationalpark Jasmund auf Rügen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Vor Ihnen liegt nur ein Buch über ein Zeltkino auf der Insel Hiddensee, aber es ist prall gefüllt mit Geschichten und Dramatik. Deshalb möchte ich den geneigten Leserinnen und Lesern folgendes an die Hand geben:

1. Dieses Buch handelt vom Zeltkino der Jahre 2012 bis 2020 und seinem kulturellen Umfeld.

Seit 1963 schon haben tausende Besucher mit unterschiedlichsten Betreibern tolle Stunden im Zeltkino an wechselnden Standorten auf der Insel erlebt. Über die Zeit bis 2012 können nur andere Personen Auskunft geben. Hier geht es um die Zeit des digitalen Zeltkinos.

2. Der Schwerpunkt des Buches ist eine KULTUR-GESCHICHTE aus Sicht des Zeltkinos, des Kabaretts und der Musik. Es geht also sehr breit um Kultur. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch eines chronologischen Sachbuches einer Dokumentation, deshalb kommen auch Ereignisse, Personen oder sogar ein paar unbedeutende Filme NICHT vor. Ich musste eine Auswahl treffen, sonst wäre das Buch 600 Seiten lang geworden. Es ist ein unterhaltendes, sehr persönliches Buch und schweift auch gern mal ab, so es Erlebnisse oder Umstände zu schildern gilt, die dann wieder irgendwie mit Hiddensee zusammenhängen. Der zentrale Mittelpunkt ist das Zeltkino, der Hintergrund aber sind weiter gespannte Kulturgeschichten.

3. Das Zeltkino ist für 9 Jahre eng mit meinem Leben verbunden gewesen. Ich habe es wie ein Mission rund um die Uhr jeden Tag gelebt. Demzufolge stehe ich neben dem Zeltkino im Mittelpunkt der Handlung. Es ist ein Teil meiner Lebensgeschichte als Kinochef, Kabarettist, Regisseur und Autor geworden. Sie lesen also in diesem Buch meine persönliche Sicht der Dinge und Geschichten über unser Publikum, die Filme auf Hiddensee, das Kabarett, die Musiker, über Meinungen, über die Insel.

4. Ich erwähne die meisten der Filme, die gezeigt wurden. Ich bitte das ausdrücklich nicht als Filmkritik anzusehen. Außerdem sind vielen Bemerkungen zu den Filmen kleine Geschichten angehängt oder sie sind mit Filmhandlungen verwoben, die mit Ereignissen um das Kino herum zusammen hängen. Deswegen steht jeweils der Zusatz „Randbemerkungen“.

5. Mich haben Zuschriften von Insulanern erreicht, die ein Aufklärungsbuch über gewisse Verhältnisse auf Hiddensee eingefordert haben. Sicher weiß ich viel, aber viel wissen, heißt nach der Gesetzeslage noch nicht, viel sagen zu können. Wenn es etwas aufzuklären gibt, dann sollten das Insulaner auf der Insel tun.

6. Ich war freier Mitarbeiter des Hafen- & Kurbetriebes. Meine Aufgabe war es, das Zeltkino inhaltlich aufzubauen, zu betreuen und öffentlichkeitswirksam zu machen. Ich nutzte die Bandbreite der Aufgaben, um das Zeltkino zu einem kulturellen Hotspot aufzubauen, der ursprünglich nie so angedacht war. Alle Aktionen liefen immer mit Abstimmung der Gemeinde und des Hafen- & Kurbetriebes. Budgets wurden grundsätzlich nur mit Genehmigung einer der beiden Instanzen freigegeben. Die Gemeinde hat die Entwicklung des Zeltkinos großzügig und entsprechend ihrer Möglichkeiten unterstützt. Neue Kinobeamer, eine neue Leinwand und eine neue Tonanlage wurden in den Jahren angeschafft und das Zelt technisch erhalten.

8. Vielleicht fragt sich der eine oder die andere manchmal, warum jemand nicht erwähnt wird. Das kann folgenden Grund haben, der sich aus einer alten Weisheit ergibt:

„Vertrauen ist ein hohes, unbezahlbares Gut. Wird es mißbraucht, geraten Personen, Umstände und Leistungen in Vergessenheit. Sie werden zu einem Nichts, denn die Welt ist immer noch voller anderer wunderbaren Erinnerungen.“

9. Die Natur der Insel Hiddensee ist für mich einmalig und wunderschön. Ich habe dort gern gearbeitet und gelebt. Und diese Aussage soll jeden Leser das ganze Buch lang begleiten, auch wenn es um die Widersprüche des Lebens geht.

Dieses Buch hat kein Happy-End. Aber Tragikkomödien enthalten bekanntlich die besten Pointen. Viel Spaß!

Clips und Bildmaterial zu diesem Buch ist im Internet auf YouTube frei zugänglich auf dem Kanal „Zeltkino Hiddensee“ zu finden. Dieser YouTube-Channel soll an das arthouse-geprägte Zeltkino Hiddensee der Zeit Juni 2012 bis Januar 2020 erinnern.

Das Jahr 2012

Für alle, die nicht wissen, wo die Sehnsuchtsinsel so vieler Deutscher liegt, erst mal eine kurze Verortung. Im Nordosten Deutschlands im Land Mecklenburg Vorpommern vor der Westküste Rügens liegt die Insel Hiddensee. Die meisten reisen über Stralsund und die Nachbarinsel Rügen an. Bis 1993 schlicht Hiddensee genannt, seitdem Insel Hiddensee, seit 2005 Seebad Insel Hiddensee. 19,03 Quadratkilometer groß, 16,08 Kilometer lang, knapp 1000 Einwohner. Seit 2005 wird die Insel vom Amt West Rügen verwaltet. Vier Ortsteile namens Grieben, Kloster, Vitte und Neuendorf findet der Besucher vor. Das Zeltkino Hiddensee steht im Ortsteil Vitte, der heimlichen „Inselhauptstadt“, wobei alle Orte einen dörflichen Charakter tragen. Landschaftlich gilt Hiddensee als ein besonderes Kleinod unter den deutschen Inseln.

Das soll reichen, denn die meisten, die dieses Buch in die Hände nehmen, kennen Hiddensee und alle anderen können ja einfach mal hinfahren.

Beginnen wir mit der Geschichte um das digitale Zeltkino ab 2012.

Damals lag mein letzter Besuch auf Hiddensee ein Jahr zurück, es war Winter und ich saß in Bruchsal bei Karlsruhe in meinem Arbeitszimmer und schrieb an einer Idee für ein Theaterstück. Hätte ich einen Roman über den Beginn meiner Hiddensee-Zeit geschrieben, wären die ersten Seiten etwa so ausgefallen:

Meine Frau riß die Tür auf, wie Frauen sie nur aufreißen, wenn sie ihre Männer gegen Herzinfarkte gestählt glauben.

„Weißt du, was auf Hiddensee los ist?“, fragte sie.

Wieder einer jener Momente, in denen man als Mann schlagartig die Informationshoheit verlor und ahnte, dass es besser gewesen wäre, im Internet herum zu streunen, als sich der Erschaffung eines längeren Buchtextes zu widmen.

„Nein, haben die Hiddenseer jetzt das doppelte Fischbrötchen erfunden?“

„Die haben eine Ausschreibung im Netz. Die suchen einen Filmvorführer für das Zeltkino in der kommenden Saison“, klärte mich meine Frau auf.

„Aha. Zeltkino. Da brennt doch die Lunte, oder wie war das?“

„Egal, sie suchen einen Filmvorführer. Du könntest auch mal etwas anderes machen, als Bücher schreiben“, moserte meine Frau und sorgte für eine massiven Stimmungsabschwung in meinem Gemüt.

„Ich hab mir die Bewerbungsbedingungen durchgelesen. Kein Problem kannst du alles“, wurde mir klar gemacht.

„Aber bei denen brennt doch die Luft. Da ist politische Übellaune und das Zeltkino ist ein Politikum so aufgeheizt wie nichts anderes“, wandte ich ein.

Meine Frau zuckte mit den Schultern. „Du hast doch nichts damit zu tun. Niemand hat einen Grund, dich dafür anzugreifen. Du willst nur Kino machen.“

„Ich schau mir das an.“

Kurz darauf las ich von Protesten und einer Unterschriftensammlung. Ein paar tausend Leute forderten den Erhalt des alten Zeltkinos im Kinowäldchen. Ich wertete das als ein gutes Zeichen, offensichtlich bestand ein großer Bedarf. Wo ein Publikum ist, kann man auch etwas Gutes für die Menschen tun. Nun wollte ich nach Hiddensee. Allerdings lag ich in meinen Erwartungen in wesentlichen Punkten gehörig daneben. Man weiß ja so wenig aus der Ferne.

Natürlich ist das vorliegende Buch kein Roman, deshalb wechsle ich nun wieder in die Sachbuchdiktion:

Ein paar Wochen später. Die Gemeindevertretung hatte auf der Insel entschieden. Auf Hiddensee gab es keinen Gemeinderat, da man von Rügen aus in Samtens, die Insel offiziell verwaltet. Die Gemeindevertretung besteht aus gewählten Insulanern, die auf der Insel Beschlüsse fassen, die sie von Samtens gern umgesetzt sehen wollen. Was nicht immer der Fall ist. Die Gemeindevertretung hatte abgestimmt. In einem Auswahlverfahren zwischen mehreren BewerberInnen stimmte am Ende eine Mehrheit zu meinen Gunsten. Noch 9 Jahre später erstaune ich eine Führungskraft mit dieser Wahrheit. Auch sie hatte den langjährigen Behauptungen geglaubt, dass ich einem Insulaner den Job weggenommen hätte. Was auf einer Insel als sozialer Makel ohne gleichen gilt. Dem war nicht so, die Gemeindevertreter hatten entschieden. Ich war zu jener Sitzung nicht anwesend und kann dazu auch nichts berichten.

Meine soziale Anerkennung war aufgrund dieser Kommunikationsstrategie bereits gescheitert, bevor ich die Fähre zur Insel bestieg. So geriet die Aufgabe größer, als ich es mir anfangs vorstellen konnte, zumal ich keine Auskunft über meine Herkunft gab. Die meisten hielten mich für einen Wessi. Der war ich auch seit 27 Jahren, doch davor war ich exakt 27 Jahre DDR-Bürger gewesen. Nur wollte ich das nicht thematisieren, ich hielt die Unterschiede zwischen Ost und West für überlebt und eine Urlaubsinsel zog ohnehin alle Gäste an. Da lag ich dann schon wieder gründlich daneben. Wäre ich gleich als gebürtiger Ossi aufgetreten, hätte ich es vermutlich leichter gehabt. :-) Denn eigentlich wollte ich nur Kino machen.

Das Telefon klingelte, man fragte an, ob ich mal anreisen könnte. Ein paar Tage später stand ich auf der Sehnsuchtsinsel so vieler Deutscher. Das Wetter war mäßig, die Laune gut und vom Zeltkino war weit und breit nichts zu sehen.

Die Legende der Hiddensee-Urlauber - Kino hatte hier seit 1963 eine gemeinschaftstiftende Wirkung gab es nicht mehr. Im Kinowäldchen in Vitte war alles abgebaut, das Grundstück durch Rückübertragung und Verkauf nicht mehr verfügbar.

Der Plan war es, das Zeltkino von Grund auf neu an einem anderen Platz zu erschaffen. Am Hafen von Vitte sollte es stehen. Am Achtern Diek. Hierzu hatte die Gemeinde ein Grundstück bereitgestellt. Mein erster Eindruck war bestens. Auf einer Insel herrschen eigene Gesetze zu den normalen, da drückt man erst mal alle Augen zu und hört sich alles an. Ich bekam es mit einem eher wortkargen Mann zu tun, dem Kurdirektor. Der gebürtige Westfale gab sich mir gegenüber aufgeräumt und Willens das neue Zeltkino aufzubauen. Er übernahm die technische Abwicklung. Ich sollte mich um alles Inhaltliche kümmern. Die Filme auswählen und mir etwas für die Werbung überlegen, könnte ich ja in meiner Unterkunft, so der Kurdirektor. Auf Hiddensee stand hinter dem Rathaus eine Baracke, die komplett saniert, den DDR-Charme der späten 70er Jahre mit einer Ausstattung der 2000er Jahre verströmte. Hier bekam ich ein Zimmer, denn Hotels bewegten sich in der Preisgestaltung auf einem Niveau, das meine Möglichkeiten schnell erschöpft hätte. Das Zimmer war einfach eingerichtet, mit Kühlschrank und einem Blick auf die Segelschule "Surf & Segel“ von Kay Petersen. Der Rest war dann doch tiefste DDR-Erinnerung in meinem Leben. Gemeinschaftsdusche und Gemeinschaftsklo. Dass ich das noch erleben durfte, brachte mich zum Lachen, hatte ich doch noch Jahre zuvor in den Luxushotels der Republik auf Tournee mit Thomas Gottschalk und Sat 1 oder mit RTL und Günter Jauch meine Zeit verbracht, wenn man nicht gerade im Studio drehte. Nun ging alles zurück zur Natur. Wer weiß, was da alles so dazu kam. Aber alles Schlechte hat auch etwas Gutes. In dieser Baracke waren eigentlich die Rettungsschwimmer untergebracht. So lernte ich in den folgenden Jahren eine bunte Schar an trinkfesten, pragmatischen und mitunter ziemlich coolen Typen kennen. Sie waren immer korrekt zu mir und ich bemühte mich um ein kameradschaftliches Verhältnis. Sie nahmen es mir nicht einmal übel, dass ich mich aus den obligaten Umtrünken heraus hielt. Die Zeit des Alkohols war für mich schon seit Jahren vorbei. Ich vertrug ihn nicht mehr sehr gut und Ausfallzeiten konnte ich mir bei meiner selbständigen Arbeit nicht leisten. Das macht einen bei vielen nicht gerade sympathisch, andererseits hielt ich immer ein Fläschchen Bier bereit für die durstigen Seelen. Damit erhält man sich auf Hiddensee wenigstens den Status des Normalen.

Als erstes musste ich mir ein Fahrrad besorgen. Bekanntlich ist Hiddensee autofrei. Der Kurdirektor borgte sein altes Fahrrad aus. Er bekam gerade ein neues E-Bike, die damals noch nicht weit verbreitet waren auf der Insel. Und eine Unmenge Geld kosteten. So viel Fahrrad fahren war für mich zunächst ungewohnt. Bei ordentlich Sturm mal schnell nach Kloster zu radeln, das war die Hölle im Schritttempo. Nach zwei Wochen geriet es zur Gewohnheit und die Beinmuskulatur wurde stärker. Der wichtigste Weg war der zum kleinen EDEKA-Markt. Hier war man besser rechtzeitig zur Stelle, denn damals gab es nicht immer alles den ganzen Tag. Der Umbau Jahre später änderte das. Überhaupt herrschte damals noch irgendwie das DDR-Feeling im Hintergrund. Das mag auch an den Erinnerungen gelegen haben, die man sich jederzeit von Touristen anhören konnte. Man schwelgte in der Vergangenheit, war aber zufrieden, dass der aktuelle Urlaub im Heute stattfand. Die Wochen vergingen und wir bereiteten das Zeltkino vor.

Die opulente europäische Produktion „Die drei Musketiere“ eröffnete am 15. Juni 2012 die erste Spielzeit des digitalen Zeltkinos, wie ich es fortan nannte. Es musste ein Unterschied her. Ich wollte nur Kino für alle anbieten, einigen anderen auf der Insel war das aber offensichtlich ein Dorn im Auge. So ehrte ich meine Vorgänger zur Eröffnungsveranstaltung, indem ich sie als Ehrengäste einlud und mich bei Ihnen bedankte. Sie hatten es auch nicht leicht, das wusste ich. Trotzdem war es einfach eine neue Zeit, die angebrochen war. Ich sah tatsächlich im digitalen Zeitalter neue Möglichkeiten, attraktives Kino zu machen. Da hat man es gegen echte Traditionalisten zunächst immer schwer. Denn das vertraute Knattern der Filmrollen war unschlagbare Nostalgie. Nur war die Zeit technisch schon 2012 für die Nostalgie abgelaufen, nur kam das alles wie immer viel später in den Köpfen der Menschen an. Der Kurdirektor dachte vielleicht nicht so, war aber technisch gut orientiert und wir waren gleicher Meinung. Digital total, alles andere war zu Ende. Allen Filmrollen-Enthusiasten zum Trotz erreichte uns das Schreiben des letzten großen Filmverleihers, in dem er mitteilte, dass auch er die Belieferung mit Filmrollen einstellt. Nun war die Filmwelt total digital. Wir lagen richtig. Man darf natürlich auch nicht vergessen, dass wir auf Hiddensee den Balanceakt fertig bringen wollten, ein Sommerkino für möglichst viele Menschen zu betreiben und gleichzeitig den kulturellen Anspruch der Kinogänger unter den Touristen aufrecht zu erhalten. Und der war arthouse-geprägt. Actionfilme oder bluttriefender Trash war verpönt. Auf Hiddensee wollte das Publikum noch lebensnahe Situationen auf der Leinwand intelligent behandelt wissen. Dieser Standpunkt war und ist speziell und überraschte mich in seiner konsequenten Erscheinung. Jedes Kino hat sein eigenes Publikum und jede Location hat ihre Eigenheiten, was ihr Publikum angeht. Ich passte mich gern an, denn im Grunde hatte ich dem seichten TV-Geschehen der Prime Time schon lange den Laufpass gegeben. Auf Hiddensee war also alles komplexer. Wobei ich präzisieren muss, wir sprechen vom touristischen Publikum. Die Insulaner sind damit nur zu einem geringen Anteil gemeint. Zumal sie ohnehin selten und wenn, dann nur mit ihren Urlaubsgästen ins Zeltkino kommen. Wenn sie denn kommen, gehen sie fast immer als zufriedene Gäste. Auf der Insel gab es gleich drei Messlatten, über die man springen sollte. Alt-Zeltkino-Fans, die erst mal mit sehr großer Skepsis auf alles Neue reagierten. Zum anderen wünschten sich viele von ihnen wieder Kino und waren bereit, auch am Abend ins Zelt zu kommen. Zweitens, das unbelastete Publikum gab es auch. Es war zufällig im Urlaub und ging ohne Vorwissen ins Kino. Drittens waren da die Gegner, die alles dafür taten, dass digitale Zeltkino in der öffentlichen Meinung als „nicht betretbar“ erscheinen zu lassen. Wir waren NO GO. Eine Art political-correctness-Maßnahme, die das Wahlergebnis der Insel im Nachhinein moralisch korrigieren sollte. Denn sie sahen das Zeltkino lediglich als ein Politikum an. Und das war es auch. Man kann sich das kaum vorstellen, und ich konnte es am Anfang auch nicht glauben. Ich kümmerte mich relativ arglos zu jener Anfangszeit ums Programm, um innovative Ideen, denn das digitale Zeltkino sollte ein Kultur-Hot-Spot werden. So viel Ehrgeiz musste sein. Schließlich hatte ich mir vorgenommen, was ich anfange, auch zum Erfolg zu führen. Denn eigentlich wollte ich diesem einen Saisonvertrag einen nächsten folgen lassen. Diese Absicht behielt ich aber vorerst für mich.

Aber wie war die Haltung der Verantwortlichen? Der Kurdirektor verwies auf den Kostenausgleich, auch wenn man das am Anfang mal ein bißchen locker sehen sollte. Die Mehrheit der Gemeindevertretung wollte Kino. Es sollte Kino stattfinden, egal ob sich das rechnete. Schließlich war die Gemeinde interessiert daran, dass die Touristen etwas für die Kurkartenabgabe geboten bekamen. Und so in etwa, war der Konsens mit dem ich zu arbeiten hatte: Kultur kann sich nicht rechnen. Das bleibt erst mal ein Zuschussgeschäft, das war immer so auf Hiddensee. Also sollte ich loslegen und nicht teure Events planen. Das Zeltkino sollte auf die Beine kommen und funktionieren. Wenn wir die Kosten ausgeglichen bekämen, wäre das schön, aber jeder Betrieb hat 3 Jahre Anfahrzeit. Das war zwar nicht üppig ausgestattet und großzügig organisiert - aber realistisch. Sparsamkeit wurde das oberste Gebot. Und so organisierte ich alle Events in den ersten Jahren über meine persönlichen Beziehungen. Denn eigentlich waren sie nicht vorgesehen. Künstler wurden teilweise privat untergebracht und ab und an verwies ich auf andere Künstler, die mit Festgagen auf die Insel geholt wurden und deren Unterkunft auch bezahlt wurde. Dann ging auch etwas. Der Hafen- und Kurbetrieb hatte schließlich auch einen Haushaltsposten. Ich agierte teilweise in einem merkwürdigen Vakuum aus Befürwortern des neuen Kinos, die verhalten reagierten und Gegnern, die sich nicht ganz verweigerten. Das Kulturprogramm ingesamt war auf Hiddensee großartig.

Ab 2016 ungefähr wechselten die Einstellungen, die Gewinnerzielungsabsicht wurde zum stillschweigenden Maßstab. So jedenfalls mein Eindruck. Für das Zeltkino gab es in all den Jahren keinen Zuschuss für Veranstaltungen, der nicht auch von den Gemeindevertretern besprochen und abgesegnet wurde. Mehr oder weniger dürfte sich in 8 Jahren alles ausgeglichen haben und wir kamen dann ja wirklich in Gewinnzonen für die Gemeinde. Das Leben ist eine Mischkalkulation.

Am Anfang steht Verständnis. Zunächst belas ich mich mal mit den Insel-Klassikern, dann mit den modernen Insel-Biografien von Renate Seydel und Manfred Faust, den ich später auch kennenlernte und der mir wertvolle Tipps geben konnte. Bis zu seinem Tod trafen wir uns jedes Jahr zu intensiven Gesprächen. Das war schon deshalb außerdordentlich aufschlußreich, da Faust vieles eben nicht in seinem Buch veröffentlicht hatte. Und er hatte in allen wesentlichen Archiven neu recherchiert. Bei einem unserer letzten Treffen überreichte er mir ganz stolz ein Manuskript über die Geschichte des Sethe-Hofes in Kloster. Er war in Hiddensee vernarrt. Ein Ex-Linker der bundesdeutschen Szene. Ich kannte das Denken dieser Menschen aus meiner Zeit aus der Süddeutschland. Man hat oft den Ostdeutschen vorgehalten, sie seien in vielen Betrachtungen des Westens naiv gewesen. Meiner Erfahrung nach galt das im gleichen Ausmaß umgekehrt für die Westdeutschen in Sachen DDR, aber es wurde nie in den Medien thematisiert. „Faust zählte zu den positiven Typen, er gab sich wirklich Mühe und war bereit, eigene Überzeugungen zu korrigieren. Renate Seydel lernte ich etwas später kennen. Sie war eine Institution auf der Insel. Ihre Inselbücher waren Legende, ihr Asta-Nielsen-Buch Pflichtlektüre.

Der Tag der Kino-Premiere war auch der Tag der Offenbarung, was man auf Hiddensee an Optionen zu bieten hatte. Das Zeltkino war genau genommen nur ab halber Höhe ein Zelt bis zum Spitzdach. An den unteren Seitenwänden hing Blech. Wer ganz genau hinsah, erkannte eine Behelfsgarage, in der man anderswo sonst Fahrzeuge abstellte. Dazu buddelte man ein schönen Schaukasten vor dem Zelt ein und fertig war das Wunderwerk auf der Wiese. Es nahm auch nicht all zu viel Platz ein, denn wir bewegten uns damals bei ca. 60 Plätzen. In der Mitte des Zeltes hing eine Halterung herunter, auf der der Beamer befestigt war. Den ich jedesmal mit einer Blechleiter erreichte, um ihn ein- und auszuschalten. Das hatte den Charme eines in die Neuzeit geretteten Improvisationsvermögens, das die DDRler ja für viele Westler so interessant machte. Ich sah das gelassen, schließlich hatte ich 27 Jahre davon selbst erlebt und musste beim Wiedererleben oft grinsen. Das Leben nimmt einen gern auf die Schippe. Andererseits fand das Publikum weitestgehend Gefallen daran. Und bei der ersten Vorführung des Inselklassikers von "Lütt Matten und die weiße Muschel" wurde ich selbst überrascht. Als der Film zwei Minuten lief, ich noch etwas weggeräumt hatte und erst dann meinen Blick auf die Leinwand richtete, wollte ich am liebsten im Boden versinken. Der Beamer hatte das Bildformat gewechselt, keine Ahnung wie, wann und warum, aber es war das falsche Format. Das alte quadratische Format war dem aktuellen 16:9-Format gewichen. Nun sah Lütt Matten, im Film sonst eher zierlich, wie ein fett gefressener kleiner Lümmel aus, der inmitten von dickleibigen Insulanern seine Texte aufsagte. Es waren schlimme 73 Minuten. Und als die schweigende Publikumsschlange hinaus drängte, schaute ich tapfer und irgendwie um Entschuldigung bittend, betreten mal hier und mal da hin. Keiner sagte etwas. Ich verabschiedete jeden mit dem obligaten "Auf Wiedersehen", alle grüßten zurück. Nur einer kam am Ende zu mir und erklärte mir, dass er in diesem Film als kleiner Junge mit gespielt habe und er auf gar keinen Fall so dick gewesen sei. Er gab mir dann - freundlich - den guten Rat, beim nächsten Mal das Format richtig einzustellen. Ich bedankte mich für den Ratschlag und sicherte ihm zu, dass er das nächste Mal natürlich freien Eintritt hatte. Mir war das unheimlich peinlich, andererseits zeigt es etwas anderes. Viele Hiddenseer zeichnet bei aller Verschlossenheit gegenüber frisch Zugezogenen auch eine gewisse Langmut aus. Ich wertete das damals positiv.

Den ersten filmischen Coup landete ich auf zwiespältige Weise. Billy Wilder, so fand ich beim historischen Lektüre heraus, weilte mehrmals auf Hiddensee. Und sein deutschen Biograph, Helmut Karasek, den ich von den Sendung bei Günter Jauch her kannte, bestätigte mir das auch. Wilder hatte es ihm gegenüber mal erwähnt. Leider war da keine Kamera an, sonst wäre das im Nachhinein eine Pretiose gewesen. 1932 war Wilder das letzte Mal auf Hiddensee, wie Filmfans wissen, flüchtete er 1933 nach Hollywood und wurde dort einer der ganz großen Regiestars. Bei meinem Vorhaben, das Zeltkino zu einem Hotspot zu machen, zu dem die Filmfans eben doch kommen, auch wenn es nicht mehr das Wäldchen-Kino war, verfiel ich auf den Plan, eine kostenfreie Filmreihe der besten Komödien von Wilder auf Hiddensee zu zeigen. Was nicht einfach war. Der Kurdirektor hat mich im Nachhinein dafür noch jahrelang mit nicht sehr positiven Kommentaren abgestraft. Ihm oblag es im ersten Jahr noch die Filmlizenzen zu organisieren. Und das war gar nicht so einfach. Die Filme wurden alle nicht mehr im Kino gezeigt und die Verleihfirma wollte keine Lizenz erteilen. Am Ende hatte er es doch geschafft. Und so liefen im Sommer 2012 "Das Apartement", "Der Glückspilz", "Avanti, Avanti", "Manche mögens heiß" und "Eins, zwei, drei" im Zeltkino. Und das Publikum kam. Drei Erlebnisse werde ich in diesem Zusammenhang nicht vergessen. Zu "Eins, zwei, drei" füllte sich das Kino bis auf den letzten Platz. Es war unglaublich, es herrschte eine erwartungsfrohe Stille. Ein wesentliches Merkmal des Zeltkinos war es, dass wir auf jedwede Leinwand-Werbung verzichteten. Dazu hatte ich alle Verantwortlichen überredet, die das auch einsahen. Denn keine Werbung zu zeigen brachte hier mehr Zuschauer ins Kino als anderswo. Schon einfach, weil die Leute Werbung nicht unbedingt mögen und das Arthouse-Publikum erst recht nicht. So war der erste Erfolg gesichert, fast jeden Abend wurde vom Publikum ausdrücklich gelobt, dass man hier von Werbung verschont blieb. Manche machten sich ein Hobby daraus, grundsätzlich an der Kasse zuerst zu fragen, ob denn heute Werbung läuft. Als ich verneinte, bahnte sich eine ungeheure Erleichterung ihren Weg in die Gesichtszüge, als wären die Urlauber schon mit zentnerschweren Befürchtungen auf der Insel angereist, da sie hier eventuell Werbung hätten ertragen müssen, gar im Kino. Mir war das sympathisch, auch wenn es skurril erschien. Ich ließ vor den Filmen eigentlich nie Musik laufen, hier sollte ein besonderer Ort sein, anders als an Land, die Leute sollten sich ungestört unterhalten können, was sie auch gern taten. Nun bei "Eins zwei, drei" ging das Licht aus und ich dachte, ich wäre auf einer Totenfeier. Es war mucksmäuschenstill. Der Film tobte los, Filmfans wissen, was ich meine. Tja, und nach ein paar Minuten kam Stimmung auf, die Leute lachten, was ihre Lungen hergaben. Ich war baff. Und dann das Härteste. Mir lief ein eiskalter Schauer den Rücken herunter, das hatte ich seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt. Szenenapplaus im Kino. Nach gut zwei Stunden schaltete ich das Licht an und es brach ein tosender anhaltender Applaus los. Momente des Glücks. Jetzt war mir klar, das Publikum ist besonders. Hier kann man etwas erreichen.

Das erste Kalkül ging also auf. Das zweite Erlebnis betraf einen Promi, von denen in der Folgezeit einige in das Zeltkino fanden. Der Schauspieler Ilja Richter stand plötzlich vor mir an der Kasse. Natürlich erkannte ich den Mann, dessen Sendung DISCO ich als Jugendlicher im ZDF einst regelmäßig entgegenfieberte. Denn hier traten auch die Stars der damaligen internationalen Popszene auf. Richter besuchte den Wilder-Film "Manche mögens heiß". Erstens konnte ich kaum glauben, dass der Mann unter diesen doch sehr rustikalen Umständen, sich diesen uralten Film noch einmal ansehen wollte, noch dass er sich dabei köstlich amüsierte. Sein Lachen war im Kino deutlich zu hören. Wir unterhielten uns anschließend noch etwas, plauderten über Richters Theaterarbeit. Er wünschte viel Glück und outete sich als Hiddensee-Fan.

In den 1960er Jahren bestimmten natürlich ganz andere Filme die DDR-Kinos, die mir nun auf Hiddensee wieder begegneten. Dazu gehörte zweifelsohne der auf Hiddensee gedrehte Kinderfilm "Lütt Matten und die weiße Muschel". Von Hiddensee wussten wir zwar in den 1960ern, wo es lag, aber die Familie fuhr nach Rügen in den Urlaub, so sie einen FDGB-Urlaubsplatz in Baabe zugeteilt bekam. Was ein alljährlicher Kampf mit Beziehungen und Hoffnungen war, der nicht immer zugunsten der Antragsteller ausging. Lütt Matten war mir aus dem DDR-Fernsehen bekannt und irgendwie in Erinnerung geblieben, obwohl in dem Film so gut wie nichts passierte, so jedenfalls sah man das als Kind. In einem Alter, in dem heute auch noch die meisten Action suchen. 2012 hatte sich mein Fokus verschoben. Ich war froh, dass es dieser Kinderfilm der DEFA war, den die Besucher unbedingt auf der Insel sehen wollten. Denn "Lütt Matten" tut gut. Ja, erstens, es ist ein ruhiger Film, entspannend auch für Erwachsene, was ganz wichtig für mich im Laufe der Jahre wurde, da ich hinter meinem Tresen ja alles 1:1 wie die Zuschauer mithören musste, auch wenn ich mich mit anderen Dingen während der Vorstellung beschäftigte. Bei der Lautstärke spielt dann irgendwann auch der Inhalt der Filme eine Rolle. Jeden Topfilm der Saison kann ich heute noch im Dialog weitestgehend mit sprechen, ich kenne Sekunden vorher jede Reaktion, jeden Bildwechsel und jeden Musikeinsatz. Ab einem bestimmten Tag nimmt dann das Gehör ab, irgend etwas streikt in einem. Man merkt es zu spät und ich wäre auch machtlos gewesen, denn es war mein Job. Und wenn eins auf Hiddensee erwartet wurde, dann das man immer da und einsatzbereit war: 7 Tage die Woche 7 Monate in der Saison. Ich war in 9 Jahren 1x krank und schleppte mich wegen einer Lungenentzündung nach 10 Tagen wieder zur Arbeit, schon weil ich nicht wollte, dass meine Vertretung Ewa weiter die Hitze und die Umstände ertragen musste. Ich brauchte noch Wochen, um wieder fit zu werden. Krankengeld gab es nicht, stattdessen den besorgten Anruf, dass man das Honorar jetzt aber kürzen müsste. Tja, arbeiten wo andere Urlaub machen, sozial immer ein Erlebnis.

Zurück zu Lütt Matten, der Film kam meiner von Konflikten gezeichneten Vergangenheit mit dem autoritären Staatswesen DDR entgegen, denn er kommt ohne jede Ideologie aus. Was für damalige Zeiten eine absolute Ausnahme darstellt. Keinerlei parteilicher Hinweis auf das Klassenbewusstsein ziert die Texte, keine Propaganda, es war einfach ein sehr mitfühlender, verständnisvoller Film. Ich wusste das zu schätzen. Der Autor des Buches, Benno Pludra, war ja Wahlhiddenseer und die Entstehung des Films zog sich insgesamt über 4 Monate auf der Insel. Was auch für die DEFA ungewöhnlich war. Nur so erklären sich auch einige der wunderbaren Naturaufnahmen. Regisseur Herrmann Zschoche ist in mancher Hinsicht ein filmisches Kleinod gelungen. Aber das würde jetzt zu weit ins Filmhandwerk führen. Der Film lief als DEFA-Memorabilia jede Woche im Kinderprogramm. Damit sind wir bei der dritten Begebenheit, die sich zur Wilder Reihe ereignete. Nach dem Oscar-prämierten Film "Das Apartement" bretzelte sich eine ältere dicke Dame vor mir auf und begann wutschnaubend ihre Rede mit dem Vorwurf:

"Wie können Sie es wagen, hier diesen amerikanischen Mist zu zeigen".

Einen Moment musste ich mich beherrschen - es war noch die Zeit, in der ich um jeden Besucher rang ein paar Besucher blieben stehen, um meine Reaktion zu hören. Ich sprach mein Bedauern aus, dass ihr der Film nicht gefallen hatte. Und merkte an, dass es sich um einen Film handle, der erstens einen Oscar bekommen hatte, also schlecht Mist sein konnte, der zweitens doch gesellschaftskritisch war und drittens von einem Regisseur stammte, der nachweislich heute noch in vielen Kategorien als Lehrbeispiel für eine perfekte Regie an allen Schulen der Welt gezeigt wird - auch in der DDR anerkannt war. Es schnaubte noch mal kurz.

"Wir wollen hier etwas anderes sehen."

Und nun hatte ich wirklich das Glück auf meiner Seite. Die DEFA hatte mir in Berlin einen Tag zuvor einen Film auf DVD überspielt - was damals absolut unüblich war - den ich jetzt anbieten konnte.

"Dann empfehle ich Ihnen die Originalfassung eines Klassikers mit Manfred Krug nächste Woche."

Die Miene hellte sich auf.

"Spur der Steine".

Die Miene verdunkelte sich.

Umstehende liefen grinsend weiter. Die dicke Frau sah ich nicht wieder. Ich hatte solche Matronen reihenweise als ideologisch gut geschulte Nervensägen in meiner DDR-Bürgerzeit erlebt. Natürlich waren viele DDR-Nostalgiker und Desillusionierte unter den Besuchern und natürlich wollte einige lieber andauernd DEFA-Filme sehen - nur war das 2012 schon nicht mehr die Masse der Besucher. Soziologisch betrachtet, wandelte sich die Welt schneller, als manche es wahrhaben wollten. Viele ältere Jahrgänge ereilte das biologische Schicksal aller Erdenbürger und so wurden mit jedem Jahr die DDR-Fans weniger. 2013 zeigte ich als besondere Attraktion die Komödie "Heißer Sommer" mit Frank Schöbel und Chris Doerk, u.a. nebenan auf Rügen gedreht. Für mich konnte das nur ein Publikumserfolg werden, denn zuvor war die Nachfrage sehr hoch nach diesem Klassiker. Doch abends sah es an der Kasse ganz anders aus. 80% Frauen, die auch gut drauf waren, füllten das Kino und beim Durchzählen kam ich auf 25 Besucher. Ich hatte einen sehr guten Draht zur DEFA, bzw. deren Nachfolger. Auf meinen Wunsch hin überspielte man mir in Berlin nach langen Gesprächen und anfänglichem Zögern "Lütt Matten" ohne Abspann auf eine DVD. Weshalb sich viele später wunderten. Aber ich setzte diese Original-DVD bis 2020 ein. Ein Jahr später begann auch die DEFA über die Firma Icestorm "Lütt Matten" und andere Filme zu vermarkten. Natürlich erfolgreich.

Auf Hiddensee probierte ich mehrere DEFA-Filme aus. Darunter eine Reihe von 1970er-Jahre DEFAKomödien, die nach drei Jahrzehnten immer noch recht frisch wirkten, dazu zählte auch "Einfach Blumen aufs Dach". Das Zelt war halbwegs gefüllt, zwei Zuschauer unterhielten sich anschließend mit mir und waren voll des Lobes. Die Handlung des Films war mehr klamottig, aber recht unterhaltsam und real. Die beiden waren Musiker. Der eine aus dem Osten der andere aus dem Westen. Beide Jazzer und beide total begeistert von der Filmmusik. Nun war die Schubert-Band nicht unbedingt die Attraktion der DDR in diesem Genre, aber immerhin sang dort auch mal Holger Biege. Nein, es waren die Jazzrock und Free-Jazzeinlagen, die verblüfften und bei Publikumsfilmen überhaupt nich erwartet wurden. Solche Gespräche gab es oft, da sehr viele Musiker Hiddensee ansteuern. Und wenn abends noch ein Bierchen nach der Vorstellung getrunken wurde und man ins Erzählen kam, dann konnte ich schnell mal ein paar Aufnahmen anspielen. Gerade zum Thema Jazz waren die Westdeutschen immer wieder verblüfft, welch vitale Szene in der DDR existierte. Nicht nur Günter Fischer oder Günter Baby Sommer, die Aushängeschilder, sondern auch weltweit anerkannte Größen wie Conny Bauer, Uli Gumpert, Uwe Kropinski und nicht zuletzt Ernst-Ludwig "Luten" Petrowsky aus Rostock machten die Deutschen zu europäischen Schwergewichten neben den Amerikanern. Natürlich war Hiddensee die ideale Bühne für diese Musik und so reifte auch der Plan, im Zeltkino ein Jazzkonzert zu veranstalten. Aber dazu war es noch zu klein und natürlich hätte niemand ein Budget gehabt. Jazz ist auf der Insel eher eine Musik für Urlauber. Ich wusste, dass man in Kloster in der Kirche solche Konzerte machen konnte, aber das nutzte mir wenig. Im übrigen beäugte man uns von dort aus argwöhnisch. Politisch waren es zwei Lager. Andererseits schätzte ich das Kulturprogramm, das unter der Leitung von Pastor Dr. Konrad Glöckner veranstaltet wurde, privat sehr. Es war oft hochklassig, das gelungene Pendant zu all dem, was wir veranstalteten und zusammen mit dem Angebot des Hauptmann-Hauses ein wahrer intellektueller wie spiritueller Quell der Kultur. Eigentlich hätte die Insel Hiddensee und deren Gäste sehr zufrieden sein müssen. Die Vielfalt des Angebotes war herausragend. Aber dieses Wissen setzte ich maßvoll ein, es passte nicht in das maßgebende Weltbild. :-) Schließlich wollte ich das Zeltkino erfolgreich machen.

Unsere erste Saison lief nur von Juni bis Mitte September. Neben den Filmen wollte ich unbedingt ein Jahr später mit den Konzerten beginnen. Was nicht unbedingt bei allen auf Gegenliebe stieß, denn das Henni-Lehmann-Haus genau gegenüber dem Zeltkino in Vitte hatte ein gut besuchtes und hochwertiges Kulturprogramm zu bieten.

Die Filmauswahl im Jahr 1 war noch recht übersichtlich. Zum einen erklärte der Kurdirektor, dass zwei Filme am Tag ausreichen würden. Es muss ja nicht so laut sein auf der Insel. Wenn ich das schreibe muss ich lachen, denn wer den Kurdirektor von damals kennt, weiß, wie ernsthaft er das rüberbringt und auch meint. Im ersten Jahr habe ich ihm noch geglaubt und war der Überzeugung, dass es gut so war. Der Kurdirektor hätte auch gern jede Woche das gleiche Programm gespielt, dagegen war ich aber von Anfang an. Wenn irgendetwas diese abenteuerliche Konstruktion des digitalen Zeltkinos herausreißen konnte, dann der Kern des Geschäftes: Die Filme. Es gab viele Dispute und ich machte mich da auch ziemlich unbeliebt, aber eins muss ich dem Kurdirektor zugute halten. Er zog mit, wenn auch grundlegend skeptisch. Denn, wir erinnern uns, ich stand ja für viele im falschen politischen Lager. Diesen Makel wird man dann nicht los. Natürlich störte ihn massiv, dass es eine schützende Hand über dem Zeltkino gab, die aus politischem Kalkül handelte. Denn diese Politik brauchte auch Erfolge. Was sollte ich machen? Ich wollte den Erfolg des Zeltkinos. Entweder würde ich die Insel wieder verlassen oder ich arbeitete mit den Leuten zusammen, die die Mehrheit in der Gemeindevertretung hatten. Das waren ganz normale Insulaner und ich kam mit ihnen gut aus. Da gab es in der Realität auch keine radikalen Ansichten oder irgend etwas Vergleichbares zu dem, was später in Deutschland normal wurde. Also entschied ich mich pragmatisch, denn in einer Demokratie gelten Mehrheiten. Jedermanns Liebling konnte ich auf dieser Insel ohnehin nie werden. Eine Rolle, die ich auch ungern ausgefüllt hätte. Auch anderswo. Zum Kurdirektor konnte ich zu solchen Themen sagen, was ich wollte, er glaubte mir nicht wirklich. Wir kamen trotzdem gut miteinander aus. Er war schon 20 Jahre in dem Job und hatte wilde Aktionen auf der Insel erlebt, ich konnte seine Skepsis aus diesen Ereignissen heraus sogar gut verstehen. Letztlich war ich aber schwierige Leute gewöhnt. Zu dieser Zeit hatte ich bereits länger mit TV-Größen wie Rudi Carrell und Dieter Wedel gearbeitet und an denen waren ganz andere harte Hunde verzweifelt. So gesehen, waren der Kurdirektor und ich fast Freunde. Er möge mir diese Zeilen verzeihen, sie sollen ihm im Nachhinein nicht schaden.

Damals arbeitete auch noch M. in der Buchhaltung. Später ging er nach Kloster zur Kirche. M. war schlagfertig und ein echtes Inselkind. Er mißtraute mir auch. Wie eigentlich alle im Hafen- & Kurbetrieb, nur merkte ich das alles erst wesentlich später. Ich galt als eine Art Günstling des einen, der das Sagen hatte. Dabei lagen die Dinge anders. Gerade von dem hatte ich mir Card Blanche geben lassen: Er sollte sich nicht in die kulturellen Inhalte einmischen, weil er davon keine Ahnung hat. Dafür konnte man sich auf mich verlassen, was nicht schwierig war, denn ich bin pragmatisch und weiß meistens sehr genau, was geht und was man besser lässt. Sein Job war die Politik, meiner die Kultur im Zeltkino. Bis 2019 hielt dieses Zweckbündnis. Im übrigen verweise ich immer wieder darauf, ich wurde aufgrund eines Gemeindevertreterbeschlusses beauftragt, nicht auf Initiative einer Person. Ich begann im ersten Jahr, drei Doku-Filme zu drehen. Auch über Marion Magas, die als Inselchronistin damals ganz klar auf der Gegnerseite stand und offen Kritik an der Politik übte. Ich drehte mit Marion ein Porträt und zeigte es im Zeltkino. Da knirschten manche Zähne, aber man hat mir in all den Jahren kein einziges Projekt versucht auszureden. Um auf M. zurückzukommen. Er war für mich eine Ausnahme. Im Business und menschlich war er fair, trotz aller Vorbehalte. Und er war der einzige Hiddenseer, den ich kennen gelernt habe, mit dem ich auf der Bühne Kabarett gespielt hätte. Dafür war M. nie der Typ, er hat wahrscheinlich noch nicht mal darüber nachgedacht, so unmöglich würde ihm das erscheinen. Aber er hätte das Talent dafür gehabt und das war verdammt rar gesät. M.`s Schlagfertigkeit hätte ich gebraucht auf der Bühne. So etwas hat man oder nicht. Ich selbst improvisierte je nach Tagesform bis zu einem Viertel meiner Programme, wenn man da einen kongenialen Partner hat, dann ist das pures Adrenalin. Naja, also auch auf Hiddensee gibt es große Talente. Man ahnt es. 2012 dachte ich über die Gründung eines Kabaretts für die Bühne des Zeltkinos nach. Doch noch war das Zeltkino zu klein.

2012 hieß es, wir und nicht die anderen. Da muss man eben dann durch. Wenn heute Leute darüber die Nase rümpfen, kann ich nur sagen, macht es doch erst mal besser! Mit den Mitteln von heute ist das alles kein Problem. Da lässt sich vieles schnell mal ändern oder modernisieren und steht dann als besonders kostensparend und innovativ da. All das ist aber nur möglich, weil es einen Grundaufbau gab, eine harte Arbeit für den Erfolg in den Köpfen der Zeltkino-Fans und für das Image. Und weil es seit 1963 eine lange Geschichte des Zeltkinos auf Hiddensee gibt, die eine Spur der Legende legte.

Die Filme - Randbemerkungen

Eröffnung - 15. Juni 2012

"Die drei Musketiere"

Die europäische Produktion glänzte mit einem bestens aufgelegten Christoph Waltz als Kardinal Richelieu und einem Luftschiff, um der schon gefühlt 100x verfilmten Story ein paar actionreiche Nuancen mit Schauwert abzuringen. Während der offiziellen Eröffnung seitens der Gemeinde wurde mir eine alte Filmrolle überreicht. Die zwar hier nicht gebraucht wurde, da wir von DVD spielten, aber einen dekorativen Eindruck machte.

12 Meter ohne Kopf

Der Störtebeker-Film mit Matthias Schweighöfer, der damals noch nicht zu den Erfolgreichen zählte. Ziemlich verrückter Film, unterhaltend und mit einer ganz anderen unpathetischen Erzählweise. Teilweise zündeten die Gags auch tatsächlich. Eine Ausstatterin unterhielt sich dann mit dem Regisseur bei Facebook .