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Anett Steiner

Stollentod

Ein Erzgebirgs-Krimi

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-808-9

1. Auflage

© 2021 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: SLUB / Deutsche Fotothek / Schulz, Paul

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BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Axel-Springer-Straße 52

10969 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

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Seit Jahrhunderten lag der Tote im Berg. Der Fels bedeckte ihn, eisig kaltes Grubenwasser umschloss ihn, unter taubem Gestein war er begraben. Nur noch bleiche Gebeine zeugten von seiner unglücklichen Existenz. Vergessen war er längst von den Lebenden, doch noch immer gefangen in der Welt der Ruhelosen. Für Rache war es seit Jahrhunderten zu spät, allein sein Geist sucht bis in die kalte Gegenwart rastlos nach Erlösung, sein verhängnisvolles Geheimnis verlangte endlich nach Offenbarung.

1

Balthasar Hauwalds eiskalte Hand zitterte. Der junge Bergmann mit den blonden Haaren und den blauen Augen hatte Mühe, Ruhe zu bewahren, es gelang ihm nicht, sein Grubenlicht anzuzünden, obwohl dies doch eine alltägliche und vertraute, tausendfach geübte Routine hätte sein müssen. Nicht nur die letzten Stunden, auch die vergangenen Tage, die zurückliegenden Wochen und sogar Monate waren zu nervenaufreibend gewesen. Seit langem strapazierten die blinde Euphorie wie auch die steife Geheimnistuerei sein schlichtes, argloses und gottesfürchtig erzogenes Gemüt über die Maßen. Außerdem fehlte es dem jungen Mann an Schlaf, seine Augen lagen tief und nun fiebrig glänzend in den Höhlen, die veilchenfarbenen Ringe darunter dominierten sein schönes, beinahe knabenhaftes Antlitz, das ihn zu besseren Zeiten bei den Mädchen beliebt gemacht hatte. Mit seiner sonst robusten Gesundheit stand es seit einigen Tagen schon nicht zum Besten. Er fühlte, dass ein Fieber in seinem Blut nur auf den rechten Moment lauerte, hochzukochen und ihn wehrlos ans Bett zu fesseln, doch davon konnte er sich jetzt nicht aufhalten lassen. Schließlich hatte es ihn seine letzten hart verdienten und schmerzhaft vermissten Groschen gekostet, Wilhelm am Vorabend so betrunken zu machen, dass der Freund ihm heute nicht in die Quere kommen würde. Das zu Alkohol vergärende Gebräu, das absolut scheußlich schmeckte, zu diesem Zwecke aber nötig war, hatte er in einem kräftezehrenden Zweitagesmarsch aus dem Kloster in Grünhain geholt, und die Insassen hatten es sich gut bezahlen lassen, fand er. Die Blasen an seinen Füßen, mit denen der Gewaltmarsch seinen Tribut gefordert hatte, würden eine Weile schmerzen, bis sie heilten. Aber die Strapazen waren es Balthasar wert gewesen, unter keinen Umständen wollte er seinen Kameraden mit in die unselige Sache hineinziehen. Wilhelm war nämlich rechtschaffen und sollte schließlich bald Helene heiraten, Balthasars jüngere Schwester. Dieses Glück und viele gesunde Kinder seien ihm gegönnt, wünschte Balthasar, der noch immer zitternd versuchte, das Grubenlicht zu entzünden, während ein kalter, in geraden Fäden fallender Regen ihn mehr und mehr durchnässte.

Alles in ihm bebte beim Gedanken an Reitzner, seinen Obersteiger, der reglos und mit blutiger Schläfe vor ihm auf der feuchten Erde lag. Den wenig gelittenen Mann hatte er soeben niederschlagen müssen, Balthasar war nicht sicher, ob der andere den kräftigen Hieb, der ihm im Affekt überaus heftig geraten war, überlebt hatte, denn Haare und Blut klebten nun an Bal­thasars Grubenbeil, das wieder in seinem Gürtel steckte. Aber sei es drum, beruhigte er sich, um den brutalen Obersteiger war es wirklich nicht schade. Allerhand Gerüchte um dessen Boshaftigkeiten machten die Runde, Frauen, Kinder und Tiere würde er zu seinem Spaße quälen, so hieß es, auch wenn Balthasar keinen Beweis dafür hatte. Doch in der Tat, dem Mann mit den schattigen Augen und den verkniffenen Lippen würde er Derartiges durchaus zutrauen, überhaupt beherrschte seit längerem der Argwohn Balthasars Inneres.

Was hatte der Vorgesetzte heute auch am Stolleneingang zu suchen gehabt? Sonntags wurde nicht in den Berg eingefahren, das wusste jedes alte Weib. Deshalb hatte Balthasar sich allein gewähnt, die unerwartete Begegnung mit Oswald Reitzner hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht. So jedenfalls, mit all dem Blut oder gar einem Toten, war das nicht geplant gewesen, jetzt aber nicht mehr zu ändern. Die Frage, die blieb, war: Sollte er Reitzner liegenlassen oder sich seiner endgültig entledigen? Sollte er dessen zähen, gutgebauten Körper hinab ins eisige Grubenwasser werfen in der Hoffnung, man würde ihn erst später oder niemals finden? Er entschied sich für diesen Weg, ohne zu wissen, ob er stark genug dafür sein würde, die reglose Masse vom Gewicht mehrerer Kartoffelsäcke überhaupt irgendwohin zu bewegen. Die mit Dringlichkeit gepaarte Verzweiflung würde ihm die nötigen Kräfte verleihen, hoffte er. Allein – bis gestern hätte er sich niemals für einen Mörder gehalten. Doch die Gier war letztlich stärker gewesen als seine Frömmigkeit. Wenn Gott ihn dafür strafen wollte, dann würde er das gewiss tun.

Balthasars Grubenhosen waren verschlissen, erst kürzlich hatte er eine neue Berghaube erwerben müssen, und beides zusammen konnte er sich nicht leisten. Möglicherweise würde sich das bald ändern. Das Jahr des Herren 1698 würde sein Glücksjahr werden, redete er sich selbst gut zu. Im Berg hatte er etwas gefunden, was ihn zuerst an funkelnden Skarn erinnerte. Erst bei genauerem Hinsehen wurde ihm klar, dass es etwas anderes sein musste. Um sich zu vergewissern, war Balthasar mit einem Stück seines Fundes in die große Bergstadt Freiberg gereist, was ihn viele Tage Fußmarsch gekostet hatte. Von den Entbehrungen dieser Reise hatte er sich noch immer nicht restlos erholt, fühlte sich geschwächt, aber er hatte keinen anderen Weg gewusst, als sich dort unter falschem Namen fachkundigen Rat einzuholen. Und bei Letzterem konnte man nicht vorsichtig genug sein. Denn das, was er in Freiberg über seinen Fund erfahren hatte, war, obwohl er es geahnt hatte, wirklich unglaublich. Man bestätigte ihm, dass er etwas weit Wertvolleres als Zinn oder Silber gefunden hatte. Durfte er bald einen wahren Schatz sein Eigen nennen, den er aus dem Gestein lösen, jedoch nicht teilen wollte?

Dies war die erste Begegnung mit der dunklen Seite in ihm, Neid und Gier waren ihm bislang fremd gewesen … Und heute, so hatte Balthasar beschlossen, sollte der Tag gekommen sein, den ersten Teil des edlen Gesteins zu bergen.

Endlich war es ihm gelungen, das Grubenlicht zu entzünden, die Hand zitterte inzwischen stärker. Balthasar fror erbärmlich, wohl der letzte Akt seines Körpers im aussichtslosen Kampf gegen das aufkeimende Fieber, seine Glieder versagten zusehends. Mutterseelenallein fuhr er dennoch in die Grube ein und störte deren Sonntagsruhe. Dunkelheit umfing ihn, vertraute Dunkelheit, die ihn unter Tage noch niemals geängstigt hatte. Doch diesmal war es, als würde hinter jedem Schatten, den das flackernde Licht in seiner bebenden Hand an den Wänden hinterließ, ein Berggeist lauern, einer von vielen, die auf Strafe sannen.

Natürlich war sein Vorhaben nicht eben löblich, jedenfalls nach den Wertvorstellungen seines bisherigen Lebens. Aber was genau sollte daran unlöblich sein, Reichtum zu erstreben und das Leben zu verbessern? Sein Leben, das seiner Familie und seines Dorfes. Wäre es nicht vorteilhaft für alle, wenn immer genügend Silbermünzen da wären, um einen Arzt zu entlohnen?

Dennoch hätte Balthasar niemals mit dem Beil auf den Obersteiger einschlagen dürfen. Er empfand Reue, aber kein Mitleid. Jedes Huhn, das er zu schlachten gezwungen war, berührte sein Herz mehr als das Schicksal von Obersteiger Reitzner. Balthasars im christlichen Glauben erzogenes Wesen begann erneut in Widerstreit zu treten mit der dämonischen Gier, die in ihm brannte und heftiger loderte als das Fieber. Und Dämonen, die spürte er plötzlich überall. Sie lauerten auf ihn in der Tiefe des Berges, ihm war, als wollten sie ihn bei sich behalten, ihn nicht zurückkriechen lassen ans Tageslicht, ihn opfern als Pfand für die gestörte Ruhe des Berges.

Wann hatte er den Berggeistern das letzte Mal ein Talglicht oder einen Silbergroschen dargebracht, um sie milde zu stimmen, wie es der Brauch verlangte? Schließlich konnte man nicht einfach nehmen, was dem Berg gehörte, nicht wahr? Hitze und Kälte wechselten sich in Balthasars Körper ab, rangen miteinander auf Kosten seiner Kräfte. Er fror und schwitzte gleichermaßen, Schweiß rann ihm durch seine dichten Wimpern in die veilchenblauen Augen, mit denen er die Mädchen bezaubern konnte. Geschmack hatte er daran nie gefunden. Es fiel ihm schwer, den Blick zu fokussieren und sich auf den Weg zu konzentrieren. Nur verschwommen nahm er die vertrauten feuchten Steinwände wahr, an denen seine Finger sich Halt suchend entlangtasteten. Was war nur los mit ihm?

Da endlich war der Felsspalt, in dem er seinen in ein Leinentüchlein eingeschlagenen Fund versteckt hatte. Er wusste, es gab noch viel mehr davon, aber heute würde es ihm schon Mühe bereiten, dieses eine zu bergen. Doch schon wenn er seine bisherige Ausbeute zu barer Münze umwandelte, würde er ein reicher Mann sein, reicher als jeder andere im Dorf, reicher als jemals ein Bergmann in Ehrenfriedersdorf vor ihm. Dann konnte er die Grube kaufen, sie zu seinem Eigen machen und andere an seiner Statt schuften lassen.

Inzwischen fiel ihm das Atmen schwer. Der junge Mann kroch keuchend und stöhnend durch die engen Tunnel zurück, bemerkte erst im letzten Moment, dass er beinahe sein blutbeflecktes und damit verräterisches Grubenbeil verloren hätte. Seine Kraft reichte kaum noch aus, um sich die hölzernen Sprossen emporzuquälen, dem Tageslicht entgegen. Jetzt begann das Fieber ihn zu schütteln. Oder waren es die Berggeister, die mit eisigen Klauenfingern versuchten, ihn an seinen Grubenhosen zurück in die Tiefe zu zerren? Ein Schrei entwich seinen ausgetrockneten, rissigen Lippen. Ereilte ihn Gottes Strafe so bald?

Das Grubenlicht erlosch, mit letzter Kraft schob sich Balthasar an die Oberfläche, das Leinenbündel entglitt seinen Fingern und versank mit einem schmatzenden Geräusch im Schlamm. Trockener Husten schüttelte ihn – war es Blut, das er zwischen seinen Zähnen hervorwürgte? Fahrig tasteten seine Hände nach dem Bündel mit dem Schatz, den das morastige Erdreich verschluckt hatte. Da spürte er sie, die Finger einer anderen Hand, groß, grob und stark! Sie berührten die seinen beim Wühlen nach dem Leinensäckchen.

Erschrocken hob der junge Bergmann den Kopf und blickte in das dämonenhaft verzerrte Gesicht des Obersteigers. Er lebte, Balthasars Schlag mit dem Beil hatte ihm wenig anhaben können. Blut schimmerte feucht auf des Reitzners Stirn und Wange, oder war es der Regen? Balthasar spürte, dass ihm die Kraft für eine neuerliche Tätlichkeit fehlte. Schlaff hing er in Reitzners Armen, ließ sich willenlos zur Grubenöffnung schleppen. Sein Geist schrie, er solle sich wehren, sein Körper verweigerte jede Bewegung, bestand nur noch aus dem Affekt von Fieber und Schmerz.

Ihm wurde bewusst, dass er jetzt sterben würde. Zwar umklammerten seine Finger den Griff der Grubenaxt, doch jegliche Kraft hatte seinen Körper verlassen. Beim Fall in die Tiefe der Grube, gestoßen von der Hand des Obersteigers, würden seine Knochen zersplittern wie morsches Holz. Woher wusste der andere von Balthasars Schatz? War er auf dem Weg nach Freiberg zu unvorsichtig gewesen und hatte Begehrlichkeiten geweckt? Oder war es dem Zufall geschuldet, dass er dem Obersteiger am Tag der Grubenruhe hier in die Arme gelaufen war? War es am Ende Gottes Wille, wie alles, was auf der Welt geschah?

Blitze jagten über den Himmel. Ein Unwetter entlud sich. Der Regen verwischte jede Spur.

2

Die Stirn in Falten gezogen, war Richard tief in Gedanken versunken, seine Zähne nagten rechts an der Unterlippe und die Finger seiner beiden Hände umkreisten sich gegenseitig. Dazu tippte er rhythmisch mit dem rechten Fuß auf den knarrenden Boden und ärgerte sich unterschwellig über das Geräusch, das dabei von dem schlampig verlegten Laminat in seiner überteuerten Mietwohnung verursacht wurde. Ihn beschäftigte folgender Sachverhalt: Das Unternehmen Sächsische Mineralienförderung AG – kurz SMF – war nach einschlägigen Fachinformationen auf erhebliche Mengen von werthaltigem Wolfram- und Fluoriterz gestoßen und suchte für die Erweiterung eines Bergwerks im erzgebirgischen Pöhla Fachleute für unter Tage.

Nur zufällig war Richard auf die Stellenausschreibung im Internet gestoßen, eigentlich hatte er nur nach Weihnachtsgeschenken in Form zweier kleiner Lichterengel für die Mädchen gesucht und sich durch ein paar Webseiten mit erzgebirgischer Volkskunst geklickt. Der Kohleausstieg hatte ihn den Job gekostet, und er war es leid, sich von seiner Frau Manja mehr schlecht als recht aushalten zu lassen. Zwar hatte es sich so ergeben, dass er sich aktuell in Elternzeit mit der jüngsten Tochter befand, während Manja arbeitete. Aber sobald die Kleine endlich den Kindergarten besuchen konnte, wollte er vor allem eins: wieder arbeiten. Und das nicht nur, um in Lohn und Brot zu stehen, wie es so schön hieß. Er hatte überdies dringend Bestätigung nötig, er vermisste das Gefühl, ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Er genoss es sehr, Zeit für das Kind zu haben, und hatte auch kein Problem damit, Windeln zu wechseln und den von Manja vorbereiteten Brei in die Mikrowelle zu stellen, aber das ersetzte auf Dauer nicht die Kontakte zu den Kumpels. Er vermisste den gemeinsamen Start mit Kollegen in den Feierabend bei einem kühlen Bier und nicht zuletzt, an den Wochenenden abends mal einen trinken zu gehen. All das, was zum Leben außer der Vaterrolle, die er gut ausfüllen wollte, seiner Meinung nach eben dazugehörte.

Er konnte die Nachrichten über den Kohleausstieg nicht mehr hören und hatte schon erwogen, seine berufliche Zukunft als Quereinsteiger in Angriff zu nehmen, als Hausmeister vielleicht. Dann stieß er auf das Angebot von SMF und musste sich einfach bewerben.

Als die Einladung zum Vorstellungsgespräch ins Erzgebirge kam, war er zuerst ziemlich kopflos, gerechnet hatte er damit eigentlich nicht. Wenn es ihm hier in der brandenburgischen Lausitz monatelang nicht gelungen war, einen Job zu finden, wieso sollte es im Erzgebirge funktionieren? Doch manchmal stellte sich der größte Erfolg tatsächlich ein, wenn man die geringste Energie investierte. Er hatte nicht einmal besonders an seinem Bewerbungsanschreiben gefeilt, sondern einen Standardtext gemailt. Nun musste er sich schleunigst auf das Gespräch vorbereiten und sein Bestes geben. Schließlich würde es ihm wohl kaum gelingen, heimlich nach Sachsen zu fahren, schon deshalb nicht, weil Manja Urlaub nehmen und die Kleine beaufsichtigen musste.

Als er das Thema eines Abends endlich auf den Tisch legte, hörte Manja ihm kaum zu. Seine Frau war aufgekratzt, unruhig, unkonzentriert. Gern hätte Richard diesen Zustand vorüberziehen lassen, aber dafür blieb keine Zeit. Er hatte den Termin in Sachsen bereits zugesagt und rieb sich leicht verzweifelt die Stirn, als ihm klar wurde, dass er Manja im Moment nur schlecht erreichte. Was immer er sagte, sie würde einfach nicken und doch nicht wahrnehmen, was er mit ihr besprechen wollte. Sie hatte wieder eine ihrer Phasen 

Richard war lange genug mit ihr verheiratet, um zu wissen, wie damit umzugehen, und dass dieser Zustand nicht von Dauer war. Aber gerade jetzt kam ihm Manjas Stimmungslage alles andere als recht. Phasen nannte er den von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Zustand seiner Frau, der sich am ehesten als eine Mischung aus Hysterie und Pragmatismus beschreiben ließ. Dann war sie für eine Weile unerreichbar für ihn, nur die Kinder drangen zu ihr durch, als Mutter funktionierte sie immer. Wie ein Jo-Jo schwankte dann ihre Stimmung von hoch nach tief, eigentlich wartete Richard nur darauf, dass ihr Arzt diesbezüglich erneut das Wort »Depression« ins Gespräch bringen würde. Jedenfalls hatte der Doktor ihr für diese Zustände Medikamente verschrieben, die verhindern sollten, dass sie nach der Arbeit antriebslos auf dem Sofa lag und Löcher in die Luft starrte.

Und so interessierte es seine Frau nicht ernsthaft, als er an einem frühen Samstagmorgen in den Bus stieg, zum Bahnhof fuhr, bekleidet mit seinem zerknitterten Hochzeitsanzug, bei dem der Hosenknopf nicht mehr zuging. Während des Babysittens hatte er von all dem süßen Brei zugenommen, den die Kleine nicht aufessen wollte. Unter Richards Arm klemmte eine billige Aktentasche aus dem Restpostenmarkt, die nicht mehr beinhaltete als eine Kopie seiner Bewerbungsunterlagen und einen Bahnfahrplan. Seit langem war er wieder einmal allein unterwegs und wunderte sich, wie ungewohnt sich das anfühlte, wie unausgefüllt er sich vorkam ohne die Kinder.

Der Sitz der Sächsischen Mineralienförderung AG befand sich in Halsbrücke, natürlich hatte er das recherchiert, um wenigstens ein bisschen vorbereitet zu sein. Das Gespräch fand allerdings in Pöhla statt, direkt im neuen Bergwerk Pöhla-Globenstein. Als er in Schwarzenberg aus der Bahn stieg und sich ein Taxi rief, überkam ihn mit einem Male Nervosität.

Richards Hände wurden zuerst feucht, dann kalt, und sein Mund fühlte sich ziemlich trocken an, als er wie ein Traumtänzer gegenüber einer sehr attraktiven Frau Platz nahm. Seine Konzentration war eh schon beeinträchtigt und er wollte sich von der Umgebung nicht auch noch ablenken lassen, es handelte sich wohl um einen Pausenraum für die Arbeiter, vermutete er.

»Was wissen Sie über unser Unternehmen?«, fragte die Frau, die in seinem Alter sein mochte und sich als Personalbeauftragte vorgestellt hatte, nachdem sie sich für sein Kommen bedankt hatte.

Richard hatte diese Frage erwartet und seine Hausaufgaben gemacht, wie ein Tonband spulte er die Informationen herunter, die er im Internet gesammelt hatte.

»… na ja und die Bauarbeiten für das Bergwerk hier in Pöhla begannen schon 2016 mit einem Erkundungsschacht, dem ein Jahr später der Förderturm folgte. Gefördert wird seit vergangenem Jahr, also seit 2019. Derzeit ist Pöhla die größte Zinnlagerstätte Europas«, schloss er und nahm eine lauernde Haltung ein, wie ein Schüler, der eine gute Note für seinen Vortrag erwartete.

Die Frau nickte unverfänglich und fragte nach dem Grund seiner Bewerbung. Richard gab wahrheitsgemäß den politisch forcierten Untergang des Lausitzer Braunkohlereviers an und dass er sich in Elternzeit befand, damit seine Frau arbeiten konnte. Ob er für den Job umziehen oder an den Wochenenden pendeln wollte, erkundigte sich die Frau und Richard fragte sich, was das für eine Rolle spielte, das war doch wohl seine persönliche Angelegenheit. Ganz so direkt fiel seine Antwort aber nicht aus, er erklärte, darüber noch nicht nachgedacht zu haben, im Falle einer Anstellung würde er dies gemeinsam mit seiner Familie entscheiden.

»Vielen Dank, dass Sie sich vorgestellt haben, wir melden uns bei Ihnen.« Wieder lächelte die Personalerin ihr unverbindliches Lächeln und verabschiedete ihn förmlich.

Als er ging, begegnete er einem weiteren Bewerber, jedenfalls einem Mann in mittleren Jahren mit einer Aktentasche unter dem Arm, die auch aus dem Sonderpostenmarkt zu stammen schien. Jedenfalls sah sie Richards Modell zum Verwechseln ähnlich.

Mit einem unbestimmten Gefühl der Ziellosigkeit trat Richard in den trüben Nachmittag hinaus, kühle Feuchtigkeit erfüllte die Luft und kroch unter seine Kleider. Diesiger Nebel hüllte die Pöhlaer Straßen und Häuser in gespenstische Atmosphäre. War dies ein schlechtes Omen? Kurz dachte er darüber nach, wie Manja das Wetterphänomen an seiner Stelle bewerten würde, vor allem jetzt, in ihrer sensiblen Phase. Seine Ehefrau war mental empfänglich auf eine Art, die sich nur schwer erklären ließ. Am Anfang war es ihm fast unheimlich gewesen, dass sie Dinge zu wissen schien, die sie gar nicht wissen konnte, so als ob sie eine Hellseherin wäre. Diejenigen, die Manja nur flüchtig begegneten und sie nur oberflächlich kannten, bezeichneten seine Frau schnell als kompliziert und schrecklich überspannt. Er selbst wusste inzwischen, dass meistens etwas dran war an ihren Ahnungen. Manja konnte zwischen den Zeilen lesen, und er neigte dazu, dies je nach Situation als Gabe oder Fluch zu bezeichnen. Manchmal war es ziemlich peinlich, wenn sie in der Öffentlichkeit ungeniert von Gespenstern sprach, die sie wahrnahm, vorzugsweise in der Nähe des Friedhofs, gern auch in alten Häusern. Bei nebliger Wetterlage schien ihr das besonders gut zu gelingen. Leider bediente sie damit ganz unfreiwillig das Klischee einer Frau, die wegen der Kinder entweder zu wenig Schlaf bekam oder sich einfach nur wichtigmachen wollte.

Jedenfalls dachte Richard Hähnlein in diesem Moment an seine Frau, als er tief ausatmend im Nebel stand und die Anspannung von ihm abfiel. Passive Gleichgültigkeit erfasste ihn, er hatte getan, was er konnte, und hoffentlich den Erwartungen gemäß auf die Fragen geantwortet, alles weitere lag nicht mehr in seiner Hand. Es verlangte ihn nach einem Bier. Und die sächsischen Biere hatten einen guten Ruf zu verteidigen.

»Und, hat’s geklappt mit ’nem neuen Job?« Eine dunkel gekleidete Person, die ihn um fast einen Kopf überragte, materialisierte sich aus den dichten Nebelschwaden.

Richard zuckte zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden, und schalt sich einen Feigling, als er spürte, wie die Furcht vor dem Unbekannten seinen Rücken hinaufkroch. Da war die Stimme seiner Mutter, die ihn an seine Kindheit erinnerte und tief aus seinem Inneren echote: »Nimm dich in Acht vor dem Schwarzen Mann«, was so viel hieß wie: Gehe niemals mit Fremden mit. Sprach der Unbekannte tatsächlich mit ihm, Richard Hähnlein aus der schönen Lausitz? Da weit und breit sonst niemand zu sehen war, musste es wohl so sein.

»Reden Sie mit mir?«, vergewisserte er sich, um Festigkeit in der Stimme bemüht, und beendete die Frage mit einem Räuspern.

»Ich versuche es wenigstens.«

Richard wollte aber nicht plaudern. Ihm stand der Sinn einfach nur nach einem Bier, das er ungestört genießen wollte, bevor der alltägliche Familienwahnsinn ihn wieder einholte. Also beschloss er, auch wenn es kindisch und unfreundlich war, den Fremden einfach stehen zu lassen und sich auf die Suche nach einer Kneipe zu begeben. In seinem dünnen Jackett begann er augenblicklich zu frieren, es war kalt im Erzgebirge. Er hatte Zeit genug, um sich gemütlich in einen Gastraum zu setzen, die Heimreise würde er erst am späten Nachmittag antreten.

»Sie sehen aus, als hätten Sie Lust auf ein Bier?«

Konnte der Unbekannte Gedanken lesen oder stand Richard sein Bedürfnis so deutlich ins Gesicht geschrieben? Längst kroch ihm die feuchte Kälte auch in die dünnen Schuhe und er fing an, auf der Stelle hin und her zu tänzeln. Er musste an einen Fernsehbeitrag denken, denn er irgendwann einmal gesehen hatte, in dem verrückte Leute sich selbstgebastelte Hüte aus Aluminiumfolie auf die Köpfe setzten, um ihre Gedanken vor fremden Zugriffen zu schützen … Verrückte Leute – so verrückt wie seine Ehefrau? Und überhaupt, auch ihm wäre eine Rolle Aluminiumfolie plötzlich ganz recht gewesen.

»Na, kommen Sie, ich lade Sie ein!«

Wer war der Mann? Wieder meinte er die mahnende Stimme seiner Mutter zu hören, die ihm riet, sich von Fremden fernzuhalten und keinesfalls mit ihnen mitzugehen. Und natürlich hatte sie mit jedem einzelnen Rat, den sie ihm im Laufe seines Lebens gegeben hatte, recht behalten. Es konnte kein Fehler sein, sich auch jetzt daran zu halten. Doch wie von unsichtbarer Hand geführt, folgte er dem anderen, der schon im Nebel verschwunden war, ins Ungewisse … und fand sich wieder in einem gemütlichen Kneipchen, wo man in angenehmer Atmosphäre wohlschmeckendes Bier serviert bekam. Kurze Zeit später hatte er sich völlig entspannt, der Schaum vom Rand des Bierglases zierte sein zufrieden grinsendes Gesicht und das Frösteln verschwand.

»Vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Lothar Brunner.« Der andere streckte seine Hand über den Tisch.

Richard musterte den Fremden eingehend, im fadenscheinigen Licht des Gastraumes wirkten dessen Züge weich und angenehm. Dunkles, leicht gewelltes Haar umrahmte ein Gesicht, in dem nichts Markantes hervorstach, ein Antlitz, das Richard am nächsten Morgen wieder vergessen haben würde. Er schätzte Brunner eine Dekade älter als sich selbst und der Dialekt, den der Mann sprach, klang in seinen Ohren sehr vertraut. Brunner war demnach kein waschechter Erzgebirger, am Ende stammte er vielleicht ebenfalls aus der Lausitz?

»Sicher fragen Sie sich längst, was das alles soll und was ich von Ihnen will?«

Richard griff achselzuckend nach seinem Glas. In erster Linie genoss er es, sich aufzuwärmen und in immer kürzer werdenden Abständen an seinem Bier zu nippen. Dabei nuschelte er:

»Ja und nein. Da, wo ich herkomme …«

»Und wo kommen Sie her?«, unterbrach ihn Brunner.

»Senftenberg«, antwortete er wahrheitsgemäß, »aus der wunderschönen Lausitz.«

»Lausitz, wirklich sehr schön, da stimme ich Ihnen zu …« Und nach einem Räuspern wiederholte der andere seine Ausgangsfrage: »Hat es mit dem Job bei SMF geklappt?«

Richard hielt das Glas mit dem Bier wie ein Schutzschild vor seiner Brust. Woher wusste Brunner, dass er sich für einen Job vorgestellt hatte? Und dass SMF überhaupt welche vergab? Galt der andere als Insider, der aus welchem Grund auch immer Besuchern des Bergwerks auflauerte? Wer war dieser Brunner überhaupt? Der Mann erschien trotz seiner Größe untersetzt, was irgendwie im Widerspruch zu seinem harmonischen Gesicht stand. Zudem wirkte er ein wenig kurzatmig und seine Wangen waren eine Spur zu rot, ganz so, als ob er zu hohen Blutdruck hätte. Das kannte Richard von seinem Schwiegervater.

»Woher wissen Sie, dass ich vorhin ein Bewerbungsgespräch hatte?«

»Ich komme, sagen wir, aus der gleichen Branche. Ihr Anzug lässt vermuten, dass Sie sich vorgestellt haben, ganz die alte Schule. Heutzutage geht man in Alltagskleidung auf Jobsuche. Nun, ich habe Sie angesprochen, weil ich Ihnen ebenfalls ein Angebot machen möchte.«

»Ein Angebot? Was für ein Angebot? Sie wissen doch gar nichts über mich.« Richard war plötzlich auf der Hut und gleichzeitig neugierig.

»Nun, ich suche ebenfalls Mitarbeiter. Fachkräfte mit Bergbauerfahrung.«

In Richards Hirn war die Verblüffung dabei, den Kampf gegen die Bierschwere aufzunehmen. Er wusste nur eins sicher: Seit seiner Geburt fehlte ihm eine gesunde Portion Argwohn. Und dennoch – bot sich hier etwa die Gelegenheit, zwischen zwei Jobs zu wählen und sich am Ende das lukrativere Angebot aussuchen zu können? Manja würde begeistert sein. Zu gern würde er es ihr endlich ermöglichen, sich zu Hause um die Mädchen zu kümmern und nicht arbeiten zu müssen. In ihrer momentanen finanziellen Situation war dies undenkbar. Richard trank sein Bier aus. Vom Alkohol mutig geworden, fragte er:

»Was genau wollen Sie mir denn anbieten?«

»Ich möchte Sie bitten, darüber nachzudenken, nicht für SMF in Pöhla anzufangen, sondern für einen anderen Arbeitgeber in Ehrenfriedersdorf. Die Konditionen sind verhandelbar.«

»Ehren… wo?« Aber als er lange genug darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass in der Vergangenheit dort Zinn gefördert worden war.

»Ehrenfriedersdorf bei Annaberg-Buchholz, mitten im schönen Erzgebirge. Dort könnte schon bald Ihr Zuhause sein. Natürlich bekommen Sie jede Unterstützung, die Sie brauchen. Soll ich nach einer Wohnung oder einem Haus für Sie suchen? Sie haben doch Familie, oder?«

Es fiel Richard plötzlich schwer, zuzuhören und gleichzeitig über eine Antwort nachzudenken. Das mochte am Alkohol liegen, oder an der bleiernen Müdigkeit, die zunehmend Besitz von ihm ergriff.

»Familie? Ja, zwei Töchter habe ich.«

»Gratuliere. Dann also ein Haus mit Kinderzimmern?«

Haus? Kinderzimmer? Das ging Richard alles entschieden zu schnell. Oder fühlte es sich genau so an, wenn das Schicksal die Zügel in die Hand nahm? Wie auch immer, ein Haus würden sie sich niemals leisten können, so verlockend der Gedanke auch sein mochte. Er entschied, das Spiel mitzumachen, aber rein gar nichts mehr von sich preiszugeben.

»Wieso geben Sie mir nicht einfach Ihre Visitenkarte und unterbreiten mir einen konkreten Vorschlag? Ich rufe Sie an, wenn ich ein Angebot von SMF habe. Dann werden wir sehen, wer das Rennen macht. Und jetzt: Wie komme ich am schnellsten zum Bahnhof nach Schwarzenberg?«

»Trinken Sie in Ruhe noch eins, ich bringe Sie hin.«

*

In einen dicken Mantel gehüllt, schlenderte Manja Hähnlein am Ufer des Senftenberger Sees entlang. Wie immer half ihr die Ruhe über dem Wasser, sich zu erden. Hier konnte sie ihre Akkus laden. Manja hatte gesund glänzendes, rötlich schimmerndes Haar, das ihr in Wellen über den Rücken bis zum Po fiel. Die ungezähmte Mähne hatte ihr schon oft neidische Blicke eingebracht. Ihre grünen Augen suchten einen imaginären Punkt am Horizont, während sie loszulassen versuchte. Was würde die Zukunft bringen? Die Geister riefen sie an einen anderen Ort. Und wenn sie den Geistern nicht folgte, würde das nur Ärger bringen. Sie schaute gedankenverloren über das große glitzernde Wasser, zog den Kragen höher und begann recht bald zu frösteln.

Einen See, so hatte Richard ihr versichert, als er aus Sachsen zurückkam, würde es auch in der neuen Heimat geben. Neue Heimat, welch seltsame Paarung widersprüchlicher Worte. Tausche Senftenberger See gegen Greifenbachstauweiher, dachte sie. So jedenfalls wurde das Gewässer bei Ehrenfriedersdorf in einem Touristenführer über das Erzgebirge beschrieben – bald würde sie erfahren, dass die Einheimischen es schlicht Geyrischer Teich nannten.

Richard hatte einen von zwei angebotenen Arbeitsverträgen in Sachsen unterschrieben. Ehrenfriedersdorf hatte das Rennen vor Pöhla gemacht, was eindeutig an den Konditionen lag. Für den Anfang hatte ihr Mann erwogen, während der Woche in ein Pensionszimmer zu ziehen und an den Wochenenden zurück in die Lausitz zu pendeln. Aber war wäre das für ein Familienleben? Von den Geistern, die sie riefen, ganz zu schweigen, davon würde Manja ihm gar nicht erst erzählen. Als der neue Arbeitgeber ein bezahlbares Haus vermittelte, war der gemeinsame Umzug ins Erzgebirge dann endgültig beschlossene Sache. Die Geister … sie konnte mit kaum jemandem darüber reden, ohne für verrückt erklärt oder wenigstens belächelt zu werden. Daran hatte sie sich längst gewöhnt. Und bei genauerem Nachdenken hinterließ sie in Senftenberg nur wenig, was sie wirklich vermissen würde. Der See war eigentlich das Einzige.

Später am Nachmittag, es begann bereits zu dunkeln, kehrte Manja mit den Bus nach Hause zurück zu Mann und Kindern. Der sensiblen jungen Frau war klar, dass sie ihre Gespenster nicht loswerden würde, auch nicht, wenn sie mit ihrer Familie nach Sachsen zog. Aber das war in Ordnung, mit den Jahren war sie stark genug geworden, um sich ihnen zu stellen. Es hatte zwar ein paar Psychosen lang gedauert, bis sie die Ahnungen als das akzeptieren konnte, was sie waren: eine Gabe. Eine Gabe, mit der sie Gutes bewirken konnte, wenn sie sich nicht dagegen wehrte. Sie hatte sich lange gesträubt, aber nicht ernsthaft genug, wie der Psychologe meinte. Aber den Typen würde sie ebenso hinter sich lassen wie Senftenberg.

Richard stammte ursprünglich aus dem Ruhrgebiet. Er hatte dort in einer Kohlenzeche gearbeitet, als sie sich während eines Urlaubes im Harz kennen- und lieben lernten. Daraufhin war er ohne große Umstände ins Lausitzer Revier gewechselt und hatte Manja schon bald einen Ring an den Finger gesteckt, dann kamen die Kinder. Etwas komplizierter wurde ihr gemeinsames Leben erst, als Richard seinen Job verlor. Kohleausstieg … sie konnte das Wort nicht mehr hören.

Jetzt war Richard seit knapp anderthalb Jahren ohne Anstellung. Kurzerhand hatte er die Elternzeit für die jüngste Tochter Josefine in Anspruch genommen und Manja war stattdessen weiter zur Arbeit gegangen, eine Kompromisslösung, mit der beide nicht eben glücklich waren. Manja vermisste das Muttersein und Richard seine Versorgerrolle. Mit der Zeit hatte sich zudem die finanzielle Lage zugespitzt. Richard hatte ihr wiederholt ans Herz gelegt, offen zu sein, was die Zukunft betraf. Dunkle Ahnungen konnte sie diesbezüglich jedenfalls nicht erspüren. Außerdem hatte Sachsen in Manjas Familiengeschichte bereits einmal eine Rolle gespielt, ihre Mutter stammte aus dem Erzgebirge, was Manja kurzerhand als gutes Omen wertete. Sie war erst kurz nach der politischen Wende mit Manja in die Lausitz gezogen. Rückblickend eines Mannes wegen, der es nicht wert gewesen war, die Heimat aufzugeben, hatte die Mutter erklärt und sich wehmütig die Tränen verkniffen. So gesehen, war der nun geplante Umzug der vier Hähnleins nicht unbedingt ein Auszug in die Ferne, sondern vielleicht sogar ein Nachhausekommen – es war wieder einmal alles eine Frage des richtigen Standpunktes, befand Manja.