Virginia Woolf (1882–1941) gilt als Englands bedeutendste Autorin der Moderne. Ihre Romane werden in einem Atemzug mit denen von Joyce und Proust genannt, zudem verfasste sie etliche Essays und hinterließ umfangreiche Tagebücher. Obgleich Tochter wohlhabender Intellektueller – Thomas Hardy und Henry James gingen in ihrem Elternhaus ein und aus –, hat sie nie eine Schule, geschweige denn eine Universität besucht. 1917 gründete sie gemeinsam mit ihrem Mann Leonard den Verlag The Hogarth Press, in dem neben Vom Verachtetwerden auch ihr zweiter bedeutender feministischer Essay Ein Zimmer für sich allein erschien. Zeitlebens litt Virginia Woolf unter schweren Depressionen. Am 28. März 1941 fand ihr Mann einen Brief auf dem Kaminsims, der mit den Zeilen begann: »Liebster, ich fühle deutlich, dass ich wieder verrückt werde …« Virginia Woolfs Leiche wurde in einem nahe gelegenen Fluss entdeckt.
Virginia Woolf erhielt 1936 tatsächlich einen Brief, in dem Pernel Strachey, die Prinzipalin des Newnham College, Cambridge, sie bat, einem Patronatskomitee für Erweiterungsbauten des Colleges beizutreten. Außerdem erhielt sie einen ähnlichen Brief von Philippa Strachey, der Vorsitzenden der »National Society for Women’s Service«.
William Makepeace Thackeray: Die Geschichte von Pendennis. Übertragen von Heinrich Conrad, München und Leipzig: Georg Müller 1911, Bd. 2, S. 143f.
Im Griechischen besteht die Aussage aus fünf Wörtern. Hier in der Übertragung von Wolfgang Schadewaldt.
William Wordsworth: The Sparrow’s Nest. Übertragen von Brigitte Walitzek in: Ein eigenes Zimmer, Drei Guineen. Zwei Essays. Hrsg. Klaus Reichert, Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2001, S. 251.
Übertragen von Manfred Pfister, in: Englische und Amerikanische Dichtung, Zweiter Band, »Von Dryden bis Tennyson«. Hrsg. W.v. Koppenfels und M. Pfister, München: C.H.Beck 2000, S. 421, 423.
Drei Jahre sind eine lange Zeit, einen Brief unbeantwortet zu lassen, und Ihr Brief ist sogar noch länger ohne Antwort geblieben. Ich hatte gehofft, er würde sich von selbst beantworten oder andere würden es an meiner Stelle tun. Aber da liegt er mit seiner noch immer unbeantworteten Frage vor mir: Wie lässt sich Ihrer Meinung nach ein Krieg verhindern?
Es ist wahr; viele Antworten haben sich aufgedrängt, aber keine ist darunter, die nicht einer Erklärung bedürfte, und Erklärungen brauchen Zeit. Und selbst dann gibt es Gründe, warum es so besonders schwierig ist, Missverständnisse zu vermeiden. Eine ganze Seite ließe sich mit Ausreden und Entschuldigungen füllen; mit Bekundungen der Untauglichkeit, der Inkompetenz, eines Mangels an Wissen und Erfahrung; und sie wären wahr. Und nachdem sie ausgesprochen worden wären, würden immer noch einige so fundamentale Schwierigkeiten bleiben, dass sich ein Verstehen Ihrerseits oder eine Erklärung unsererseits als unmöglich erweisen könnte. Aber einen so bemerkenswerten Brief wie den Ihren – einen Brief, der in der Geschichte der menschlichen Korrespondenz vielleicht einzigartig ist, denn wann hat ein gebildeter Mann je zuvor eine Frau gefragt, wie ihrer Meinung nach ein Krieg verhindert werden kann? – lässt man nicht so gern unbeantwortet liegen. Unternehmen wir also den Versuch, auch wenn er zum Scheitern verurteilt ist.
Entwerfen wir zunächst das, was alle Briefschreiber instinktiv entwerfen, eine Skizze der Person, an die sich der Brief richtet. Ohne eine warme und atmende Person am anderen Ende der Seite sind Briefe wertlos. Sie also, der diese Frage stellt, sind ein bisschen grau an den Schläfen, das Haar auf dem Kopf ist weniger dicht. Sie haben die mittleren Lebensjahre nicht ohne Anstrengung erreicht, in der Anwaltschaft; aber im Großen und Ganzen war Ihr Weg erfolgreich. Nichts Vertrocknetes, Gehässiges oder Unzufriedenes liegt in Ihrem Gesichtsausdruck. Und ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, Ihr Erfolg – Ehefrau, Kinder, Haus – ist verdient. Sie sind nie in die zufriedene Apathie der mittleren Jahre versunken, denn, wie mir Ihr Brief aus einem Büro im Herzen von London zeigt, anstatt den Kopf ins Kissen zu stecken, die Kühe zu stoßen, die Kirschen zu stutzen – schreiben Sie Briefe, besuchen Versammlungen, führen den Vorsitz über dies und das und stellen mit Geschützdonner in den Ohren Fragen. Ansonsten haben Sie Ihre Ausbildung an einer der besten Privatschulen begonnen und an der Universität abgeschlossen.
Hier taucht nun die erste Schwierigkeit in der Verständigung zwischen uns auf. Zeigen wir rasch, warum. Wir entstammen beide dem, was man in dieser hybriden Zeit, in der trotz unterschiedlicher Herkunft Klassen fest verankert bleiben, der Einfachheit halber die gebildete Klasse nennt. Wenn wir uns in Fleisch und Blut begegnen, sprechen wir mit demselben Akzent; benutzen Messer und Gabel auf dieselbe Weise; erwarten, dass uns Dienstmädchen das Dinner bereiten und nach dem Dinner abwaschen, und während des Dinners können wir uns ohne große Schwierigkeiten über Politisches und Persönliches unterhalten; Krieg und Frieden, Barbarei und Zivilisation – über all die Fragen, die Ihr Brief aufwirft. Darüber hinaus verdienen wir beide unseren Lebensunterhalt selbst. Aber … Diese drei Punkte markieren einen Abgrund, eine Kluft, die so tief zwischen uns klafft, dass ich drei Jahre und länger auf meiner Seite gesessen und mich gefragt habe, ob es irgendeinen Sinn hat, über sie hinwegzusprechen. Bitten wir also jemand anderen – Mary Kingsley –, für uns zu sprechen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen jemals offenbart habe, dass die Erlaubnis, Deutsch zu lernen, der einzige bezahlte Unterricht war, den ich je erhielt. Zweitausend Pfund wurden für den meines Bruders ausgegeben, ich hoffe noch immer, nicht vergeblich.« Mary Kingsley spricht nicht nur für sich selbst, sie spricht, immer noch, für viele Töchter gebildeter Männer. Und sie spricht nicht bloß für sie; sie weist auch auf eine sehr wichtige sie betreffende Tatsache hin, eine Tatsache, die alles Folgende zutiefst beeinflusst: auf Arthurs Bildungsfonds. Sie, der Sie Thackerays Pendennis gelesen haben, werden sich daran erinnern, welche Rolle die geheimnisvollen Buchstaben A.B.F. in den Haushaltsbüchern spielen. Seit dem dreizehnten Jahrhundert zahlen englische Familien Geld auf dieses Konto ein. Von den Pastons bis zu den Pendennis, alle gebildeten Familien zahlen seit dem dreizehnten Jahrhundert bis heute Geld auf dieses Konto ein. Es ist ein unersättlicher Topf. Viele Söhne auszubilden verlangte große Anstrengungen vonseiten der Familie, damit er immer gefüllt blieb. Denn Ihre Ausbildung bestand nicht allein im Lernen aus Büchern; Sport bildete Ihren Körper aus; Freunde brachten Ihnen mehr bei als Bücher oder Sport. Die Unterhaltung mit ihnen erweiterte Ihren Horizont und bereicherte Ihren Geist. In den Ferien reisten Sie; erwarben sich einen Sinn für Kunst; Kenntnisse der auswärtigen Politik, und ehe Sie Ihren Lebensunterhalt selbst verdienen konnten, gab Ihr Vater Ihnen einen Zuschuss, mit dem es Ihnen möglich war, Ihr Leben zu finanzieren, während Sie den Beruf erlernten, der Sie heute als verdienter Jurist dazu berechtigt, Ihrem Namen die Buchstaben K.C. hinzuzufügen. All das entstand aus Arthurs Bildungsfonds. Zu welchem Ihre Schwestern, wie Mary Kingsley andeutet, ihren Beitrag leisteten. Nicht nur ist ihre eigene Bildung in ihn eingeflossen, mit Ausnahme solcher kleinen Beträge wie dem zur Bezahlung der Deutschlehrerin; auch viele der Vergnügungen und Extras, die letztendlich einen wesentlichen Teil der Bildung ausmachen – Reisen, Gesellschaft, Abgeschiedenheit, eine Unterkunft außerhalb des Elternhauses –, gingen in ihn ein. Er war ein unersättlicher Topf, eine handfeste Tatsache – Arthurs Bildungsfonds –, so handfest, dass sie einen Schatten auf die gesamte Landschaft warf. Und in der Folge sehen wir, obwohl wir dasselbe betrachten, unterschiedliche Dinge. Was ist diese Ansammlung von Gebäuden dort mit ihrem halb klösterlichen Erscheinungsbild, mit Kapellen und Hallen und grünen Sportplätzen? Für Sie ist es Ihre alte Schule, Eton oder Harrow, Ihre alte Universität, Oxford oder Cambridge, die Quelle von Erinnerungen und unzähligen Traditionen. Für uns aber, die wir durch den Schatten von Arthurs Bildungsfonds sehen, ist es ein Tisch in einem Klassenzimmer, ein Omnibus auf dem Weg zu einer Unterrichtsstunde, eine kleine Frau mit einer roten Nase, die selbst nicht sehr gebildet ist, aber eine kranke Mutter zu versorgen hat und seit Erreichen der Volljährigkeit einen Zuschuss von 50 Pfund im Jahr erhält, von denen Kleidung gekauft, Geschenke gemacht und Reisen unternommen werden müssen. Das ist die Wirkung, die Arthurs Bildungsfonds auf uns hatte. Auf so magische Weise verändert er die Landschaft, dass die edlen Höfe und Gevierte von Oxford und Cambridge den Töchtern gebildeter Männer oft wie löchrige Unterröcke erscheinen, wie kalte Hammelkeulen und wie der Zug, der zur Fähre ins Ausland abfährt, während der Schaffner ihnen die Tür vor der Nase zuschlägt.
Die Tatsache, dass Arthurs Bildungsfonds die Landschaft verändert – die Hallen, die Sportplätze, die heiligen Bauwerke –, ist von großer Bedeutung; aber dieser Aspekt muss zukünftigen Diskussionen vorbehalten bleiben. Angesichts der wichtigen Frage, die es hier zu betrachten gilt – wie sollen wir Ihnen helfen, einen Krieg zu verhindern –, geht es uns nur um die in diesem Zusammenhang offensichtliche Tatsache, dass Bildung etwas bewirkt. Eine gewisse Kenntnis der Politik, der internationalen Beziehungen, der Wirtschaft ist offensichtlich nötig, um die Ursachen zu verstehen, die zu Kriegen führen. Die Philosophie, sogar die Theologie könnten hilfreich sein. Als Ungebildeter, als jemand ohne geschulten Geist, könnten Sie sich mit solchen Fragen nicht zufriedenstellend befassen. Krieg als Folge unpersönlicher Kräfte übersteigt, wie Sie zugeben werden, das Verständnisvermögen des ungeschulten Geistes. Krieg als Folge der menschlichen Natur hingegen ist etwas anderes. Wenn Sie nicht glauben würden, dass die menschliche Natur, die Beweggründe, die Gefühle gewöhnlicher Männer und Frauen zu Kriegen führen, hätten Sie nicht mit der Bitte um Hilfe an uns geschrieben. Sie müssen zu dem Schluss gekommen sein, dass Männer und Frauen hier und jetzt imstande sind, ihren Willen geltend zu machen; sie sind keine Schachfiguren oder Marionetten, die an Schnüren tanzen, von unsichtbaren Händen gehalten. Sie können eigenständig handeln und denken. Vielleicht können sie sogar die Gedanken und Taten anderer beeinflussen. Diese Art der Überlegung muss Sie dazu gebracht haben, sich an uns zu wenden; und zu Recht. Denn glücklicherweise gibt es einen Bildungszweig, der unter die Rubrik »unbezahlte Bildung« fällt – jenes Verständnis vom Menschen und von seinen Motiven, das, löst man den Begriff aus seinen wissenschaftlichen Zusammenhängen, Psychologie genannt werden könnte. Die Ehe, jener große Beruf, der unserer Klasse seit Anbeginn der Zeit bis ins Jahr 1919 als einziger offensteht, Ehe, diese Kunst, den Menschen auszuwählen, mit dem sich das Leben erfolgreich leben lässt, sollte uns einige Fertigkeiten in diesem Fach gelehrt haben. Aber hier sind wir mit einer weiteren Schwierigkeit konfrontiert. Denn obwohl beide Geschlechter viele Instinkte miteinander gemein haben, war das Kämpfen doch immer die Gewohnheit des Mannes, nicht die der Frau. Gesetz und Brauch haben diesen Unterschied vertieft, ob angeboren oder zufällig. Kaum ein Mensch ist im Laufe der Geschichte je der Waffe einer Frau zum Opfer gefallen; die große Mehrheit der Vögel und Tiere wurde von Ihnen getötet, nicht von uns; und es ist schwierig, etwas zu beurteilen, woran wir keinen Anteil haben.
Wie sollen wir dann aber Ihr Problem verstehen, und wie sollen wir, wenn wir das nicht können, Ihre Frage, wie sich ein Krieg verhindern lässt, beantworten? Die Antwort, die uns unsere Erfahrung und unsere Psychologie eingeben – Warum kämpfen? –, ist keine Antwort von Wert. Offensichtlich verbindet sich für Sie ein gewisser Ruhm, eine gewisse Notwendigkeit, eine gewisse Befriedigung mit dem Kämpfen, die wir nie gespürt oder genossen haben. Vollkommenes Verstehen könnte nur durch Blutübertragung und Gedächtnisübertragung erreicht werden – ein Wunder, das noch außerhalb wissenschaftlicher Reichweite liegt. Aber wir, die wir jetzt leben, haben einen Ersatz für Blutübertragung und Gedächtnisübertragung, der im Notfall genügen muss. Es gibt dieses wunderbare, fortwährend erneuerte und bislang weitgehend ungenutzte Hilfsmittel zum Verstehen menschlicher Motive, das in unserer Zeit in Form von Biografien und Autobiografien zur Verfügung steht. Auch gibt es die Tageszeitung, Geschichte in Rohform. Folglich also gibt es keinen Grund mehr, auf die winzige Spanne tatsächlicher Erfahrung beschränkt zu sein, die für uns noch immer so eng, so begrenzt ist. Wir können sie ergänzen, indem wir uns ein Bild vom Leben anderer machen. Natürlich ist es gegenwärtig nur ein Bild, aber als solches muss es genügen. Der Biografie werden wir uns also als Erstes zuwenden, kurz und bündig, im Versuch zu verstehen, was Krieg für Sie bedeutet. Entnehmen wir einige wenige Sätze aus einer Biografie.
Zunächst Folgendes aus dem Leben eines Soldaten:
Ich hatte das denkbar glücklichste Leben und war immer für den Krieg tätig und bin in meinen besten Jahren jetzt in den größten geraten … Gott sei Dank, in einer Stunde geht es los. Was für ein prachtvolles Regiment! Was für Männer, was für Pferde! In zehn Tagen, hoffe ich, werden Francis und ich Seite an Seite geradewegs gegen die Deutschen reiten.
Der Biograf ergänzt:
Von der ersten Stunde an war er in höchstem Maße glücklich, denn er hatte seine wahre Berufung gefunden.
Fügen wir nun Folgendes aus dem Leben eines Fliegers hinzu:
Wir sprachen über den Völkerbund und die Aussichten für Frieden und Abrüstung. Diesem Thema gegenüber war er weniger militaristisch als vielmehr soldatisch eingestellt. Er fand keine Lösung für die Schwierigkeit, dass es, wenn je ein dauerhafter Friede erreicht und es keine Armeen und Kriegsflotten mehr geben würde, auch kein Ventil für die männlichen Eigenschaften mehr geben würde, die sich im Kämpfen bildeten, und der menschliche Körper und der menschliche Charakter daraufhin verkommen würden.
Hier finden sich schlagartig drei Gründe, die Ihr Geschlecht zum Kämpfen veranlassen; Krieg ist ein Beruf; eine Quelle des Glücks und der Begeisterung und außerdem ein Ventil männlicher Eigenschaften, ohne die der Mann verkommen würde. Dass diese Gefühle und Ansichten keineswegs durchweg von Ihrem Geschlecht geteilt werden, beweist der folgende Auszug aus einer anderen Biografie über das Leben eines Dichters, der im Europäischen Krieg getötet wurde: Wilfred Owen.
Schon habe ich ein Licht erkannt, das nie ins Dogma irgendeiner Staatskirche eindringen wird: nämlich, dass eines der wesentlichen Gebote Christi lautete: Passivität um jeden Preis! Erdulde Ehrlosigkeit und Schande, aber greife niemals zu den Waffen. Lass dich schikanieren, lass dich misshandeln, lass dich töten; aber töte nicht … Du siehst also, dass reines Christentum und reiner Patriotismus unvereinbar sind.
Und unter einigen Notizen zu Gedichten, die er nicht mehr schreiben konnte, finden sich diese:
Das Unnatürliche von Waffen … Unmenschlichkeit des Krieges … das Unerträgliche des Krieges … Entsetzliche Bestialität des Krieges … Idiotie des Krieges.
Diese Zitate offenbaren, dass ein und dasselbe Geschlecht über dieselbe Sache ganz unterschiedlicher Meinung sein kann. Und aus der Zeitung von heute wird auch offenbar, dass die große Mehrheit Ihres Geschlechts einen Krieg befürwortet, mag es noch so viele Andersdenkende geben. Sowohl die Konferenz der gebildeten Männer in Scarborough als auch die Konferenz der männlichen Arbeiter in Bournemouth sind sich darin einig, dass es notwendig ist, 300000000 Pfund im Jahr für Waffen auszugeben. Sie sind der Meinung, dass Wilfred Owen unrecht hatte; dass es besser ist, zu töten, als getötet zu werden. Da es aber den Biografien zufolge viele unterschiedliche Meinungen gibt, liegt es auf der Hand, dass es irgendeinen ausschlaggebenden Grund für diese überwältigende Einhelligkeit geben muss. Sollen wir ihn, der Kürze halber, »Patriotismus« nennen? Was aber, sollten wir als Nächstes fragen, ist dieser »Patriotismus«, der Sie dazu bringt, in den Krieg zu ziehen? Überlassen wir die Interpretation dem Lordoberrichter von England:
Engländer sind stolz auf England. Für die, die an englischen Schulen und Universitäten ausgebildet wurden und in England ihr Lebenswerk verrichtet haben, ist kaum eine Liebe stärker als die Liebe zu unserem Land. Wenn wir uns andere Nationen anschauen, wenn wir die politischen Verdienste dieses oder jenes Landes beurteilen, messen wir sie am Standard unseres eigenen Landes. … Die Freiheit ist in England beheimatet. England ist die Heimat demokratischer Institutionen … Gewiss gibt es in unserer Mitte viele Feinde der Freiheit – einige von ihnen vielleicht in eher unerwarteten Ecken. Aber wir halten stand. Es heißt, des Engländers Heim sei seine Burg. Das Heim der Freiheit ist England. Und England ist tatsächlich eine Burg – eine Burg, die bis zum Letzten verteidigt wird … Ja, wir sind reich gesegnet, wir Engländer.
Das ist eine rechtschaffene allgemeine Aussage darüber, was Patriotismus für einen gebildeten Mann bedeutet und welche Pflichten er ihm auferlegt. Aber was die Schwester des gebildeten Mannes angeht – was bedeutet Patriotismus für sie? Hat sie dieselben Gründe, stolz auf England zu sein, England zu lieben, England zu verteidigen? Ist sie in England »reich gesegnet« worden? Befragt man Geschichte und Biografie, scheinen sie zu zeigen, dass ihre Stellung im Heim der Freiheit sich von der ihres Bruders unterschied; und die Psychologie scheint darauf hinzuweisen, dass Geschichte nicht ohne Wirkung auf Körper und Geist bleibt. Deshalb könnte sich ihre Interpretation des Wortes »Patriotismus« von der seinen durchaus unterscheiden. Und dieser Unterschied könnte es ihr extrem schwer machen, seine Definition von Patriotismus und die ihm damit auferlegten Pflichten zu verstehen. Wenn also unsere Antwort auf Ihre Frage: »Wie lässt sich Ihrer Meinung nach ein Krieg verhindern?« vom Verständnis der Beweggründe, der Gefühle, der Loyalitäten abhängt, die Männer dazu bringen, in den Krieg zu ziehen, sollte dieser Brief besser zerrissen und in den Papierkorb geworfen werden. Denn es scheint auf der Hand zu liegen, dass wir einander wegen dieser Unterschiede nicht verstehen können. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass wir unterschiedlich denken, so wie wir unterschiedlich geboren wurden; es gibt einen Grenfell-Standpunkt, einen Knebworth-Standpunkt, ei- nen Wilfred-Owen-Standpunkt, einen Lordoberrichter-Standpunkt und den Standpunkt der Tochter eines gebildeten Mannes. Alle unterscheiden sich. Aber gibt es keinen absoluten Standpunkt? Können wir nicht irgendwo in Buchstaben aus Feuer oder Gold geschrieben finden: »Das ist wahr. Das ist falsch« – ein moralisches Urteil, das wir alle, trotz unserer Unterschiede, akzeptieren müssen? Geben wir also die Frage nach der Richtigkeit oder der Falschheit von Kriegen an jene weiter, die die Moral zu ihrem Beruf gemacht haben – die Geistlichen. Wenn wir den Geistlichen die einfache Frage stellen: »Ist Krieg richtig oder falsch?«, werden sie uns gewiss eine einfache Antwort geben, die wir nicht bestreiten können. Doch nein – die Kirche von England, von der anzunehmen sein sollte, dass sie in der Lage wäre, die Frage von ihren weltlichen Verstrickungen getrennt zu betrachten, ist ebenfalls geteilter Meinung. Selbst die Bischöfe liegen sich in den Haaren. Der Bischof von London behauptete, dass »die eigentliche Gefahr des heutigen Weltfriedens die Pazifisten« wären. So schlimm der Krieg auch sei, Ehrlosigkeit sei weitaus schlimmer. Der Bischof von Birmingham hingegen bezeichnete sich als »extremen Pazifisten … ich persönlich kann nicht erkennen, wie Krieg als etwas erachtet werden könnte, das im Einklang mit dem Geiste Christi steht.« Selbst der Rat der Kirche also ist geteilt – unter gewissen Umständen ist es richtig zu kämpfen; unter keinen Umständen ist es richtig zu kämpfen. Es ist verstörend, verblüffend, verwirrend, aber wir müssen uns der Tatsache stellen; Gewissheit gibt es weder oben im Himmel noch unten auf der Erde. Und je mehr Lebensberichte wir lesen, je mehr Reden wir hören, je mehr Meinungen wir zurate ziehen, desto größer wird im Grunde die Verwirrung und desto unmöglicher scheint es, irgendeinen Vorschlag zu machen, der Ihnen helfen würde, einen Krieg zu verhindern, da wir die Impulse, die Motive oder die Moral, die Sie dazu bringen, in den Krieg zu ziehen, nicht verstehen.
Aber außer diesen Bildern vom Leben und Denken anderer Menschen – diesen Biografien und Geschichten – gibt es noch andere Bilder – Bilder von Tatsachen, Fotografien. Fotografien sind natürlich keine Argumente, die sich an die Vernunft richten; sie sind schlicht Feststellungen von Tatsachen, die sich ans Auge richten. Aber genau diese Schlichtheit könnte helfen. Sehen wir also, ob wir, wenn wir dieselben Fotografien anschauen, dasselbe empfinden. Hier vor uns auf dem Tisch liegen Fotos. Die spanische Regierung schickt sie mit geduldiger Hartnäckigkeit etwa zweimal die Woche. Diese Fotos sind nicht angenehm anzuschauen. Es sind größtenteils Fotos von Leichen. Die Sammlung dieses Morgens enthält die Fotografie von etwas, das der Körper eines Mannes sein könnte oder einer Frau; er ist so verstümmelt, dass es genauso gut der Körper eines Schweins sein könnte. Aber jene dort sind mit Sicherheit tote Kinder, und dieses ist zweifellos der Teil eines Hauses. Eine Bombe hat die Seite aufgerissen; noch immer hängt ein Vogelkäfig dort, wo vermutlich das Wohnzimmer war, aber der Rest des Hauses ähnelt nur noch einem Bündel in der Luft hängender Mikadostäbe.
Diese Fotografien sind kein Argument, sie sind schlicht eine nackte Feststellung von Tatsachen, die sich ans Auge richten. Das Auge aber ist mit dem Gehirn verbunden; das Gehirn mit dem Nervensystem. Dieses System schickt seine Botschaften blitzartig durch jede vergangene Erinnerung und jedes gegenwärtige Gefühl. Wenn wir uns diese Fotografien anschauen, stellt sich eine Verbindung zwischen uns her; so unterschiedlich die Bildung und die Traditionen, die hinter uns liegen, auch sein mögen, sind unsere Gefühle doch die gleichen, und sie sind heftig. Sie, Sir, nennen sie »Entsetzen und Abscheu«. Wir nennen sie ebenfalls Entsetzen und Abscheu. Und dieselben Wörter kommen uns über die Lippen. Krieg, sagen Sie, ist ein Gräuel; eine Barbarei; Krieg muss um jeden Preis verhindert werden. Und wir schließen uns Ihren Worten an. Krieg ist ein Gräuel; eine Barbarei, Krieg muss verhindert werden. Denn nun sehen wir endlich dasselbe Bild, wir sehen mit Ihnen dieselben Leichen, dieselben zerstörten Häuser.
Geben wir also für einen Augenblick das Bemühen auf, Ihre Frage zu beantworten, wie wir Ihnen helfen können, einen Krieg zu verhindern, indem wir die politischen, die patriotischen oder psychologischen Gründe diskutieren, die Sie in den Krieg ziehen lassen. Das Gefühl ist zu stark, um es einer geduldigen Analyse zu unterwerfen. Konzentrieren wir uns auf die praktischen Vorschläge, die Sie uns zur Erwägung unterbreiten. Es sind drei. Der erste lautet, einen Brief an die Zeitungen zu unterzeichnen; der zweite, einer bestimmten Gesellschaft beizutreten; der dritte, für diese Gesellschaft zu spenden. Nichts könnte sich im ersten Moment leichter anhören. Einen Namen auf ein Stück Papier zu kritzeln ist leicht; an einer Versammlung teilzunehmen, auf der pazifistische Ansichten mehr oder weniger redegewandt vor denen wiederholt werden, die ohnehin schon davon überzeugt sind, ist ebenfalls leicht; und einen Scheck zur Förderung dieser irgendwie annehmbaren Ansichten auszustellen ist, wenn auch nicht ganz so leicht, doch eine günstige Möglichkeit, das zu beruhigen, was der Einfachheit halber das eigene Gewissen genannt werden könnte. Und doch gibt es Gründe, die uns zögern lassen; Gründe, auf die wir später, weniger flüchtig, eingehen müssen. An dieser Stelle reicht es zu sagen, dass die drei Maßnahmen, die Sie vorschlagen, zwar plausibel erscheinen, zugleich aber den Anschein erwecken, dass dieses durch die Fotografien ausgelöste Gefühl, auch wenn wir täten, worum Sie uns bitten, unbefriedigt bleiben würde. Das Gefühl, dieses sehr starke Gefühl, erfordert etwas Stärkeres als einen auf Papier geschriebenen Namen, eine mit dem Anhören von Reden verbrachte Stunde, einen Scheck über irgendeinen Betrag, den wir uns leisten können – sagen wir eine Guinee. Eine tatkräftigere, eine aktivere Methode scheint erforderlich zu sein, um unserer Überzeugung Ausdruck zu verleihen, dass Krieg barbarisch ist, dass Krieg unmenschlich ist, dass Krieg, wie Wilfred Owen es formulierte, unerträglich, entsetzlich und bestialisch ist. Aber, Rhetorik beiseite, welche aktive Methode steht uns offen? Betrachten und vergleichen wir das. Sie könnten natürlich einmal mehr zu den Waffen greifen – in Spanien, wie zuvor in Frankreich –, im Kampf für den Frieden. Aber das ist offenbar eine Methode, die Sie nach eingehender Prüfung verworfen haben. Uns steht diese Methode ohnehin nicht offen; sowohl die Armee als auch die Marine sind unserem Geschlecht verschlossen. Wir dürfen nicht kämpfen. Es ist uns auch nicht gestattet, Mitglieder der Börse zu sein. Demzufolge können wir weder das Druckmittel der Gewalt noch das Druckmittel des Geldes anwenden. Die weniger direkten, aber dennoch wirksamen Waffen, die unsere Brüder als gebildete Männer im diplomatischen Dienst und in der Kirche besitzen, sind uns ebenfalls verwehrt. Wir können keine Predigten halten oder Abkommen verhandeln. Und obwohl es stimmt, dass wir Artikel schreiben oder Briefe an die Presse schicken können, liegt doch die Kontrolle der Presse – die Entscheidung, was gedruckt und was nicht gedruckt wird – vollkommen in den Händen Ihres Geschlechts. Es stimmt, dass wir seit zwanzig Jahren zum öffentlichen Dienst und zur Anwaltschaft zugelassen sind, unsere Position dort ist allerdings immer noch sehr prekär und unser Einfluss äußerst gering. Und so sind alle Waffen, mit denen ein gebildeter Mann seine Meinung durchsetzen kann, außerhalb unserer Reichweite oder beinahe so außerhalb, dass wir, auch wenn wir sie benutzten, kaum einen Kratzer verursachen würden. Wenn sich die Männer Ihres Berufsstandes unter einer Forderung zusammenschließen und sagen würden: »Wenn sie nicht erfüllt wird, legen wir die Arbeit nieder«, würden die englischen Gesetze nicht mehr angewendet. Wenn die Frauen in Ihrem Berufsstand dasselbe sagen würden, würde das nicht die geringste Auswirkung auf die englische Gesetzgebung haben. Wir sind nicht nur unvergleichlich viel schwächer als die Männer unserer eigenen Klasse; wir sind auch schwächer als die Frauen der Arbeiterklasse. Wenn die Arbeiterinnen dieses Landes sagen würden: »Wenn Sie in den Krieg ziehen, werden wir uns weigern, Munition herzustellen oder bei der Warenproduktion zu helfen«, wäre das Kriegführen ernsthaft erschwert. Aber wenn alle Töchter gebildeter Männer morgen streiken würden, würde es das Leben oder das Kriegführen der Gesellschaft nicht wesentlich behindern. Unsere Klasse ist die schwächste aller Klassen des Staates. Wir haben keine Waffen, mit denen wir unseren Willen durchsetzen können.
Die Erwiderung darauf ist so vertraut, dass wir sie leicht vorwegnehmen können. Die Töchter gebildeter Männer haben keinen direkten Einfluss, das ist richtig, aber sie besitzen doch die größtmögliche Macht, nämlich die, ihren Einfluss auf gebildete Männer geltend machen zu können. Wenn das so ist, wenn also der Einfluss immer noch die stärkste unserer Waffen ist und die einzige, die Ihnen wirksam dabei helfen könnte, einen Krieg zu verhindern, dann lassen Sie uns, bevor wir Ihr Manifest unterzeichnen oder Ihrer Gesellschaft beitreten, überlegen, worauf dieser Einfluss hinausläuft. Offenbar ist er von so immenser Bedeutung, dass er einer tiefgreifenden und ausführlichen Untersuchung bedarf. Die unsere kann weder tiefgreifend noch ausführlich sein, sie muss knapp und unvollkommen bleiben – versuchen wir es trotzdem.
Welchen Einfluss hatten wir also in der Vergangenheit auf den Beruf, der am engsten mit Krieg in Verbindung steht – auf die Politik? Wieder gibt es die unzähligen, die unschätzbaren Biografien, doch es würde einem Alchimisten Kopfzerbrechen bereiten, aus der Masse an Lebensläufen von Politikern den einen Strang zu extrahieren, der den Einfluss von Frauen auf sie verdeutlicht. Unsere Analyse kann nur unzureichend und oberflächlich sein; aber wenn wir unsere Recherche auf einen beherrschbaren Rahmen begrenzen und die Memoiren aus anderthalb Jahrhunderten überfliegen, können wir kaum leugnen, dass es Frauen gab, die die Politik beeinflussten. Die berühmte Herzogin von Devonshire, Lady Palmerstone, Lady Melbourne, Madame de Lieven, Lady Holland, Lady Ashburton – um von einem berühmten Namen zum nächsten zu springen – besaßen zweifellos großen politischen Einfluss. Ihre berühmten Häuser und die Gesellschaften, die dort stattfanden, spielen in den politischen Aufzeichnungen jener Zeit eine so große Rolle, dass wir kaum leugnen können, die englische Politik, vielleicht sogar die englischen Kriege wären anders verlaufen, hätte es diese Häuser und Gesellschaften nie gegeben. Aber ein Merkmal haben alle diese Lebenserinnerungen gemein; die Namen der großen politischen Führer – Pitt, Fox, Burke, Sheridan, Peel, Canning, Palmerston, Disraeli, Gladstone – sind über jede Seite verstreut, doch weder oben an der Treppe zum Empfang der Gäste, noch in den privateren Gemächern des Hauses werden Sie auch nur eine Tochter eines gebildeten Mannes finden. Es kann sein, dass es ihnen an Charme, an Scharfsinn, an Stellung oder Kleidung mangelte. Was auch immer der Grund sein mag; Sie werden Seite für Seite umblättern, Band um Band, und obwohl Sie auf ihre Brüder und Ehemänner stoßen – Sheridan in Devonshire House, Macaulay in Holland House, Matthew Arnold in Landsdowne House, Carlyle sogar in Bath House, tauchen die Namen von Jane Austen, Charlotte Brontё und George Eliot nicht auf; und obwohl Mrs Carlyle hinging, scheint Mrs Carlyle sich nach eigener Darstellung unwohl gefühlt zu haben.
Aber vielleicht, werden Sie zu bedenken geben, besaßen die Töchter gebildeter Männer eine andere Art von Einfluss – einen Einfluss, der von Vermögen und Stellung, von Weinen, Speisen, Kleidung und all den anderen Annehmlichkeiten unabhängig war, die die großen Häuser der großen Ladys so verführerisch machen. Hier haben wir tatsächlich festeren Boden unter den Füßen, denn natürlich gab es ein politisches Anliegen, das den Töchtern gebildeter Männer in den vergangenen 150 Jahren sehr am Herzen lag: das Wahlrecht. Aber wenn wir uns anschauen, wie viel Zeit es sie kostete, dieses Anliegen durchzusetzen, und wie viel Mühe, können wir daraus nur schließen, dass sich Einfluss mit Vermögen verbinden muss, um als politische Waffe wirksam zu sein, und dass jener Einfluss, den die Töchter gebildeter Männer ausüben können, sehr gering an Macht, sehr langsam in der Umsetzung und sehr schmerzhaft in der Ausübung ist. Der einzige große politische Erfolg der Tochter des gebildeten Mannes hat sie jedenfalls mehr als ein Jahrhundert höchst erschöpfender und erniedrigender Arbeiten gekostet; sie marschierte auf Demonstrationen, arbeitete in Büros, hielt an Straßenecken Reden und landete schließlich, weil sie Gewalt anwendete, im Gefängnis, wo sie immer noch sitzen würde, hätte die Hilfe, die sie ihren Brüdern gab, als sie ihrerseits Gewalt anwendeten, ihr nicht paradoxerweise endlich das Recht gegeben, sich, wenn schon nicht Tochter, so doch Stieftochter Englands zu nennen.
Einfluss, stellt man ihn auf den Prüfstand, scheint also nur dann seine Wirkung zu entfalten, wenn er sich mit Stellung, Vermögen und großen Häusern verbindet. Die Töchter von Adligen sind einflussreich, nicht die Töchter gebildeter Männer. Und ihr Einfluss ist dergestalt, wie ihn ein bedeutendes Mitglied Ihres eigenen Berufsstandes beschrieben hat, der verstorbene Sir Ernest Wild.
Er behauptete, der große Einfluss, den Frauen auf Männer ausübten, sei immer ein indirekter Einfluss gewesen, und so solle es bleiben. Der Mann glaube gern, seine Arbeit selbst zu tun, obwohl er eigentlich nur das tue, was die Frau wolle, aber die kluge Frau lasse ihn immer in dem Glauben, er habe die Sache in der Hand. Jede Frau mit Interesse an der Politik verfüge über eine weitaus größere Macht ohne das Wahlrecht als mit dem Wahlrecht, weil sie viele Wähler beeinflussen könne. Seinem Gefühl nach sei es nicht richtig, Frauen auf das Niveau der Männer herabzuziehen. Er sehe zu den Frauen auf und wolle das weiterhin tun. Er wünsche sich, dass das Zeitalter der Ritterlichkeit nicht vorbeigehe, denn jeder Mann, der eine Frau habe, die sich um ihn kümmere, wolle in ihren Augen glänzen.
Und so weiter.
Wenn das die wahre Natur unseres Einflusses ist, und wir alle erkennen die Beschreibung und haben die Wirkung gesehen, liegt er entweder außerhalb unserer Reichweite, denn viele von uns sind unscheinbar, arm und alt; oder unter unserer Würde, denn viele von uns würden sich lieber gleich Prostituierte nennen und offen ihren Posten unter den Lampen von Piccadilly Circus beziehen, als diesen Einfluss auszuüben. Wenn das die wahre Natur, die indirekte Natur dieser gefeierten Waffe ist, müssen wir ohne sie auskommen, unseren zwergenhaften Antrieb Ihren substanzielleren Kräften hinzufügen und auf das zurückgreifen, was Sie vorschlagen; Briefe unterzeichnen, Gesellschaften beitreten und gelegentlich einen dürftigen Scheck ausstellen. Das wäre das unvermeidliche, wenn auch deprimierende Ergebnis unserer Erforschung des Wesens unseres Einflusses, gäbe es nicht das Wahlrecht, als solches schon keineswegs unbedeutend, das aus irgendeinem, nie zufriedenstellend erklärten Grund auf geheimnisvolle Weise mit einem anderen Recht in Verbindung steht, das für die Töchter gebildeter Männer von so gewaltiger Bedeutung ist, dass sich beinahe jedes Wort im Wörterbuch dadurch veränderte, einschließlich des Wortes »Einfluss«. Sie werden es nicht für übertrieben halten, wenn wir erklären, dass es sich um das Recht handelt, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen.
Das, Sir, war das Recht, das uns vor weniger als zwanzig Jahren, im Jahre 1919, durch ein Gesetz zuerkannt wurde, das uns die akademischen Berufe eröffnete. Die Tür des Privathauses wurde aufgestoßen. In jeder Geldbörse gab es ein glänzendes neues Sixpencestück, oder konnte es geben, in dessen Licht jeder Gedanke, jeder Anblick, jede Handlung anders aussah. Zwanzig Jahre sind, zeitlich betrachtet, nicht sehr viel, auch ist ein Sixpencestück keine besonders wertvolle Münze; und wir können auch noch nicht auf Biografien zurückgreifen, um uns ein Bild vom Leben und Denken der Besitzerinnen der neuen Sixpencestücke zu machen. In der Fantasie können wir aber vielleicht erkennen, wie die Tochter des gebildeten Mannes aus dem Schatten des Privathauses tritt und auf der Brücke zwischen alter Welt und neuer steht und sich, während sie die heilige Münze in der Hand herumwirbelt, fragt: »Was soll ich damit machen? Was sehe ich damit?« In diesem Licht, so könnten wir vermuten, wirkte alles anders – Frauen und Männer, Autos und Kirchen. Sogar der Mond, so vernarbt er von vergessenen Kratern in Wirklichkeit auch ist, kam ihr wie ein weißes Sixpencestück vor, ein keusches Sixpencestück, ein Altar, an dem sie schwor, sich nie an die Seite der Unterwürfigen zu stellen, an die Seite der Mitläufer, denn mit dem, was ihr gehörte, konnte sie tun, was sie wollte – mit den heiligen Sixpence, die sie mit eigenen Händen selbst verdient hatte. Und wenn Sie, die Fantasie mit prosaischer Vernunft bremsend, einwenden, dass die Abhängigkeit von einem Beruf nur eine andere Form von Sklaverei ist, werden Sie doch aufgrund eigener Erfahrung zugeben, dass die Abhängigkeit von einem Beruf eine weniger schreckliche Form der Sklaverei ist als die Abhängigkeit von einem Vater. Denken Sie an die Freude, mit der Sie Ihre erste Guinee für Ihr erstes Mandat entgegennahmen, und an den tiefen Atemzug der Freiheit, als Ihnen klar wurde, dass die Tage der Abhängigkeit von Arthurs Bildungsfonds vorbei waren. Aus dieser Guinee ist wie aus einer der Zauberkugeln, die Kinder anzünden, damit ein Baum daraus sprießt, alles hervorgegangen, was Sie am meisten schätzen – Ehefrau, Kinder, Heim –, und darüber hinaus auch der Einfluss, der Sie nun befähigt, andere Männer zu beeinflussen. Wie sähe dieser Einfluss aus, wenn Sie immer noch 40 Pfund im Jahr aus der Familienbörse beziehen müssten und für jeden weiteren Zuschuss zu diesem Einkommen abhängig wären von einem noch so wohlwollenden Vater? Aber es ist müßig, ins Detail zu gehen. Ob nun Stolz, Freiheitsliebe oder Hass auf Heuchelei der Grund sind; Sie werden die Begeisterung verstehen, mit der Ihre Schwestern 1919 zwar keine Guinee, aber doch ein Sixpencestück zu verdienen begannen, und Sie werden diesen Stolz nicht verspotten und auch nicht bestreiten, dass er zu Recht bestand, denn er bedeutete, dass sie nicht länger von jenem Einfluss Gebrauch machen mussten, den Sir Ernest Wild beschrieben hat.
Das Wort »Einfluss« hat sich also verändert. Die Tochter des gebildeten Mannes verfügt nun über einen Einfluss, der sich von jedem Einfluss, den sie vorher besaß, unterscheidet. Es ist nicht der Einfluss, den die große Dame, die Sirene, besitzt, noch ist es der Einfluss, den die Tochter des gebildeten Mannes besaß, als sie kein Wahlrecht hatte, und es ist auch nicht der Einfluss, den sie besaß, als sie zwar das Wahlrecht hatte, aber nicht das Recht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Einfluss ist ein anderer, weil aus ihm das Element des Charmes entfernt wurde; weil aus ihm das Element des Geldes entfernt wurde. Sie muss nicht länger ihren Charme einsetzen, um sich Geld von ihrem Vater oder ihrem Bruder zu besorgen. Da ihre Familie nicht länger die Macht hat, sie finanziell zu bestrafen, kann sie ihre eigene Meinung äußern. Anstelle von Sympathien und Antipathien, die oft unbewusst von der Geldnot diktiert wurden, kann sie ihre aufrichtigen Vorlieben und Abneigungen kundtun. Kurz, sie muss sich nicht länger fügen, sie kann kritisieren. Endlich besitzt sie einen Einfluss, der frei von Interessen ist.