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Cyrill Stieger

Die Macht
des Ethnischen

Sichtbare und unsichtbare
Trennlinien auf dem Balkan

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Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2021 Rotpunktverlag, Zürich

Umschlagbild: Laura Boushnak, Sarajevo

Bosniakische (links) und kroatische Schülerinnen und Schüler auf dem Hof einer zweigeteilten Schule in Travnik. Der 2005 errichtete Drahtzaun wurde im Sommer 2019 entfernt.

Das gedruckte Buch enthält eine Übersichtskarte

eISBN 978-3-85869-934-3

Inhalt

Vorwort

»Wir leben hier ganz normal«

Verschiedene Welten in Vukovar

Der Kampf um Vukovar

Opfer und Täter

Selektives Gedenken

»Terror der kyrillischen Schrift«

Ethnische Trennung schon im Kindergarten

Das Projekt einer multikulturellen Schule und sein Ende

Gefangen in der Kriegsvergangenheit

»Wir haben unsere Wahrheit, sie haben ihre Wahrheit«

Unvereinbare Geschichtsbilder trennen Kroaten und Serben

Staatsdoktrin oder Maulkorb

Der Exodus der Krajina-Serben

Triumph für die einen, Tragödie für die anderen

Ein tiefer Graben durchzieht die kroatische Gesellschaft

Kriegsverbrecher werden als Helden gefeiert

Einseitige Sichtweisen in den Schulbüchern

Der multiperspektivische Ansatz

Obsessive Geschichtspolitik in Ungarn und Polen

»Hier sind wir, und dort seid ihr«

Ethnisch getrennte Schulen in Bosnien

Unhaltbare Zustände – mit oder ohne Zaun im Schulhof

h-Lehrer und b-Lehrer

Barrieren in den Köpfen

Vom Provisorium zum Dauerzustand

Die Macht der regionalen Politiker

Unsichtbare Trennlinien in Sarajevo

Drei Wahrheiten

Gemeinsame Klassen, aber geteilte Wandtafeln in Brčko

»Gipfel der Demokratie«

»Die Sprache ist die Seele des Volkes«

Nationale Identität und ethnische Abgrenzung

Sprache und Politik

Sprachliche Verdreifachung in Bosnien

Eine gemeinsame Sprache

»Ein schändlicher und sinnloser Krieg«

Bosnisch oder Bosniakisch

»Mir ist der andere Teil der Stadt völlig fremd«

Verfestigte Segregation von Albanern und Serben in Mitrovica

Zugemauerte Gänge

Politisierter Geschichtsunterricht

Die Brücke von Mitrovica

Wo der Kontakt aufhört

Wenn sogar der Fußball trennt

Ausblick

Dank

Literatur

Zeitleiste

Vorwort

Im Jahr 1991 brach Jugoslawien endgültig auseinander. Nach den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni verschärfte sich die bereits angespannte Lage. Viele kroatische Serben, vor allem die in den ländlichen Gebieten, lehnten den kroatischen Nationalstaat ab. Sie wollten in Jugoslawien verbleiben oder sich Serbien anschließen. Angestachelt und unterstützt von der Führung in Belgrad, leisteten sie bewaffneten Widerstand. Im November nahmen die Jugoslawische Volksarmee und serbische Milizen die ostkroatische Stadt Vukovar ein; sie wurde weitgehend zerstört. Der Fall der Stadt, in der mehr Kroaten als Serben lebten, war für Kroatien ein traumatisches Ereignis. Ihr Schicksal beschleunigte aber die völkerrechtliche Anerkennung des Landes durch die Europäische Gemeinschaft (EG), die heutige Europäische Union (EU), im Januar 1992. Im April desselben Jahres begann der Krieg in Bosnien-Herzegowina, der im November 1995 mit der Friedensvereinbarung von Dayton endete. Er war noch zerstörerischer als der in Kroatien und forderte weit mehr Todesopfer. Den Abschluss bildete der Krieg in Kosovo zwischen albanischen Freischärlern und serbischen Sicherheitskräften, der 1998 begann und ein Jahr später mit dem Einmarsch von Nato-Truppen und dem Abzug der serbischen Streitkräfte zu Ende ging. Am 17. Februar 2008 erklärte Kosovo seine Unabhängigkeit, die Serbien und einige EU-Staaten sowie unter anderem Russland und China bis heute nicht anerkennen.

Zwar gab es am Vorabend der jugoslawischen Zerfallskriege vielerorts Mehrparteienwahlen, allerdings nur in den Teilrepubliken, nicht aber auf gesamtstaatlicher Ebene. Gewählt wurden meist Nationalisten, seien es ehemalige Dissidenten oder Angehörige der sozialistischen Elite, die mit dem Konzept des Jugoslawismus, also der Idee eines gemeinsamen Staates der südslawischen Völker, gebrochen hatten und sich vom auseinanderfallenden Jugoslawien immer mehr abwandten. Auch ihre Politik war nationalistisch. Auch sie inszenierten sich als »Befreier der Nation«. Mit den Wahlen von 1990 in Slowenien, Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina begann die Endphase des jugoslawischen Zerfallsprozesses. Diese Wahlen schwächten nicht nur die Legitimation der politischen Institutionen des Gesamtstaates. Sie brachten auch keine tiefgreifende Demokratisierung. Sie wirkten vielmehr als Spaltpilz und Brandbeschleuniger, etwa im multiethnischen Bosnien, wo die Wahlen vom 18. November und 2. Dezember 1990 einer Volkszählung gleichkamen. Die bosnischen Serben unterstützten vor allem die serbischnationale Partei, die bosnischen Kroaten die kroatisch-nationale, die Muslime (Bosniaken) die muslimisch-nationale.

Der Begriff »Bosniake« im Sinne einer Nationsbezeichnung wird erst seit dem Bosnienkrieg verwendet. In Jugoslawien hatten die Muslime, die sich weder als Serben noch als Kroaten definierten, Ende der sechziger Jahre den Status einer eigenen Nation erhalten. Wurde der Begriff »Muslim« mit einem kleinen Anfangsbuchstaben geschrieben, war die Konfession gemeint, wurde das Wort großgeschrieben, bezeichnete es die Nation. Die Abgrenzung des nationalen Bekenntnisses von der konfessionellen Zugehörigkeit durch Groß- oder Kleinschreibung war sehr ungewöhnlich. Am 27. September 1993, mitten im Bosnienkrieg, kamen in Sarajevo die politische, militärische und intellektuelle Elite der Muslime sowie hohe religiöse Würdenträger zur »Bosniakischen Versammlung« (Bošnjački Sabor) zusammen. Die Teilnehmer beschlossen, die ethnisch-national verstandene Bezeichnung »Muslime« durch den Begriff »Bosniaken« zu ersetzen. Man wollte auf diese Weise die nationale Selbstbezeichnung von der Konfession lösen und an den Namen des Landes, nämlich Bosnien (Bosna), koppeln. Die Bosniaken unterstrichen damit ihren Anspruch auf Bosnien. Nur ein Volk mit einer »richtigen« nationalen Bezeichnung könne auch einen eigenen Staat haben, lautete die Begründung. In der Zeit wurde über einen im Sommer 1993 von ausländischen Vermittlern vorgelegten Friedensplan diskutiert, der eine Dreiteilung Bosniens auf ethnischer Grundlage im Rahmen einer Konföderation vorsah. Die »Bosniakische Versammlung« lehnte den Plan mehrheitlich ab. Für die Bosniaken, die größte Bevölkerungsgruppe, wäre lediglich ein territorial nicht zusammenhängendes Rumpfgebilde übriggeblieben, und die Serben zeigten keine Bereitschaft, mit militärischer Gewalt besetzte Gebiete, die vor dem Krieg mehrheitlich von Muslimen bewohnt waren, an die Bosniaken zurückzugeben.

Vor allem in Kroatien und in Serbien machten sich die politischen Eliten nach ihrem Wahlsieg mit großem Eifer daran, neue nationale Identitäten zu formen, in Abwendung von der allerdings schon seit längerer Zeit brüchigen sozialistischen Ideologie der »Brüderlichkeit und Einheit« der Nationen und Nationalitäten Jugoslawiens, im Falle Kroatiens auch in Abgrenzung von Serbien. Was mit dem von Josip Broz Tito im Zweiten Weltkrieg geschaffenen sozialistischen Jugoslawien und dessen multiethnischem Konzept in Verbindung gebracht werden konnte, sollte getilgt werden. Die integrative jugoslawische Idee, die bereits Jahrzehnte vor der Proklamation des ersten gemeinsamen Staates am 1. Dezember 1918 die südslawischen Völker zusammengeführt hatte, wurde durch einen exklusiven Nationalismus ersetzt. Jugoslawien galt nun in Zagreb und in Belgrad als Symbol der Unterdrückung der eigenen Nation. Die Geschichte wurde umgeschrieben. Patrioten von einst verwandelten sich in Staatsfeinde, Verräter in Helden. Alles brach entlang der ethnischen Trennlinien auseinander, der Bund der Kommunisten, der Gesamtstaat, die Medien, die serbokroatische Standardsprache, ethnisch gemischte Ehen, ja ganze Familien. Die Menschen wurden in ethnische Korsette gepresst. Gefordert waren eindeutige nationale Bekenntnisse. Man musste ein Kroate oder ein Serbe sein, man musste auf der einen oder auf der anderen Seite stehen. Fluide oder multiple ethnische Identitäten waren suspekt.

Der Zerfall Jugoslawiens, der schon in den siebziger Jahren eingesetzt hatte, wenn auch langsam und in kleinen Schritten, beschleunigte sich nach dem Tode Titos 1980. Die Partei- und Republikchefs wurden immer mächtiger, sie verfolgten zunehmend nationale Partikularinteressen. Die Republiken drifteten auseinander. Die Zentralmacht erodierte. Die politischen und wirtschaftlichen Probleme, die sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre verschärften, wurden ethnisch-national aufgeladen. In dem Maße, wie der Sozialismus seine Legitimität verlor, erstarkte der in der Zeit der Herrschaft Titos unterdrückte Nationalismus der einzelnen Völker. Er nahm immer bedrohlichere Formen an. Zwar gab es bis zuletzt Bemühungen, die ethnischen Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen und die staatliche Einheit durch eine gesamtjugoslawische Demokratisierung zu bewahren. Doch sie waren angesichts der von den politischen Eliten entfachten nationalen Euphorie zum Scheitern verurteilt.

Während im Jahr der Wende 1989 in den Ländern Ostmitteleuropas die Herrschaft der Kommunisten im Namen der Freiheit und der Bürgerrechte abgeschüttelt wurde, hatte in Serbien und in Kroatien der Aufbruch vor allem unter nationalistischen Vorzeichen gestanden. Der erstarrte und diskreditierte Sozialismus wurde durch einen übersteigerten Nationalismus ersetzt. In Kroatien wurde Demokratisierung mit nationaler Befreiung von der serbischen Vorherrschaft gleichgesetzt, politische Freiheit weitgehend auf die nationale Unabhängigkeit reduziert. In Serbien drehte sich, wie in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, wieder alles um die nationale Frage, um die Vereinigung der Serben in einem Staat. Sie wurde im Sinne einer staatlich-territorialen Vereinigung gestellt, was sich als verhängnisvoll erwies. Es ging vor allem darum, in welchem Staat die Serben des westlichen und südlichen Balkans künftig leben sollten, und nicht, ob dieser demokratisch sei. Im Vordergrund standen auf beiden Seiten nationale Vorstellungen, nicht demokratische Reformen wie in den Ländern Ostmitteleuropas nach der Wende. In Kroatien und in Serbien beherrschten Diskussionen um nationale Identitäten, ethnische Definitionen, staatliche Grenzlinien und Territorien den politischen Diskurs.

Die politischen Vorstellungen vor allem der serbischen und der kroatischen nationalen Eliten waren am Vorabend der Kriege unvereinbar. Keine Seite war zu Kompromissen bereit. Serbien wollte einen zentralistischen, von Belgrad dominierten Einheitsstaat. Das kam für Slowenien und Kroatien nicht infrage. Eine serbische Hegemonie, in welcher Form auch immer, lehnten sie ab. Sie forderten die Umwandlung Jugoslawiens in eine lose Konföderation souveräner Staaten. Mit dem sich abzeichnenden Scheitern dieses Konzepts und angesichts des aggressiven serbischen Nationalismus setzten Slowenien und Kroatien immer offener auf die staatliche Unabhängigkeit. Da auch das zentralistische Modell Belgrads bei allen Teilrepubliken mit Ausnahme Montenegros auf Ablehnung stieß, ließ die Führung in Belgrad die jugoslawische Option fallen und setzte auf die Karte der Bildung eines eigenen Nationalstaates, dem auch die mehrheitlich von Serben bewohnten Gebiete in Bosnien-Herzegowina und in Kroatien angehören sollten. Diese hätten, so rechtfertigte Belgrad seine Politik, das Recht, selbst darüber zu befinden, welchem Staat sie angehören wollten. Es war klar, dass sie sich für Serbien entscheiden würden. Ebenso klar aber war, dass sich Kroatien und Bosnien, abgesehen von der dort lebenden serbischen Bevölkerung, einer Abspaltung von Teilen seines Territoriums widersetzen würden. Damals lebte fast ein Drittel der Serbinnen und Serben außerhalb Serbiens. Der Traum von der Einheit aller Serben sollte nun, da Jugoslawien in seine Bestandteile zerbrach, in einem serbischen Nationalstaat verwirklicht werden. Damit waren die bestehenden Grenzen infrage gestellt. Belgrad betrachtete diese ohnehin nur als administrative Trennlinien, die nach dem Zweiten Weltkrieg willkürlich und zuungunsten Serbiens gezogen worden waren und deshalb geändert werden müssten. Das aber bedeutete Krieg.

Die »ethnischen Säuberungen«, also die systematische Vertreibung der nichtserbischen Bevölkerung aus den von serbischen Nationalisten beanspruchten Gebieten, waren keine Begleiterscheinung der Kriege in Kroatien und in Bosnien, sondern deren Ziel. Der gewaltsame Zerfall Jugoslawiens war keineswegs unvermeidlich. Dafür verantwortlich waren die demokratisch gewählten neuen Führer, welche die durch die tiefe wirtschaftliche und soziale Krise verunsicherte und desorientierte Bevölkerung mit nationalistischen Parolen hinter sich brachten und auch vor militärischer Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer nationalen Ziele, denen sie alles andere unterordneten, nicht zurückschreckten.

So ist es nicht erstaunlich, dass die Kriege gerade in den ethnisch gemischten Gebieten Kroatiens und in Bosnien-Herzegowina, wo kaum ein größerer Ort ethnisch homogen war, mit besonderer Heftigkeit und Brutalität geführt wurden. Es handelte sich um jene Regionen, in denen das Zusammenleben vor dem Zerfall Jugoslawiens besonders gut gewesen war und es kaum ethnisch motivierte Spannungen gegeben hatte, in Ostslawonien etwa, wo Vukovar liegt, oder in Teilen von Bosnien-Herzegowina. Hier waren in den Kriegen der neunziger Jahre besonders viele Opfer zu beklagen, hier wurden mehr Kriegsverbrechen als anderswo verübt, ganze Dörfer wurden zerstört. Entsprechend tief sind die Traumata, die der Krieg hinterlassen hat. Zwar hat sich die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in manchen Regionen Bosniens, Kroatiens und Kosovos durch die Kriege der neunziger Jahre stark verändert. Doch ist es den Nationalisten trotz allen gewaltsamen Bemühungen, ethnisch homogene Territorien zu schaffen, längst nicht überall gelungen, der traditionellen kulturellen Durchmischung und der ethnischen, sprachlichen und konfessionellen Vielfalt auf engem Raum ein Ende zu setzen.

Im Zentrum dieses Buches stehen Städte und Orte, die besonders heftig umkämpft waren und in denen noch heute Angehörige verschiedener Ethnien leben. Dabei beschäftigt mich die Frage, wie es 26 Jahre nach Ende der Kriege in Kroatien und in Bosnien sowie 22 Jahre nach dem Kosovokrieg um das interethnische Zusammenleben jenseits patriotisch-politischer Inszenierungen und schwülstiger nationalistischer Rhetorik steht. Oder anders gesagt: Haben sich die ethnischen Trennlinien im Alltag, die sichtbaren und die unsichtbaren in den Köpfen der Menschen, verfestigt, oder haben sie an Bedeutung verloren? Wird das Zusammenleben in absehbarer Zeit wieder so sein, wie es einst war? Inzwischen ist auch eine neue Generation herangewachsen, die den Krieg nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kennt. Und so drängt sich die Frage auf, wie wichtig für sie ethnische und nationale Zuordnungen sind und ob es ihr, wie man annehmen könnte, leichter fällt, die Trennlinien zu überwinden. Die Ergebnisse sind nur auf den ersten Blick überraschend.

Eine dieser Städte ist Vukovar, im Osten Kroatiens an der Grenze zu Serbien gelegen, in der heute der Anteil der Serben bei mehr als einem Drittel liegt. Leben Kroaten und Serben nach den traumatischen Kriegserfahrungen in getrennten Welten? Und wenn das so ist, wer ist dafür verantwortlich? Und was müsste getan werden, um diesen Zustand zu ändern? Welche Rolle spielen die lokalen Politiker? Und warum ist der Krieg in Vukovar noch immer in hohem Maße präsent? Ein anderes Beispiel ist die Stadt Mitrovica in Nordkosovo, die seit dem Krieg geteilt ist. Im Norden leben fast nur Serben, im Süden fast nur Albaner. Zum Symbol der Trennung ist die für zivile Fahrzeuge gesperrte und von Nato-Truppen bewachte Brücke über den Fluss Ibar geworden. Nur Fußgänger dürfen sie überqueren. Doch ist auch in dieser Stadt nicht alles so, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. So gibt es nur wenige Hundert Meter flussabwärts eine andere Brücke, über die der Verkehr ohne Kontrollen und Hindernisse rollt. Ich habe mit serbischen und albanischen Bewohnern gesprochen und sie gefragt, ob sie in den jeweils anderen Teil der Stadt gehen, und falls nicht, welches die Gründe dafür sind.

Im Buch ist auch von anderen Trennlinien die Rede, etwa davon, wie unterschiedlich der Zerfall Jugoslawiens und die Kriege der neunziger Jahre interpretiert werden. Die offiziellen Geschichtsbilder sind oft unvereinbar und entzweien Serben, Kroaten und Bosniaken mehr als alles andere. Sie finden ihren Niederschlag auch in den Schulbüchern. Die einseitigen Sichtweisen werden an die nächste Generation weitergegeben. Bemühungen, umstrittene Ereignisse in den Lehrmitteln aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und so ein kritisches historisches Denken zu fördern, stoßen im Lager der Nationalkonservativen in Kroatien, in Serbien, in Bosnien und in Kosovo auf hartnäckigen Widerstand. Für sie steht der Geschichtsunterricht im Dienst der Stärkung der nationalen Identität, des Patriotismus und der politischen Loyalität. Sie halten in manchen strittigen und für die eigene Nation heiklen Fragen an Geschichtsbildern fest, die zu Beginn der neunziger Jahre bei der Schaffung der Nationalstaaten auf den Trümmern des jugoslawischen Vielvölkerstaates konstruiert worden waren, als es darum ging, im Zuge der Staatenbildung auch neue nationale Identitäten zu schaffen.

Dieses Denken in ethnischen und nationalen Kategorien kommt auch in der Haltung der Regierungen zu den Urteilen des Uno-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag zum Ausdruck. Sie werden in Kroatien wie in Serbien politisch interpretiert. Entsprechen sie nicht dem eigenen Geschichtsbild, werden sie abgelehnt. In Zagreb und in Belgrad fehlt der Wille, sich auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene über zu nichts verpflichtende symbolische Gesten und wohlklingende Worte hinaus mit den Kriegsverbrechen der eigenen Nation zu befassen und die Aufarbeitung voranzutreiben. In Kroatien kommt hinzu, dass der »Vaterländische Krieg« (domovinski rat), wie die offizielle Bezeichnung des serbisch-kroatischen Krieges von 1991 bis 1995 lautet, zu einem Gründungsmythos des unabhängigen Staates geworden ist, zu einem Grundpfeiler der nationalen Identität. Kroatien erlangte seine Unabhängigkeit im Krieg. Dieser nimmt denn auch in der staatlichen Gedenkpolitik einen zentralen Platz ein. Man sollte bei der Beurteilung allerdings bedenken, dass die Auseinandersetzung mit eigenen Verbrechen und die Revidierung verfestigter Geschichtsbilder auch in vielen anderen Ländern langwierige und schmerzliche Prozesse sind, die, falls überhaupt, nur zögerlich und mit einem großen zeitlichen Abstand in Angriff genommen werden.

Das Buch handelt auch von Trennlinien in Grund- und Mittelschulen in der Föderation Bosnien-Herzegowina, in der vor allem Bosniaken und Kroaten leben. Die Föderation bildet zusammen mit dem überwiegend von Serben bewohnten Landesteil, der Republika Srpska, den Staat Bosnien-Herzegowina. Gemeint sind die sogenannten »zwei Schulen unter einem Dach«. Kritiker betrachten diese als besonders verwerflich. In diesen Schulen werden Bosniakische und kroatische Schülerinnen und Schüler auf allen Stufen und in allen Fächern räumlich getrennt unterrichtet, nach zwei verschiedenen Lehrplänen und von Lehrerinnen und Lehrern, die der jeweiligen Ethnie der Schülerinnen und Schüler angehören. Es handelt sich um zwei Schulen im selben Gebäude, die aber nichts miteinander zu tun haben. Oft sind auch die Eingänge getrennt. Als Folge davon haben bosniakische und kroatische Kinder und Jugendliche in den Schulhäusern kaum Kontakt untereinander. Separiert werden sie auf der Grundlage der Sprache. Dabei unterscheiden sich Bosnisch, die Sprache der Bosniaken, und Kroatisch nur wenig, und jeder versteht jeden problemlos. Auch hier geht es, wie meist bei Sprachfragen auf dem Balkan, in erster Linie um die Festigung nationaler Identitäten, um ethnische Abgrenzung, um Politik. Ich habe einige dieser Schulen besucht und Direktorinnen und Schüler gefragt, was sie vom ethnisch getrennten Unterricht halten und welches die Folgen sind. Am Beispiel von Brčko, einer ethnisch gemischten Stadt im Nordosten Bosniens an der Grenze zu Kroatien, möchte ich zeigen, dass es auch anders geht. Dort werden Bosniaken, bosnische Kroaten und bosnische Serben gemeinsam unterrichtet. Geteilt sind hier nicht die Klassen, sondern die Wandtafeln. Der Frage, was es damit auf sich hat und warum es in Brčko anders ist, möchte ich in diesem Buch ebenfalls nachgehen.

Im letzten Jahrzehnt haben vor allem in Kroatien und in Serbien, aber auch in Bosnien nationalistische und autoritäre Tendenzen wieder zugenommen – und damit die Bemühungen um Abgrenzung und Festigung ethnisch-nationaler Identitäten; in Kroatien nach der Aufnahme des Landes in die Europäische Union im Jahr 2013, in den beiden anderen Ländern, seit sich die EU-Beitrittsperspektive weitgehend zerschlagen hat. Damit sind auch die in den Zerfallskriegen entstandenen Trennlinien wieder sichtbarer geworden. Nationalkonservative und nationalistische Politiker in Kroatien und in Serbien verwenden gerne kollektive Begriffe, sie sprechen vom kroatischen Volk oder vom serbischen Volk, nicht von Kroaten oder von Serben, als ob ein Volk eine homogene Einheit wäre. Wie in den neunziger Jahren wird die Nation vorwiegend ethnisch definiert und weniger im Sinne einer Gemeinschaft von Staatsbürgern, die unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit der Verfassung ihres Landes und rechtsstaatlichen Werten verpflichtet sind. Im Vordergrund stehen die Sprache und die Kultur, nationale Traditionen, die eigene Geschichte oder, präziser formuliert, das gemeinsame, von den politischen Eliten und ihren Historikern konstruierte Geschichtsbild. Das aber hat, wie dieses Buch zeigt, gravierende Folgen.

Auch stehen schwammige Begriffe wie »Identität«, »nationale Würde« oder »christliche Werte«, die je nach politischem Bedürfnis mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt werden, hoch im Kurs. Je diffuser und leerer die Begriffe sind, desto einfacher lassen sie sich von Politikern instrumentalisieren, die für sich das Recht in Anspruch nehmen, zu bestimmen, wie nationale Identität zu definieren ist und wie die Geschichte interpretiert werden muss. Es geht um Deutungshoheit und damit um Macht. Der bosnische Schriftsteller Dževad Karahasan spricht in einem Interview mit dem Zagreber Wochenblatt Novosti, der Zeitung der serbischen Minderheit, in der Ausgabe vom 15. September 2020 vom Versuch, eine »Diktatur der Allgemeinbegriffe« einzuführen.

Die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts im westlichen Balkan müssen aber auch in einem gesamteuropäischen Kontext gesehen werden. In Teilen Europas sind rechtsnationale Parteien im Aufwind. Sie rütteln an den Fundamenten der demokratischen Staatsordnung, höhlen den Rechtsstaat aus und gehen gegen unabhängige politische, kulturelle und wissenschaftliche Institutionen vor. In Polen und in Ungarn, in jüngster Zeit auch in Slowenien, alles EU-Länder, sind sie sogar an der Macht. In Polen regiert die Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS), in Ungarn der Fidesz, und das mit einer Zweidrittelmehrheit. In Abgrenzung von der Politik der liberalen, säkularen und europäisch orientierten städtischen Eliten in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Wende von 1989 sehen sie ihre Aufgabe darin, das Land entsprechend ihrer national-konservativen Ideologie umzukrempeln und die Gesellschaft auf der Grundlage traditioneller christlicher Werte moralisch zu erneuern. Moderne, liberale Lebensformen, die ihren Vorstellungen nicht entsprechen, lehnen sie als westlich-dekadent ab. PiS und Fidesz stehen für eine gesellschaftspolitische Wende nach rechts. Sie inszenieren sich als Verteidiger des angeblich bedrohten christlichen Erbes Europas, als Vertreter der »wahren« Polen und der »wahren« Ungarn, als Fürsprecher der Verlierer der liberalen Wirtschaftsreformen. Kritiker der Politik der beiden Parteien sprechen von einem antiliberalen Gegenschlag. Als »illiberal« bezeichnete der ungarische Regierungschef Viktor Orbán denn auch in einer programmatischen Rede im Sommer 2014 den neuen Staat, den er aufbauen will. Im Vordergrund stehe, so präzisierte er damals, ein »nationaler Ansatz«, kein liberaler.

In gleicher Weise wie die nationalkonservativen Politiker in Serbien oder in Kroatien definieren auch die Regierungsparteien in Polen und in Ungarn die Nation vor allem als ethnisch-nationale Gemeinschaft. Ins Zentrum rücken der Nationalstaat, die eigenen Werte und Traditionen, vor allem aber die eigene Geschichte. Dem Westen werfen diese Parteien Überlegenheitsdünkel, Besserwisserei und fehlenden Respekt vor. Sie klagen darüber, ihr Land werde bevormundet, missverstanden, benachteiligt und in seiner Souveränität eingeschränkt. So inszenieren sie sich gerne als Kämpfer gegen die, wie sie sagen, Arroganz der EU. Die Fördergelder aber, auf die ihre Länder angewiesen sind, nehmen sie mit offenen Händen entgegen. Sie schrecken auch nicht davor zurück, die EU mit Vetodrohungen zu erpressen, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Auch sie denken mit Vorliebe in kollektiven Kategorien, auch sie nehmen für sich das Recht in Anspruch, allein zu bestimmen, wie nationale Identität zu definieren ist, auch sie setzen die Interessen ihrer Partei mit jenen des Staates und der Nation gleich. Auch sie gefallen sich in der Rolle von Chefhistorikern und kultivieren einen Opfermythos, der dem kroatischen und serbischen in nichts nachsteht. Das Gleiche kann auch über Rechtspopulisten in westeuropäischen Ländern gesagt werden, die ähnliche Denkmuster und Narrative verbreiten. Nationalistische und populistische Parolen fallen nicht nur in Teilen der Bevölkerung der einst kommunistischen Länder auf fruchtbaren Boden.

Die Folge einer solchen Politik ist ein heftiger Kulturkampf, der die Gesellschaft spaltet, neue Trennlinien schafft und zu Spannungen mit Nachbarstaaten führt. Er wird umso schriller und verbissener geführt, je mehr sich die Probleme im Innern häufen. In Teilen der Gesellschaft, vor allem in Polen, aber auch in Ungarn, stoßen die regierenden nationalkonservativen Parteien, PiS und Fidesz, mit ihren traditionellen gesellschaftspolitischen Vorstellungen und ihrer autoritären Politik auf heftigen Widerstand. In manchen großen Städten in beiden Ländern ist inzwischen die liberale, westlich orientierte Opposition an der Macht. Gerade in der staatlichen Geschichts-, Kultur- und Erinnerungspolitik sind die Parallelen zu den Ländern des westlichen Balkans frappant. Ein Lehrer an einer Schule in Bosnien sagte im Gespräch mit Blick auf die rechtsnationalen und populistischen Bewegungen in West- und Mitteleuropa: »Jetzt ist auch das übrige Europa auf dem Balkan angekommen.« Was er damit meinte und auf welche politischen Missstände auf dem Balkan er anspielte, auf dem das übrige Europa, wie er sagte, angekommen sei, ist ebenfalls Thema des Buches.

Die Ethnisierung, also das Denken und Handeln, bei dem ethnische und nationale Zuordnungen im Vordergrund stehen, hinterlässt auch im Alltag ihre Spuren, wie das folgende Beispiel zeigt. Vor einigen Jahren besuchte die damalige kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović in Dubrovnik einen Kindergarten. Dabei schenkte sie den Kindern mit Schokolade gefüllte Päckchen. Es war der Tag der »Verteidiger von Dubrovnik«, ein wichtiger Gedenktag. Als einige Eltern feststellten, dass sich in den Päckchen auch in Serbien hergestellte Schokolade befand, war die Empörung groß. Serbische Schokolade in Geschenkpäckchen für kroatische Kinder, Schokolade des Aggressors, der Teile Kroatiens besetzt, Dubrovnik beschossen und schwere Kriegsverbrechen verübt hatte, das war für sie ein Skandal. Der Aufschrei von Eltern war das eine. Entlarvend aber war die Reaktion der Staatspräsidentin. Sie bat die Eltern um Verzeihung und beteuerte, sie habe über den Inhalt der Päckchen nichts gewusst. So etwas werde nie mehr geschehen. Sie werde den Kindern neue Schokolade schicken, kroatische. Auch kündigte sie an, den Vorfall untersuchen zu lassen, als ob es ein Verbrechen wäre, in Serbien hergestellte Schokolade an kroatische Kinder zu verteilen. Im Übrigen kann man die Schokolade an vielen Orten in Kroatien kaufen. Natürlich gerieten auch serbische Nationalisten in heftige Erregung und gossen, wie das in solchen Fällen üblich ist, Öl ins Feuer. Ein solches Verhalten sei antidemokratisch, antieuropäisch, eine Provokation, ein Ausdruck der »antiserbischen Hysterie« in Kroatien. Bemerkenswert war die Reaktion in Geschäftskreisen: »Es wäre für alle das Beste, wenn die Politiker das Maul hielten.«

Ethnische Trennlinien, kollektive Identitäten, einseitige Geschichtsbilder, eine Geschichts- und Erinnerungspolitik, die spaltet, ein politisiertes Bildungssystem – das sind Themen, die gerade in Zeiten des wiedererstarkten Nationalismus und der zunehmenden autoritären Tendenzen weit über Kroatien, Serbien, Bosnien oder Kosovo hinaus von Bedeutung sind. Gerade der Balkan, wo die ethnische Definition der Nation aus historischen Gründen besonders tief verwurzelt ist, bietet Anschauungsunterricht dafür, wohin eine übertriebene Identitätspolitik und eine penetrante Ethnisierung der Gesellschaft führen können und welche Auswirkungen dies auf die Beziehungen zu anderen Staaten haben kann. Die durch eine forcierte Identitätspolitik entstehenden Probleme werden gerade in Ländern des Balkans wie unter einem Brennglas sichtbar. Insofern betrifft das Thema des Buches, die Macht des Ethnischen, auch das übrige Europa.

Als der in Kanada lebende, aber in Sarajevo geborene Schriftsteller Aleksandar Hemon in einem am 5. August 2019 ausgestrahlten Interview mit dem Fernsehsender N1 gefragt wurde, was der Balkan für ihn bedeute, sagte er: »Der Balkan bedeutet für mich die Menschen, die dort leben.« Menschen stehen denn auch im Mittelpunkt dieses Buches, persönliche Lebenswelten, nicht Ideologien und politische Theorien. Jeder hat den Krieg und die Jahre danach anders erlebt und andere Erfahrungen gemacht. Jeder erzählt eine eigene Geschichte. Ergänzt werden die Reportagen durch einordnende Analysen. In allen Dörfern und Städten, die in diesem Buch erwähnt werden, bin ich mehrmals gewesen, in vielen von ihnen auch während der Kriege der neunziger Jahre.

Das heißt allerdings nicht, dass die Welt, in der sich die politischen Eliten bewegen, ausgeklammert wird, im Gegenteil. Manche Äußerungen führender nationalkonservativer und nationalistischer Politiker werden wörtlich wiedergegeben. Es sind Beispiele einer auf Provokation und Konfrontation angelegten Rhetorik, die polarisiert und die Gräben vertieft. Sie zeigen, wie skrupellos sich gewisse Politiker noch immer der überwunden geglaubten Sprache des Hasses bedienen, wenn sie sich davon einen Vorteil erhoffen. Es ist gerade dieser gehässige, emotional aufgeladene und gezielt zugespitzte Diskurs, der einheimische Beobachter an die Zeit der späten achtziger und frühen neunziger Jahre erinnert. Manche Politiker scheinen vergessen zu haben, welches Unheil damals mit Worten und Parolen angerichtet wurde. Den Zerfallskriegen war nämlich eine sprachliche und ideologische Aufrüstung vorausgegangen. Žarko Korać, Professor für Psychologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad und seit vielen Jahren politisch aktiv, meinte in einem Gespräch mit Radio Free Europe am 1. März 2020: »Wir sind wieder in den neunziger Jahren, nur ohne Krieg.«

Ein anderes Bild der Kriege der neunziger Jahre als die herrschenden Eliten zeichnen viele unabhängige Historiker und Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen, in Kroatien, Serbien, Bosnien und in Kosovo. Auch sie sollen zu Wort kommen, ebenso wie liberale Politiker. Sie alle sehen in der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen eine wichtige Voraussetzung für eine Normalisierung auch in den in diesem Buch behandelten ethnisch gemischten Orten. Wer sich nur auf die gehässige Rhetorik nationalistischer Politiker oder die zugespitzten Reportagen mancher einheimischer und ausländischer Berichterstatter stützt, die in dramatischen Tönen etwa die Gefahr eines Wiederaufflammens gewalttätiger Konflikte oder den Zerfall des bosnischen Staates heraufbeschwören, wird erstaunt sein, wie normal und unspektakulär sich das Leben im ethnisch dreigeteilten Bosnien, aber auch in Vukovar oder in Mitrovica abspielt.

Erkundigt man sich in der Bevölkerung nach den Beziehungen zwischen den Ethnien im Alltag, so erhält man meist, wie das nicht anders zu erwarten ist, unterschiedliche Antworten. Es ergibt sich ein facettenreiches, manchmal verwirrendes und widersprüchliches Bild. Vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint, vieles entzieht sich einer eindeutigen Zuordnung. Wer Beweise für eine Verfestigung der ethnischen Trennlinien sucht, der findet sie. Er kann so ein düsteres Bild malen und dem ethnonationalen Krisendiskurs neue Nahrung geben. Wer aber den Nachweis erbringen will, dass das Zusammenleben im Alltag gut funktioniert und die Leute über die ethnischen Trennlinien hinweg normal miteinander umgehen, wird ebenfalls fündig. Auch dafür finden sich viele Beispiele. Beide Befunde sind Teil einer komplexen Realität, die nicht geglättet werden sollte. Die Widersprüche sollen vielmehr sichtbar bleiben, ebenso die Bruchlinien.

Diese Vielfalt der Meinungen und die manchmal verwirrenden Widersprüche offenzulegen, ist das Anliegen dieses Buches. Sichtbar gemacht werden soll aber auch die oft verblüffende Diskrepanz zwischen den Bemühungen von Politikern und ihren Ideologen, die Bevölkerung in eine ethnische und kulturelle Identität zu pressen, und dem wohltuend nüchternen Pragmatismus vieler Menschen im Alltag, wo ethnische Trennlinien oft aufgeweicht sind oder gar keine Rolle mehr spielen. Pompöse nationale Inszenierungen und propagandistisches politisches Getöse sind das eine, das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner, die sich in ihrem meist beschwerlichen Alltag mit existenziellen Problemen herumschlagen müssen, das andere. Was sie vor allem beschäftigt, sind nicht Identitätspolitik oder nationale Geschichtsbilder, sondern Armut, Arbeitslosigkeit, Abwanderung, die verschmutze Umwelt, die Korruption, das marode Renten- und Gesundheitssystem. So ist es denn auch nicht verwunderlich, dass bei sozialen Protesten die ethnische Zugehörigkeit oft kaum mehr eine Rolle spielt. Eine andere Trennlinie schiebt sich dafür in den Vordergrund, eine zwischen der Bevölkerung und der politischen Elite, die sich als unfähig erweist, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen.

Während ethnonationale Politikerinnen und Politiker eifrig an Geschichtsbildern basteln und eine rückwärtsgewandte Identitätspolitik betreiben, wandern immer mehr vor allem gut ausgebildete Leute ab, mit Vorliebe ins Ausland. Sie sehen für sich und ihre Kinder keine Zukunft mehr. Sie haben die Hoffnung auf politische Veränderung und wirtschaftlichen Aufschwung verloren. Anders als früher sind es nicht mehr nur Einzelpersonen, die ihrem Land den Rücken kehren, sondern vermehrt ganze Familien. Sie werden kaum mehr zurückkehren. Das ist die eigentliche Tragödie. Was Kroaten, Serben, Bosniaken und Kosovo-Albaner vor allem miteinander verbindet, ist das Gefühl der Perspektivlosigkeit angesichts des Unvermögens der politischen Elite, sich der wirklichen Probleme anzunehmen.

»Wir leben hier ganz normal«

Verschiedene Welten in Vukovar

Es ist ein düsterer Tag in Vukovar. Es regnet in Strömen, ohne Unterlass. Dunkel hängen die Wolken über der Trümmerwüste. Zwei Tage nach der Einnahme der ostkroatischen Stadt durch die Jugoslawische Volksarmee und serbische Milizen am 18. November 1991 bietet sich den aus Belgrad herangekarrten Journalisten ein Bild des Grauens. Ganze Straßenzüge sind verwüstet, viele Häuser ausgebrannt. Das Zentrum ist mit Schutt und Trümmern übersät. Glassplitter bedecken die morastigen Straßen. Verkohlte Baumstämme ohne Äste ragen in den Himmel, überall liegen verbrannte Autowracks. Am Rande der Straße verwesen tote Tiere, vor einem zerschossenen Haus liegen zwei Leichen mit dem Gesicht nach unten. In einem Innenhof beim Krankenhaus werden den Journalisten zwei Dutzend entstellte Leichen präsentiert. Ein serbischer Offizier hat uns dorthin geführt. Eine Leiche ist fast völlig verkohlt, bei einer andern fehlt der halbe Kopf. Einige haben ein Etikett mit einer Nummer am großen Zeh. Sind es Patienten des Krankenhauses? Und wenn das der Fall ist, warum liegen die Leichen hier neben den zerschossenen Ambulanzfahrzeugen? Der Offizier behauptet im Brustton der Überzeugung, es handle sich um unschuldige serbische Opfer der »kroatischen Neofaschisten«. Die Frage, woher er denn wisse, dass die Opfer Serben seien, bleibt unbeantwortet, sie wird als Provokation empfunden.

In der Kaserne von Vukovar sitzen an einem langen Tisch serbische Offiziere und Soldaten und einige verstörte Zivilisten mit geröteten Augen und bleichen Gesichtern. Sie werden als Serben vorgestellt, die in den Kellern ihrer Häuser wochenlang ausgeharrt hätten, ohne Wasser und Strom. Das hätten ihnen die »kroatischen Neofaschisten« angetan. Vom Leiden der kroatischen Bewohner, die während dreier Monate dem serbischen Beschuss ausgesetzt gewesen waren, spricht niemand. Wenn die Armeeangehörigen während dieser makabren Inszenierung das Wort an die bleichen Gestalten richten, nicken diese stumm, mit ausdruckslosen Augen. Dann sagt einer der Offiziere: »Wir haben das von den kroatischen Ustaša-Horden geknechtete serbische Volk nach heldenhaftem Kampf befreit und damit einen Genozid verhindert.« Er spricht von einem »großen Sieg des serbischen Volkes«. In Vukovar sei nicht Kroatien verteidigt worden, wie Zagreb behaupte. Die Stadt an der Grenze zu Serbien sei vielmehr von den Kroaten zu einer Festung ausgebaut worden. Von hier aus habe der Faschismus verbreitet werden sollen. Er nennt Vukovar ein Symbol des »niedergeschlagenen Faschismus«. Die Serben hätten den Krieg nicht gewollt, meint der Offizier, er sei ihnen aufgezwungen worden. Und dann sagt er inmitten der Trümmerhaufen, die Armee habe nicht alle ihr zur Verfügung stehenden militärischen Mittel eingesetzt, weil sie das Leben unschuldiger Zivilisten habe schonen wollen. Deshalb habe es drei Monate gedauert, bis Vukovar »befreit« worden sei.

Am Abend dieser serbischen Propagandashow, die an Zynismus kaum mehr zu überbieten ist, werden die Journalisten vor den Ruinen des Hotels Dunav (Donau) im Zentrum von Vukovar aus der Feldküche der Armee verpflegt. Suppe wird verteilt, Schnaps herumgereicht. Am Morgen, auf der Hinfahrt im Autobus von Belgrad nach Vukovar, hatte jeder einen Kugelschreiber mit der Aufschrift »Jugoslawische Volksarmee« erhalten. Er hoffe, so hatte der begleitende serbische Offizier den Journalisten gesagt, dass sie alle die Wahrheit über Vukovar schrieben – die serbische Wahrheit, versteht sich. Den Journalisten ist an diesem Abend der Appetit gründlich vergangen. In sich gekehrt, erschüttert, verwirrt und betäubt von dem, was sie gesehen und gehört haben, stehen sie da. Es ist kalt und nass. Kaum einer sagt ein Wort. Es wird früh dunkel in der »befreiten« Stadt, in dieser menschenleeren, gespenstischen Trümmerwüste, auf die noch immer unaufhörlich der Regen niederfällt. Sonst ist kaum etwas zu hören. Nur ab und zu durchbrechen vorbeifahrende Militärfahrzeuge die Stille.

Unmittelbar nach der Einnahme von Vukovar verübten Serben eines der schlimmsten Verbrechen der Kriege der neunziger Jahre. Darüber erfuhren die Journalisten nichts. Im Keller des Krankenhauses, wohin die Verletzten und Kranken während des Dauerbeschusses verlegt worden waren, sah ich nur noch einige wenige Patienten. Wo aber waren die vielen anderen? Ein Arzt, der unter unvorstellbar schwierigen Bedingungen hier operiert hatte, sagte verzweifelt: »Warum seid ihr nicht früher gekommen!« Er meinte weniger die Journalisten, als vielmehr westliche Politiker, die aus seiner Sicht nichts getan hatten, um die Tragödie von Vukovar zu verhindern. Ein Kroate, der mit einer Serbin verheiratet war, zeigte sein Bein, das von einer Mine zerfetzt worden war, und meinte unbeirrt, er sei überzeugt davon, dass Kroaten und Serben in Vukovar wieder zusammenleben könnten. Auf die Frage, wo denn die vielen Patienten des Krankenhauses verblieben seien, sagte ein serbischer Offizier, den ich kurz darauf vor dem Gebäude traf, sie seien evakuiert worden.

Erst mit der Entdeckung von Massengräbern fast ein Jahr später kam die schreckliche Wahrheit ans Licht. Nachdem die Jugoslawische Volksarmee und serbische Milizen die Kontrolle über das Krankenhaus übernommen hatten, wurden in aller Eile rund vierhundert Personen weggebracht, verwundete kroatische Soldaten, Pflegepersonal, andere Zivilisten, unter ihnen auch politische Aktivisten und Journalisten, die in den letzten Tagen der Belagerung im Krankenhaus Zuflucht gesucht hatten – in der Hoffnung, unter Aufsicht internationaler Beobachter die Stadt verlassen zu können. Doch das erwies sich als Trugschluss. Serbische Milizen töteten wenige Tage nach dem Fall der Stadt auf dem Gelände des früheren Landwirtschaftsbetriebs in Ovčara, einige Kilometer südlich von Vukovar, über zweihundert der Verschleppten, unter ihnen den kroatischen Radiojournalisten Siniša Glavašević, der bis zum letzten Tag aus der belagerten Stadt berichtet hatte.

Der Kampf um Vukovar