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Marco Müller

Plus ultra

Roman

edition gai saber 

Alle Rechte vorbehalten Copyright © edition gai saber AG Zürich

1. Auflage, 2021

www.gaisaber.ch

Lektorat: Daniel Nussbaum

Covermotiv: Romana Lilic / Moment Open via Getty Images

Covergestaltung und Satz: Hanna Williamson

E-book ISBN: 978-3-907320-01-3

Print ISBN: 978-3-907320-00-6

 

Nina

1

Ein Taxi rauscht über die Schnellstraße vom Flughafen Barajas Richtung Madrid. Bosch sitzt im Fond des Wagens und spürt, wie die Müdigkeit, die in einer kleinen Kapsel in seinem Gehirn eingeschlossen war, sich allmählich in seinem Körper ausbreitet. Um fünf Uhr morgens aufstehen: Früher hat ihn das weniger mitgenommen, aber da hat er auch noch besser geschlafen, oder besser gesagt, früher fiel er ins Bett und war nach zehn Minuten weg, abgetaucht in die Tiefsee seines Unterbewusstseins, während er sich nun seit Monaten beinahe jede Nacht ruhelos hin und her wälzt, ohne von seinen unnütz kreisenden Gedanken erlöst zu werden.

So hat ihn sein mitleidloser Wecker auch an diesem Morgen weder aus angenehmen noch aus quälenden Träumen gerissen, sondern seinem halbwachen Bewusstsein lediglich mitgeteilt, es sei Zeit, von neuem Anlauf zu nehmen, um einem weiteren Tag auf den Buckel zu springen.

Gepackt hatte er wie üblich schon am Vorabend, weshalb er sich auf das Routineprogramm beschränken konnte: Duschen, in die bereitgelegten Kleider schlüpfen, wobei ihm das Zuknöpfen des frisch aus dem Reinigungsservice kommenden Hemdes nach wie vor ein kribbelndes Gefühl männlicher Erhabenheit einflößte, im Stehen den zu heißen Kaffee trinken, Geld, Tickets und Schlüssel einstecken und den abschließenden Kontrollgang durch die Wohnung absolvieren.

In der Dämmerung des Herbstmorgens ist er dann die kurze Strecke von seiner Wohnung zur Station gegangen, um die S-Bahn zum Flughafen abzupassen. Dort hat er sich in den von Zigarettenrauch imprägnierten Warteraum mit seiner Leichenhallenbeleuchtung gesetzt und gleichmütig dem Vorrücken des Minutenzeigers der Bahnhofsuhr zugeschaut, bis endlich die Lichter des nahenden Zuges aufgetaucht sind.

Die Morgenmaschine hat ihre übliche Verspätung gehabt, obschon vor den Check-in-Schaltern deutlich weniger los gewesen ist als an normalen Wochentagen. Aber da heute keine Termine in seiner Agenda stehen, hat es Bosch lediglich zur Kenntnis genommen, mit einem Anflug von Unmut zwar, aber ohne sich wirklich darüber aufzuregen.

Bis Montag bin ich Tourist, denkt er zufrieden, rutscht dabei noch etwas tiefer ins Sitzpolster und streckt die Arme von sich.

Die Einladung bei Andrea kommt ihm in den Sinn. Aber bis dahin hat er noch viel Zeit. Zeit, die er einfach verstreichen lassen kann, ohne etwas mit ihr anstellen zu müssen.

Ohne den Berufsverkehr kommen sie schnell voran und der Fahrer, ein Glatzkopf mit Nackenwülsten, die Bosch an einen Seelöwen erinnern, klebt geradezu am Gaspedal, als fürchte er, den Boden unter seinen Füßen zu verlieren.

Ausgestorben wirkende Vorstadtsiedlungen, Lagerhallen mit in der Vormittagssonne schimmernden Wellblechdächern und großflächige Brachen ziehen an ihnen vorüber. Dann bekommen Häuser und Plätze allmählich ein Gesicht, verdichten sich zum Bild einer Stadt, das in Boschs Erinnerung schon in unzähligen Variationen abgelegt ist.

Der Verkehr nimmt zu, Ampeln unterbrechen seinen Fluss, zerschneiden ihn wie einen Wurm, dessen Einzelteile unabhängig voneinander weiterkriechen. Leben jetzt auch neben der Straße: Menschen, die ihren samstäglichen Verrichtungen nachgehen, sind für einige Sekunden in seinem Blickfeld, haben ihren einmaligen Kurzauftritt auf seiner Bühne.

Die Statisten sind immer die andern, denkt Bosch und unterdrückt ein Gähnen.

Sie fahren am Parque del Retiro vorbei. Vielleicht wird er sich dort später ein bisschen die Beine vertreten. Von der Calle de Alcalá biegen sie ab in eine schmale Einbahnstraße, brettern durch die Altstadt, dass Staub und Papierfetzen hinter ihnen durch die Luft wirbeln, bis das Taxi mit einem Schlenker vor dem Hotel Reina Victoria zum Stillstand kommt.

»Tres mil trecientas pesetas«, sind die ersten Worte des Fahrers, seit Bosch eingestiegen ist.

Er bezahlt, nimmt seinen kleinen Koffer und steuert auf den Hoteleingang zu, wo ihm ein Angestellter in Uniform sein Gepäck abnimmt und es vor ihm her zur Rezeption trägt.

»Ah, buenos días señor Bosch! Schön, Sie wieder einmal bei uns im Haus zu haben«, begrüßt ihn mit einem Nilpferdlächeln der Desk Manager, ein untersetzter, geradezu furchterregend gepflegter Mann, mit sorgsam gestutztem Oberlippenbart und vor Eifer leuchtenden Ohren.

»Buenos días, señor …« Bosch schielt nach dem Schildchen am Revers seines Gegenübers, ohne den Namen entziffern zu können. »Habe ich dasselbe Zimmer wie immer?«

»Por supuesto, señor Bosch, dasselbe wie immer, natürlich. Haben Sie eine gute Reise gehabt?« Ohne sein Lächeln zu vernachlässigen, zaubert der Desk Manager ein Blatt Papier hervor und schiebt das Meldeformular mit seinen rosa Wurstfingern über die Theke.

Eine gute Reise? Eigentlich ist ihm außer der Taxifahrt zum Hotel nicht viel davon in Erinnerung geblieben. Seit er beruflich viel unterwegs ist, bleiben ihm immer weniger Eindrücke haften. Die narkotisierende Atmosphäre der Flughäfen mit ihren bis in den letzten Winkel ausgeleuchteten Shoppingzonen, die immer gleichen Rituale des Fliegens und die Endlosschleifen der Routine verstopfen sein Gedächtnis mit Bildern, die er längst nicht mehr auseinanderhalten kann.

Jetzt kann er doch noch den Namen auf dem Schildchen lesen.

»Ja, señor Sanz. Es ist schön, wieder hier zu sein.«

Das Gran Hotel Reina Victoria an der Plaza de Santa Ana, ein Prunkbau aus den 1920ern, ist seit je bevorzugter Aufenthaltsort anspruchsvoller Reisender, wohlhabender Bohemiens und gerade populärer Toreros, was auch die aus der Wand ragenden ausgestopften Stierköpfe in der Lobby erklärt, und liegt im Barrio de los Poetas, im Flanier- und Kneipengürtel der Altstadt, gegenüber des Teatro Español und unweit des Gewimmels der Puerta del Sol, wo die Metrostation am Wochenende bis spät in die Nacht amüsierhungrige Menschen im Minutentakt ausspuckt. Bosch, der ein Faible für antiquierten Luxus besitzt, hat sich im Reina Victoria mittlerweile den Ruf eines Stammgastes erworben, obwohl es ihn nicht öfter als drei, vier Mal im Jahr hierher verschlägt und er dafür erst noch sein Spesenkonto überziehen muss, was ihm regelmäßig eine mehr oder weniger sanfte Rüge seines Chefs einträgt. Aber da sein Chef, ein früherer Provinzpolitiker, sich bei seinen Auslandsreisen selber gerne etwas gönnt, ist Bosch dem Reina Victoria trotzdem treu geblieben. Außerdem kennt er Madrid seit seinen Studententagen. Damals, als er ernsthaft vorhatte, spanische Literatur zu studieren, stieg er jeweils in kleinen Pensionen mit stockfleckigen Tapeten und undichten Gemeinschafsklos ab, die morgens pausenlos besetzt waren, sodass er sich mit der Zeit angewöhnte, ins zimmereigene Lavabo zu urinieren. Dass er sich im Reina Victoria einquartiert hat, ist seiner Ansicht nach deshalb nichts weiter als die Folge einer natürlichen und deshalb angemessenen Entwicklung seiner Logierumstände.

Wie schon die vorhergehenden Male ist er im dritten Stock im nördlichen Eckzimmer untergebracht. Er steckt dem Bellboy zweihundert pesetas zu, schließt die Türe hinter sich, hängt das Jackett über einen Stuhl, streift seine Schuhe ab und wirft sich auf das riesige Doppelbett.

Sein Kopf fühlt sich schwer und heiß an, aber sein Körper verlangt nach Bewegung, weshalb er schon nach ein paar Atemzügen wieder auf den Beinen ist. Er verstaut seine Sachen, öffnet das Fenster und beobachtet mit der Neugierde des Angekommenen die Szenerie. Ein Lastwagen der Brauerei Cruzcampo versperrt die Straße; zwei Männer in Overalls rollen Metallfässer zum Eingang eines Restaurants. Hinter dem Brauereiwagen warten mit laufendem Motor zuerst zwei, dann drei Autos, bis die Männer ihre Arbeit beendet haben. Altstadtmorgenritual.

Nach den lauten Vergnügungen der Nacht, die bis in die frühen Morgenstunden die Straßen des barrio erfüllt haben, kehrt erst langsam wieder Leben auf der Plaza de Santa Ana ein. Die Rollos der Bars sind an den meisten Orten noch heruntergezogen und Spatzen balgen sich unter verwaisten Tischen um die letzten Brotkrumen. Eine Gruppe sich gegenseitig fotografierender japanischer Touristen und eine alte Frau, die einen Abfalleimer auf der Suche nach Essbarem durchwühlt, sind die einzigen Menschen auf dem Platz.

Bosch steht noch eine Weile unschlüssig am Fenster. Es zieht ihn hinaus, an einen Ort, der einladender ist, in eine nette kleine Bar vielleicht, wo er eine Tasse mit einem winzigen Schluck schwarzen Kaffees bestellen und dazu müßig in der Zeitung blättern kann. Aber gleichzeitig hat er ein übermächtiges Bedürfnis, endlich zu schlafen. Er geht ins Badezimmer, um sich frisch zu machen, legt sich danach aber doch wieder aufs Bett und schläft kurz darauf ein.

Er träumt von einem verlassenen Strand und in der Brandung rollenden Kieseln, sieht dabei die Wellen mit ihren Kämmen aus salzigem Schaum aus einer eigenartigen Froschperspektive, da seine Arme und Beine weggeschrumpft sind. Dann spürt er mit einer neu anbrandenden Welle plötzlich den Boden unter sich nachgeben und erwacht gleichzeitig, weil er beinahe vom Bett gefallen wäre.

Er setzt sich auf und schaut benommen auf seine Uhr. Eine knappe Stunde hat er geschlafen.

Es ist nach Mittag, als er das Hotel verlässt. Vor den Bars rund um die plaza sind jetzt etliche Tische mit hungrigen Touristen besetzt, zwischen denen die Kellner wie emsige Amselmütter hin und her segeln. Quartierbewohner tragen ihre Einkäufe nach Hause und auf dem eingezäunten Spielplatz kreischen und johlen mit vor Wonne geröteten Gesichtern ein paar Knirpse. Bosch bummelt Richtung Puerta del Sol.

In einer schmucklosen Bar, deren Boden mit zerknüllten Papierservietten und Zigarettenstummeln übersät ist, trinkt er am Tresen stehend einen Kaffee. Zeitungen gibt es keine, aber die aufgeregte Diskussion der zwei übrigen Gäste mit dem Barmann sind ihm Unterhaltung genug.

Die drei sind dem Dialekt nach Andalusier. Es geht um Geld, um einen zu hohen Preis für etwas, aber Bosch kommt nicht dahinter, wofür nach Meinung der drei entschieden zu viel verlangt wird. Zu schnell rattert das Staccato ihrer Sätze, als dass er mehr als ein paar Brocken davon erhaschen könnte.

Sie sind wie er in der Fremde, aber sie finden sich in ihrem Dialekt, im vertrauten Klang der gemeinsamen Heimat. Bosch, dessen Bedürfnis nach Gesellschaft erwacht ist, würde sich gerne bemerkbar machen. Aber er zögert zu lange, sodass er die schon zurechtgelegten Worte in seinem Mund wieder herunterschluckt und sich aufs Zuhören beschränkt.

Die Männer lachen, haben das Thema gewechselt. Er kann nun besser der Unterhaltung folgen, die sich um Frauen dreht, existente oder nicht existente, was nicht klar und auch nicht wichtig ist. Aber die Art, wie sie darüber reden, derb, scherzend und zugleich sehnsuchtsvoll, verrät, dass sie wahrscheinlich ohne weibliche Begleitung in der Stadt leben. Er erinnert sich, wie er einmal als Student in einer Pension vier Arbeiter aus einem Dorf der nördlichen Mancha als Zimmernachbarn hatte. Sie weckten ihn jeweils am frühen Morgen mit ihrem Rumoren, bevor sie sich auf den Weg in die Fabrik machten. Gelegentlich begegnete er dem einen oder anderen nach Feierabend auf dem Flur und schließlich wurde er von ihnen eines Abends zu einem Bier eingeladen. Sie erzählten ihm von ihrem Dorf, wohin sie jeden Freitagabend zurückkehrten, und Bosch, der sich abgesehen von ein paar Bibliotheksbesuchen zum Vergnügen in Madrid aufhielt, nahm mit Staunen zur Kenntnis, dass diesen rauhändigen Männern die Stadt, die ihn so faszinierte, in keiner Weise etwas bedeutete, ja, dass sie schon vom späten Sonntagabend an, wenn sie wieder in die Pension zurückkehrten, sich nach ihrem Dorf sehnten, das ihren unverrückbaren Lebensmittelpunkt darstellte.

Er betrachtet neidisch die drei, wie sie Sprüche klopfend und sich neckend ihre Verbundenheit zum Ausdruck bringen, bis der Barmann Boschs Blick auffängt und ihn fragt, ob er noch etwas wünsche. Bosch zögert, bezahlt dann aber doch und tritt wie benebelt auf die Straße. Geblendet vom grellen Tageslicht tastet er nach der Sonnenbrille in seinem Jackett, merkt, dass er sie in der Bar liegengelassen hat, macht auf dem Absatz kehrt, betritt noch einmal den Raum und nimmt die Brille vom Tresen, ohne dass die Männer, die wieder in ihr Gespräch vertieft sind, ihn beachten.

An einer Hauswand hängt ein Plakat, das anlässlich der Jahrtausendwende für eine Kreuzfahrt auf der Datumsgrenze im Pazifik wirbt, dabei sind es noch mehr als zwei Jahre bis dahin. Es ist Oktober 1998 und das neue Jahrtausend für Boschs Empfinden genauso weit weg wie die Vorstellung, eines Tages mit Frau und Kind in einem eigenen Haus im Grünen zu wohnen. Seinem Chef würde eine solche Kreuzfahrt bestimmt gefallen. Mitten im Pazifik Austern knacken und Champagner saufen, umgeben von einer Gesellschaft von Wichtigtuern, die meinen, den Lauf der Zeit austricksen zu können. Dabei weiß jeder, dass alle Arten von Zeitrechnungen nur Jahre aneinanderreihen, ohne dass damit irgendeine Bedeutung für die Gegenwart oder Zukunft verbunden wäre.

Bosch fällt plötzlich ein, dass er Andrea ein kleines Geschenk mitbringen sollte. Wieso hat er nicht schon früher daran gedacht? Man kann unmöglich nach mehr als zehn Jahren bei einer Frau zum Abendessen aufkreuzen, ohne ein Geschenk dabeizuhaben. Schon gar nicht, wenn diese Frau einmal die eigene Freundin gewesen ist. Ob er Blumen kaufen soll? Zu konventionell und irgendwie missverständlich. Konfekt? Nein, auf keinen Fall, das bringt man älteren Damen mit. Dann eben doch eine Flasche Wein? Auch nicht gerade sehr originell, aber wenn sie teuer genug ist, warum nicht. Und ein solches Mitbringsel würde er bis zum Abend auf jeden Fall auftreiben können.

Er nimmt seinen Spaziergang durch die Altstadt wieder auf und dabei erst wird ihm bewusst, dass ihn ein Abend erwartet, über dessen Ausgang er keine klaren Vorstellungen besitzt.

 

Sie hatte sich vor ein paar Wochen überraschend bei ihm mit einem Brief gemeldet. Viel mitgeteilt hatte sie darin nicht, aber ihn gefragt, wann er wieder einmal in Madrid sei, und ob er sie nicht besuchen wolle. Woher sie wusste, dass er sich regelmäßig in der Stadt aufhielt, fragte er sich. Auf dem handgeschriebenen Brief hatte sie ihre Nummer unter die Unterschrift gesetzt, was er als Aufforderung verstand, ihr telefonisch zu antworten. Aber das hieß auch, er würde ihre Einladung schwerlich ausschlagen können. Er hatte deshalb mehrere Tage gezögert, den Brief sogar auf eine Geschäftsreise nach Lyon mitgenommen, von wo er sie dann anrief, aus reiner Neugierde, wie er sich einredete, und war überrascht gewesen, wie unbeschwert die Unterhaltung verlief. Ihre Stimme besaß immer noch das aufgeraute Timbre, das ihn schon bei ihrer ersten Begegnung fasziniert hatte. Wie lange war das jetzt her? Vierzehn Jahre, rechnet er.

Es war in jener Zeit, als er sein Studium hingeschmissen und kurz darauf bei der Stiftung zu arbeiten begonnen hatte. Andrea studierte damals Kunstgeschichte und Spanisch, träumte aber davon, Künstlerin zu werden. Sie zeichnete und malte in ihrer Freizeit und dies immerhin so gut, dass sie sich getraute, ihre Bilder an Freunde und Verwandte zu verschenken. Musikalisch war sie auch, hatte in ihrer Kindheit Geige gespielt, es dann aber später sein lassen, zur Enttäuschung ihres Vaters, der bei einer Versicherung ein hohes Tier war und in seiner Jugend selbst Violine gespielt hatte und gerne ans Konservatorium gegangen wäre, was ihm sein Vater freilich nicht erlaubt hatte. Überhaupt war Kultur in Andreas Familie – im Gegensatz zu seiner eigenen – immer etwas gewesen, dessen man sich mit großem Ernst annahm. Ihre Eltern besaßen viele Jahre lang ein Premierenabonnement für die Oper, besuchten regelmäßig Ausstellungen im Kunsthaus und gingen mindestens drei-, viermal im Jahr ins Schauspielhaus, weil sich das ihrer Meinung nach für gebildete Menschen einfach so gehörte. Ihre Begeisterung hielt sich denn auch in Grenzen, als Andrea zum ersten Mal mit Pankraz Bosch im Schlepptau auftauchte, weil sie schon nach fünf Minuten argwöhnten, dass dieser junge Mann, der seine akademische Ausbildung leichtfertig zugunsten einer ganz normalen Arbeit aufgegeben hatte, kaum empfänglich war für die sublimen Momente des Kunstgenusses. Aber da sie wussten, dass ihre dickköpfige Tochter sich nicht dreinreden lassen würde, ließen sie es bei einem griesgrämigen Gesichtsausdruck bewenden und gaben sich mit der Hoffnung zufrieden, dass aus dem Freund wenigstens kein Ehemann und Schwiegersohn werden würde.

Pankraz’ Eltern hingegen hatten keine Ahnung vom Liebesleben ihres Sohnes. Und im Unterschied zu Andrea, die damals noch zu Hause wohnte, hatte er schon mit achtzehn Reißaus genommen und war in einer studentischen Wohngemeinschaft untergekommen, bis er sich später durch den Job bei der Stiftung eine eigene Wohnung leisten konnte. Wenn er seine Eltern besuchte, was eigentlich nur an speziellen Anlässen wie Geburtstagen und dergleichen vorkam, zog er vor ihnen schön gemalte Kulissen auf, im Stil eines ländlichen Laientheaters, und seine Eltern ließen sich die gegebene Vorstellung, die immer die Geschichte eines erfolgreichen und talentierten jungen Mannes zum Inhalt hatte, gerne gefallen, denn sie hatten auch nicht die geringste Neigung, irgendetwas anderes hören zu wollen. Alle Arten des Scheiterns, sei es beruflich oder privat, waren Konversationstabuzonen, um die sie einen möglichst großen Bogen machten, denn dadurch wäre die von ihnen so sorgsam gepflegte Atmosphäre einer geruhsam dahinplätschernden Fünfuhrteerunde gestört worden. Und die Liebe war ihrer Ansicht nach etwas so Unberechenbares, dass sie ein Gespräch darüber tunlichst vermieden.

Andrea seinen Eltern vorzustellen, wäre Bosch deshalb als Letztes in den Sinn gekommen.

 

Sie hatten sich auf einer Studentenparty kennengelernt und gleich aneinander Gefallen gefunden, und da Bosch wie Andrea ungebunden und entsprechend empfänglich für Signale des anderen Geschlechts waren, ergab sich der Rest beinahe von selbst. Nach der ersten gemeinsam verbrachten Nacht, die sie beide in einem Zustand der Verwirrtheit zurückgelassen hatte, begann sich auch tatsächlich eine zaghafte Verliebtheit zwischen ihnen einzustellen, die sich mit der Zeit in etwas verwandelte, das ihnen bedeutsam und gleichzeitig zerbrechlich vorkam und ihnen bewusst machte, dass nun eine Verbindung zwischen ihnen bestand, die eine gewisse Ernsthaftigkeit verlangte, was sich sehr erwachsen anfühlte, ihnen aber auch in gewissen Momenten einen uneingestandenen Schrecken einjagte

Die Monate vergingen und der Gedanke, dass sie nun ein Paar waren, nahm für sie mehr und mehr den Charakter von etwas Alltäglichem an, auch wenn dieser Alltag immer noch zuweilen vom Prickeln des Neuen begleitet wurde, das sie manchmal unerwartet heftig überfiel und zu spontanen erotischen Entladungen führen konnte, vor denen selbst das öffentliche Hallenbad und der Keller der Stadtbücherei nicht sicher waren.

Zusammen schmiedeten sie zum Zeitvertreib Pläne, am liebsten im Bett, nachdem sie sich aneinander erschöpft hatten. Dann legte sie ihren Kopf an seine Brust und malte mit ihrer sandigen Stimme Fantasiebilder in die Luft. Sie träumte von einem Leben im Süden und er träumte gerne mit ihr. Er war ja während seiner Zeit an der Uni immer wieder in Spanien gewesen und deshalb fiel es ihm leicht, sich Andreas Wunschbilder vorzustellen. Für ihn waren es aber in erster Linie anregende Fantastereien, die er ganz im Moment genoss, so wie man das wärmende Gefühl eines Whiskys genießt, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Aber Andrea wurde es mit der Zeit immer ernster und eines Tages eröffnete sie ihm, sie könnte vielleicht in Barcelona einen Job als Sekretärin bei einer Schweizer Firma bekommen und dass dies ihre erträumte Chance sei. Sie würde vor Ort schon einmal eine Wohnung organisieren und Bosch könnte dann nachkommen. Aber er hatte nicht die Absicht, sich auf Dauer nach Barcelona zu verpflanzen. Zu unsicher, ob er dort überhaupt einen Job bekommen würde, fand er. Außerdem war er sich überhaupt noch nicht im Klaren darüber, was er vom Leben erwartete und deshalb war ein Schritt mit derart weitreichenden Konsequenzen etwas, was ihm Furcht einflößte.

Es folgten lange und unfruchtbare Diskussionen. Bosch beharrte darauf, dass es nicht der richtige Zeitpunkt sei. Andrea solle zuerst ihren Abschluss machen, dann würde man weitersehen. Und er selbst würde auch noch mehr Berufserfahrung benötigen, wenn er im Ausland eine Chance auf einen anständig bezahlten Job haben wollte. Sie verstand seine Bedenken nicht, fand diese spießig und mutlos. Waren sie denn nicht jung und bereit, etwas zu wagen? Solange sie nur darüber gesprochen hatten, waren sie einer Meinung gewesen. Aber sobald sich eine konkrete Möglichkeit auftat, würde er den Schwanz einziehen, warf sie ihm vor. Sie war so enttäuscht, dass sie vor Wut weinte und ihn einen Feigling nannte, was ihn zutiefst kränkte. Es vergingen Tage, bis sich ihr Umgang wieder normalisiert hatte, aber der Riss war da und weitete sich unmerklich. Andrea ließ den Job in Barcelona sausen, war aber nicht bereit, ihren Plan ganz zu begraben. Sie träumten nicht mehr gemeinsam, dafür gerieten sie nun regelmäßig aneinander, wenn sie verschiedener Meinung waren. Dort, wo sie vorher dem anderen gegenüber weich und nachgiebig gewesen waren, wurden sie hart und störrisch und sie begannen aneinander Fehler und Schwächen zu entdecken, die ihnen bislang verborgen geblieben waren. Ja, sie sahen einander jetzt mit anderen Augen und was sie sahen, versetzte sie in einen nur noch selten abklingenden Zustand der Gereiztheit.

Bis sie sich schließlich trennten, vergingen noch qualvolle Monate und nach außen wirkten sie dabei wie ein von einer schon zu lange andauernden Ehe erschöpftes Paar, obwohl sie kaum mehr als zwei Jahre zusammen gewesen waren. Es kam aber selbst in den letzten Wochen vor, dass sie für kurze Zeit wieder reuig zueinander fanden und sich gegenseitig Besserung versprachen, aber sie besaßen doch nicht mehr die Kraft und den Willen, die erlöschende Glut ihres kleinen Feuers neu anzufachen.

Jahre später erfuhr Bosch zufällig, dass Andrea nach Madrid gezogen war, hatte aber bisher kaum je einen Gedanken daran verschwendet. Und jetzt ist er hier, zwei Tage früher, als es die Geschäfte erfordern, dabei entspricht es überhaupt nicht seinen Gewohnheiten, eine berufliche Reise aus privaten Gründen auszudehnen.

 

Er betritt einen Spezialitätenladen in einer Seitengasse, wo er nach einigem Abwägen eine Flasche Ribera del Duero kauft, die ihm teuer genug für die bevorstehende Einladung scheint. Mit dem angenehmen Gefühl, eine Pflicht erledigt zu haben, schlendert er zurück zum Hotel. Im Zimmer wirft er sich zum zweiten Mal auf das Bett, in dessen Decke sein Körper schon eine Delle hinterlassen hat, und fällt in einen schweren, traumlosen Schlaf.

 

Als er erwacht, ist es später Nachmittag. Drei Stunden hat er geschlafen und dabei alle Möglichkeiten des Nachmittags ungenutzt an sich vorüberziehen lassen, den Abstecher in den Parque del Retiro eingeschlossen, aber das bleierne Gewicht der Müdigkeit, das an seinem Körper hängt, ist dafür etwas leichter geworden. Er sitzt auf der Bettkante und betrachtet noch schlaftrunken einen kastaniengroßen Flecken auf dem Teppich. Egal wie neu oder exklusiv das Hotel ist, es ist immer schon jemand da gewesen, der seine Spuren hinterlassen hat. Manchmal hat er genug davon, von den anonymen Hotelzimmern, dem Leben aus dem Koffer und den Meetings, in denen er lauter Ausflüchte und geschönte Zahlen aufgetischt bekommt. Andererseits: Seit er vor drei Jahren zum Projektmanager mit besonderen Aufgaben befördert worden ist, gebietet er über sein eigenes kleines Reich, das ihn wie eine schützende Fruchtblase umgibt und über dem nur noch der Chef persönlich thront; und dieser lässt ihm seit der Geschichte in Algerien weitgehend freie Hand.

Die Stiftung hatte mehrere Millionen für ein Brunnenprojekt in Nordafrika ausgegeben, aber der Projektverantwortliche der beauftragten Organisation hatte mithilfe fingierter Rechnungen fast die Hälfte davon in die eigene Tasche gesteckt. Allerdings hatte er dies so stümperhaft angestellt, dass bei einer Routinekontrolle etliche Ungereimtheiten in der Buchführung entdeckt worden waren, worauf der Chef Bosch nach Algier schickte, um der Sache auf den Grund zu gehen. Und Bosch brachte nicht nur das ganze Ausmaß der Veruntreuung ans Licht, sondern förderte auch die verschwundenen Millionen der Stiftung wieder zutage. Dass es ihm gelang, das Geld wiederzubeschaffen, verdankte er zwar einer Kette glücklicher Zufälle, aber in seinem abschließenden Bericht ließ er keinen Zweifel darüber aufkommen, dass der Erfolg der Ermittlungen aufs Engste mit der damit beauftragten Person, also mit ihm, zusammenhing. Seither genießt er innerhalb der Stiftung den Ruf eines smarten Troubleshooters und das Wohlwollen seines Chefs, der für die Aufklärung des Falles den Applaus des Stiftungsrates und die Bewilligung eines neuen Dienstwagens einstreichen durfte.

 

Bosch schlüpft in die Hotelpantoffeln, schlurft ins Bad und betrachtet sich im Spiegel. Er ist trotz des sich seit einiger Zeit hartnäckig behauptenden Bauchansatzes einigermaßen zufrieden mit sich, wären da nicht die Spuren der ihn beutelnden Schlaflosigkeit, die leicht geröteten Augen und der schlaffe Ausdruck des Gesichts, die sein Missfallen erregen.

Er beschließt, sich unter die Dusche zu stellen, um sich in Form zu bringen, verweilt lange unter dem warmen Strahl der Brause, lässt sich von ihm Nacken und Rücken massieren, bis alles um ihn herum in ein feines Gespinst aus Wasserdampf gehüllt ist und er erneut ein Gefühl der Schläfrigkeit verspürt.

Mit dem Badetuch um die Hüften geschlungen geht er zurück ins Zimmer, macht den Fernseher an und fläzt sich noch einmal aufs Bett. Er zappt von Sender zu Sender, aber außer Vorabendtalkshows und künstlich aufgeregten Werbespots scheint nichts geboten zu werden. Bei einem Tierfilm bleibt er hängen. In einem Urwald, durch dessen Blätterdach kaum die Sonne dringt, sieht man Affen sich lässig von Ast zu Ast hangeln. Die Kamera schwenkt auf den Waldboden, wo sich gerade eine Schlange im Unterholz verkriecht. Dann ein harter Schnitt: Bagger wühlen rußige Abgase ausstoßend in der nackten braunen Erde, die nach der Rodung eines Stücks Regenwaldes übrig geblieben ist. Sieht aus wie das Schlachtfeld von Verdun, geht es Bosch durch den Kopf. Eine Stimme aus dem Off zählt auf, wie viele Quadratmeter Regenwald stündlich für immer den Bach runtergehen und wie viele Tierarten jedes Jahr in der Folge aussterben.

Bosch wechselt den Kanal.

Eine Blondine in einem Glitzerkostüm, die vom Alter her seine Mutter sein könnte, schwärmt mit exaltierter Stimme von ihrer Zusammenarbeit mit jemandem, den er genauso wenig kennt wie die falsche Blondine, deren geliftete Haut sich beim Lächeln wie ein Gummihandschuh gefährlich straff über Nase und Backenknochen spannt.

Bosch drückt energisch auf den roten Knopf der Fernbedienung und die Blondine implodiert mit einem spinnwebenzarten Knistern. Von einem plötzlichen Impuls getrieben schwingt er sich aus dem Bett, holt ein frisches Hemd aus dem Schrank und kleidet sich an. Noch schnell ein Jarsin geschluckt, dann ist er bereit, sich für die nächste halbe Stunde an der Hotelbar zu langweilen und seinen Hunger mit ein paar Oliven und Salzstangen in Schach zu halten, bis er sich auf den Weg zu seiner Verabredung macht.