Foto: © Marie Scheib
CONSTANZE SCHEIB wurde 1979 in Wien geboren, wo sie auch aufgewachsen ist. Das merke man, sagt sie, an der Färbung ihrer Sprache, an ihrer »manchmal bisserl ruppigen Liebenswürdigkeit« und an ihrem etwas speziellen schwarzen Humor. Nach der Schule absolvierte sie eine Schauspielausbildung und stand in den folgenden Jahren auf diversen österreichischen Bühnen. Schon in dieser Zeit begann sie Kurzgeschichten und Theaterstücke zu schreiben. Seit 2014 werden ihre Erzählungen veröffentlicht; seit 2019 ist sie Mitglied der »Mörderischen Schwestern«, einem Netzwerk zur Förderung deutschsprachiger Kriminalliteratur von Frauen. Constanze Scheib lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Wien. Der Würger von Hietzing ist ihr erster Roman.
Ich möchte Ihnen raten, Miss Marple, weniger Kriminalgeschichten zu lesen. Ein hübscher Liebesroman wäre viel beruhigender.
Der Wachsblumenstrauß (1963, Regie: George Pollock)
Das Geräusch von zersplitterndem Geschirr ließ Frau Ehrenstein zusammenzucken. Der feine Pinsel zog eine dunkelbraune Linie quer über ihre Stirn. Missbilligend betrachtete sie das Malheur im Spiegel. Auf der rechten Seite eine perfekt geschwungene Augenbraue, links ein verwortakeltes Konstrukt, das an eine Zeichnung Picassos erinnerte. Sie hörte aufgebrachtes Geschnatter im Erdgeschoss, bis die strenge Stimme von Frau Berkovics die anderen zum Schweigen brachte. Frau Ehrenstein seufzte und tupfte ihre Stirn mit einem Wattebausch ab. Selbstverständlich müsste sie dort unten nach dem Rechten sehen, das wurde von ihr als Hausherrin erwartet. Doch sie würde sich hüten, mit einer unfertigen Augenbraue vor ihren Bediensteten zu erscheinen. Wenn sie sich schon mit so etwas befassen musste, dann wenigstens mit Stil.
Nachdem sie ihre Braue wieder hergestellt hatte, ging sie die breite Treppe hinunter. In der Eingangshalle wäre sie fast über Marie gestolpert. Mit Kehrblech und Besen in der Hand hockte das Dienstmädchen auf dem grauen Marmor und suchte konzentriert den Boden ab. Ihr dunkelbraunes Haar war zu einem strengen Dutt zurückgebunden, über dunklem Rock und Bluse trug sie eine weiße Schürze. Frau Ehrenstein hatte ihrem Mann gegenüber erst kürzlich wieder angemerkt, dass diese Uniform für Hausangestellte im Jahr 1972 antiquiert wirkte. Ohne von seiner Zeitung aufzusehen, hatte Oskar einen tiefen Seufzer ausgestoßen, enerviert den Kopf geschüttelt und ihr erklärt, dass dies in diesem Haus seit jeher Usus sei. Es sei ihre gemeinsame Pflicht, die Traditionen zu wahren und das letzte Bollwerk gegen die Hippies da draußen zu sein. Außerdem müsse man die Dienerschaft von den Herrschaften unterscheiden können.
Marie richtete sich aus der Hocke auf und machte einen Knicks, nur um sich gleich wieder auf den Boden zu begeben.
»Gnä’ Frau.«
Frau Ehrenstein verschränkte die Arme vor ihrer Brust und hob eine perfekt geschwungene Augenbraue.
»Der Bianca san die Tassen vom Tablett g’rutscht. Dann is sie heulend wegg’rennt, wie die Berkovics sie ang’keift hat. Und dreimal dürfen’S raten, wer die Wirtschaft hat wegmachen dürfen!«
»Was hat’s leicht? Die Bianca? Sonst ist sie ja auch nicht so ungeschickt!«
Ohne aufzusehen, murmelte die junge Frau: »Was waaß i?«
Der Duft von frischem Kaffee wehte Frau Ehrenstein entgegen, als sie das Esszimmer betrat. Ihr Mann Oskar war in die Morgenausgabe der Presse vertieft und aß dabei eine Eierspeis mit einer Semmel. Ihr Sohn, den sie Willi rief, während ihr Mann auf das vollständige Wilhelm bestand, hatte sich hinter einem Comicbuch mit dem Titel Silberpfeil verschanzt. Sie saßen morgens immer an einem Ende der langen Tafel, um die sich an manchen Abenden die einflussreichsten Wiener zu Gesellschaften versammelten.
»Guten Morgen!«
Sie setzte sich neben ihren Mann und nahm vorsichtig einen Schluck vom Kaffee. Sie konnte am Geschmack feststellen, ob er vom Koch oder von Frau Berkovics aufgebrüht worden war. Der von ihrer böhmischen Haushälterin ließ Frau Ehrensteins Hände zittern und ihr Herz mit zehnfacher Geschwindigkeit hämmern.
»Guten Morgen, Mama!« Willi winkte kurz in ihre Richtung.
»Guten Morgen!«, murmelte ihr Mann. Brösel fingen sich in seinem kurz getrimmten Schnauzer.
Frau Ehrenstein köpfte mit einem präzisen Schlag das weich gekochte Ei, das vor ihr in einem silbernen Becher stand.
Früher hatte sie noch versucht, angeregte Gespräche am Frühstückstisch zu führen. Ihre beiden Männer zu fragen, was sie für den Tag geplant hatten, oder zu erzählen, welchen Film sie am Vorabend gesehen hatte. Doch Willi war es immer wichtiger geworden, vor der Schule noch etwas zu lesen, was ihm Freude machte. Und Oskar hatte selten anders als mit einer abfälligen Bemerkung reagiert – über ihre Kleidung, ihre Filmbegeisterung, ihr Interesse an Musik und Whisky. Ihr moderner Geschmack löste bei ihm nur Unmut aus. Außerdem wollte er in Ruhe seine Zeitung lesen. All das hatte Frau Ehrenstein resignieren lassen. Nun verbrachte die Familie ihre Morgen schweigend an diesem viel zu großen Tisch. Nur Willis Schlürfen und das Klirren von Oskars Löffel waren zu hören.
Schließlich erhoben sich beide gleichzeitig wie auf ein unausgesprochenes Stichwort. Ihr Mann verließ geschäftig das Zimmer, und ihr Sohn drückte Frau Ehrenstein einen milchfeuchten Kuss auf die Wange.
Sie strich ihm übers Haar und richtete seine blaue Uniform. »Lern brav, Willi.« Sie küsste ihn auf die Stirn, und er trottete hinaus.
Frau Ehrenstein trank in großen Schlucken die Tasse leer und betrachtete Oskars hingeworfene Zeitung. Ein Foto auf der Titelseite zeigte den Skiläufer Karl Schranz und eine Menschenmenge am Heldenplatz. Sie verzog den Mund und schüttelte den Kopf. Nur in Österreich war es möglich, dass einem Sportler ein Staatsempfang bereitet wurde, weil er nicht bei den Olympischen Spielen antreten durfte. Auf der Suche nach dem Kinoprogramm blätterte sie zügig durch den Lokalteil – etwas über Diebstähle von Autoteilen, der Bezirksvorsteher hatte ein Bäumchen gepflanzt, eine Frau war erwürgt worden. Frau Ehrenstein hielt kurz inne, denn das erinnerte sie an einen alten Edgar-Wallace-Film mit Bela Lugosi, Der Würger von London oder so ähnlich. An den Inhalt erinnerte sie sich kaum noch, nur an die gruselige Fratze des Mörders und die stets perfekt liegende Frisur der Heldin.
Heute Abend gab es nichts Interessantes im Parkkino, also blieb ihr der Fernseher oder ein Buch. Frau Ehrenstein betastete ihr Haar, um den Zustand ihrer Hochsteckfrisur zu überprüfen, und strich ihre Stoffhosen glatt. Ihre einzigen Aufgaben als Hausherrin bestanden darin, sich den Regeln des Hauses unterzuordnen und dabei hübsch auszusehen. Wenigstens von Zweiterem war sie nie gelangweilt, und so war es fast schon zum Tick geworden, ständig den Zustand ihres Aussehens zu überprüfen.
»Heute wird’s spät, ich bleib sicher bis elf im Büro.«
Im Vorzimmer half Marie Oskar in den Kamelhaarmantel und reichte ihm Hut und Aktentasche.
»Spät werden« war in gehobenen Kreisen die Chiffre für: »Ich verbringe Zeit mit meiner Geliebten.« Das erschütterte Frau Ehrenstein nicht weiter. Im Gegenteil, da sie das Haus für sich haben würde, wusste sie schon ganz genau, was sie heute Abend machen wollte. Doch zuvor musste sie eine weitere Pflicht hinter sich bringen.
Die morgendliche Inspektion der Dienerschaft war ein lästiges Übel, außerdem wirkte es auf die Dame lächerlich, wie die Angestellten in einer Reihe auf ihre Billigung warteten. Dennoch bemühte sich Frau Ehrenstein um einen betont seriösen Gesichtsausdruck und widmete ihre Aufmerksamkeit der Haushälterin Frau Berkovics. Diese baute ihren fülligen Körper zur vollen Größe auf und verkündete in militärischer Manier:
»Gnä’ Frau, heute keine Ausfälle, keiner krank, keiner verhindert. Am Nachmittag hat sich der Glaser ang’meldt, für die Fenster im oberen Stock. Ansonsten alles wie gehabt.«
Früher hatte Frau Ehrenstein die Bediensteten nach ihrem Befinden befragt und auf lose Fäden an den Schürzen oder nicht ausreichend polierte Schuhe hingewiesen. Doch anstatt ihren Einsatz zu würdigen, hatte Frau Berkovics pikiert und gereizt reagiert. Frau Ehrenstein erkannte rasch, dass von ihr nicht mehr erwartet wurde, als einfach anwesend zu sein und alles abzunicken, was das Hausfaktotum penibel vorbereitet hatte. Das war ihre Rolle jeden Morgen in diesem Schauspiel.
Der Erste in der Reihe war der Koch, der eine Karikatur seines Berufsstandes war. Ein dicker, rotgesichtiger Mann mit einer viel zu kleinen Kochhaube, unter der zerfranste graue Haarbüschel herausragten. Um ihn schwirrte ein faszinierendes Geruchspotpourri aus Knoblauch, Zwiebel, etwas Rosmarin und ein paar Noten, die sie nicht zuordnen konnte. Es gab noch ein Aroma, so dezent, dass jemand anderes es nicht bemerkt hätte, aber Frau Ehrenstein entging so etwas nicht. Außerdem war ihr der süßliche Duft von Sherry wohlbekannt.
Die Nächste in der Reihe war Marie, ihr Blick leicht nach unten gerichtet und, wie immer, tadellos in Aufmachung und Haltung. Daneben stand Bianca, das zweite Dienstmädchen. Sie wirkte wie ein Häuflein Elend. Blonde Haarsträhnen standen aus ihrem Dutt, ihre Augen waren rot und geschwollen, ihre Schürze zerknittert. Hinter Frau Ehrenstein sog die Haushälterin die Luft durch die Nase lautstark ein. Es grenzte an ein Wunder, dass Frau Berkovics ihr das Mädchen in diesem Zustand vor die Nase gestellt hatte. Außer natürlich die Alte legte es darauf an, dass Bianca von der Dame des Hauses eine Rüge bekam.
Frau Ehrenstein missfiel es, als Werkzeug für Frau Berkovics’ Spielereien zu dienen. Sie verzog keine Miene und ging weiter, um sich dem Küchenmädchen zu widmen. Ihre Gedanken schweiften dabei aber zu dem zerzausten Dienstmädchen, und sie fragte sich, was die ganze Aufregung zu bedeuten hatte.
Der Kronleuchter tauchte das untere Stockwerk in ein mattes Licht, das dem alten Haus einen noch ehrwürdigeren Charakter verlieh. Frau Ehrenstein schritt die breite, geschwungene Treppe in die Eingangshalle hinunter. Wenn man das antike Interieur und die vorbeihuschenden Dienstmädchen mit ihren Schürzen sah, konnte man sich in einem Haushalt rund um die Jahrhundertwende wähnen, dachte sie. Wieder einmal überkam sie das Gefühl, in dieser Umgebung fehl am Platz zu sein. Ihr Tag war voll und gleichzeitig ereignislos gewesen. Nach der Inspektion hatte sie noch die Arbeits- und Küchenpläne abgenickt. Dann ein Spaziergang mit ihrer Mutter in Schönbrunn, ein Gespräch mit dem Glaser und Betthupferl schauen mit ihrem Sohn Willi. Doch nun lag der Abend vor ihr, und sie freute sich darauf.
Bianca trippelte ins Vorzimmer. Sie hatte ihre schwarzen flachen Arbeitsschuhe gegen beige Pumps getauscht. Frau Ehrenstein hatte einen Blick für gehobene Garderobe. Die sehen aber nicht billig aus, stellte sie verwundert fest.
Frau Berkovics kam, fest eingehüllt in einen Wollmantel, einen dunklen Hut mit ein paar wackelnden Federn auf dem Kopf, schweren Schrittes hereingestapft. Hinter ihr folgte Marie, die sich gerade ihre Handschuhe überstreifte. Frau Berkovics nickte Frau Ehrenstein knapp zu.
»Gnä’ Frau, wir sind fertig für den Tag, falls Sie nix mehr brauchen.«
Ein Routinesatz, der jeden Abend dieselbe Antwort von der Dame des Hauses zur Folge hatte:
»Danke, Frau Berkovics. Wir sehen uns morgen!«
Nun, fast jeden Abend.
»Da wär noch was …«, sagte Frau Ehrenstein.
»Mit Verlaub, gnä’ Frau?«
»Mein Gatte bemerkte heute beim Frühstück, dass das Silber nicht tadellos poliert war. Ich wäre untröstlich, wenn das morgen früh noch immer der Fall wäre.«
»Selbstverständlich, gnä’ Frau! Welch ein Jammer, dass Ihnen das erst jetzt einfällt. So kurz vor Feierabend …«
»Welch ein Jammer«, entgegnete die Hausherrin, »dass Ihnen das nicht schon früher aufgefallen ist, Frau Berkovics. Oder sagen’S, ist es meine Pflicht, auf den Zustand des Bestecks achtzugeben?«
Die Haushälterin krallte die Finger in den Stoff ihres Mantels, doch auf ihrem Gesicht entfaltete sich ein ehrerbietiges Lächeln.
»Selbstverständlich nicht, gnä’ Frau! Bitte vielmals um Verzeihung.«
»Nun, wer soll sich dieser Arbeit annehmen?«, fragte Frau Ehrenstein, die es sich in den letzten Jahren zum Hobby gemacht hatte, Frau Berkovics zu provozieren.
Frau Ehrenstein sah, dass Marie konzentriert den Plafond musterte, um nicht loszuprusten.
»Scho recht, Frau Berkovics. I mach des scho«, verkündete sie hastig.
Die beiden anderen atmeten unisono auf und verabschiedeten sich rasch. Als die Haustür ins Schloss gefallen war, zog Marie den Mantel wieder aus.
»Also, wirklich, gnä’ Frau! Hat des jetzt sein müssen?«
»Ach, gehn’S, Marie! Ein Glaserl wird Sie schon nicht umbringen!«
Sie betraten das vom Kaminfeuer wohlig warme Wohnzimmer, und Frau Ehrenstein schenkte beiden bernsteinfarbenen Whisky ein, während sich Marie in einen der Ohrensessel fallen ließ.
Zwei Monate war es nun her, dass die beiden zum ersten Mal hier gesessen hatten. Marie hatte eines Abends an der Tür geläutet und sich um die vakante Stelle als Dienstmädchen beworben. Auch da war Frau Ehrenstein allein zu Hause gewesen und hatte sich fadisiert, also hatte sie die junge Frau hereingebeten. Anfangs sprachen sie über die Anstellung und Maries hervorragende Zeugnisse. Sie hatte bereits in sehr jungen Jahren zu arbeiten begonnen. Das interessierte Frau Ehrenstein, deren Jugend so ganz anders verlaufen war, und bald unterhielten sie sich angeregt über ihre Herkunft, ihre Erziehung, dann auch ihre Vorlieben und Lieblingsbeschäftigungen. Sie entdeckten, dass sie die Leidenschaft für Musik und Filme teilten. Die Kriminalfilme, die Frau Ehrenstein so sehr schätzte, fand Marie zu aufreibend, doch dafür liebte sie Komödien. Beide waren sich einig, dass Marianne Mendts jazzige Stimme zum Besten gehörte, was Österreich zu bieten hatte, und dass sie beim Songcontest einen weit besseren als den sechzehnten Platz verdient hätte. Als es immer später wurde und sie bereits das dritte Glas Whisky getrunken hatten, begann Marie von ihrem verstorbenen Vater zu erzählen und von ihrer Mutter, die sie seitdem versorgen musste. Von ihrer Arbeit als Dienstmädchen, die ihr viel abverlangte, aber wenigstens eine anständige war. Von dem alten ungarischen Ehepaar, das selbst kaum noch Geld gehabt hatte und sie deswegen wenige Tage zuvor entlassen musste. Da war Frau Ehrenstein zweierlei bewusst geworden: erstens, dass diese junge Frau mit ihren zweiundzwanzig Jahren mindestens doppelt so viel erlebt hatte wie sie selbst, die zehn Jahre älter war. Und zweitens, dass sie sich nicht erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal ein so tiefgründiges Gespräch geführt hatte.
Seitdem hatten die beiden sich immer wieder zum Plaudern und Whiskytrinken hierher zurückgezogen. Heimlich, denn Marie fürchtete einen schlechten Stand bei den anderen Dienstboten – sie wollte nicht gleich als Liebling der Herrschaft gelten. Als Frau Ehrenstein sie einmal gefragt hatte, warum sie sich zu den Treffen bereit erklärte, hatte Marie geantwortet:
»Wissen’S, i hackel den ganzen Tag, und danach braucht mich halt mei Mutter. Hier, mit Ihnen, kann i afoch nur sein.«
Marie nahm einen Schluck und schloss die Augen.
»Gut, nicht?« Frau Ehrensteins Freude war unüberhörbar.
»Sehr. Des is a Neuer, net woahr?«
»Gut erkannt! Den hab ich von meinem italienischen Importeur. Ein 15-jähriger Laphroaig. Die Brennerei wird von einer Frau geleitet, können Sie sich das vorstellen? Ein Schotte wieder, aber viel rauchiger als der andere, nicht?«
»Da meint man richtig, man würd eine Zigarre rauchen!«
»Wann haben wir den Letzten ausprobiert? Vor zwei Wochen?«
»Vor einer, gnä’ Frau. Da ham’S g’meint, die Hemden vom gnädigen Herrn wär’n net g’scheit bügelt.«
Dann erzählte Marie von einer Komödie von Franz Antel, in der ein Affe die Hauptrolle spielte. Der Film war erwartungsgemäß etwas seicht, zeigte dafür schöne Bilder von Wien. Frau Ehrenstein berichtete von dem neuen Tony-Christie-Album, das sie sich unbedingt zulegen wollte. Sie unterhielten sich gerade lachend über ein Rülpskonzert von Willi, nachdem er ein halbes Dutzend Kracherl getrunken hatte, als Marie aufstand.
»Wollen’S noch ein Glaserl?«, fragte Frau Ehrenstein eifrig.
»Na. Dank’schön, gnä’ Frau.«
Die junge Frau verließ das Zimmer mit dem Glas in der Hand durch eine Seitentür. Frau Ehrenstein dämmerte, was sie vorhatte. Sie schnappte sich die Whiskyflasche von der hölzernen Anrichte, die als Hausbar fungierte, bevor sie dem Dienstmädchen in die Küche folgte.
»Ach, kann das nicht noch ein wengerl warten?«
»Gnä’ Frau, die Berkovics wird morgen als Erstes schauen, ob ich des Silber a g’scheit poliert hab. Des schaut sonst a bissl deppat aus, wissen’S?«
Marie platzierte Putzmittel und die Besteckschublade auf dem alten Küchentisch, zog sich helle Stoffhandschuhe über und begann mit ihrer Arbeit.
Frau Ehrenstein vergaß gerne, dass ihre kleinen Lügen, um Marie länger dazubehalten, für das Dienstmädchen auch Konsequenzen hatten. Marie war viel zu vernünftig, um ihre Pflichten zu vernachlässigen. Frau Ehrenstein kam sich dumm vor, und in ihr regte sich ein schlechtes Gewissen.
»Na, setzen’S sich her, gnä’ Frau!«, sagte Marie beschwichtigend. »Und schenken’S Ihnen noch was ein. Ich weiß jetzt nämlich, was mit der Bianca los is.«
Ihr Ton verhieß Spannendes, also beeilte sich die Dame, der Einladung zu folgen.
»Sein’S halt net so streng mit ihr, gnä’ Frau. Wenigstens grad im Moment. Der Bianca ihre Tante is hamdraht worden. So a Nachricht würd a jede mitnehmen.«
»Was meinen’S jetzt mit hamdraht?«
»Na, die Tant von der Bianca wurde umgebracht.«
»Das hab ich verstanden. Aber wie? Und wieso?«
»Erdrosselt, hat die Bianca g’sagt. Und wieso? Wer kann des scho sagen? Allerdings gab’s da scho paar Theorien von den andern.«
Behutsam legte Marie eine Gabel auf ein Geschirrtuch und nahm eine neue. Frau Ehrenstein ertrug die Spannung kaum und war kurz davor, die junge Frau anzuherrschen, dass sie endlich Tacheles reden solle. Der alltägliche Klatsch in ihren Kreisen über fremdgehende Ehepartner, Unterschlagungen oder Konkurserklärungen langweilte sie nur noch. Doch ein Mord in ihrer unmittelbaren Umgebung – das war etwas Neues.
»Welche Theorien?«
»Ich weiß ja net, inwieweit Sie den Lokalteil lesen, aber die letzt’n Monat hat’s an Hauf’n solcher Morde geb’n.«
»Einen Haufen?«
»Drei oder vier, glaub ich. Immer ältere alleinstehende Frauen. Immer z’Haus. Erdrosselt und ausg’raubt.«
Frau Ehrenstein erinnerte sich an die kurze Meldung in der Zeitung, die sie an Bela Lugosi und Edgar Wallace hatte denken lassen. Konnte es sein, dass es sich bei der Erwürgten, von der die Rede gewesen war, um Biancas Tante gehandelt hatte?
»Und morgen muss zur Polizei deswegen. Um eine Aussage zmach’n, hat’s g’sagt. Grausliche G’schicht.«
»Sagen’S bloß!«
»Ja, und ihr geht a bissl der Reis, weil’s da allein hinmuss, die arme Seel!«
Frau Ehrensteins Herz schlug schneller, und sie trommelte unruhig mit ihren roten Fingernägeln auf die Arbeitsplatte.
»Tatsächlich? Angst hat’s, die arme Seel …«
Am späten Vormittag war Oskar in der Arbeit und Willi in der Schule. Das Personal war an seinem Platz und verrichtete seine Arbeiten. Als Frau Ehrenstein die Küche betrat und den Anwesenden einen schönen Tag wünschte, zuckten alle zusammen.
Eigentlich sollte sie bei einem Spaziergang mit ihrer Mutter bei der Gloriette sein. Doch als Marie in der Nacht zuvor schließlich die Villa verlassen hatte, war die Dame viel zu aufgekratzt gewesen, um zu Bett zu gehen. Sie hatte den Artikel über die erwürgte Frau noch einmal genauer gelesen.
Am Dienstagnachmittag wurde eine 73-jährige Frau von ihrer Nachbarin tot in ihrem Haus in der Wittegasse aufgefunden. Laut Polizei wies der Leichnam Würgemale auf, Bargeld sowie Wertgegenstände wurden entwendet. Vom Täter fehlt jede Spur.
Doch das hatte ihre Neugier nicht befriedigt, also hatte sie die älteren Zeitungen, die neben dem Kamin als Anheizer aufbewahrt wurden, durchstöbert. Die Presse war eine konservative Zeitung, die sich zwar mehr um Politik und Wirtschaft kümmerte als um Kriminalfälle, aber dennoch hatte Frau Ehrenstein ein paar Informationen finden können. In ihrem eigenen Grätzel, nur ein paar Straßen von ihrer Haustür entfernt, waren in den letzten Monaten offenbar mehrere Raubmorde verübt worden. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass im feinen, verschlafenen Hietzing, das für Frau Ehrenstein immer eine Insel der Seligkeit gewesen war, etwas derart Brutales geschehen konnte. Vielleicht ein paar B’soffene, ein bissl ein Vandalismus oder ein Taschendiebstahl – es war ja eine gute Gegend … Aber dass ein Mörder sein Unwesen trieb, noch dazu einer, der Frauen erwürgte!
Frau Ehrenstein empfand keine Besorgnis oder gar Angst. Schon lange wünschte sie sich, dass sich in ihrem Leben etwas Abenteuerliches ereignete. Und das hier war sogar noch spannender als die Filme, die sie so mochte, denn es war zum Greifen nah.
Neun Jahre war es her, dass die gnä’ Frau in die Ehrenstein’sche Villa gekommen war. Von einem Tag auf den anderen war sie vom Mädchen Helene zur Dame Frau Ehrenstein geworden. Sie stammte aus gut situiertem Elternhaus und hatte eine hervorragende Bildung erhalten, war also keine schlechte Partie. Doch die Familie Ehrenstein gehörte zu den reichsten, angesehensten und traditionsreichsten Familien Wiens. Durch ihre Heirat war Helene zwar in höhere Kreise aufgestiegen, aber sie gehörte nicht recht dazu. In ihrem Elternhaus hatten Ungezwungenheit und Herzlichkeit geherrscht, einen so großen und alteingesessen Haushalt mit zahlreichen Angestellten wie die Villa Ehrenstein kannte sie nur von Besuchen. Ihre Schwiegereltern wirkten kühl und unnahbar. Außerdem empfanden sie Helenes Geschmack als zu modern, und auch ihre Vorliebe für Whisky wurde mit Naserümpfen aufgenommen. Vor allem Frau Berkovics, die schon seit dem Krieg im Dienste der Familie stand, hatte sie das spüren lassen. Subtil, selbstverständlich, mit aufgesetzt höflicher Gegenrede, mit spitzen Bemerkungen und Augenrollen, wenn sie sich unbeobachtet wähnte. Zunächst hatten diese Sticheleien Frau Ehrenstein verletzt, doch inzwischen riefen sie nur noch ihren Trotz hervor. Mitunter rächte sie sich, indem sie die Haushälterin absichtlich herausforderte, ihr deutlich machte, dass sie die Herrin dieses Hauses war – selbst wenn sie diesem Posten mittlerweile nicht mehr viel abgewinnen konnte. Es war ein Zeitvertreib, wenn auch kein sehr unterhaltsamer. Sie wusste, dass ihre Bedeutung in diesem Haus in Wahrheit nur sehr gering war.
Für ihre geänderten Pläne hatte sie sich eine besondere Garderobe ausgesucht. Wie immer trug sie die Perlenkette, die sie einst von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte. Dazu eine elegante Hochsteckfrisur und einen klassischen grauen Hosenanzug, der ihr, wie sie hoffte, ein seriöses Auftreten verlieh.
Erst als es aus Richtung des Herds laut zu brutzeln begann, lösten sich die Bediensteten aus ihrer Erstarrung. Der Koch rüttelte am Pfannengriff, Bianca zerkleinerte weiter die Paradeiser, nur Marie starrte ihre Arbeitgeberin einen Moment länger an, als es sich schickte.
»No, was haben’S denn heute Feines, Herr Zodl?«, fragte Frau Ehrenstein.
Von der Pfanne stieg eine Duftmelange aus Zwiebeln, Knoblauch und Fett auf. Die gnä’ Frau selbst war sehr auf ihre Figur bedacht. Helles Fleisch, etwas Gemüse, ein wenig Reis oder ein paar Nockerl waren ihre bevorzugten Speisen. Oskar und Willi hingegen konnten nicht genug von der fettigen Küche des Herrn Zodl bekommen. Der Hausherr schätzte die Gerichte seines Kochs so sehr, dass er sie sich vom Chauffeur ins Büro bringen ließ.
»A Paprikahendl, gnä’ Frau. Mit Salzkartoffeln. Ham’S … ham’S Hunger?« An seinem roten Gesicht liefen Schweißperlen hinunter.
»Nein danke, sehr freundlich, Herr Zodl! Ich nehm nur einen kleinen Braunen!«
Marie trocknete sich die Hände ab und ging zur Kaffeemaschine.
»Bianca …«, begann Frau Ehrenstein, wurde jedoch von Frau Berkovics brüsk unterbrochen.
»Es ist Zeit, Mädel! Ich übernehm jetzt! Gnä’ Frau! Was … Ich wollt grad …«
»Ja, Frau Berkovics, Sie hatten ja heute bei der Personalkontrolle schon erwähnt, dass Bianca einen wichtigen Termin hat.«
»So isses, gnä’ Frau. Und sie muss jetzt los, sonst kommt sie z’spät.«
»Wunderbar! Ich werde sie begleiten.«
Die Hausherrin lächelte und wartete gelassen auf den zu erwartenden Protest.
»Aber gnä’ Frau!«, setzte Frau Berkovics an. »Des is do net nötig! Die Bianca …«
»Die Bianca ist seit gestern völlig aufgelöst. Jetzt ist mir klar, dass das wegen diesem Termin ist! Also greif ich dem armen Hascherl unter die Arme und helf ihm a bissl.«
Den Blick weiterhin fest auf Frau Berkovics gerichtet, griff Frau Ehrenstein nach der Kaffeetasse, die ihr Marie von hinten reichte.
»Oder gibt’s dagegen was einzuwenden?«
»Selbstverständlich nicht, gnä’ Frau!« Frau Berkovics blickte sie herausfordernd an. »Es ist nur … Die Umständ sind etwas delikat. Als Dame sollte ma sich nicht damit befassen müssen …«
»Ihre Besorgnis rührt mich. Kommen’S jetzt, Bianca, je schneller wir das hinter uns bringen, desto eher kehrt hier Ruhe ein.«
Ruhe war selbstverständlich das Allerletzte, wonach Frau Ehrenstein sich sehnte. Doch die anderen sollten gern glauben, dass sie ihre Pflichten als Hausherrin ernst nahm.
Bianca knickste und verließ eiligen Schrittes den Raum.
»Na, dann werd ich mich auch besser fertig machen. Oder gibt’s noch was, Frau Berkovics?«
»Nein, gnä’ Frau.«
Die Haushälterin nahm Biancas Platz ein, und mit geschickten Bewegungen zerteilte sie einen Paradeiser. Tunlichst vermied sie dabei Blickkontakt mit den Anwesenden.
Das Haus in der Berggasse im 9. Wiener Gemeindebezirk war durchaus hübsch anzusehen, wenn auch nicht vergleichbar mit den kaiserlich-gelben Gebäuden in Hietzing. Es hatte eine stuckverzierte Fassade, große Fenster, und am Eck reckte sich ein runder Turm in die Höhe. Dennoch war Frau Ehrenstein ein wenig enttäuscht. In den Filmen wurden vor Polizeistationen wild um sich tretende Verbrecher in Handschellen abgeführt. Manchmal floh sogar einer, ab und zu gab es Schießereien. Das Sicherheitsbüro, die kriminalpolizeiliche Dienststelle der Wiener Polizei, sah wie jedes x-beliebige Gebäude aus.
Vom Eingang wurden Bianca und Frau Ehrenstein in den ersten Stock geführt, wo sie nach kurzem Warten bei einer Vorzimmerdame in ein Büro eintreten durften. Hinter einem opulenten Schreibtisch saß ein Mann Mitte fünfzig mit Halbglatze, hoher faltiger Stirn und ordentlich gestutztem Schnurrbart. Ein wenig erinnerte er die gnä’ Frau an Hercule Poirot in Die Morde des Herrn ABC.
Als die Frauen eintraten, erhob er sich und setzte seine schwarze Hornbrille ab. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihnen, auf zwei Holzstühlen Platz zu nehmen. Dann sank er selbst in seinen Ledersessel und legte die Hände gefaltet vor sich auf den Tisch. Sein Blick war warm, wenn auch aufmerksam, seine Miene betont seriös und dem Ernst der Situation angemessen. Frau Ehrenstein fragte sich, ob er diesen Gesichtsausdruck einstudiert hatte und ob es für Polizisten eine Art Schulung gab, welche Mienen man zu welchen Anlässen aufsetzte.
»Fräulein Taschner, ich bin der leitende Beamte in diesem Fall. Hofrat Simmel. Zuallererst möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen, Fräulein. Standen Sie Ihrer Tante nahe?«
Sie nickte, bevor sie leise antwortete: »Wir haben jed’n Tag telefoniert. Ich hab so ein, zwei Mal die Woche bei ihr vorbeig’schaut. Ich arbeit ja ganz in der Nähe.«
Sie warf einen unsicheren Seitenblick auf Frau Ehrenstein, die dem Gespräch angeregt folgte und nun ihrerseits bestätigend nickte.
»Hmmm. Und Sie sind …«
»Mein Name ist Helene Ehrenstein. Fräulein Taschner ist mein Dienstmädchen.«
»Aha. Und wohnhaft in …?«
»Gloriettegasse 3a. 1130.«
»Und Sie kannten Frau Hartl?«
»Wen?«
»Das Opfer. Sophie Hartl.«
Das Wort brachte ihren Magen zum Kribbeln.
»Nein, nein. Ich denke nicht.«
»Sie denken nicht?«
»Nun, es könnte ja sein, dass ich ihr einmal über den Weg gelaufen bin. Vielleicht sogar ein paar Worte mit ihr gewechselt hab, nicht wahr? Wenn sie so in meiner Nähe gewohnt hat … Wo genau war das noch mal?«
Die letzte Frage hatte sie an Bianca gerichtet.
»In der Wittegasse. Ein kleines Häuschen.«
Das war in Unter St. Veit, keine zehn Autominuten von der Villa Ehrenstein entfernt. In dieser Gegend gab es es viele solcher kleiner Gassen.
»Ah! Ums Eck vom Klimt-Atelier?«
Simmel und Bianca nickten gleichzeitig, und die junge Frau fügte noch hinzu: »So ungefähr, ja.«
Schweigen fiel über den Raum. Bianca senkte den Blick, Frau Ehrenstein lächelte freundlich in die Runde, und Simmel schaute ins Narrenkastl. Dann schnappte er plötzlich lautstark nach Luft, schob nervös die Papierstapel auf seinem Schreibtisch hin und her und wandte sich wieder Bianca zu.
»Haben Sie Ihre Tante am besagten Tag gesehen oder gesprochen?«
»Welcher war das noch mal?«, fragte Frau Ehrenstein.
Die Furchen in der breiten Stirn des Polizisten wurden noch tiefer, doch nach kurzem Zögern antwortete er:
»Vorgestern. Am 8. Februar.«
»Und … Sie ist erdrosselt worden, nicht wahr?« Frau Ehrenstein konnte ihre Neugier kaum bändigen.
Bianca antwortete zögerlich: »J-ja. So war’s.«
»Mit den Händen oder mit einem Seil?«
»Einem … einem Kabel, glaub ich.«
»Frau Ehrenstein!«, platzte es aus dem Hofrat heraus, und er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Bianca zuckte zusammen und begann bitterlich zu weinen.
»Na, gehn’S! Jetzt haben’S es erschreckt!« Frau Ehrenstein tätschelte dem Dienstmädchen die Schulter, wie um ein aufgeschrecktes Reh zu beruhigen.
»Frau Ehrenstein, was genau machen Sie eigentlich hier, wenn ich fragen darf?«
»Oh, selbstverständlich dürfen Sie das! Ich bin hier, um das Fräulein Taschner zu unterstützen. Sie sehen ja, sie ist ein Wrack!«
Bianca fischte aus ihrer Handtasche ein elegantes Stofftaschentuch und schnäuzte sich hingebungsvoll. Frau Ehrenstein bemerkte kunstvolle Blumenstickereien und Initialen. War das ein O und ein E? Oder ein M?
»Frau Ehrenstein. Ich wär Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie nur sprechen würden, wenn Sie gefragt werden!«
Frau Ehrenstein war empört. Ihr erster Impuls war, dem Hofrat eine Liste mit Namen der einflussreichsten Wiener aufzuzählen, mit denen sie bekannt war. Doch um an diesem Abenteuer weiter teilhaben zu können, musste sie sich wohl oder übel zurückhalten.
Also nickte sie ihm nur majestätisch zu. Bianca hatte sich mittlerweile so weit beruhigt, dass der Polizist sie weiter befragen konnte. Er erkundigte sich nach den Gewohnheiten ihrer Tante, nach Freunden und eventuellen Feinden. Doch anscheinend war das Leben der alten Frau ziemlich unaufgeregt gewesen. Sie hatte nur noch Bianca und ihre Mutter gehabt, abgesehen von ein paar befreundeten Nachbarn hatte sie auch keinen Besuch empfangen.
Nach einiger Zeit blickte der Hofrat wiederholt auf seine kostspielige Armbanduhr. Im Laufe dieser zwanzig Minuten hatte er kaum etwas zum Fall erzählt, lediglich auf Biancas Fragen bezüglich des weiteren Prozederes geantwortet.
»Mein Adjutant Raab wird noch die letzten Formalitäten erledigen.«
Er stand auf, um das Gespräch für beendet zu erklären. Auf Frau Ehrensteins Zunge brannten noch Hunderte Fragen. Einerseits war ihr klar, dass sich der Polizist bei zu neugierigen Erkundigungen noch mehr verschließen würde. Andererseits konnte sie der Versuchung, noch einmal ungefragt das Wort an ihn zu richten, nicht widerstehen.
»Herr Hofrat, entspricht es der Wahrheit, dass solche Morde in letzter Zeit häufiger vorgekommen sind?«
Seine Freundlichkeit vom Beginn des Gesprächs war verflogen. Nun schaute er sie nur noch abschätzig an. Frau Ehrenstein hatte sich das Ganze einfacher vorgestellt. Bei Miss Marple plauderte doch auch jeder gleich aus dem Nähkästchen.
Er öffnete ruckartig die Tür und stellte sich in militärischer Strenge daneben.
»Dazu kann ich nichts sagen. Habe die Ehre, meine Damen.«
Simmel hatte ihnen die Richtung gewiesen, und auf der Suche nach dem Büro des Adjutanten wanderten sie durch die langen Gänge mit unendlich vielen Zimmern. Männer und Frauen eilten geschäftig an ihnen vorbei, ohne ihnen Beachtung zu schenken.
Vom Ende des Flurs erhob sich ein lebhaftes Stimmengewirr. Dort keiften sich zwei Frauen immer lauter und mit immer obszöneren Ausdrücken an, während zwei jüngere Frauen und ein unglücklich dreinschauender Mann sie voneinander fernzuhalten versuchten.
»Das nehmen’S zrück, Sie Schastrommel!«
»Sie … Sie Trampel! Sie können ma in Buckl awirutschn und mit da Zungn bremsn!«
Für ihr fortgeschrittenes Alter erstaunlich agil sprang die eine nach vorne und riss der anderen den grauen Stoffhut vom Kopf. Nur mit größter Anstrengung konnte die Angegriffene von einem Gegenangriff abgehalten werden.
Die Tür des Büros, vor dem der Bahöl stattfand, wurde mit Schwung aufgerissen. Ein hochgewachsener junger Mann mit Bürstenhaarschnitt trat heraus. Er baute sich vor den Prügelnden auf, wurde allerdings erst wahrgenommen, als er sich zwischen sie drängte.
»Frau Neumeir, Frau …« Er schob seinen kräftigen Arm vor eine der Frauen, die gerade auf die andere losgehen wollte. »FRAU VASICEK! Gehn’S, meine Damen, wir ham des doch besprochen.«
»Ja, oba die kann die Fotzn net halten!«, echauffierte sich Frau Neumeir, die immer noch den grauen Hut in ihrer Faust hielt.
»Was kann i dafür, dass derer Pleampel alleweil umadumpudert?«
»Sie …«
»Ruhe!«
Sein scharfer Ton ließ die Frauen endlich verstummen.
»Wenn Sie nicht imstande sind, die Sache fallen zu lassen, möcht ich Sie bitten, einen Anwalt aufzusuchen. Die Polizei is für so was net zuständig.«
Zögerlich ließen die Frauen voneinander ab und gingen unter geflüsterten Beleidigungen und Verwünschungen mit ihren Begleitern auseinander.
Als der Mann sich zur Tür umwandte, bemerkte er Frau Ehrenstein und Bianca und verharrte mit unbewegter Miene.
»Vielleicht könnten’S uns behilflich sein. Wir sind auf der Suche nach dem Adjutanten Raab«, eröffnete die Dame das Gespräch.
»Wozu brauchen’S ihn denn?«
»Der Hofrat Simmel schickt uns zu ihm.«
»Ach ja, Fräulein Taschner, nehm ich an?«, fragte er an Bianca gewandt.
»Ja, das bin ich«, hauchte sie.
Er wies die Frauen mit einer ausladenden Armbewegung in das Büro.
»Bitte entschuldigen Sie die Handgreiflichkeiten da draußen. Unglücklicherweise findet der Bassenatratsch seinen Weg immer wieder zu uns.«
Obwohl Frau Ehrenstein noch nie das Wasserbecken am Gang eines Wohnhauses in Anspruch nehmen musste, war ihr dieses Wort geläufig. Über die schmutzigsten Bassenaprozesse wurde auch in den Zeitungen berichtet. Ehrbeleidigungsklagen, die ihren Ursprung beim Tratsch während des Wasserholens hatten.
»Wir müssen allen Hinweisen nachgehen«, fügte er hinzu. »Auch wenn es sich augenscheinlich um Querulanten handelt.«
Sein Büro war nur ein Drittel so groß wie das seines Vorgesetzten und wirkte noch kleiner, da es mit schweren Aktenschränken und Bücherregalen vollgestopft war und eine schreckliche Unordnung herrschte. Als sie Platz genommen hatten, stellte der Adjutant zunächst dieselben Fragen wie wenige Minuten zuvor der Hofrat Simmel und gab Bianca ein paar Schriftstücke zum Unterschreiben.
»Ihre Mutter hat schon aufgeschrieben, was fehlt. Wollen’S vielleicht noch einen Blick draufwerfen? Ich wollt nur sichergehen, dass Ihre Mutter auch nichts vergessen hat. Vielleicht waren nicht mehr alle vermissten Gegenstände im Besitz Ihrer Tante, vielleicht hat sie manche schon verschenkt oder verkauft, und Ihre Mutter hat das nicht gewusst. Wissen’S?«
Die Hände des Mädchens zitterten leicht, und Frau Ehrenstein nutzte die Möglichkeit, um näher zu rutschen. Sie tätschelte Biancas Arm und warf dabei einen heimlichen Blick auf die Liste, die vor ihr lag. Ringe, Ketten, Armbänder, ein geringer Betrag Bargeld, einzelne Sammelmünzen.
»Herr Adjutant …«, begann Frau Ehrenstein, während Bianca noch das Dokument studierte.
»Major, bitte.«
»Herr Major, gibt es eventuell Fotos vom … Tatort? Vielleicht fallt dem Fräulein noch was ein, wenn sie’s vor sich sieht.«
Dabei setzte sie eine bemüht unschuldige Miene auf.
Raab war offenbar weniger misstrauisch als sein Vorgesetzter. Ohne sich lange bitten zu lassen, nahm er zwei Bilder aus einer Mappe und schob sie Bianca zu. Eines zeigte eine Kommode, auf der eine leere Schmuckschatulle lag, ein anderes mehrere herausgerissene Schubladen. Die junge Frau schluchzte auf, sah sich dann aber alles pflichtschuldig genau an. Frau Ehrenstein vergewisserte sich, dass die Aufmerksamkeit des Polizisten auf ihrem Dienstmädchen lag. Dann nahm sie die aufgeschlagene Mappe genauer in Augenschein. Es lagen noch andere Fotos darin, und von jedem gab es mehrere Kopien, viele zeigten das Innere des Hauses, ein Vorzimmer mit Garderobe und einem kleinen Tischchen, ein Stiegenaufgang, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, die Küche. Manche Details sah man noch einmal in Nahaufnahme.
Von den Bildern, die weiter unten im Haufen lagen, konnte sie nur Ausschnitte erkennen: eine Hand, die auf etwas ruhte, was wie die Lehne eines grünen Plüschsessels aussah, auf einem anderen nur eine Türklinke.
»Aus … aus reinem Interesse: War die Haustür aufgebrochen?«
Es dauerte einen Augenblick, bevor er antwortete.
»Nein, es gab keine Anzeichen eines Einbruchs.«
»Das heißt … sie hat ihn reingelassen?«
»Das könnte es heißen, ja.«
»Also hat sie ihn gekannt?«
»Nicht unbedingt.«
Neben ihr sog das Dienstmädchen scharf Luft ein.
»Na, des is unmöglich! Meine Tant …«, sie schluckte hörbar, bevor sie fortfuhr, »Meine Tant hätt so jemand nicht kannt!«
»Es tut mir sehr leid, Fräulein. Möchten Sie lieber aufhören?«
Biancas Arm kam so gach vorgeschossen, dass Raab zusammenzuckte. Sie legte ihre Hand auf seine.
»Das is so lieb von Ihnen! So … anständig!«
»Ähm …« Raabs Gesicht wurde rot.
»Aber ich werd’s durchstehen! Für meine Tant. Und die Polizei.« Sie hauchte das letzte Wort.
Er fand seine Haltung wieder, räusperte sich und fragte:
»Ist Ihnen also was aufgefallen?«
»Nein, ich glaub, des passt, was meine Mutter an’geben hat. Aber, mir is no was eing’falln: Die Tant hat in ihrer Matratze noch Geld g’habt.«
»Unter ihrer Matratze?«, fragte der Major.
»Na. Drin. Sie hat den Banken nicht traut. Also, nicht genug, dass sie denen ihr ganzes Erspartes überlassen hätt. Sie hat’s in an Spalt in der Matratze g’stopft g’habt.«
Raab runzelte die Stirn. »Fällt Ihnen noch was ein?«
»Nein. Nein, im Moment nicht.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, meine Damen!«
Bevor er den beiden die Tür aufhalten konnte, griff Bianca nach seinem Arm.
»Dank’schön vielmals, Herr Major! Sie war’n so … einfühlsam.«
»Ähm.« Die Ohren des jungen Mannes verfärbten sich von Weiß zu Zuckerlrosa.
»Oh! Jetzt hab ich doch meine Tasche stehen lassen!«, rief Frau Ehrenstein. Während sie wieder zu seinem Schreibtisch eilte, hörte sie Bianca flöten: »Bitte, bitte finden’S dieses … Monster! Ich hab vollstes Vertrauen in Sie. Und wenn’s was gibt, was ich tun kann, lassen’S mich’s wissen!«
Mit der Handtasche demonstrativ vor sich hinwedelnd befreite Frau Ehrenstein ihn aus seiner Zwangslage, indem sie sich zwischen den beiden hindurchpresste, um die Türe zu öffnen.
»Ja, sein’S so lieb und richten dem Hofrat unsern Dank aus. Sie melden sich bitte, wenn’s was Neues gibt! Hopp, hopp, Bianca, wir wollen ja nicht den ganzen Tag da verplempern!«