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Originalausgabe, November 2021
© Production House GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Coverfotos: Adobe stock
Umschlaggestaltung:
Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de
ISBN print 978-3-86361-924-4
ISBN e-pub 978-3-86361-925-1
ISBN pdf 978-3-86361-926-8
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt
Lilly Conen
Unentbehrlichkeit der Liebe 2
Kampf zurück ins Leben
Kapitel 1
Nach all dem Chaos, dem auf und ab, und den Rückschlägen und Fortschritten, hat Kai tatsächlich Ja gesagt. Er hat sich dafür entschieden mit Christian den Start in eine neue, gemeinsame Zukunft zu wagen. Lange liegen sie schweigend aneinander gekuschelt da und Kai versucht, gegen seine Angst anzukämpfen. Sein Kopf sagt ihm im Minutentakt, dass es ein Fehler ist. Dass er Christian enttäuschen wird. Dass er nur zwei Möglichkeiten in dieser Beziehung hat. Entweder, er macht so weiter wie bei Matthias und stellt sich komplett hinten an, um Christian das zu geben, was dieser will und damit nicht das Risiko einzugehen, Christian zu enttäuschen, oder er zeigt Christian sein kaputtes Ich, vertraut diesem seine schutzlose Seele an und hofft, dass Christian nie die Geduld und das Verständnis verlieren wird. Kai ist sich bewusst, wenn er jetzt sein Herz komplett und mit voller Hingabe Christian schenken wird, dass er Christian damit die Macht über sein Leben geben wird. Dass er Christian damit die Macht gibt, ihn zu töten, denn er würde es nicht überleben, würde Christian wieder gehen. Und beide Optionen, die momentan in seinem Kopf schwirren, machen ihm Angst. Er will weder die eine noch die andere und weiß, dass er Christian versprochen hat, dass Variante 1 nie in Kraft treten wird. Also bleibt nur die zweite Option übrig, doch auch die ist so furchteinflößend, dass Kai wegrennen will. Aber da ist Christians warmer Körper, seine sanften Berührungen und liebevolle Küsse auf seiner Stirn. Christian, den Kai nicht verlieren will, der ihm unglaublich wichtig ist. Christian, der die einzige Person auf der Welt ist, der er vollständig vertraut. Und deshalb rennt er nicht weg. Deshalb bleibt er liegen. In Christians Armen. Kämpft gegen seine Angst, bis sie zumindest für den Moment langsam verblasst.
„Was ist gestern Abend passiert?“, fragt dann Christian vorsichtig nach, als er merkt, dass Kai ruhiger wird.
Er weiß, dass er damit das Risiko eingeht, Kai wieder in Panik zu versetzen, aber er muss wissen, was passiert ist. Er muss wissen, was Matthias gestern angerichtet hat, auch wenn er schon mal beruhigt ist, dass Kai äußerlich unverletzt ist.
Kai bleibt erstaunlich ruhig. Er ist von sich überrascht und weiß, dass der einzige Grund, wieso er nicht wieder panisch wird, die völlige Sicherheit ist, welche Christian ausstrahlt. Trotzdem muss er sich zuerst sammeln. Vergräbt erneut sein Gesicht kurz in Christians Halsbeuge, während Christians Finger seinen Nacken kraulen und mit den feinen Härchen spielen.
„Ich war auf dem Klo und als ich wieder aus der Kabine kam, war da plötzlich Matthias.“
Er erzählt, was passiert ist, und die Erinnerungen werden greifbar und präsent in seinem Kopf. Er kann nicht verhindern, dass die Angst zurückkommt. Zittrig atmet er deshalb aus, während er seine Finger in Christians Shirt festkrallt, um Halt zu finden. Christian streichelt weiterhin beruhigend über seinen Rücken und krault seinen Nacken.
„Er kam dann zu mir und ich … ich wollte weg, aber dann waren wir in der Kabine und Matthias hat sie verschlossen … ich konnte das Klick hören und ich wusste, jetzt ist es zu spät …“
Christian setzt sanfte Küsse auf Kais Stirn, um ihn zu beruhigen ...
„Er hat gesagt, ich würde es nicht verdienen, hier lebend wieder rauszukommen“, flüstert dann Kai mit brüchiger Stimme.
Christian muss schlucken, als er diese Worte hört und schließt seufzend die Augen. Er umarmt Kai, dreht sich komplett auf den Rücken und zieht dabei Kai mit sich, so dass dieser auf ihn zu liegen kommt. Dann zieht er die Decke über Kai, um ihm Halt von allen Seiten geben zu können.
„Hat er dir irgendwas getan?“, fragt Christian vorsichtig nach und verflucht sich gleichzeitig selbst, dass seine eigene Stimme so zittrig ist.
„Er hat mich … gewürgt und dann … dann hat er mich geküsst ...“
Christian schnaubt hörbar auf. Wie kann jemand nur so widerwärtig sein? Kai versteht das Schnauben jedoch falsch.
„Ich wollte das nicht, wirklich nicht!“, beteuert er aufgebracht, während er verzweifelt zu Christian hochblickt.
Er wollte Matthias nicht küssen. Er wollte das alles gar nicht.
„Hey, ich weiß Hase, alles gut, du hast nichts falsch gemacht“, erwidert Christian direkt, während er durch Kais Haare streicht.
Kai blickt für ein paar Sekunden in Christians Augen, um sicherzugehen, dass dieser nicht von ihm enttäuscht, oder wütend ist. Dann bettet er seinen Kopf wieder auf Christians Brust.
„Irgendwann hat sein neuer Freund nach ihm gerufen und er ist gegangen.“
Christian gefällt der Gedanken nicht, dass Matthias einen neuen Freund hat, denn er kann sich nicht vorstellen, dass Matthias sich in einer Beziehung jemals anders benehmen wird. Der neue Freund tut Christian leid, denn vermutlich wird es bei diesem nicht anders enden als bei Kai. Trotzdem ist Christian froh, dass nicht mehr Kai an Matthias‘ Seite steht.
„Willst du zur Polizei?“, fragt Christian ernst, doch Kai schüttelt direkt seinen Kopf.
„Ich hab ja keine Beweise und Zeugen gibt es keine … und ich will es nur vergessen“, nuschelt er an Christians Brust.
Christian bleibt darauf hin still. Er würde Matthias liebend gerne anzeigen und diesen hinter Gitter bringen. Aber er weiß, dass es verdammt schwer wird, auch wenn Matthias momentan auf Bewährung ist. Kai hat recht, es gibt keine Beweise. Es würde nur Befragungen und Anschuldigungen nach sich ziehen, welche Kai belasten und Matthias wütender machen. Auf beides kann Christian verzichten. Deshalb versucht er nicht, Kai vom Gegenteil zu überzeugen. Aber etwas anderes kann er nicht länger verschweigen. Vor allem nach dem Satz ‚ich will es einfach nur vergessen’.
„Hast du auch gehört, was Linus noch gesagt hat?“, fragt er deshalb leise nach.
Kais Körper, der sich daraufhin anspannt, gibt Christian die Antwort. Ja, er hat es gehört.
„Hase, du brauchst Hilfe … professionelle Hilfe“, flüstert Christian.
Kai schüttelt zögerlich seinen Kopf. Ein Versuch, dem Offensichtlichen zu entkommen, denn Kai ist nicht dumm und weiß schon lange, dass er Hilfe bräuchte, weil er es allein nicht schaffen wird. Doch die Angst ist zu groß. Er will nicht wieder zu irgendeinem Psychologen.
„Frau Baumgartner ist sehr sympathisch und erfahren. Wir überweisen häufig Patienten an sie. Sie wird dir helfen können“, redet Christian unbeirrt weiter.
Jetzt schnaubt Kai auf.
„Woher willst du das wissen?! Logisch musst du das sagen, wenn sie mit euch zusammenarbeitet.“
„Ich weiß es, weil ich selbst bei ihr war … als Patient“, erwidert Christian ruhig.
Erstaunt blickt Kai hoch in Christians Gesicht. Nie hätte er gedacht, dass Christian bei einem Psychologen war. Abgesehen von der Standartbetreuung im Waisenhaus.
„Auch für mich war es nicht leicht, allein in dieser Welt klarzukommen“, antwortet Christian mit einem traurigen Lächeln.
Auch Christian hatte zu kämpfen, als er nach Berlin kam. Die zweite Ausbildung im Krankenhaus war körperlich und psychisch belastend und hat ihm viel abverlangt. Gleichzeitig fühlte er sich so allein wie schon lange nicht mehr. Mit dem Verlassen des Waisenhauses hatte er jeden sicheren Kontakt, den er hatte, verloren. Holger, Jakob, Olli und Kai waren alle weg und es war niemand da, der ihn auffangen konnte, so dass ihm der Verlust seiner Eltern und die daraus folgenden Konsequenzen in seiner Kindheit viel präsenter wurden. Das war zu viel für Christian, weshalb er bereits im ersten Ausbildungsjahr von seiner Lehrmeisterin zu Frau Baumgartner geschickt wurde. Natürlich war auch er damals von dieser Idee nicht begeistert, aber ohne diese Gespräche hätte er seine Ausbildung niemals erfolgreich beenden können und würde heute nicht mit beiden Beinen im Leben stehen.
„Versteh mich nicht falsch, Hase. Ich will dich nicht an jemand abschieben … aber ich kann nicht alles wieder heil machen, was Matthias zerstört hat … so sehr ich es möchte.“
„Ich weiß …“
Die Antwort ist leise, aber ehrlich. Er weiß, dass Christian das nicht macht, weil er ihn loswerden will, sondern im Gegenteil. Weil er ihn liebt. Für Kai ist das immer noch absurd, aber er kann es spüren. Er spürt, dass Christian ihn liebt, und es tut gut. Es macht Angst, aber es tut auch wahnsinnig gut.
„… okay …“, sagt er nach kurzem Schweigen.
Wieder ist Kais Stimme leise und voller Unsicherheit, aber er gibt Christian die Erlaubnis, die nötigen Schritte einzuleiten, und er sagt sich selbst mit diesem ‚okay’, dass es in Ordnung ist, Hilfe zu holen.
Christian ist wahnsinnig erleichtert, als er von Kai das Go bekommen hat, denn er kann ihn schlecht zwingen. Keine Therapie hilft, wenn Kai sich nicht darauf einlässt.
Noch am selben Tag ruft er bei der Psychologin an. Dass ein Feiertag ist, ist Christian egal. Er will Kai so schnell wie möglich Hilfe besorgen.
„Christian? Hi, Happy New year“, begrüßt ihn Sandrine am Telefon.
„Hallo, Sandrine. Auch dir ein frohes neues Jahr“, grüßt Christian die Psychologin zurück.
„Alles in Ordnung? Du klingst bedrückt.“
Christian muss leise lächeln. Ja, Sandrine ist die perfekte Ansprechstelle.
„Du, ehrlich gesagt nein. Ich brauch deine Hilfe. Eigentlich nicht ich, sondern mein Freund.“
Sandrine bleibt stumm, weshalb Christian weiterspricht.
„Er hatte das gleiche Schicksal wie ich … wir sind zusammen im Waisenhaus aufgewachsen, aber er hatte es deutlich schlechter weggesteckt als ich … und dann hatte er diese toxische Beziehung, die auf physischer und psychischer Gewalt basierte. Das hat ihn völlig zerstört.“
Seufzend atmet Christian aus. Er will Sandrine nur grob die Umstände schildern. Alles andere will er Kai überlassen.
Sandrine bleibt kurz still, bevor auch sie seufzt.
„Das klingt nicht gut, aber Christian, ich bin völlig ausgelastet und du weißt, dass ich außerdem nur noch überwiesene Patienten annehmen kann.“
„Eine Überweisung ist das geringste Problem. Sandrine, ich kann für ihn zehn Überweisungen einleiten lassen, wenn‘s sein muss.“
Wieder seufzt Sandrine.
„Bitte, Sandrine. Er braucht wirklich, wirklich dringend Hilfe“, fleht Christian.
„Okay … schick ihn morgen um 17 Uhr vorbei. Und ne Überweisung brauche ich trotzdem. Aber eine reicht“, schmunzelt Sandrine und Christian atmet erleichtert auf.
„Danke, Sandrine. Du bist die Beste!“
Sandrine lacht kurz leise, bevor sie wieder ernst wird.
„Und wie geht es dir?“, fragt sie dann.
„Solange du ihm hilfst, geht’s mir gut.“
„Ich geb mein Bestes“, versichert Sandrine nochmals, bevor sie das Telefonat beenden.
Erleichtert lehnt sich Christian im Sofa zurück und schließt kurz die Augen, bevor er sich erhebt und zu Kai, der das Abendessen zubereitet, in die Küche geht. Sofort dreht sich Kai nervös vom Herd weg und Christian zu. Er weiß, dass Christian mit der Psychologin telefoniert hat. Er wollte nicht dabei sein. Jetzt ist er nervös, was Christian ihm berichten wird.
„Morgen um 17 Uhr“, informiert ihn Christian, während er sich Kai gegenüber an die Wand lehnt.
„Oh … so schnell!“
Einerseits ist Kai froh, dass alles in die Wege geleitet ist und er keinen Rückzieher machen kann, andererseits macht es ihm Angst, dass alles so schnell gehen wird.
Christian streckt stumm seine Hand in Kais Richtung aus. Zögerlich greift Kai danach und verschränkt ihre Finger.
„Ich bin bei dir, okay? Du musst da nicht allein durch.“
Kai nickt und lächelt Christian dankbar an. Dieser lächelt zurück, zieht Kai zu sich und der lässt sich nur zu gerne gegen den warmen Körper fallen.
„Es wird alles wieder gut werden“, verspricht ihm Christian, bevor er einen Kuss auf Kais Stirn haucht.
Kai nickt an Christians Brust. Er vertraut Christian, dass dieser recht haben wird. Was anderes bleibt ihm nicht übrig als zu vertrauen und hier in Christians Armen fühlt sich diese Option gar nicht so schlecht an.
Kapitel 2
Obwohl sich Kai in dem Moment, als er an Christians Körper gekuschelt in der Küche stand, sicher war, dass es die richtige Entscheidung ist, sich bei dem Gedanken daran sogar gut fühlte, kommt die Panik am Abend zurück. Als die Sonne unterging, die kraftspendenden Sonnenstrahlen wegfielen, kroch sie langsam seinen Körper hoch. Am Anfang noch subtil und bekämpfbar, aber spätestens dann nicht mehr zu ignorieren, als der Abend spät und es Zeit wurde sich schlafenzulegen. Wo man nicht mehr sagen könnte, alles easy, das ist erst morgen. Und deshalb bleibt er verloren und verunsichert auf dem Sofa sitzen, als der Fernseher längst ausgeschaltet wurde und Christian bereits zum anderen Ende des Wohnzimmers gegangen ist. Dieser dreht sich zu Kai um, als ihm bewusst wird, dass Kai ihm nicht folgt. Das Bild, welches sich ihm bot, gefällt ihm nicht, denn Kai ist das Elend ins Gesicht geschrieben. Aufmunternd blickt Christian Kai entgegen und streckt auffordernd seine Hand aus. Kai seufzt, atmet tief durch, steht auf und geht zu Christian. Ihr Hände verschränken sich perfekt ineinander, als wenn sie Magnete wären, und Christian drückt aufmunternd zu, bevor er mit Kai im Schlepptau den Weg fortsetzt. Im Flur bleibt er erneut stehen.
„Wo willst du schlafen?“, fragt er, während er zwischen den zwei Zimmertüren hin und her blickt.
„Kannst du über Nacht bei mir bleiben?“, fragt Kai schüchtern und leise nach.
Er braucht immer noch viel Überwindung solche Dinge zu fragen und auszusprechen. Die Angst, abgewiesen zu werden, ist fest in ihm verankert. Ein weiterer Grund, wieso er dringend zu diesem Termin morgen gehen sollte.
„Natürlich“, kommt es direkt etwas überrascht von Christian.
Für ihn ist es selbstverständlich, dass er Kai in solch einer Situation nicht allein lässt. Besonders nicht jetzt, wenn sie zusammen sind. Er wollte nur wissen, in welchem Bett und in welchem Zimmer Kai sich wohler fühlt. Er ist überrascht, als Kai in seine Richtung nickt. Er hatte damit gerechnet, dass Kai sich in den eigenen vier Wänden sicherer fühlen würde. Er will Kais Entscheidung aber nicht in Frage stellen und führt deshalb seinen Weg mit Kai im Schlepptau fort.
Kurze Zeit darauf liegen sie in Christians Bett. Kai hat sich präsentierend auf die Seite gelegt und ist froh, dass Christian unaufgefordert versteht. Dieser zieht Kais Körper in diese so bekannte, vertraute und schützende Umarmung und Kai drängt sich ihm noch etwas fester entgegen, kuschelt sich komplett in Christians Arme und die Bettdecke ein, so dass er auf jedem Zentimeter seines Körpers Druck verspürt. Druck, der ihm Halt gibt und ihn langsam entspannen lässt.
„Wolltest du deshalb hier hin?“, fragt Christian leise in die Dunkelheit, bevor er einen sanften Kuss in Kais Nacken setzt.
Kai lächelt leise, weil Christian immer versteht.
„Es ist wie ein Ritual, welches Sicherheit gibt“, murmelt Kai zurück.
So gut wie jede schwere Situation, die Kai in den letzten Monaten beschäftigt und durchgemacht hat, hat Christian hier in diesem Bett versucht besser zu machen. Und es hat immer funktioniert. Christian lächelt verliebt vor sich hin, bevor er Kai erneut einen Kuss in den Nacken setzt. Es bedeutet ihm viel, dass Kai dieser Schutz so wichtig ist und er diesen auch annimmt. Es dauert nicht lange und beide sind eingeschlafen.
Als Christian das nächste Mal wach wird, vermisst er die Wärme und tastet deshalb blind um sich. Doch er kann Kais Körper nirgends finden, weshalb er sich aufrichtet, mit den Arme abstützt und seine Augen leicht öffnet. Er braucht einen Moment, bis er sich an die dunklen Verhältnisse gewöhnt hat, nur um zu erkenne, dass er allein im Bett liegt. Sein Blick huscht durch das Zimmer und er erkennt einen schwachen Lichtstrahl, der durch die Toilettentür ins Zimmer dringt. Seufzend lässt sich Christian ins Kissen sinken und schließt seine Augen. Als nach gefühlten fünf Minuten Kai nicht aus der Toilette zurückkommt, wird Christian skeptisch. Deshalb dreht er sich müde aus dem Bett, bis seine Füße den Boden berühren, steht gähnend auf und tapst zum Bad. Dort angekommen, sieht er, dass die Tür nicht verschlossen ist, sondern einen kleinen Spalt weit aufsteht. Christian klopft an, untermauert das Ganze mit einem fragenden „Kai?“ und schiebt langsam die Tür auf, um Kai die Möglichkeit zu geben, ein ‚Stopp’ zu rufen, falls Christian ihn stören würde. Doch es bleibt still, weshalb Christian die Tür komplett öffnet und Kai entdeckt, der neben der geöffneten Kloschüssel sitzt, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet und überdeutlich atmet. Christian tapst weiter barfuß über den kalten Fliesenboden, bleibt vor Kai stehen, geht in die Hocke und legt seine Hände auf Kais angewinkelten Knie.
„Hey … wie lange sitzt du schon hier?“, fragt Christian einfühlsam, als er spürt, wie kalt Kais Beine sind.
„Ich weiß es nicht“, antwortet Kai abgehackt, da er auf seine Atmung fokussiert ist.
„Komm, du solltest wieder ins Bett“, meint Christian, während er vorsichtig nach Kais Händen fasst, die er um die Beine geschlungen hat, und versucht, ihn hochzuziehen.
„Nicht“, nuschelt Kai jedoch leicht panisch, weshalb Christian sofort innehält.
„Sobald ich aufstehe, habe ich das Gefühl, ich muss mich übergeben“, schiebt Kai zitternd nach.
Christian seufzt leise. Er weiß, dass das alles nur in Kais Kopf ist und er ist sich sicher, dass dies auch Kai weiß. Das ändert aber nichts daran, dass dieser damit jetzt überfordert ist.
„Okay“, meint dann Christian sanft, während er sachte mit seiner Hand durch Kais Haare fährt und eine Strähne aus dessen Stirn streicht.
„Warte hier“, fügt er an, obwohl Kai selbst gesagt hat, dass er sich freiwillig nicht einen Zentimeter bewegen wird.
Dann steht Christian auf und geht zurück ins Schlafzimmer. Er schnappt sich die Bettdecke und die Kopfkissen und geht damit zurück ins Bad.
„Wenn du nicht zum Bett kommst, dann kommt halt das Bett zu dir“, meint Christian schmunzelnd, während er vorsichtig die Bettdecke über Kais Körper ausbreitet.
Dieser öffnet überrascht die Augen. Christian schaut ihn liebevoll lächelnd an, bevor er sich neben ihn setzet und ebenfalls unter die Decke quetscht. Kai müht sich ein dankbares Lächeln ab, dankbar, dass dieser ihm die Decke gebracht hat und bei ihm bleibt, auch wenn Kai sich vor ihm schämt. Er fühlt sich verletzlich und schwach, wenn er zugibt, dass es ihm nicht gut geht. Er hat das Gefühl zu versagen, wenn er sich so präsentiert, und hat momentan Angst davor, womöglich vor Christian erbrechen zu müssen, was der kompletten Kapitulation gleichkommen würde. Und trotzdem ist er froh, dass Christian da ist. Dieser klemmt sich sein Kissen zwischen Kopf und Wand und platziert Kais Kissen auf seinem Schoß.
„Magst du dich hinlegen?“, fragt er und Kai schielt zu dem Kissen.
Es wäre verlockend, sich jetzt hinzulegen und zu schlafen. Er ist müde, ausgelaugt und fertig, aber als er versucht, sich hinzulegen, beginnt sich alles zu drehen, sein Magen verkrampft sich und hastig setzt sich Kai wieder auf.
„Es geht nicht“, nuschelt er verzweifelt, während er die Augen beschämt schließt.
„Hey, alles gut. Ist nicht schlimm“, versucht Christian ihn zu beruhigen.
Er greift nach dem Kissen und klemmt es zwischen Kais Kopf und die Wand. Dann zieht er die Decke bei beiden bis zum Kinn und tastet unter der Decke blind nach Kais Hand. Sofort verschränkt Kai ihre Finger und Christian drückt aufmunternd zu.
„Es ist nicht schlimm, wenn es dir schlecht geht und du dich übergeben musst … weder jetzt noch morgen“, meint Christian aufmunternd, weil er vermutet, dass dies momentan Kais größtes Problem ist.
Das hier ist nicht eine von Kais Panikattacken. Die spielen sich anders ab. Das hier ist etwas Neues. Kais Kopf ist klar und das Problem ist, dass er sich zu viele Gedanke über Dinge macht, die keine Rolle spielen. Kai hat Christians Worte gehört, aber darauf nichts geantwortet. Natürlich ist es schlimm, hat er sich gedacht. Wenn er sich vorstellt, bei der Psychologin sich aus Angst übergeben zu müssen, würde er sich am liebsten für immer verkriechen, wo ihn niemand finden kann, weil er sich so sehr schämen würde. Doch je länger er über die Worte nachdenkt und je länger er Christians warme Finger in seiner Hand spürt, und Christians Daumen, der kleine Kreise auf seinem Handrücken malt, desto klarer wird Kai, dass Christian recht hat. Wenn er sich jetzt oder morgen oder wann und wo auch immer übergeben muss, dann ist es so. Die Welt geht deswegen nicht unter. Christian würde Verständnis haben, die Psychologin würde Verständnis haben. Es wäre kurz peinlich, aber das wär‘s. Und weil Kai es langsam zu akzeptieren beginnt, wird Kai ruhiger. Der Kopf hört auf sich zu drehen und zu dröhnen, sein Magen verkrampft sich nicht mehr, sein Körper wird schwer und müde, und ergeben lässt Kai seinen Kopf auf Christians Schulter sinken. Dieser dreht seinen Kopf nach rechts und drückt Kai einen Kuss auf die Stirn, während er unaufhörlich Kreise auf dessen Handrücken malt, solange bis Kai eingeschlafen ist. Vorsichtig löst Christian seine Hand aus Kais Griff, schiebt sie zwischen Wand und Rücken, während er mit der anderen unter Kais Beinen durchgreift. Langsam und leicht schwankend steht Christian mit Kai im Arm auf und trägt ihn vorsichtig zurück zum Bett. Sanft lässt er ihn auf die weiche Matratze gleiten, geht zurück ins Bad, um die Kissen zu holen und das Licht zu löschen. Lautlos lässt er sich selbst ins Bett gleiten, schlüpft unter die Decke und zieht sanft Kais Körper wieder in seine Arme. Dieser schläft leise atmend weiter, weshalb Christian zufrieden seine müden Augen schließt und wieder in die Traumwelt gleitet.
Kai wird erst wieder wach, als Sonnenstrahlen das Zimmer mit Licht fluten und sich mit hellen Rottönen durch seine Augenlider kämpfen. Verschlafen öffnet er seine Augen und er braucht ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Sein linker Arm liegt quer über Christians Bauch, sein linkes Bein hat er angewinkelt zwischen dessen Beine geschoben. Sein Kopf ruht auf Christians Brust und er spürt einen Arm, der locker um seinen Körper geschlungen ist. Erst nach ein paar Sekunden wird ihm bewusst, dass er im Bett liegt, obwohl er zuvor im Badezimmer gesessen hat. Eine unglaubliche Wärme breitet sich in seiner Brust aus, als er in Christians schlafendes Gesicht hochblickt und sich darüber klar wird, dass Christian ihn zurück ins Bett gebracht hatte. Er saß mit ihm auf den kalten Fließen, hat ihn gewärmt und beschützt und solange gewartet, bis Kai eingeschlafen war, um ihn dann zurück ins Bett zu bringen. Glücklich kuschelt er sein Gesicht wieder in Christians Shirt und fragt sich, womit er jemanden wie Christian nur verdient hat. Und Kai wird bewusst, er hat ihn wieder. Er ist wieder im sicheren Hafen.
Kapitel 3
Kai ist an Christian gekuschelt nochmals eingeschlafen. Sie haben beide frei, weshalb früh aufstehen, wenn sie gemütlich ausschlafen können. Wach wird er erst wieder, als Christian sich unter Kai hervorrollt. Müde streckt sich Kai und blinzelt mehrmals gegen das helle Licht an.
„Tschuldigung, wollte dich nicht wecken, aber ich muss echt dringend aufs Klo“, hört er Christian sagen und spürt, wie die Matratze sich anhebt, als Christian das Bett verlässt. Gleich darauf ist er schon im Badezimmer verschwunden und Kai setzt sich etwas wacher auf und streckt sich ausgiebig, so dass sein Rücken knackt. Mit Daumen und Zeigefinger wischt er sich den Schlaf aus den Augen, bevor er sich an die Bettkante setzt. Er will aufstehen, als Christian aus dem Bad zurückkommt. Kai lächelt ihn an und streckt die Hand in seine Richtung aus. Christian lächelt sofort zurück und geht auf ihn zu. Er will schon nach Kais Hand greifen, als dieser aber die Hand auf seinen Rücken legt und ihn zwischen seinen Beinen an sich zieht. Gleich darauf schließt Kai noch den anderen Arm um Christians Rücken und kuschelt sein Gesicht in Christians Shirt. Christian blickt verliebt auf Kai runter, während er selbst seine Arme um diesen schließt und sanft durch Kais Haare krault.
„Danke für gestern“, nuschelt Kai in den Stoff von Christians Shirt.
Christian hat es natürlich gehört, weshalb sein Lächeln noch etwas breiter wird, und er bückt sich runter, um Kai einen Kuss auf den Scheitel zu drücken. Für einige Momente stehen sie da, bevor Christian die Stimme erhebt.
„Brunch?“, fragt dieser und Kai löst sich von Christian und blickt dafür auf den Wecker.
Es ist kurz vor 12 Uhr. Er hatte gewusst, dass sie länger als üblich geschlafen hatten, aber, so lange war ihm nicht bewusst. Kai hatte natürlich nichts gegen einen ausgiebigen Brunch, selbst wenn er gestern niemals gedacht hatte, dass er heute überhaupt einen Bissen runterbringen würde. Doch momentan fühlt er sich gut. Da er Angst hat, dass die Panik zurückkommt, wenn er den ganzen Tag rumsitzt, hat er Christian überredet, nach dem Essen mit ihm rauszugehen, auch wenn es sehr kalt ist. Nur ein bisschen an der frischen Luft spazieren gehen. Etwas die Beine vertreten und Zeit totschlagen. Deshalb haben sie sich dick eingepackt und sind ausgerüstet mit Winterjacke, Mütze und Schal rausgegangen. Zum Glück regnet oder schneit es nicht. Trotzdem wird es mit der Zeit ungemütlich und als beide durchgefroren sind, verziehen sie sich in ein kleines Café in der Nähe des Parkes.
Als sie dort sitzen, beide eine warme Tasse Kaffee in der Hand, wird Kai wieder stiller. Während des Spazierens hat er gelacht, geredet und Witze gemacht. Jetzt kehrt aber wieder Ruhe ein und er weiß, dass er in etwas mehr als einer Stunde reden muss.
„Wie ist das so bei ihr?“, fragt er Christian, während er über den Rand der Kaffeetasse zu diesem schielt.
„Sie ist sehr einfühlsam. Ich hab mich direkt in ihrer Anwesenheit wohlgefühlt, deshalb ist es mir auch nicht schwer gefallen, mich ihr zu öffnen. Ich hatte bei ihr immer 100% das Gefühl, dass sie mich versteht.“
Wissend nickt Kai. Würde er bei ihr auf Unverständnis stoßen, würde der Termin bei ihm mehr Schaden anrichten als helfen. Schließlich braucht er allen Mut, sich zu öffnen und zu reden. Er will nicht daran denken, wie es wäre, wenn sie ihn dann nicht verstehen würde.
Kai nimmt einen Schluck seines Kaffees, stellt die Tasse wieder hin und blickt weiterhin auf das braune Gebräu. Als er Christians Hand auf seiner spürt, blickt er hoch.
„Wenn du dich bei ihr nicht wohlfühlst, dann suchen wir jemand anderes. Es gibt genügend Möglichkeiten, okay?“, meint Christian ernst und Kai nickt.
Kai hofft, dass dies nicht nötig ist. Nur ungern würde er einem Psychologen nach dem anderen sein Innerstes vor die Füße kotzen, bis er jemanden findet, bei dem er sich wohlfühlt.
Kurze Zeit später machen sie sich auf den Weg. Bevor sie zur Psychologin fahren, müssen sie noch einen Zwischenstopp im Krankenhaus einlegen, damit Christian ihm eine Überweisung besorgen kann. Deswegen gehen sie durch die Schiebetür erneut ins warme Innere. Während dies für Christian Alltag ist, zieht sich bei Kai der Magen zusammen. Er hat hier keine guten Erfahrungen gemacht. Er hat in keinem Krankenhaus gute Erfahrungen gemacht. Jedes Mal, wenn er in einem Krankenhaus war, war es, weil es mal wieder mit Matthias eskaliert war. Der Geruch von Desinfektionsmittel und Sterilität stößt ihm sauer auf und er ist froh, wenn er hier schnell rauskommt. Christian steuert direkt den Empfangstresen an und begrüßt freundlich Johanna, die ihn ebenso freundlich, aber auch leicht verwirrt zurückgrüßt. Christian hat heute kein Dienst und seine Anwesenheit wirft Fragen auf. Schnell erklärt er Johanna sein Anliegen, nickt dabei zur Verdeutlichung in Kais Richtung, der sich etwas abseits auf einen Stuhl gesetzt hat. Als Kai merkt, dass Johanna zu ihm schaut, blickt er ertappt auf den Boden. Er will sich nicht vorstellen, was sie sich denkt. Er kommt sich hier drin schäbig und klein vor. Etwas erschrocken blickt er hoch, als er Finger, die durch seine Haare streichen, spürt und blickt direkt in Christians Gesicht.
„Bin gleich wieder da, okay?“
Kai nickt stumm und Christian lächelt ihn aufmunternd an, weil er sieht, wie unwohl sich Kai fühlt. Dann verschwindet die liebevolle Berührung auf Kais Kopf und Christian macht sich auf den Weg auf die Station. Kai bleibt zurück, schließt die Augen und tröstet sich damit, dass er nicht hierbleiben muss, sondern in wenigen Minuten wieder gehen kann. Obwohl Christian nicht mal 10 Minuten gebraucht hat, kam es Kai viel zu lange vor. Christians Anwesenheit spürt er, noch bevor dieser ihm erneut durch die Haare krault und seufzend öffnet er die Augen.
„Komm, lass uns gehen“, meint dieser liebevoll, während er zur Verdeutlichung die linke Hand mit dem nötigen Stück Papier anhebt.
Erleichtert atmet Kai aus, als sie wieder an die frische Luft treten. Er weiß, dass das, was jetzt kommen wird, die viel größere Herausforderung sein wird.
Als sie die Praxis der Psychologin betreten, wird ihm wieder flau im Magen. Es ist ein kleines Einfamilienhaus und über den Hintereingang tritt man direkt ins Wartezimmer ein. Dieses ist schlicht eingerichtet. Vier ältere Holzstühle stehen bereit, jeweils zwei auf der linken und zwei auf der rechten Seite. In der Mitte steht ein kleiner Sofatisch, auf dem ein Sammelsurium an Magazinen liegt und, als würden diese nicht reichen, steht an der Wand neben der Tür eine alte, hölzerne, verschnörkelte Kommode, mit weiteren Magazinen und Büchern. Zwischen zwei Fenstern kämpft sich eine Topfpflanze ihren Weg bis unter die Decke und Kai fragt sich, ob diese mal klein gekauft wurde und über die Jahre so groß wurde. In einer freien Ecke steht ein Wasserspender und daneben ein kleiner Stehtisch. Auf diesem sind kleine Glasflakons aufgereiht und neugierig geht Kai darauf zu. Er greift nach einem der Gefäße und liest die Etikette. SOS-Notfalltropfen steht dort geschrieben.
„Das sind Bachblüten-Tropfen“, erklärt Christian unaufgefordert, als er neben Kai tritt.
Kai schaut weiterhin auf das kleine Gefäß in seinen Finger.
„Helfen die?“, fragt er skeptisch.
„Probier’s aus. Dann weißt du’s“, gibt Christian schulterzuckend zurück.
Kai zögert kurz, bevor er das Flakon öffnet und sich vier Tropfen auf die Zunge träufeln lässt, so wie es auf der Anweisung steht. Vielleicht hilft es ja. Doch er hat kaum Zeit, auf die Wirkung zu warten, da ihn eine Frauenstimme zusammenzucken lässt. Die Psychologin hat das Wartezimmer betreten und schüchtern dreht sich Kai um. Zum Glück wird Christian aber vor ihm begrüßt, so dass er Zeit hat, sich zu sammeln. Christian umarmt Sandrine herzlich und wenn Kai nicht wüsste, wo sie hier sind, hätte er das Gefühl, Christian würde nur eine alte Freundin besuchen. Als sie sich wieder lösen, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf Kai. Mit einem freundlichen Lächeln streckt sie ihm die Hand hin. Schüchtern lächelnd ergreift sie Kai und atmet leise und tief ein. Sie ist etwas kleiner als Kai, hat schulterlange, rötlichblonde Locken und braune Augen. Kai schätzt sie auf Ende 40, sicher ist er sich nicht. Irgendwie scheint sie erfahren und weise, aber trotzdem jung und frisch.
„Dann folgen Sie mir mal. Christian, du kannst hier warten.“
Christian nickt und Kai folgt unsicher der Psychologin, die das Wartezimmer verlässt. Als er neben Christian durchgeht, streckt dieser seine Hand aus, so dass sich ihre Finger streifen und Kai spürt, wie bereits diese kleine Berührung ihm Ruhe vermittelt. Doch dann ist er allein. Verloren steht er im Behandlungszimmer, das nicht anders aussieht als der Warteraum. Nur, dass sich hier zwei bequem aussehende Sessel gegenüberstehen. Die Psychologin weist freundlich lächelnd auf einen der Sessel und Kai setzt sich hin, während sie es sich ihm gegenüber bequem macht. Kurz herrscht Stille, während sie sich das Überweisungsformular, welches Christian ihr in die Hand gedrückt hat, durchliest. Kai rutscht unruhig auf dem Sessel hin und her, während er ununterbrochen mit Daumen und Zeigefingern den Saum seiner Ärmel nachfährt und angespannt seinen Blick durch den Raum wandern lässt. Jetzt muss er reden. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Sein Blick schnellt wieder zu der Psychologin, als diese sich räuspert, das Stück Papier beiseitelegt und sich Stift und Block greift.
„Sollen wir uns Siezen oder Duzen?“, fragt sie mit einem freundlichen Lächeln und Kai kann die positive Aura diese Frau nicht ignorieren.
Kurz schweigt Kai, weil er mit so einer Frage gar nicht gerechnet hat, antworten dann aber mit „Duzen“. Wenn er sich öffnen soll, braucht er ein sicheres Umfeld, wo er sich wohlfühlt, und er hat das Gefühl, würden sie beim Siezen bleiben, wäre immer diese kalte Distanz, die ihm Probleme bereiten würde.
„Okay, ich bin Sandrine. Freut mich dich kennenzulernen, Kai.“
„Danke gleichfalls“, meint Kai.
„Christian hat mir ja grob gesagt, worum es geht, aber vielleicht möchtest du ja mal aus deiner Perspektive erzählen.“
„Ähm … naja … ich weiß nicht … ich hab diese Panikattacken …“, stammelt Kai verloren vor sich hin.
Sandrine lächelt ihn aufmunternd an, merkt aber schnell, dass sie bei Kai eine andere Technik anwenden muss. Kai scheint keiner der Patienten zu sein, der von sich aus reden kann und möchte. Er braucht Struktur und Anleitung in Form von gezielten Fragen.
„Okay, lass uns mal am Anfang der Reise beginnen. Christian hat mir gesagt, ihr seid zusammen im Waisenhaus aufgewachsen?“
Kai nickt bestätigend.
„Wie ist es dazu gekommen?“
Dumme Frage, denkt sich Kai. Wie ist er wohl ins Waisenhaus gekommen? Na weil seine Eltern gestorben sind, verdammt! Er spürt wie Emotionen in ihm hochkommen und weil Kai damit keine Übung hat und nie gelernt hat, damit umzugehen, ist es ein Wirrwarr an Emotionen. Wut, Angst, Trauer, Einsamkeit, Hass. So viel flutet ihn, dass er kurz die Augen schließen muss, weil er das Gefühl hat, sein Kopf dreht sich. Sandrine ist dies nicht entgangen und sie beginnt sich erste Notizen zu machen. Schon nach diesen wenigen Minuten, in denen sie Kai gesehen hat, ist ihr klar, dass Christian völlig richtig gehandelt hat. Kai braucht dringend Hilfe.
Als Kai sich gesammelt hat, öffnet er wieder die Augen. Er weiß, dass er darüber sprechen muss und dass er die Gefühle zulassen muss. Sein Leben lang hat er sich geweigert, über den Tod seiner Eltern zu sprechen, geschweige denn die Trauer zuzulassen. Er hat es weggesperrt und nie verarbeitet und das hat alles nur schlimmer gemacht. Es hat ihn zu Matthias getrieben und sein Leben weiter zerstört. Doch inzwischen ist Kai älter und er versteht, dass er sich nicht immer davor verschließen kann. Aber nur weil er es versteht, heißt das nicht, dass er es auch umzusetzen kann. Aber er versucht es.
„Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie waren am Abend ausgegangen, weil es ihr Hochzeitstag war … die Straßen waren vereist und mein Vater hat die Kontrolle über den Wagen verloren.“
Kai atmet tief durch. Darüber zu sprechen katapultiert ihn 8 Jahre zurück. Es fühlt sich an, als wäre es erst gestern gewesen.
„Er starb noch vor Ort … aber meine Mutter hatte überlebt und sie haben sie ins Krankenhaus gebracht …“
Kai merkt, wie Tränen hochsteigen, aber er will nicht weinen. Nicht vor einer ihm fremden Person. Deshalb atmet er zittrig ein und aus und versucht, seine Stimme wieder in den Griff zu bekommen.
„Sie war bei Bewusstsein und sie wollte mich sehen. Ich war allein zu Hause, weil ich das erste Mal meine Eltern überreden konnte, dass sie keinen Babysitter für mich auftreiben müssen. Ich war schließlich schon 14. Das Krankenhaus hat bei uns zu Hause angerufen … ich ging aber nicht ran, weil mir der Film, den ich geschaut habe, wichtiger war … ich ging einfach nicht ran.“
Auch wenn Kai es will, kann er die Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Sie wollte mich sehen und ich bin nicht ran gegangen ... ich hätte bei ihr sein müssen … ich hätte mich von ihr verabschieden können, wenn ich nur an das beschissene Telefon gegangen wäre …“
Fahrig wischt sich Kai die Tränen mit dem Handrücken weg. Er traut sich nicht, zu Sandrine zu blicken.
„Irgendwann hat es dann an der Tür geklingelt und die Polizei stand da. Sie haben mich dann ins Krankenhaus gebracht, aber es war zu spät … Mama ist gestorben und ich konnte mich nicht mehr verabschieden …“
Schniefend zieht Kai die Nase hoch.
„Machst du dir deswegen Vorwürfe?“, fragt Sandrine in die Stille.
Ja, er macht sich Vorwürfe. Riesige Vorwürfe. Ein verdammter Actionfilm war ihm wichtiger als seine Mutter. Wie muss sich seine Mutter gefühlt haben, als man ihr sagen musste, dass sie ihr Kind nicht erreichen konnten und er nicht kommen wird? Was, wenn seine Mutter ihn deswegen gehasst hat? Was, wenn ihre letzten Minuten aus Hass und Schmerz bestanden haben?
Ja, er macht sich Vorwürfe und deshalb nickt Kai.
„Hattet ihr ein gutes Verhältnis zueinander? Du und deine Eltern?“
„Ja“, antwortet Kai direkt.
„Manchmal sind wir zwar aneinandergeraten, vor allem ich und mein Papa, wenn ich etwas nicht so gemacht habe, wie sie es gewollt haben, wenn ich mein Zimmer nicht aufgeräumt habe, aber sonst hatten wir ein gutes Verhältnis. Sie waren immer für mich da und haben mich unterstützt … ich hab sie über alles geliebt …“
„Denkst du, das beruhte auf Gegenseitigkeit? Dass auch deine Eltern dich geliebt haben?“, fragt dann Sandrine.
Das ist der Moment, wo Kai leicht empört zu ihr aufblickt.
„Natürlich! Sie haben mich auch geliebt!“
Sandrine lächelt ihn milde an.
„Und denkst du, nur weil du nicht an das Telefon gegangen bist, von dem du ja nicht wissen konntest, dass es so wichtig ist, dass sie dich dann plötzlich nicht mehr geliebt hat? Dass sich irgendwas an der Gefühlslage deiner Mutter zu dir geändert hätte?“
Entgeistert blickt Kai Sandrine an, bis ihm klar wird, was sie ihm damit versucht zu sagen.
„Nein“, meint er, während er zusätzlich mit dem Kopf schüttelt.
„Das denke ich auch und deshalb denke ich, dass du keinen Grund hast, dir deswegen Vorwürfe zu machen“, meint Sandrine.
Verstehend nickt Kai und als Sandrine leicht lächelt, lächelt er schüchtern zurück. Er weiß nicht wieso, aber er glaubt Sandrine jedes Wort und langsam wird ihm klar, wieso Christian unbedingt wollte, dass er hierherkommt.
Kapitel 4
Es gibt es viel mehr in Bezug auf Kais Kindheit und den Tod seiner Eltern, was besprochen werden müsste, aber Sandrine braucht in ihrem ersten Gespräch erst einen groben Überblick, damit sie sich ein Gesamtbild von Kai machen kann.
„Als du dann im Waisenhaus aufgewachsen bist, wie war das für dich?“
„Schlimm … es hat sich angefühlt wie in der Hölle“, meint Kai ernst und ist selbst überrascht, dass er nicht versucht, Dinge zu beschönigen, so wie er es sonst immer tut.
„Alles war fremd und ich hasste das. Fremde Orte, fremde Menschen, damit kann ich nicht umgehen. Das konnte ich noch nie. Und dort hatte ich die Gewissheit, dass es kein Zurück gibt. Ich muss es nicht nur ein paar Stunden, oder Tage aushalten und dann kann ich wieder zurück. Ich wusste, es ist für immer und das … das war schrecklich.“
„Konntest du dort mit jemandem darüber sprechen? Dich jemandem anvertrauen?“
„Ich hab nicht gesprochen. Ich wollte nicht. Ich wollte mit niemandem sprechen. Ich hab mich geweigert und geschwiegen.“
„Warum?“
„Weil es dann real wird … sobald ich es ausspreche, wird es real.“
Kais Kopf dröhnt. Dieses Gespräch und all die Emotionen, die es mit sich bringt, sind sehr anstrengend für ihn.
„Wann hast du wieder begonnen zu reden?“
„Nach ein paar Wochen.“
„Und mit wem zuerst?“, fragt Sandrine nach, da sie weiß, dass diese Person eine wichtige Vertrauensperson gewesen sein muss.
Sie kann sich erinnern, dass Christian in seinen Therapiesitzungen solch ein Szenario beschrieben hatte und ist sich sicher, dass Christian damals von Kai erzählt haben muss.
„Mit Christian.“
Kai merkt gar nicht, wie sein linker Mundwinkel hoch zuckt, als er dessen Namen ausspricht, aber Sandrine ist dieser kleine Gefühlsausbruch nicht entgangen.
„Er ist dir sehr wichtig, stimmts?“
Kai nickt bestätigend.
„Wir waren im selben Zimmer untergebracht und er hat mich verstanden. Er hat mir nie Druck gemacht, mir Zeit gelassen und war für mich da. Ich habe ihm blind vertraut.“
Er hat ihm blind vertraut. Er hat sich in seiner Obhut so sicher gefühlt. Er hat bei ihm sein Innerstes geöffnet und nie hinterfragt, ob es ein Fehler sein könnte. Er hat nie überlegt, ob Christian irgendwann gehen könnte. Und dann war er weg. Einfach weg. Ohne ein Wort verschwunden.
Sandrine merkt, wie die Stimmung gefährlich kippt. Sie sieht, wie sich Kais Körper verkrampft und die Atmung sich unregelmäßig beschleunigt.
„Er war einfach weg. Er hat mich verlassen … Christian ist weg.“
„Aber er ist jetzt wieder da“, klinkt sich Sandrine deshalb ein.
„Er ist weg“, wiederholt Kai zitternd.
„Kai, Christian ist im Wartezimmer. Er ist nicht weg.“
Mit diesen Worten geht Sandrine zur Tür und öffnet diese.
„Christian? Kannst du bitte mal kommen?“, ruft sie durch den Flur ins Wartezimmer.
Christian, der bis eben versucht hat, sich mit diversen Tratsch- und Klatsch-Magazinen die Zeit zu vertreiben, legt dieses sofort zur Seite und steht skeptisch auf. Er betritt den Flur und erblickt Sandrine, die im Türrahmen steht und ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gibt, herzukommen.
„Christian ist hier“, sagt sie derweil an Kai gerichtet und Christian wird klar, dass hier etwas schiefläuft.
Deshalb eilt er durch den Flur und Sandrine tritt zur Seite, damit Christian den Raum betreten kann. Sofort erblickt er Kai, der schweratmend auf dem Sessel sitzt.
„Christian ist hier“, wiederholt Sandrine.
„Ja, ich bin da“, meldet sich auch Christian zu Wort, während er auf Kai zu eilt.
Dieser dreht in dem Moment den Kopf in Richtung Tür, in dem er Christians Stimme gehört hat. Als er Christian sieht, springt er vom Sessel auf und wirft sich ihm in die Arme.
„Hey, ich bin da, Hase. Alles gut“, flüstert Christian, während er beruhigend über Kais Rücken streicht.
Und so schnell, wie die Panik gekommen ist, so schnell verfliegt sie auch wieder, als er Christians warmen Körper spürt und dessen Stimme hört. Ein letztes Mal atmet er tief Christians Duft ein, bevor er sich wieder löst. Leicht beschämt blickt er zu Sandrine, die abseitssteht.
„Ich denke, für heute ist es genug. Aber ich denke auch, dass es sehr wichtig wäre, wenn wir eine Therapie starten würden“, meint sie an Kai gerichtet.
Dieser blickt kurz hilfesuchend zu Christian, der ihm leicht zunickt. Eigentlich ist es Kai klar. Er wusste, dass es mit einem Termin nicht geregelt ist.
„Okay“, meint er deshalb zu Sandrine.
„Wenn das für dich okay ist, könnten wir uns immer Donnerstag um 17 Uhr treffen“, schlägt Sandrine vor.
Wieder nickt Kai. Das sollte er hinbekommen. Er müsste mit seinem Chef sprechen, dass er donnerstags keine Spätschichten mehr hat, aber das sollte funktionieren, auch wenn er nur ungern mit Herrn Baumann darüber sprechen will. Etwas anderes bleibt ihm aber wohl nicht übrig.
„Ich denke, es wäre gut, wenn du die ersten Treffen mit dabei bist. Meinst du, das geht?“, fragt Sandrine nun an Christian gerichtet.
„Wird schon klappen“, erwidert Christian direkt.
„Sehr gut. Dann sehen wir uns in einer Woche wieder.“
Freundlich lächelnd hält sie Kai die Hand hin und Kai lächelt schüchtern zurück. Nachdem sich auch Christian mit einer Umarmung verabschiedet hat, machen sie sich auf den Heimweg. Kai ist fix und fertig, als sie wieder in die warme Wohnung eintreten. Obwohl er heute früh lange geschlafen hatte, hat ihn der Zwischenfall letzte Nacht und der ganze psychische Stress heute, körperlich an seine Grenzen gebracht. Außerdem muss er morgen wieder arbeiten und hat die Frühschicht. Christian hingegen muss erst zur Spätschicht raus und ist überhaupt nicht müde, was kein Wunder ist, schließlich ist es erst kurz vor 19 Uhr. Nachdem Kai geduscht hat und sie etwas Kleines zum Abendessen hatten, ist Kai hundemüde.
„Komm, leg dich schlafen und ruh dich aus. Ich schau noch etwas fern und komm dann später zu dir, wenn du willst“, meint deshalb Christian, als er das Geschirr in die Spülmaschine steckt.
„Kann ich nicht bei dir auf dem Sofa bleiben?“, fragt Kai gähnend zurück.
Er will nichts lieber als schlafen, aber er will auch bei Christian bleiben. Außerdem fühlt er sich wahnsinnig behütet, wenn Christian wach ist und er hingegen schläft. Dann weiß er, dass Christian auf ihn aufpasst, und das gibt ihm Sicherheit. Das hat er auch als Kind immer geliebt. Er konnte zehnmal besser schlafen, wenn er wusste, dass seine Mama oder sein Papa wach sind und ihn behüten. Deshalb hatte er sich immer zu ihnen ins Wohnzimmer geschlichen und auf der Couch geschlafen, während seine Eltern noch einen Film geschaut hatten. Besonders heute braucht Kai diesen Halt und deswegen ist er froh, dass Christian nichts dagegen hat.
Deshalb liegt er bald bettfertig auf dem Sofa, hat sich in die Fleece Decke gewickelt, die immer über der Sofalehne hängt und seinen Kopf in Christians Schoß gebettet. Christian wusste zuerst nicht, ob das nicht eine dumme Idee ist, weil Kai niemals bei Licht und Lärm schlafen kann, aber als dieser bereits nach exakt 7 Minuten leise seufzend in seinem Schoß schläft, kann Christian nicht anders als zu schmunzeln.
Kai hat den ganzen Film lang geschlafen und wurde erst wach, als Christian sich vom Sofa erhebt. Er wollte Kai nicht wecken und ihn wieder ins Schlafzimmer tragen, aber dass dieser nun wach ist und selbst laufen kann, ist für Christian und seinen Rücken auch okay.
„Hey, komm lass uns ins Bett gehen“ meint Christian leise, als er sieht, dass Kai müde gegen das Licht blinzelt.
Dieser reibt sich über die Augen, bevor er unter der Decke hervor krabbelt und aufsteht. Christian lächelt ihn an und schiebt ihn aus dem Wohnzimmer.
„Wo sollen wir schlafen?“, fragt Christian im Flur.
„Aber ich muss morgen früh raus und du nicht. Dann wecke ich dich ja“, meint Kai skeptisch.
„Ach, das ist doch kein Ding… nur wenn du willst, dass ich bei dir schlafe.“
Kai lächelt ihn schüchtern an und gibt damit Christian die Antwort.
„Zu dir oder zu mir?“, fragt deshalb Christian grinsend.
„Zu dir“, antwortet Kai schmunzelnd.
„Dann weck ich dich nicht, wenn ich morgen früh in meinem Zimmer Klamotten raussuchen muss“, erklärt Kai.
Christian nickt verstehend und führt Kai in sein Zimmer. Dort angekommen schlüpft Kai direkt unter die Bettdecke, während Christian kurz ins Bad verschwinden. Nach nicht mal fünf Minuten ist er zurück und grinst breit, als er sieht, dass Kai tief und fest schläft. Leise tapst er zum Bett und schlüpft zu Kai unter die Decke. Lautlos robbt er an Kai ran und schließt ihn in seine Arme. Dieser seufzt, rollt sich in Christians Armen zusammen und schläft dann leise atmend weiter. Christian kann nicht anders, als verliebt zu lächeln, und schläft mit eben diesem Lächeln auf den Lippen ein.