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Frauke Burkhardt

Robin Cruiser

Ben Ebenho

Martin M. Falken

Marc Förster

Peter Förster

Yavanna Franck

Matt Grey

Jamie Lopez

Mark H. Muelle

Gilbert R. Pawel

Udo Rauchfleisch

Reto-Dumeng Suter

PINK CHRISTMAS 11

Etwas andere (Weihnachts)geschichten

 

 

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Bisher erschienen im Himmelstürmer Verlag:

Alle Bücher auch als E-book

 

Himmelstürmer Verlag, 31619 Binnen

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de E-mail: info@himmelstuermer.de

Originalausgabe, Oktober 2021

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage.

Coverfoto: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN print 978-3-86361-936-7

ISBN epub 978-3-86361-937-4

ISBN pdf: 978-3-86361-938-1

 

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Matt Gray
 
Wie Helene Fischer den Heiligabend gerettet hat.

„Ein Tablet für mich allein!“, juble ich und befreie es endgültig vom bunten Geschenkpapier. Dann fällt mein Blick aber auf den Gesichtsausdruck meiner Mutter, der nichts Gutes verheißt, und schon wendet sie sich an meinen Vater. Ihre Augen funkeln zornig.

„Ich habe gemeint, dass wir abgemacht haben, dass Jonas kein Tablet zu seinem zwölften Geburtstag bekommen soll. Wir wollten doch damit bis Weihnachten warten.“

„Du wolltest damit warten“, kontert mein Vater rasch und fügt hinzu, dass es noch acht Monate dauern würde bis Weihnachten.

„Du willst doch bloß Jonas mit diesem Geschenk auf deine Seite ziehen. Und ich bin die Rabenmutter, die ihrem Sohn kein Tablet zum Geburtstag präsentiert“, schimpft meine Mutter ungerührt weiter.

Wie schon so oft in den letzten Wochen artet ein kleines Missverständnis in einen riesigen Streit aus. Denn nun ergreift mein Vater wieder das Wort und verkündet laut, dass ihn die ständigen Anschuldigungen den letzten Nerv kosten würden.

Am liebsten würde ich mir die Ohren mit den Händen zuhalten, um das Wortgefecht meiner Eltern nicht mitanhören zu müssen. Stattdessen ergreife ich mein neues Tablet und verschwinde rasch aus der Gefahrenzone, bevor mir meine Mutter das Geschenk wieder abnimmt und es bis Weihnachten in einem Schrank gefangen hält. Ich suche blitzschnell mein Zimmer auf, verschließe aber hinter mir die Tür zu meinem Reich. Dann werfe ich mich aufs Bett. Aus dem Wohnzimmer höre ich immer noch die Schimpftiraden meiner Eltern. Vermutlich haben sie mein Verschwinden noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Ich weiß nicht, was mit den beiden los ist. Bis vor kurzem herrschte bei uns ein harmonisches Familienleben. Praktisch von einem Tag auf den andern aber herrschte Kleinkrieg zwischen meinen Erzeugern. Meistens greift meine Mutter Papa verbal an. Nur ein achtlos hingeworfener Pullover kann zu einem Tobsuchtsanfall von Mama führen. Früher hat sie den Gegenstand wortlos aufgenommen und weggeräumt. Heute aber macht sie jedes Mal eine riesige Szene, wenn mein Papa einen Fauxpas begeht. Anfangs gab sich mein Vater noch kleinlaut und hat kaum ein Wort gesagt. Aber in letzter Zeit wird auch er immer lauter und schreit meine Mutter an. Ich habe keine Ahnung, was zwischen ihnen abläuft und was die Ursache von diesem Kleinkrieg sein könnte. Aber ich wünschte mir, dass endlich wieder Frieden zwischen den beiden einkehren würde. Ich würde sogar mein neues Tablet hergeben, wenn ich wüsste, dass danach Friede, Freude und Eierkuchen in unserer Familie herrschen würde.

Ich höre das schrille Stimmorgan meiner Mutter, das meinen Vater mit Vorwürfen überschüttet. Dann spricht mein Vater sechs Worte: „Ich halte es nicht mehr aus!“, und schon vernehme ich seine Schritte im Flur. Sekunden später donnert die Haustür ins Schloss. Papa hat sich aus dem Staub gemacht. Vermutlich geht er in eine Kneipe oder ins Geschäft. Weg von meiner keifenden Mutter. Irgendwie kann ich ihn ja verstehen.

Es ist gespenstisch ruhig in der Wohnung. Ich schleiche mich vorsichtig an die Tür und lausche angestrengt. Ich höre, dass meine Mutter im Wohnzimmer rastlos umherläuft wie eine Raubkatze im Käfig. Dann nähern sich ihre Schritte meinem Zimmer. Sie versucht, die Tür zu öffnen. Zum Glück habe ich sie verschlossen. Jetzt klopft sie schüchtern an die Tür. Ich rege mich nicht.

„Jonas, es tut mir leid! Bitte öffne die Tür!“

Ich schweige. Ich habe keine Lust auf ein Gespräch.

„Ich nehme dir das Tablet nicht weg. Aber lass mich doch ins Zimmer!“

Ihre Stimme tönt weinerlich. Vermutlich fließen Tränen über ihre Wangen. Nach jedem Streit versucht sie mich mit Tränen auf ihre Seite zu ziehen. Aber ich lasse mich nicht beeinflussen. Ich mag Mama und ich mag Papa. Ich will mich für keinen der beiden entscheiden müssen.

„Wir sprechen uns morgen. Gute Nacht, Junge!“

Mama zieht sich in ihr Schlafzimmer zurück. Seit ein paar Wochen haben meine Eltern getrennte Schlafzimmer. Das sei kein gutes Zeichen, meinte Martin, mein bester Freund, als ich ihm davon berichtet habe. „Zuerst getrennte Betten, dann die Scheidung!“, hat er achselzuckend gemeint und mir mit diesem Satz einen furchtbaren Schrecken eingejagt. Scheidung? Nur das nicht! Aber Martin kennt sich damit aus, denn seine Eltern haben sich getrennt, als er nicht einmal sechs war. Heute lebt er bei seinen Großeltern, die ihn maßlos verwöhnen. Seine Mutter hat nur am Wochenende für ihn Zeit, denn sie ist ein hohes Tier bei einer Bank. Sein Vater hingegen hat sich in die USA abgesetzt und lebt dort mit seiner neuen Partnerin. Mir tut Martin leid. Aber er meint, dass sei alles halb so schlimm. Man könne sich an alles gewöhnen. Ich bin mir da ganz und gar nicht sicher.

Ich lege das Tablet auf meinen Schreibtisch. Auf einmal freue ich mich nicht mehr über dieses Geschenk. Ich lege mich wieder aufs Bett und starre frustriert an die Decke. Was für ein schrecklicher Geburtstag! Kann es jetzt noch schlimmer werden? Ich hoffe nicht.

***

„Nein!“, schreie ich außer mir vor Wut. „Ich gehe an Heiligabend nicht zu Papa. Ich bleibe hier.“

Meine Mutter schüttelt energisch den Kopf und erklärt: „Dein Vater und ich haben uns so abgesprochen. Du übernachtest am vierundzwanzigsten Dezember bei ihm und ich hole dich am folgenden Abend wieder ab.“

„Aber ich will nicht zu Papa. Ich feiere Weihnachten hier in unserer Wohnung.“

Ich kann richtig bockig sein, wenn es sein muss. Seit drei Monaten lebt mein Vater in einer Dreizimmerwohnung in der Stadt. Seine Wohnung ist klein und mein Zimmer, das er für mich eingerichtet hat, ist nur halb so groß wie mein richtiges Zimmer hier. Es genügt mir, wenn ich schon jedes zweite Wochenende bei Papa verbringen muss. Alle meine Freunde wohnen hier im Dorf. Wenn ich bei Papa bin, bin ich allein. Natürlich ist mein Vater da und er gibt sich wirklich Mühe, mir ein spannendes Programm zu bieten, wenn ich bei ihm bin. Aber ich verstehe nicht, warum meine Eltern in getrennten Wohnungen und fast hundert Kilometer voneinander entfernt wohnen müssen.

„Was ist, wenn Papa an Heiligabend plötzlich weg muss? Du kennst seinen Job.“

Oft muss er abends weg. Das war schon so, als er noch bei uns lebte. Warum sollte sich das geändert haben? Manchmal ist er die ganze Nacht weggeblieben.

„Ich will nicht allein Weihnachten in seiner Wohnung herumlungern.“

Mein Vater arbeitet für einen Reparaturdienst, der defekte Computer und Fernseher wieder zum Leben erweckt. Dazu muss mein Vater zu den Kunden fahren und dort ihre kaputten Geräte wieder auf Vordermann bringen. Das kann zu jeder Tages- oder Nachtzeit passieren. Aber meine Mutter lässt diesen Einwand nicht gelten.

„Weihnachten muss dein Vater nicht arbeiten. Das weißt du genau. Das ist ein Feiertag. Da arbeitet niemand.“

Geschickt werfe ich meinen nächsten Trumpf ins Spiel, während ich meine Mama mit liebevollem Blick anschaue.

„Ich will aber nicht, dass du an Weihnachten allein zuhause bist. Dann sitzt du im Wohnzimmer vor dem Tannenbaum und weinst. Ich werde ein anderes Mal zu Papa gehen. Versprochen! Aber Weihnachten lasse ich dich bestimmt nicht allein.“

„Ich bin nicht allein“, platzt es in diesem Augenblick aus meiner Mutter heraus und ich bemerke an der Röte, die ihr Gesicht überzieht, dass sie diesen Satz zutiefst bereut.

„Kommen Opa und Oma zu Besuch? Dann bleibe ich sowieso hier. Ich habe die zwei schon vier Wochen nicht mehr gesehen.“

„Nein, deine Großeltern feiern bei meinem Bruder in Zürich. Sie kommen erst am 2. Weihnachtstag zu Besuch und dann bist du wieder zuhause.“

„Wer kommt denn dann zu dir?“, bohre ich neugierig nach, obwohl ich genau weiß, wer meiner Mutter Gesellschaft leisten wird.

„Roger kommt kurz vorbei.“

„Wusste ich es doch! Du willst mich loswerden, um mit deinem neuen Lover allein zu sein.“

Roger arbeitet im selben Büro wie meine Mutter. Vermutlich hat Mama seit längerem eine Affäre mit diesem Typen gehabt und irgendwann ist Papa dahintergekommen. Das ist der Trennungsgrund meiner Eltern. Da bin ich mir sicher. Seit ein paar Wochen verbringt meine Mutter die Wochenenden, die ich bei Papa absitzen muss, stets mit diesem Roger. Ich habe ihn erst zweimal kurz gesehen. Er war mir sofort unsympathisch.

„Dieser Roger ist dir wichtiger als ich“, stelle ich gespielt zerknirscht fest und versuche, ein paar Tränen aus meinen Augen zu drücken. Aber umsonst!

„Wir können an dieser Stelle stundenlang diskutieren, aber du wirst trotzdem den Heiligabend bei deinem Vater verbringen.“

„Ich hasse Roger!“

„Du kennst ihn kaum. Lern ihn doch besser kennen! Dann änderst du bestimmt deine Meinung.“

„Okay, ich bleibe also an Weihnachten bei dir, damit ich diesen Kerl genauer unter die Lupe nehmen kann. Ich akzeptiere deinen Vorschlag.“

Meine Mutter schüttelt ungeduldig den Kopf und stellt mich vor vollendete Tatsachen, indem sie mir erklärt, dass ich ihren Rosenkavalier an Silvester besser kennenlernen könne, da wir hier gemeinsam ins neue Jahr feiern würden. Ich bin entsetzt. Jetzt verdirbt mir Mama auch noch den Jahresübergang. Mir reicht’s und ich stelle ein für alle Male fest:

„Ich werde Weihnachten und Silvester bei Papa verbringen. Und vielleicht ziehe ich nächstes Jahr endgültig zu ihm.“

Damit beende ich die Diskussion und räume das Feld. Das Zuknallen meiner Zimmertür soll meiner Mutter verdeutlichen, in welcher Stimmungslage ich mich gerade befinde.

***

Wie versprochen liefert mich Mama am späten Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezembers bei meinem Vater ab. Kurz vor der Abfahrt wollte sie mir ihre Geschenke überreichen, aber ich habe ihr klargemacht, dass ich mir diese später ansehen werde. Klar war ich neugierig, was mir Mama zur Bescherung überreichen wollte, aber das musste ich ihr ja nicht unter die Nase reiben. Der Vorteil bei Eltern, die getrennt sind, ist, dass Vater und Mutter sich stets mit den Geschenken für ihren Sprössling übertrumpfen wollen. Dabei bin ich natürlich in der Poleposition.

Mama klingelt an Papas Wohnungstür und diese wird sogleich geöffnet.

„Da seid ihr ja“, freut sich mein Vater und grinst mich strahlend, aber sichtlich nervös an. „Willst du für einen kurzen Augenblick ins Wohnzimmer kommen und dir meinen Tannenbaum ansehen?“, wendet er sich dann an Mama. Diese schüttelt aber den Kopf und ich erkläre meinem Vater sofort, weshalb das so ist.

„Mama ist in Eile“, stelle ich fest. „Roger wird mit ihr unter dem Tannenbaum sitzen. Kennst du überhaupt Roger?“

Mein Vater nickt und errötet etwas. „Klar, deine Mutter hat mir von Roger erzählt. Ein Arbeitskollege von ihr.“

„Arbeitskollege?“, wende ich mich fragend an meine Mutter, „nennt man das heutzutage so? Früher sagte man Liebhaber.“

Nun ist es an meiner Mutter rot zu werden, aber mein Vater entschärft die Situation sofort mit den Worten: „Wer oder was dieser Roger auch immer ist, deine Mutter hat das Recht neue Freundschaften zu schließen.“

„Ich muss los“, verkündet meine Mutter hastig und stellt den kleinen Koffer mit meinen Habseligkeiten für eine Nacht auf den Fußboden. Dann drückt sie mich fest an sich, flüstert mir „Ein schönes Weihnachtsfest“ ins Ohr, nickt meinem Vater zu und flieht zu ihrem silbernen Auto. Da stehe ich nun und weiß gar nicht, was ich als nächstes machen soll. Mein Vater kommt mir aber zuvor, ergreift den Koffer und führt mich in seine Wohnung.

„Soll ich dein Gepäck ins Kinderzimmer stellen?“

„Kinderzimmer?“, entgegne ich stirnrunzelnd.

„Oh, Verzeihung! Ich meinte ins Zimmer des jungen Herrn.“ Ich grinse meinen Vater an. Das Eis ist gebrochen. Ich freue mich auf unser gemeinsames Weihnachtsfest.

 

In der Küche duftet es wunderbar. Ich wusste gar nicht, dass mein Vater ein so begnadeter Koch ist. Als ich aber all die Dosen und Tüten auf dem Küchentisch entdecke, muss ich ein Lachen verkneifen. Aber dennoch mache ich meinem Papa, der eine Küchenschürze trägt, ein Kompliment, indem ich ihm sage, dass die Köstlichkeiten, die auf dem Herd und im Backofen brutzeln, köstlich riechen. Mein Vater verbeugt sich galant vor mir und bedankt sich für das Lob, während ich vorsichtig in die Pfannen und den Backofen spähe.

„Du kochst für eine ganze Armee“, stelle ich grinsend fest.

„Lieber zu viel als zu wenig!“, zitiert Papa eine Weisheit seiner Mutter, die leider vor drei Jahren verstorben ist. „Außerdem“, meint er, indem er verschwörerisch mit den Augen zwinkert, „taucht vielleicht noch ein Gast auf. An Heiligabend soll man doch niemanden, der hungrig und frierend an die Tür klopft, abweisen.“

„Außer es ist eine Horde Zombies“, kläre ich meinen Vater auf und will dann von ihm wissen, ob wir vielleicht weitere Folgen von „The Walking Dead“ auf Netflix anschauen können. Zuhause habe ich keine Chance, mir diese Serie anzugucken. Mama ist in solchen Dingen sehr streng. Aber ich werde im Frühling dreizehn und liebe Horrorfilme. Die führen bei mir nicht zu Albträumen.

„Mal schauen“, entgegnet mein Vater etwas zu schnell. Mir scheint, dass er andere Pläne hat.

„Und wann gibt es das Abendessen?“, frage ich nun, da ich spüre, dass sich mein leerer Magen meldet.

„Bald!“, lautet Papas kurze Antwort. Dann aber fügt er hinzu, ich solle im Wohnzimmer doch schon den Tisch decken. Er deutet auf Geschirr und Besteck, welches schon auf dem kleinen Küchenschrank bereitliegt. Also schnappe ich mir die Teller, Messer und Gabeln, trage sie ins Nachbarzimmer und stelle sie auf den Esstisch. Seltsam! Das sind drei Teller und ebenfalls drei Messer und Gabeln. Mein Vater ist manchmal etwas zerstreut. Also bringe ich das dritte Gedeck wieder in die Küche zurück.

„Hast du Hunger für zwei?“, will ich von meinem Vater wissen.

„Wie meinst du das?“, fragt dieser und schaut mich überrascht an. Ich kläre ihn sogleich über seinen Fehler mit dem dritten Gedeck auf. Augenblicklich wird Papa bleich und seine nächsten Worte erschüttern mich.

„Wir sind heute Abend zu dritt“, stellt er rasch fest.

„Zu dritt? Wen hast du zusätzlich eingeladen? Den Weihnachtsmann?“ Noch scherze ich in der Hoffnung, dass mich mein Vater mit seiner Antwort nur veräppeln will.

„Nicht der Weihnachtsmann kommt, sondern jemand, den ich dir heute Abend gern vorstellen möchte.“

„Du hast also eine Freundin“, platzt es aus mir heraus. „Deshalb macht es dir nichts aus, dass Mama mit diesem Roger schäkert.“ Meine Stimme wird schrill. Im Augenblick rege ich mich furchtbar über meine Eltern auf.

„Ich habe keine Freundin“, gesteht mir Papa rasch, bringt mich aber mit seinen nächsten Worten fast zum Durchdrehen.

„Mein Freund will dich kennenlernen.“

„Dein Freund? Du sprichst von einem deiner Saufkumpane?“

„Nein, Gregor, mein Partner.“

„Geschäftspartner?“

„Lebenspartner!“

Es dauert mehrere Sekunden, bevor ich verstehe, was mir mein Vater jetzt gestanden hat. Er hat keine Freundin, sondern einen Freund. Aber das ist doch gar nicht möglich, und das sage ich natürlich meinem Vater schnellstens.

„Du stehst doch auf Frauen. Deshalb hast du dich in Mama verliebt und hast sie geheiratet. Du kannst doch nicht plötzlich einen Mann lieben. Ich finde das ist echt kein guter Scherz von dir.“

„Das ist kein Scherz“, stellt mein Vater nüchtern fest. „Ich habe deine Mutter wirklich geliebt. Aber dann traf ich Gregor. Es war reiner Zufall. Er hatte einen ramponierten Computer und ich sollte diesen bei ihm zuhause reparieren. Dabei sind wir ins Gespräch gekommen und fanden uns sehr sympathisch.“

„Also hat dich dieser Gregor verführt. Deshalb glaubst du nun, dass du schwul bist. Willst du mir das etwa weismachen?“

„So rasch ging das nicht. Wir haben uns ein paar Mal in einer Kneipe zu einem Feierabendbier verabredet. Wir führten tolle Gespräche, haben oft miteinander gelacht und schließlich festgestellt, dass wir mehr als nur Kollegialität zwischen uns verspürten.“

„Und jetzt bist du schwul. Na super, ich habe einen schwulen Vater. Darum ist Mama ausgerastet. Sie hat von dir und diesem Gregor erfahren. Er ist schuld an eurer Trennung.“

„Nein!“, sagt mein Vater energisch. „Schon bevor ich Gregor kennengelernt habe, war die Liebe zwischen deiner Mutter und mir abgekühlt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir uns getrennt hätten. Und dann ist Gregor aufgetaucht und es wurde mir bewusst, dass ich nur an seiner Seite wieder glücklich werden konnte. Natürlich war deine Mutter wütend auf mich, als ich sie mit dieser Tatsache konfrontierte. Für sie brach eine Welt zusammen und ich fühle mich noch immer schuldig, dass ich ihr diesen Schmerz angetan habe.“

„Darum macht es dir nichts aus, dass Mama einen neuen Partner hat. Du bist sogar froh darüber.“

Mein Vater nickt bloß. Wir schweigen beide längere Zeit.

„Bist du nun schwul?“, unterbreche ich die erdrückende Stille.

„Wäre das denn so schlimm für dich?“

Ich gebe keine Antwort und zucke mit den Schultern. Die ganze Situation überfordert mich im Augenblick. Dann läutet die Türklingel schrill. Sofort befreit sich mein Vater von der Schürze und stürzt aus der Küche. Aha, Gregor ist angekommen. Wie soll ich mich nun verhalten? Zuerst erzählt mir Mama von ihrem neuen Lover und nun hat auch Papa einen Kerl an seiner Seite. Das wird wohl das schlimmste Weihnachtsfest meines Lebens.

***

Wir sitzen am Esstisch. Die Teller und Gläser sind gefüllt. Gespräche finden aber keine statt. Vor fünfzehn Minuten hat mir Papa seinen Geliebten vorgestellt. Er ist sicher fünf Jahre jünger als Papa. Er ist groß und schlank. Er hat eine sympathische, tiefe Stimme und vor allem benimmt er sich nicht so weiblich wie die Schwulen, die ich schon in TV-Sendungen gesehen habe. Trotzdem habe ich kein Wort mehr seit der kurzen Begrüßung gesprochen. Weder mit meinem Vater noch mit Gregor! Mein Vater hat schon mehrmals versucht, eine Unterhaltung zu starten. Zwar hat Gregor sofort darauf reagiert und die Konversation aufgegriffen. Aber mir konnten sie trotzdem keinen Ton entlocken. Jetzt schweigen wir alle drei erneut. Eine unangenehme Situation. Ich sehe, wie mein Vater immer wieder hilflose Blicke zu Gregor wirft. Aber auch der ist wie ich mit der Situation überfordert. Das geschieht meinem Vater recht. Wenn nicht Roger bei meiner Mutter zuhause verweilen würde, hätte ich sie schon längst angerufen und sie gebeten, mich abzuholen, und zwar so schnell wie möglich.

Die entsetzliche Stille wird durch das Klingeln des Mobiltelefons meines Vaters unterbrochen. Papa wirft einen Blick aufs Display, steht auf und verschwindet im Flur, um den Anruf entgegenzunehmen. Gregor und ich vergeuden weiterhin keine Worte. Dann kommt mein Vater zurück.

„Das war Frau Sonnenbeck, die alte Dame, die in der Wohnung im Parterre wohnt. Ihr Fernsehapparat funktioniert nicht und sie freut sich so auf die Weihnachtsshow von Helene Fischer. Ich habe ihr versprochen, dass ich rasch runterkomme, um ihren Fernseher wieder auf Vordermann zu bringen. Die alte Frau ist allein und hat sich so auf diese Show gefreut. Ich bin gleich wieder zurück.“

Mit diesen Worten lässt uns mein Vater zurück und verschwindet. Nun bin ich mit Gregor allein, was die Sache noch unangenehmer macht. Am liebsten würde ich fluchtartig den Tisch verlassen, in mein Zimmer fliehen und dort verharren, bis dieser Gregor verschwunden ist. Aber vielleicht übernachtet er sogar in Papas Zimmer. Darum hat mein Vater ein so großes Bett gekauft. Ich habe einmal einen dummen Spruch gemacht und zu Papa gesagt, dass er wohl auf Damenbesuch hoffe, da sein Bett Platz für zwei bieten würde. Er hat nur gelacht, aber keine Antwort auf meine Bemerkung gegeben. Jetzt weiß ich warum. Der Grund sitzt mir gegenüber und starrt mich an. Sofort wende ich meinen Blick ab.

„Wie kann man Helene Fischer an Weihnachten im Fernsehen gucken?“ Diese Frage wirft Gregor in den Raum. Redet er mit mir oder führt er Selbstgespräche?

„Ich kann mit dieser turnenden Sängerin überhaupt nichts anfangen. Ihre Songs tönen alle gleich. Ich stehe mehr auf Rockmusik. Gitarrensound törnt mich an.“

Ich atme tief ein und gebe ihm folgende Antwort: „Ich finde Helene Fischer total cool. Ich habe alle ihre CDs. Die Frau ist mega.“

Jetzt wird Gregor kreideweiß und versucht, sich rasch aus dieser peinlichen Situation zu befreien, indem er mir stotternd gesteht, dass Helene eine wirklich talentierte Sängerin sei. Er habe auch eine CD von ihr. Er wolle mal an ein Konzert von ihr gehen. Ich könne ihn dabei doch begleiten.

Für einen Augenblick kann ich mich zusammenreißen und starre Gregor wortlos an. Dann aber halte ich es nicht mehr aus und lache laut los. Jetzt versteht Gregor die Welt nicht mehr und schaut mich mit großen Augen an.

„Ich bin absolut kein Helene Fischer Fan“, gestehe ich dem Partner meines Vaters, „Das war nur ein Scherz von mir. Ich wollte dich aus der Fassung bringen, was mir auch gelungen ist.“

„Du kleiner Arsch!“, ruft Gregor, aber ich fühle mich keineswegs beleidigt, denn in Gregors Stimme erkenne ich keinen Zorn, sondern fast schon ehrfürchtige Anerkennung.

„Ich kann mich nicht erinnern, wann mir zum letzten Mal jemand einen solchen Schrecken eingejagt hat. Du bist ein äußerst begnadeter Schauspieler. Dein Vater hat absolut recht mit dem, was er mir über dich berichtet hat.“

„Was hat Papa denn erzählt?“, will ich sogleich erfahren.

„Er hat mir gesagt, dass du für dein Alter schon ein cleveres Bürschchen seist. Er ist sehr stolz auf dich.“

„Danke für das Lob! Übrigens, ich finde Status Quo cool.“

„Du kennst Status Quo? Das glaub ich nicht! Wow! Die sind wirklich toll. Ich habe sie schon dreimal live erlebt.“

„Ehrlich? Ich war nie auf einem Konzert.“

„Wenn die Jungs von Status Quo wieder auf Tournee kommen, werden wir unter den Zuschauern sein. Aber deinen Vater lassen wir zuhause. Der steht wirklich auf Helene. Aber das weißt du ja, nicht wahr?“

Ich nicke und erkläre Gregor, dass Papa ein absoluter Schlagerfan ist. Das weiß er ebenfalls und erklärt mir, dass er sich nicht wegen des Musikgeschmacks in meinen Vater verliebt habe, sondern weil er ein so toller und sensibler Mann sei. Okay, mehr will ich gar nicht wissen. Es gibt Dinge, die mich wirklich nicht interessieren. Daher will ich von Gregor wissen, welche weiteren Musiker ebenfalls zu seinen Lieblingen zählen. Ich staune nicht schlecht, denn wir beide haben denselben Geschmack.

Als mein Vater eine geschlagene Stunde später mit schlechtem Gewissen endlich wieder auftaucht, traut er seinen Augen nicht. Gregor und ich sitzen einträchtig auf dem Sofa und gucken eine Folge unserer Lieblingszombieserie.

„Darf ich mich zu euch gesellen?“, fragt mein Vater fast schon schüchtern. Großmütig gebe ich den Platz neben Gregor frei und rücke ein wenig zur Seite. Gemeinsam schauen wir die Folge zu Ende. Als endlich der letzte Zombie seinen Hunger gestillt hat, schalte ich den Fernseher aus.

„Wie wäre es jetzt mit der Bescherung?“, frage ich in die Runde.

„Ich habe mein schönstes Geschenk bereits bekommen“, entgegnet mir mein Vater, lächelt mir dankbar zu und drückt die Hand seines Partners.

Gut, Gregor ist gar nicht so übel. Ich werde mich mit ihm arrangieren können. Und wer weiß? Vielleicht gebe ich auch meiner Mutter und Roger eine Chance.

Matt Grey
 
Schau mir in die Augen, Hübscher!

„Und bist du dir absolut sicher, dass am Montag sämtliche Bars der Stadt geschlossen werden?“, frage ich meinen Freund Nico.

Nico ist nicht mein fester Freund, sondern mein bester Freund. Wir kennen uns schon seit über zwei Jahren und sind meistens am Samstagabend im Doppelpack unterwegs. Auch heute sind wir im Cranberry, unserer Lieblingsbar in Zürich. Sie ist der Treffpunkt für schwule Jungs. Dank der angenehmen Temperaturen stehen wir nicht in der Bar, sondern vor dem Eingang.

„Hast du heute Abend nicht die Worte des Bundesrates in der Tagesschau gehört?“, stellt mir Nico eine Gegenfrage, worauf ich nur den Kopf schüttle. Während der Sendung stand ich im Badezimmer, um mich für den Ausgang aufzubrezeln.

„Aber du weißt, was Corona ist?“, bohrt mein Kamerad weiter.

„Hör mir damit auf!“, meine ich frustriert. „Seit Wochen gibt es in der Schweiz kein anderes Thema mehr. Ich kann dieses Wort langsam, aber sicher nicht mehr hören.“

Nico schüttelt mitleidig den Kopf und liefert mir aber endlich die Antwort auf meine Frage: „Clubs und Bars schließen für unbestimmte Zeit ihre Türen. Wer weiß, wann sie wieder öffnen werden!“

„Aber das kann doch unsere Regierung nicht einfach so veranlassen“, schimpfe ich lauter als gewollt, denn ein paar Männer, die ebenfalls die warme Nacht außerhalb der Bar genießen, werfen mir misstrauische Blicke zu. Also senke ich rasch meinen Ton, als ich mich an Nico wende.

„Aber was sollen wir denn am Samstagabend unternehmen? Wir sind jung. Wir wollen doch am Wochenende auf die Pauke hauen. Außerdem suche ich schon lange einen Partner. Ohne Ausgang, kein Partner!“

„Wenn das dein einziges Problem ist, dann hast du immer noch verschiedene Möglichkeiten, deinen Traumprinzen zu finden, zum Beispiel im Internet“, meint Nico trocken.

Ich kann nicht verstehen, dass ihn die Schließung aller Ausgangsmöglichkeiten nicht erschüttert. Auch er ist Single. Er hatte noch nie einen festen Freund. Immerhin ist er ein Jahr älter als ich, zweiundzwanzig. Ich hatte schon mit achtzehn meinen ersten Freund. Andreas, ein blonder Superman! Aber leider nicht monogam! Nach zwei Monaten schickte ich ihn schweren Herzens in die Wüste. Etwas später trat dann Philipp in mein Leben, verschwand aber auch schon nach zehn Wochen aus meinem Leben. Danach war ich ein paar Monate mit Raphael zusammen. Dieser beendete unser Verhältnis nicht wegen eines anderen Mannes, sondern wegen einer Frau. Eine schöne Blamage für mich. Seither bin ich Single. Ein Zustand, der mir gar nicht behagt, denn ich mag Sex mit einem unbekannten Kerl überhaupt nicht. Sex und Liebe gehören für mich unbedingt zusammen. Die einzige Konstante in meinem Leben ist Nico. Wir haben uns an einem schwulen Studentenball kennengelernt, waren uns sofort sympathisch, hatten viele Gemeinsamkeiten und freundeten uns rasch an.

„Soll ich mich etwa bei einer Dating-Plattform anmelden?“, frage ich Nico.

Dieser zuckt nur mit der Schulter und meint: „Warum nicht? Du hast es, wie mir scheint, überaus eilig, wieder in feste Hände zu kommen.“

„Du etwa nicht?“

„Ich lasse mir Zeit. Mister Right wird schon meinen Weg kreuzen.“

„Du endest noch als Jungfrau.“

„Wer sagt, dass ich noch Jungfrau bin?“

„Du selbst hast es mir schon ziemlich oft jammernd erzählt.“

„Vielleicht habe ich dich nur angeschwindelt und ich …“

„Wow! Siehst du diesen Mann?“, unterbreche Nicos Redefluss blitzschnell, denn jetzt sind zwei junge Kerle aufgetaucht. Ich habe sie noch nie gesehen. Der Größere der beiden verschwindet im Innern der Bar, um Getränke zu holen, während der andere sich gelangweilt an die Mauer lehnt.

„Welchen Mann?“, fragt Nico leicht verärgert, weil ich ihn abrupt unterbrochen habe. „Hier sind über zehn Gays versammelt.“

„Der Blonde dort! Groß und schlank! Und er hat blaue Augen.“

„Aha, dein bevorzugtes Beuteschema!“, findet Nico ungerührt, fixiert aber trotzdem den Neuzugang. Ich selbst kann meinen Blick kaum von diesem Schönling lassen. Das ist er! Das ist mein zukünftiger Partner. Nur schade, dass er sich dessen nicht bewusst ist. In diesem Augenblick kommt sein Begleiter mit zwei gefüllten Gläsern zurück.

„Aha, da kommt schon sein Freund, dein größter Konkurrent!“, flüstert Nico.

„Wer sagt, dass die beiden zusammen sind? Wir stehen auch hier und sind nur beste Freunde. Vielleicht sind sie Arbeitskollegen“, verteidige ich den Blonden.

„Wenn du meinst“, ist Nicos kurze Antwort.

Dann schaut er demonstrativ auf die andere Seite, während ich aber weiterhin mit den Blicken meinen Auserkorenen verfolge. Schweigend nippen Nico und ich an unseren Gläsern. Mein so genannter bester Freund scheint eingeschnappt zu sein. Das ist mir egal, denn im Augenblick habe ich nur ein Interesse, die Aufmerksamkeit des Blonden zu erregen. Leider macht sich in diesem Augenblick meine Blase bemerkbar, sodass ich mein Glas auf einem Tisch deponiere und in der Bar verschwinde. Die Toiletten befinden sich im oberen Stockwerk. Ich beeile mich und bin vier Minuten später wieder an Ort und Stelle des überaus wichtigen Geschehens.

„Sie sind gegangen“, klärt mich Nico lakonisch auf, während ich mich gehetzt umsehe.

„Wohin?“

„Richtung Bahnhof!“

„Nichts wie hinterher!“

„Wir müssen aber noch bezahlen.“

„Hast du denn das nicht erledigt, als du die Drinks an der Bar geholt hast?“

Nico schüttelt den Kopf. Das darf doch nicht wahr sein. Ich hetze in die Bar, eile zur Theke und ruf nach dem Barkeeper. Geschlagene vier Minuten später treffe ich wieder bei Nico ein, der süffisant lächelt. „Du hast dir Zeit gelassen“, findet er grinsend.

„Der Barkeeper war dabei einen Drink zu mixen. Das hat gedauert. Aber komm jetzt! Wir nehmen die Verfolgung auf.“

Mit eiligen Schritten starte ich die Jagd, während mir Nico gemächlich folgt.

„Komm schon und beeile dich ein wenig!“, fordere ich meinen Begleiter auf, an dem aber meine Worte scheinbar abprallen. Ich verkneife mir einen weiteren Kommentar und suche die Straße nach den beiden Kerlen ab. Doch die zwei scheinen in der Menge untergetaucht zu sein. Irgendwann gebe ich frustriert auf.

„Und jetzt?“, fragt mich Nico. Darauf gibt es nur eine mögliche Antwort.

„Wir klappern alle schwulen Etablissements ab. Irgendwo werden wir meinen zukünftigen Freund schon entdecken.“ Schon haste ich wieder los, während Nico mitleidig den Kopf schüttelt, mir aber dennoch brav folgt.

 

An diesem Abend fahre ich frustriert nach Hause. Mein neuer Schwarm blieb unauffindbar. Nico hat mich um zwei Uhr verlassen, weil er müde war. Ich aber blieb bis vier Uhr im Heaven, einem kleinen Club. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Als nur noch eine Handvoll Männer gelangweilt an der Bar standen, zog ich von dannen.

Ich schlafe trotz Müdigkeit schlecht und stehe daher erst gegen Mittag auf. Ich fühle mich lustlos. Zum Glück erreicht mich eine SMS von Nico. Er fragt mich, ob wir uns in Zürich treffen wollen, um am See zu flanieren. Was für eine tolle Idee! Wer weiß, vielleicht ist der Mann meiner Träume auch unterwegs. Bei blauem Himmel und Sonnenschein bleibt doch niemand zuhause. Also bejahe ich Nicos Meldung und wir verabreden uns um vierzehn Uhr am Bellevue.

 

Kaum steige ich aus der Bahn, verfinstert sich der Himmel, und als wir den See erreicht haben, fallen die ersten Tropfen. Wir fliehen ins nächste Restaurant und warten auf das Ende des Regens, das aber auf sich warten lässt. Erst zwei Stunden später können wir uns wieder nach draußen wagen. Zwar ist es wieder trocken, dafür bläst jetzt ein kalter Wind.

„Ich geh nach Hause“, erklärt Nico, der nur ein T-Shirt trägt und zittert. Ich nicke und frage nach, ob wir uns am nächsten Wochenende treffen wollen.

„Ich melde mich am Freitag bei dir“, ist Nicos Antwort, bevor er verschwindet.

Ich schreite zügig zum Parkplatz, wo mein Auto wartet. In diesem Augenblick sehe ich etwa hundert Meter vor mir einen jungen Mann mit blondem Haar. Das muss der Typ von gestern Abend sein. Ich bin mir sicher und beschleunige meine Schritte. Ich fliege beinahe über den Asphalt. Jetzt biegt das Opfer meiner Begierde in eine Seitengasse. Gleich werde ich ihn erreicht haben. Ich biege ebenfalls um die Ecke. Da steht er und betrachtet ein Schaufenster. Vielleicht hat er mich erkannt und wartet auf mich. Noch zwei Meter! Ich verlangsame meine Schritte und komme vor dem Schaufenster einer Boutique zum Stehen. Nur eine Armlänge trennt uns. Dann dreht er sich langsam zu mir um. Die junge Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt lächelt mir freundlich zu, bevor sie sich einer anderen Frau zuwendet, die winkend die Gasse hinuntereilt. Dann fallen sich die beiden Lesben in die Arme und küssen sich überschwänglich, sodass ich fast eifersüchtig werde. Pech gehabt! Mein blonder Jüngling bleibt weiterhin verschollen. Was für ein Wochenende! Aber so schnell gebe ich mich nicht geschlagen.

Ich marschiere zu meinem Fahrzeug und kurve nach Dübendorf. Zuhause öffne ich mein Notebook und suche eine gut besuchte Internetseite für Schweizer Gays auf. Hier gibt es die Möglichkeit, Anzeigen zu veröffentlichen. Bisher habe ich noch nie eine aufgegeben, sondern habe die verschiedenen Inserate nur gelesen und mich dabei oft köstlich amüsiert. Meistens werden hier nur Sexpartner oder gleich gepolte Fetischliebhaber gesucht. Aber das Ganze ist gratis. Also melde ich mich unter meinem Konto an und verfasse eine Anzeige.

„Ich habe dich gestern Abend um zehn Uhr vor dem Cranberry gesehen. Du (blond, groß, schlank, blaue Augen) warst mit einem Kollegen vor der Bar. Ihr habt ein rötliches Getränk getrunken. Ich (schwarzhaarig, etwas kleiner, braune Augen) war auch mit einem Kollegen da. Ich habe dich immer wieder angesehen. Vermutlich ist dir das aufgefallen. Du bist mir sehr sympathisch. Ich möchte dich gerne kennenlernen. Bitte melde dich bei mir! Wir könnten uns für ein Abendessen verabreden. Ich glaube, wir wären das perfekte Paar. Was meinst du? Hab Mut und antworte mir! Bitte sofort! Danke und bis bald!“

Verflixt! Das Inserat ist viel zu lang. Ich muss es kürzen, damit es überhaupt veröffentlicht wird.

„Gestern Abend zehn Uhr vor dem Cranberry. Du (blo., gro., schl., bla. A.). Ich (schw., kl., br. A.) habe dich angesehen. Du bist sympa. Möchte dich kennenl. Melde dich!“

Diesmal wird meine Anzeige akzeptiert. Ich lese sie nochmals durch, bevor ich sie endgültig abschicke. Nun heißt es warten. Ob mein Schwarm diese Internetseite überhaupt kennt? Schon nach einer halben Stunde suche ich erneut mein Konto auf, um nachzusehen, ob eine erste Meldung eingetroffen ist. Ich bin erstaunt. Gleich fünf Antworten finde ich vor.

„Hallo! Ich stehe auf Schwarze. Mag braune Ärsche. Melde dich!“

„Du hast einen kleinen Schwanz? Kein Problem für mich! Finde ich süß!“

„Du magst große Schlangen und Blasen. Dann bin ich perfekt für dich.“

„War auch im Cranberry. Habe keine Haare mehr, aber Interesse an dir!“

Nach dieser vierten Antwort gebe ich resigniert auf. Können Schwule heutzutage nicht mehr lesen? Mein Inserat war doch klipp und klar. Was kann man da missverstehen? Diese Aktion ist gescheitert. Zwar schaue ich an diesem Abend noch zwei weitere Mal in mein Konto. Aber nichts Brauchbares trifft ein. Mit einem Riesenfrust starte ich die neue Woche.

 

Tatsächlich erstarrt das ganze Leben in der Schweiz. Corona hat das Zepter übernommen und die meisten Politiker fordern härtere Maßnahmen. Maskenpflicht herrscht ab sofort, wenn man ein öffentliches Gebäude betritt. Ich komme mir wie ein Bankräuber vor, wenn ich mein Geldinstitut besuche, um Bares abzuheben. Im Lebensmittelgeschäft erkenne ich oft meine Nachbarn oder Mitstudenten nicht, denn die Maske raubt ihnen ihre Identität. Aber das Schlimmste ist: Ich habe keine Chance, meinen blonden Schönling wiederzusehen. Wenn ich am Samstagabend durch Zürichs Gassen streife, sind diese oft menschenleer. Kein Wunder, es ist ja alles geschlossen. Immer öfter fahre ich gar nicht mehr in die Metropole, sondern sitze bei Nico auf dem Sofa und schaue mit ihm irgendeinen Netflix-Film. Das Leben ist ein wahres Trauerspiel. Dennoch denke ich immer wieder an den blonden Unbekannten.

Wenn ich allein oder mit meinem besten Freund bei schönem Wetter Ausflüge unternehme, fällt mir jeder blonde Haarschopf sofort in Auge. Dann ist mein Interesse geweckt und ich muss diese Person aus der Nähe sehen. Nico kennt allmählich diese Prozedur und beschwert sich nicht mehr, wenn ich die Verfolgung aufnehme. Aber jede Jagd endet mit einer Enttäuschung. Mein Inserat habe ich in der Zwischenzeit gelöscht, denn die vielen stets sexuell orientierten Antworten haben mich genervt. Ich habe danach eine weitere kleine Anzeige in einer Gratiszeitung der Stadt Zürich lanciert. Aber da ich diese Idee erst zwei Wochen später hatte, war mir das Glück auch bei dieser Aktion nicht hold.

Ich vergeude wegen Corona meine schönsten Jahre. Kein Abtanzen im Club ist mehr möglich! Den Pride gibt es in diesem Jahr ebenfalls nicht. Das Leben steht still. Aber meine Lebenszeit nicht! Darum bin ich fast euphorisch, als mir Nico eines Tages einen Flyer in die Hand drückt.

„Eine illegale Party“, sagt er und grinst. Tatsächlich findet in einer Industriezone abseits der Stadt in einem Kellergewölbe eine schwule Party statt. Natürlich mit freiwilliger Maskenpflicht und der Aufforderung, diesen Flyer nur an verschwiegene Zielpersonen weiterzureichen.

„Da mischen wir mit“, jauchze ich. „Endlich wieder einmal etwas Abwechslung!“ Schon kreisen meine Gedanken um meinen Traummann. Ob er diesen Flyer auch in die Hände gekriegt hat? Meine Chancen stehen nicht schlecht, finde ich. Er ist jung und schwul wie ich. Also verabreden Nico und ich uns für den kommenden Samstagabend.

 

Ich hole meinen besten Kumpel pünktlich nach elf Uhr abends bei ihm zuhause ab, denn es ist nicht möglich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu dieser Partylocation zu gelangen. Außerdem wollen wir nicht auffallen. Deshalb parke ich auch auf einem etwa hundert Meter entfernten Feld. Nachdem wir das Auto verlassen haben, schlendern wir durch das nur schwach beleuchtete Industrieviertel. Kein Mensch weit und breit! Vielleicht war dieser Flyer nur eine Verarschung oder die Polizei hat die Party, bevor sie begonnen hat, bereits wieder beendet. Mit solchen Gedanken nähern wir uns dem Ziel unserer Reise. Aber dann vernehmen wir einen kaum hörbaren Bass. Vor dem Eingang, aus welchem der Sound dröhnt, stoppen wir unsere Schritte. Nico tritt tapfer vor, drückt den metallenen Türgriff und öffnet das Tor in eine andere Welt. Die Musik wird augenblicklich lauter.

„Los, kommt sofort rein und schließt die Tür! Wir wollen doch keine Aufmerksamkeit erregen.“

Diese Worte spricht ein Mann, der eine schwarze Ledermontur trägt. Wir befolgen seinen Ratschlag sofort.

„Zwanzig Franken pro Nase!“, erklärt der Kerl und hält uns seine Hand hin, die ebenfalls in einem schwarzen Lederhandschuh steckt. Widerwillig öffnet Nico seine Geldbörse und reicht dem Ledermann das geforderte Geld. Natürlich bezahlt er auch meinen Eintritt. Ich war ja der Fahrer. Nun betreten wir neugierig und fast ehrfürchtig einen schwarzen Flur, an dessen Ende eine Treppe nach unten führt.

„Wollen wir die Maske überziehen?“, fragt mich Nico. Er ist ziemlich ängstlich, was Corona betrifft.

„Mach, was du nicht lassen kannst!“, entgegne ich ihm kühn, denn meine blaue Maske bleibt zerknittert in meiner Hosentasche. Aber Nico zieht sich eine weiße Stoffmaske über, was irgendwie komisch aussieht.

Mutig steigen wir die Treppe hinunter, während der Sound nun wahnsinnig laut ist. Eine letzte Tür muss noch geöffnet werden, dann stehen wir in einem halbdunklen Gewölbe. Sofort schweift mein Blick über die Besucher. Es müssen fast hundert Personen sein, die sich hier versammelt haben, um endlich wieder einmal Spaß zu haben. Zwei, drei Maskenträger sind unter ihnen. Somit ist Nico wenigstens nicht allein. In einer Ecke stehen ein paar Plastiktische, unter denen Kisten mit Flaschen stehen. Eine männliche Dame steht daneben und verkauft Getränke in kleinen Pappbechern. Ich glaube, ich habe diesen Transvestiten schon einmal bei einem Auftritt im Heaven erlebt. Er, beziehungsweise sie, heißt Henriette van der Zucker. Im Hintergrund erkenne ich eine kleine Bühne. Vielleicht hat Henriette heute eine kleine Showeinlage für uns Gäste vorbereitet. Aber genau in diesem Augenblick springt eine Schar halbnackter Jünglinge auf die Bühne. Die knappen, hautengen Shorts sind nebst einer goldenen Gesichtsmaske, die Nase und Mund bedeckt, die einzigen Dinge, die sie tragen. Die aufreizenden Jungs beginnen ihre makellosen Körper zu der hämmernden Musik zu bewegen. Sofort treten Nico und ich näher an die Bühne. Meine Blicke wandern über die fünf Tänzer und bleiben auf dem Letzten haften. Das ist er! Blondes Haar, schlank und groß! Die blauen Augen stelle ich mir vor, denn die Distanz ist zu groß und das Licht zu schummrig. Ich verfolge jede Bewegung meines Traummannes. Ich spüre, wie mich eine Erregung überkommt. Zum Glück kann niemand sehen, was nun in meiner Hose abläuft. Mein blonder Gott hat einen begnadeten Körper. Kein Gramm zu viel. Wunderschöne Muskeln. Und erst das goldene, kurze Haar! Ich bin fassungslos. Mein Atem geht schneller, denn nun verlassen die Tänzer die Bühne und mein zukünftiger Lebenspartner marschiert tänzelnd auf mich zu. Mein Herz rast.

Dann geht alles blitzschnell. Abrupt bricht die Musik ab und grelles Licht durchflutet das Kellergewölbe.

„Hier spricht die Polizei. Bitte bleiben Sie stehen! Wir möchten gerne Ihre Personalien aufnehmen, denn dies ist eine illegale Party. Wir bitten Sie, sich ruhig zu verhalten und keine Gewalt anzuwenden.“

Ich werfe Nico einen erschrockenen Blick zu und bemerke, dass sein Gesicht noch blasser als seine weiße Maske geworden ist.

Alle Partygäste müssen sich in eine Reihe stellen. Wenigstens tanzt keiner aus der Reihe. Gays sind zum Glück friedliche Menschen. Ich suche die Halle nach meinem Traummann ab. Dieser ist aber wie vom Erdboden verschwunden. Nur zwei der halbnackten Tänzer weilen noch unter uns. Ob mein Engel durch einen Hinterausgang entwischt ist? Wie gerne würde ich eine Gefängniszelle mit ihm teilen!

„Wie erkläre ich das meinen Eltern?“, jammert Nico neben mir.

„Du bist volljährig. Wenn du deinen Eltern nichts von dieser Party und der Polizei erzählst, werden sie nie etwas davon erfahren“, erkläre ich meinem verängstigten Kumpel.

Dieser nickt erleichtert. „Zum Glück bist du bei mir. Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn ich jetzt allein wäre“, findet Nico und lächelt mir schüchtern zu. Ich schenke ihm ebenfalls ein zuversichtliches Grinsen, obwohl auch ich nervös bin, einerseits wegen der Polizeikontrolle, andererseits wegen meines verschwundenen Tänzers.

 

Wir kommen mit einer dreistelligen Buße davon. Nico will sogar meine Buße übernehmen, weil er mich mit diesem Flyer quasi zu dieser Party überredet hat. Das lasse ich aber nicht zu. Für den Rest des Jahres lassen wir die Finger von sämtlichen illegalen Anlässen und Aktionen, obwohl ich gern einmal an einer Demonstration der so genannten Querdenker teilnehmen würde. Ich ziehe mir sogar bei jeder Gelegenheit meine neue, goldene Stoffmaske über. Ich habe sie zufällig bei Aldi entdeckt. Jedes Mal, wenn ich sie trage, erinnert sie mich an meinen blonden, zukünftigen Gatten.

***

Trotzdem wandere ich an diesem Abend durch die beleuchtete Zürcher Innenstadt, um ein paar Weihnachtsbesorgungen zu machen. Dieses Jahr gibt es nur kleine Geschenke. Mein Weg führt mich in ein Einkaufscenter. Weihnachtsmusik erfüllt die Gänge und Geschäfte, und trotz des verfluchten Virus strömen von allen Seiten maskierte Menschenmassen in dieses Shoppingparadies. Die Rolltreppe bringt mich in den vierten Stock. Abstand zu halten, wie es unser Magistrat angeordnet hat, wollen die einkaufslustigen Besucher hingegen nicht. Das stört mich nicht weiter. Dennoch bin ich froh, dass Nico im letzten Moment absagen musste, weil ihm etwas dazwischengekommen ist. Für ihn wäre dieses Gedränge gar nichts. Allmählich wird er immer hysterischer, was Corona betrifft. Vielleicht liegt es daran, dass sein Opa vier Wochen im Spital verbringen musste und nur knapp dem Tod entkommen ist.

Die Menschenmasse nimmt stetig zu und ich finde schnell heraus, wieso das so ist. Der Weihnachtsmann höchstpersönlich hält Hof. Der dicke, alte Mann mit weißem Haar und dichtem Bart thront auf einem Sessel und ist umgeben von Geschenken. Anders als in früheren Jahren dürfen die kleinen Kinder nicht auf seinem Schoss sitzen und ihm ihre Hoffnungen ins Ohr flüstern. Dieses Jahr stehen sie artig in zwei Meter Entfernung und schreien ihm ihre Wünsche zu. Dieses Schauspiel bringt mich zum Grinsen, weil es so surreal ist. Ein kleines Mädchen weint erbärmlich, weil es von der Mutter zurückgehalten wird, damit es dem Weihnachtsmann nicht zu nahekommt. Der alte Herr gehört bestimmt zur Risikogruppe oder trägt den Virus sogar in sich.

Zur selben Zeit nähert sich aber von der anderen Seite ein zweiter, ziemlich fetter Elf, der meinen blonden Elfen wohl ablösen soll. Also halte ich kurz inne und nehme, sobald mein blondes Weihnachtsgeschenk auf zwei Beinen seinen Arbeitsplatz verlässt, erneut die Verfolgung auf. Auf diese Chance habe ich monatelang gewartet. Jetzt gehört er endlich mir.

***

 

So stehe ich an diesem Tag pünktlich vor seinem Elternhaus und klingle artig. Ich höre Nicos Schritte, und schon wird die Haustür aufgerissen. Wir begrüßen uns mit Worten und nicht wie früher mit Handschlag. Natürlich wegen Corona! Erst dann fällt mir etwas auf. Nico hat sich drastisch verändert. Sein dichtes, hellbraunes Haar ist verschwunden. Nein, natürlich trägt er nicht plötzlich eine Glatze. Aber seine Haare sind schon relativ kurz, aber vor allem blond. Ich stutze und Nico grinst mich frech an.

„Super!“, nuschle ich nervös. Denn der neue Nico gefällt mir. Nicht, dass Nico jemals nicht hübsch gewesen ist! Er war schon immer gutaussehend, nur ist mir das nie aufgefallen, weil mein Beuteschema blond war. Und nun ist Nico plötzlich blond. Von einem Tag auf den andern. Das verwirrt mich ungemein. Nico, mein bester Kumpel! Nico, der Mann, der seit über zwei Jahren mit mir durch die Welt schreitet! Nico, der mir zuhört, wenn ich Kummer habe oder dummes Geschwätz von mir gebe. Nico, dem ich immer und überall vertrauen kann. Mein Nico!

 

Täglich bade ich heute in seinen blauen Augen und blicke bis tief in sein Herz, das nur für mich schlägt. Dann berühren meine Lippen seinen Mund und unsere Küsse lassen uns alle Entbehrungen der Pandemie vergessen.