Himmelstürmer Verlag, part of Production House,
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Originalausgabe, Oktober 2021
© Production House GmbH
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
Zuwiderhandeln wird strafrechtlich verfolgt
Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage
Umschlaggestaltung:
Juliana von Farbenmelodie
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ISBN print 978-3-86361-942-8
ISBN e-pub 978-3-86361-943-5
ISBN pdf 978-3-86361-944-2
Alle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist nicht beabsichtigt
Yavanna Franck
Barkarole 2
- Licht über dem Abgrund -
„Auf weinfarbenem Meer segelnd zu anderen Menschen“
Zitat aus Homers „Odyssee“
Was bisher geschah …
„Licht über dem Abgrund“ ist die Fortsetzung von „Die Grenzen der Freiheit“.
Im Herbst 1970 floh der damals zwölfjährige Hannes vor seinem gewalttätigen Vater, Hans Friedrich. In Frankfurt begegnete er Lukas, Kopf einer kriminellen Jugendbande. Zwischen beiden entwickelte sich im Laufe der Monate eine zarte Romanze inmitten des alltäglichen Überlebenskampfes, mit teils drastischen Erfahrungen. Vier Jahre später musste Lukas, um dem schwerkranken Freund zu retten, eine folgenschwere Entscheidung treffen. Der Preis für die Rettung durch seine Eltern war die Aufgabe seines Straßenlebens; er kehrte ins bürgerliche Leben zu seinen Eltern zurück. Hannes blieb allein auf der Straße, jedoch konnte Lukas sein Versprechen, weiterhin für den Geliebten da zu sein, nicht halten. Hannes misslang der Ausstieg aus der Szene, er wurde beim Dealen geschnappt und verhaftet. Reuther, sein Pflichtverteidiger, begegnete zufällig Lukas und gemeinsam gelangt es ihnen, Licht in Hannes’ Herkunft zu bringen. Sie stießen bei ihren Recherchen nicht nur auf Beweise für den jahrelangen Missbrauch an dem Jungen, sondern auch auf die SS-Vergangenheit von Hans Friedrich. Sie fanden heraus, dass der Makler Albrecht Kolbe Friedrich gedeckt hat. Als Reuther ihn damit konfrontierte, traf er im Haus des alten Mannes dessen Tochter, die in ihm den Vater ihres angeblich totgeborenen Kindes erkannte. Reuther erfuhr, dass Gloria und er die Eltern von Hannes sind und er somit eine Mitschuld an dessen Tragödie trägt.
Intermezzo
Reuther, Bockenheim, Ende Juni 1978
Erst als er am Abend für Lukas alles in seiner verqualmten Bude rekapitulierte, erfasste er die gesamte Tragweite des Geschehens. Nichts würde mehr sein wie zuvor.
Er saß auf der Couch und stützte fassungslos das Gesicht in die Hände.
„Mein Gott Lukas, was soll ich jetzt bloß machen, er ist mein Sohn!“
„Mit Hannes reden?“, schlug Lukas vor.
Reuther dachte nach. „Ich kann ihm die ganze Wahrheit nicht einfach vor den Kopf knallen, wenn ich kaum damit umgehen kann, wie soll er es erst können?
Und überhaupt, ich wäre dann das Mandat für ihn los. Das heißt für Hannes: ein neuer Anwalt und der Prozess und alles würde sich verzögern. Wie soll er das verstehen?“
Reuther lehnte sich genervt nach hinten und zündete mit zittrigen Fingern eine weitere Zigarette an.
„Dann sag ihm, was er wissen muss, dass du weißt, was ihm in seiner Kindheit passiert ist.“ Lukas blickte Reuther ins gramvoll zerfurchte Gesicht. „Wahrscheinlich hat er nie zuvor mit jemand über den Missbrauch gesprochen“, sagte er starr.
„Nein, wohl kaum“, antwortete Reuther. „Und er muss es auch jetzt nicht, was soll er mir sagen, was ich nicht schon weiß? Es wird ohnehin schon schwer genug für ihn sein, dass jemand sein bestgehütetes Geheimnis aufgedeckt hat.“
Er zog den staubigen, einäugigen braunen Plüschbären aus dem Rucksack, in dem der seit dem Einbruch noch immer tief verstaut gelegen hatte.
Lukas rümpfte die Nase. „Dem solltest du gelegentlich das Fell ausbürsten.“
„Ja“, sagte Reuther, „und bei passendem Anlass kriegt Hannes ihn zurück. Er soll wissen, dass ich da war und auch, dass Hans Friedrich tot ist. Vielleicht hilft ihm das, seine Ängste zu überwinden.“
Die beiden Männer sahen sich wortlos an, dann stand Reuther auf und holte eine Flasche Whisky und zwei Gläser.
„Verdammte Scheiße!“, fluchte Reuther, nachdem er das zweite Glas, wie um sich zu betäuben, hinuntergekippt hatte. „Ich wollte nie Kinder und jetzt das!“
„Er ist ja nun nicht gerade mehr ein Kind“, versuchte Lukas zu scherzen.
Reuther sah ihn nur stumm aus wasserblauen Augen an. „Das macht das Ganze nicht gerade leichter“, sagte er nach einigem Zögern. „Ich habe keine Ahnung wie es weitergehen soll, wenn Hannes die ganze Wahrheit kennt.“
„Das Beste wird sein, du sprichst mit seiner Mutter darüber, sie geht es doch genauso viel an wie dich.“
Reuther starrte an die Decke, als ob dort die Antwort auf seine Fragen und die Lösung all seiner Probleme geschrieben stand. „Ich weiß von ihr noch viel weniger als von dem Jungen. Verdammt Lukas, zwanzig Jahre! Es war nur eine einzige Nacht. Außerdem ist sie verheiratet und hat noch vier richtige Kinder. Und ihr Ehemann hat keine Ahnung von allem. Ich weiß nicht mal wo sie wohnt, wie ich sie erreichen kann.“
„Das dürftest du ihren Vater wohl berechtigterweise fragen dürfen! Er hat an Hannes schließlich einiges gut zu machen.“
„Ich glaube kaum, dass deine Idee seine Zustimmung finden wird. Er muss ein Interesse daran haben, dass die Ehe zwischen seiner Tochter und deren Mann bestehen bleibt, da geht es um erhebliches Vermögen, der Typ ist Banker!“
Lukas grinste frech. „Fein, dann kannst du Kolbe ja anbieten, bei Familie Harder aus dem Nähkästchen zu plaudern, wenn er ihre Telefonnummer nicht rausrückt. Einen Termin bei der Bank kann sich schließlich jeder holen.“
Reuther seufzte. „Ach, ich weiß nicht. Aber wahrscheinlich wäre es tatsächlich das Beste, mit ihr zu reden. Nur, ein wenig habe ich Muffensausen. Gloria ist eine unglaublich schöne Frau, total mein Typ. Ich könnte mich glatt in sie verlieben.“
„Hast du das nicht bereits vor zwanzig Jahren?“
Reuther sah den jungen Freund vorwurfsvoll an. „Sie war erst vierzehn, es war ein Abenteuer, nichts weiter. Obwohl sie wirklich zauberhaft war. Hübsch, schlank, vollendet gebaut … Gott, ich war ein unglaublicher Weiberheld, bin es eigentlich immer noch, würde Simone jetzt sagen. Ich habe nie einen Rock ausgelassen, wenn ich ihn kriegen konnte! Mann Lukas, du bist erst dreiundzwanzig, das solltest du doch verstehen!“
Lukas lachte herzlich und trank sein Glas leer. „Nur, dass ich es nicht so mit Frauen habe, dein Sohn ist mehr mein Fall. Ihn würde ich gern wieder sehen.“
„Hast du es deinen Eltern gesagt?“
„Ich bin doch nicht irre! Die sind sowas von stockkonservativ. Damals, als Hannes bei uns war, haben sie uns in Ruhe gelassen. Weiß nicht, ob sie da was von unseren Aktivitäten mitgekriegt haben, wir waren eher vorsichtig. Aber wenn, haben sie es mit Sicherheit als Phase betrachtet, alles andere passt nicht in ihr Weltbild. Jetzt fragen sie schon öfter mal, ob ich mir nicht langsam eine Freundin zulegen möchte. Ich schiebe dann immer das Studium vor.“
Reuther schmunzelte „Ich weiß nicht mal, ob Hannes wirklich schwul ist. Vielleicht will er dich ja nicht wiedersehen?“
Lukas zuckte die Schulter. „Wir hatten trotzdem eine gute Zeit. Und seit ihm hatte ich nie mehr eine feste Beziehung.“
„Du wirst ihn schon wiedersehen, nur lass uns erst den Prozess hinter uns bringen, ich befürchte, dein Auftauchen würde ihn gehörig aus der Bahn werfen. Dann abwarten, was ich für ihn rausholen kann. Ich denke, ich mach es so, wie du vorgeschlagen hast. Nur das Nötigste und wenn dann der Alltag eingekehrt ist, und er sich in sein Leben, wie oder wo auch immer, eingefunden hat, soll er die ganze Wahrheit erfahren. Dann wird er sicher auch in der Lage sein, mit mir über alles zu sprechen und vielleicht kriege ich sogar Gloria dazu, dass sie ihn wenigstens mal besucht. Ich kann mir vorstellen, dass es ihn glücklich machen würde, doch eine Mutter zu haben.“
„Hm, glaub ich auch“, bestätigte Lukas und legte die Beine auf den Sessel gegenüber. „Zumindest hat er sich früher eine gewünscht.“ Dann griff er nach der Flasche und kippte beide Gläser noch einmal voll.
Übermorgen endlich würde der Prozess stattfinden.
Reuther hatte seine verwandtschaftliche Beziehung zu dem Jungen bisher für sich behalten. Der arme Kerl saß nun bereits drei Monate in Untersuchungshaft. Es sollte nicht noch mehr Verzögerungen geben.
Obwohl er für die bisherigen nicht verantwortlich war, die Psychologen, die Hannes untersucht hatten, waren nicht sicher, ob er überhaupt schuldfähig war. Sein Intelligenzquotient lag am unteren Rand zur geistigen Behinderung. Erst ein drittes Gutachten hatte ihm bescheinigt, dass der Junge wohl doch einschätzen konnte, was er getan hatte.
Reuther machte sich Sorgen um ihn. Vor Gericht würde er von sich erzählen müssen, ob er dazu bereit und in der Lage war?
Er ließ sich durch die Sicherheitsvorkehrungen der Haftanstalt schleusen, erwartungsvoll, wie Hannes heute drauf sein würde. An diesem Tag sah er ihn zum ersten Mal in dem Bewusstsein, dass er sein Sohn war. Reuther fühlte sich flau im Magen. Und das lag mit Sicherheit nicht an dem vielen Whisky der letzten Tage.
Er hatte sich immer bewusst gegen Kinder entschieden, etliche seiner Liebschaften waren daran zerbrochen. Und nun Hannes, ein netter und sogar hübscher Junge. Aber der Rest? Reuther fluchte. Wenn schon ein Kind, dann hätten die Bedingungen perfekt sein müssen, gute Bildung, ein schönes zu Hause, eine Mutter, die sich ausschließlich um das Wohl des Kleinen zu kümmern hatte.
Wie klang das denn auch: Mein Sohn ist Analphabet und außerdem ein Stricher. Auf der anderen Seite, wen ging es was an? Sein Bruder fiel ihm ein, aber der war sowieso ein echter Spießer und sie hatten sich seit Jahren nicht gesehen. Georg war seit über zwanzig Jahren mit der gleichen Frau verheiratet, hatte zwei wohlgeratene Sprösslinge, eine gut laufende Kanzlei … Reuther winkte desinteressiert ab. Als ob er sich vor sich rechtfertigen musste!
Die einzige Alternative für ein eigenes Kind war lange Zeit die Pflegschaft eines Waisenkindes aus dem Kinderheim für ihn gewesen. Er hatte jahrelang vergeblich selbst auf Eltern gewartet.
Doch es machte einen gewaltigen Unterschied, eine Kriegswaise oder ein vernachlässigtes Straßenkind zu sein. Die siebziger Jahre waren zwar gerade hier in Frankfurt von Unruhen, Straßenkämpfen und RAF-Aktivitäten gezeichnet, aber das ließ sich nicht mit dem Krieg vergleichen. Damals lag die Stadt in Trümmern und alle waren gleich arm.
Jetzt, im Jahr 1978, gab es für verwahrloste und obdachlose Kinder eigentlich keinen wirtschaftlichen Grund mehr, nur familiäre und gesellschaftliche und das war bitter genug.
Allerdings, Lukas hatte schon Recht. Hannes war kein Kind, er musste sich also gar keine Gedanken machen.
Hannes stand am Fenster und sah auf den engen Anstaltshof hinaus. Kein Grün, kein Baum, nur das wolkendurchzogene Blau des Junihimmels.
Hier in der Zelle war es kühl. Hannes schien zu frieren, er hatte seine blaue Anstaltsjacke an.
Er drehte sich um, als der Anwalt eintrat.
„Hallo, Hannes.“
Der Junge hatte eindeutig Glorias Augen. Wieso war ihm das nie zuvor aufgefallen? Auch die Haarfarbe war dieselbe, nur trug sie eine elegante Hochsteckfrisur, Hannes’Mähne hingegen hing strähnig und ungepflegt bis auf die Schultern. Er war mit Sicherheit nicht größer als seine Mutter.
Er suchte nach Zeichen einer Ähnlichkeit zu sich selbst, fand aber keine. Merkwürdigerweise enttäuschte ihn das.
Die Gummibärchen schob er dem Jungen gleich in die Hand.
„Danke“, sagte er und lächelte.
„Es gibt Neuigkeiten“, hub der Anwalt zögerlich an.
Hannes sah ihn aus großen Augen an und schob sich drei rote Bärchen in den Mund. Die Roten aß er scheinbar am liebsten. Reuther musste schmunzeln, gab es also doch Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Er naschte ebenfalls als erstes die roten Bärchen aus der Tüte.
„Du hast mir einiges aus deiner Vergangenheit erzählt“, eröffnete Reuther umständlich das Gespräch. „Ich habe mich daraufhin auf den Weg gemacht, um deine Familie zu finden.“
Hannes ließ die Tüte auf den Tisch sinken. „Was? Aber …“
Der Anwalt beugte sich vor und legte seine Hand auf die des Jungen.
„Du brauchst dich nicht mehr vor Hans Friedrich zu fürchten. Er lebt nicht mehr. Aber ich war vorher in seinem Haus und habe von dort deinen alten Teddy mitgebracht. Ich weiß auch, was dir dieser Mann angetan hat, Junge. Du musst nicht darüber sprechen, wenn du nicht willst.“
Hannes war erbleicht, er sagte kein Wort. Reuther konnte sehen, dass ihm unzählige Gedanken durch den Kopf rasten, fast wirkte er verwirrt. Er zog seine Hand zurück.
„Wie ist er gestorben?“
„Es gab eine Explosion in seinem Haus und ein Feuer, alles wurde zerstört, er ist in den Trümmern umgekommen.“
Ein schockiertes Staunen umzuckte den Mund des Jungen. „Aber, er war mein Vater ... es ist nicht gerecht, oder?“
„In gewisser Weise schon“, erwiderte Reuther. „Auch wenn ich wünschte, ein Gericht hätte über ihn urteilen können. Aber ich habe noch mehr Neuigkeiten für dich. Hans Friedrich hat dich angelogen, deine Mutter ist nicht tot, Hannes. Aber sie hat geglaubt, dass du es bist.“
Hannes sprang auf, der Stuhl polterte auf die Erde. Dann sank der schmale Junge in sich zusammen und barg das Gesicht in den Händen.
Reuther hörte ihn heftig schluchzen.
„Das glaube ich Ihnen nicht, das kann nicht sein. Ich will nicht, dass es so ist! Es kann doch nicht alles falsch gewesen sein!“
Dann fing Hannes an zu schreien.
Nervös zündete Reuther seine nächste Zigarette an.
Die Verabredung hatte ihn drei Wochen gekostet. Drei Wochen, in denen er sich leer und ausgebrannt vorkam. Selbst die geselligen Abende mit den Kumpeln aus alten Studententagen bei Gerardo vermochten ihn nicht bedeutend aufzuheitern.
Er hatte die alltäglichen Arbeiten in seiner Kanzlei wieder aufgenommen. Ein Verkehrssünder, der bei Rot über die Ampel gefahren war, ein Nachbarschaftsstreit wegen nächtlicher Ruhestörung, ein Ladendieb mit Hausverbot in sämtlichen Kaufhäusern der Stadt und ein notorischer Schwarzfahrer.
Er hatte Briefe geschrieben, Gespräche geführt, einen Auszug aus dem Flensburger Register angefordert … berührt hatte ihn nichts davon, er hatte einfach seinen Job gemacht, der ihn kaum ernähren konnte.
Den Fall mit Hannes Friedrich war er endgültig los, aber die Geschichte des Jungen hielt ihn weiterhin gefangen.
Endlich fuhr der schneeweiße 3er BMW vor, Reuther drückte die Zigarette mit dem Absatz aus. Einer Dame wollte er nicht mit brennender Kippe gegenübertreten.
Gloria stieg aus. Sie sah umwerfend aus! Das hellgraue Kostüm mit der roten Bluse saß perfekt und schmeichelte ihrer traumhaften Figur. Kaum zu glauben, dass diese Frau vier, nein fünf Kinder geboren hatte. Sie wirkte zierlich, fast schon schmal und von graziler Schönheit. Der sanfte Schwung ihrer Hüften, gerade, wohlgeformte Beine, ihre Brüste nicht aufdringlich hervorquellend, sondern von der Form und Größe eines perfekten Apfels.
Ihr Haar war nur an den Schläfen hochgesteckt, so dass sich eine Fülle wundervoller, dunkelbrauner Locken auf ihre Schultern ergossen.
Trotz der Sommerhitze trug sie Nylons, die Füße steckten in roten, spitzen Pumps mit hohem Absatz. Reuther war trotzdem einen Kopf größer als sie.
Er vollbrachte die Andeutung einer Verneigung, die Gloria schmunzeln ließ. Galant hielt er ihr die Tür zum Restaurant offen. Es war eines der besten der Stadt und Reuther konnte es sich eigentlich nicht leisten, so vornehm zu speisen. Nur wäre alles andere vermutlich unter ihrer Würde gewesen und er hatte sich nicht getraut, sie einfach zu Gerardo zu bitten.
Der Kellner führte sie zu einem kleinen Erker, in dem ein Tisch für zwei eingedeckt war.
Was trank man in Gegenwart einer faszinierenden Frau? Bisher hatte sich Reuther nie groß darum geschert, sondern immer das genommen, worauf er gerade Lust hatte.
Gloria wählte Mineralwasser, also nahm er ebenfalls eins, zum Essen sollte es dann aber doch ein passender Wein sein.
„Du wolltest mich sprechen?“ Gloria nippte dezent an ihrem Wasser.
Reuther nickte. Es war schwer genug gewesen, an sie heranzukommen, nun wollte er die Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen.
„Du kannst dir denken, worüber.“
Die Traumfrau nickte, „der Junge, nicht wahr? Wie ist die Verhandlung überhaupt ausgegangen?“
„Es gab keine“, antwortete Reuther knapp.
Gloria zog überrascht die Stirn in Falten. Es stand ihr himmlisch!
„Hannes hatte einen Zusammenbruch. Er ist seither verhandlungs- und haftunfähig. Er wurde in die geschlossene Psychiatrie im Uniklinikum verlegt.“
„Wieso ist er nicht in der Haftanstalt versorgt worden, gibt es dort nicht auch Behandlungsmöglichkeiten?“
„Ich weiß es nicht“, gab Reuther zu. „Ich habe bei der Staatsanwaltschaft nachgefragt, man sagte mir, die Ermittlungen im Fall Friedrich seien eingestellt worden. Anscheinend habe man sich wohl der widersprüchlichen Gutachten zu seiner Schuldfähigkeit erinnert. Nach dem Desaster vor drei Wochen passten die ihnen wohl gut in den Kram.
Mir wurde lediglich mitgeteilt, dass ich meine Kosten bei der Justizkasse einreichen solle und damit sei der Fall für mich erledigt. Das war‘s.“
„Und sonst nichts?“
„Doch“, ergänzte Reuther, „der Rest hat aber nichts mehr mit meinem Job als Anwalt zu tun, sondern mit meiner Rolle als Vater.“
„Du hast es also akzeptiert?“
„Ich habe zunächst einen Test machen lassen. Ja, ich weiß, ich habe dir zwar auch so geglaubt, aber ich wollte trotzdem sicher sein.“
„Und jetzt bist du es?“, fragte Gloria mit einem sarkastischen Unterton.
Reuther nickte. „Ja, zu 95 %, das ist wohl ausreichend, finde ich.“
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Was glaubst du denn, mit wie vielen Männern ich mit meinen vierzehn Jahren das Bett geteilt habe? Ich war ein gut behütetes, naives Kind, ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da eingelassen habe in jener Nacht. Aber ich habe es auch nicht bereut. Und du hast meinen Vater erlebt, er ist nicht gerade für seinen Großmut oder Vertrauensseligkeit bekannt. Ich hätte dich wohl kaum als Kindsvater benannt, wenn ich mir nicht sicher gewesen wäre.“
Reuther erhob in einer Abwehrgeste beide Hände. „Schon gut, schon gut. Es war auch nicht als Kritik an dir gemeint. Hannes hat nur so gar nichts von mir, das war es wohl.“
Seine hübsche Tischnachbarin rückte aufmerksam vor. „Wie sieht er überhaupt aus?“
„Er ist dein Spiegelbild“, lächelte Reuther.
„Luca“, sagte Gloria unvermittelt.
„Ist wer?“
Gloria verzog schmerzlich das Gesicht. „Auch vierzehnjährige, naive Schulmädchen haben Träume. Als mir klar war, ein Kind zu erwarten, habe ich von meinem Baby geträumt. Tagträume eines Teenagers, fern jeder Realität. Ich glaubte, das Leben würde einfach so weitergehen, nur eben mit Kind. Und natürlich hatte ich mir einen Namen für ihn überlegt, er sollte Luca heißen.“
Reuther beugte sich ergriffen vor und nahm ihre Hände. „Das ist ein schöner Name und er passt zu ihm. Dann lass diesen Teil des Traumes wahr werden. Der Junge, unser Sohn, trägt jetzt den Namen eines Verbrechers. Wenn es ihm besser geht, soll er erfahren, wer er wirklich ist und den Namen bekommen, den du für ihn ausgesucht hast.“
Gloria liefen Tränen über das Gesicht. „Du sagst das einfach so, Winnie. Natürlich kann er Luca heißen, aber was soll aus ihm werden? Wo gehört er hin? Ich bin verheiratet und habe noch Kinder im Haus. Edgar weiß von all dem nichts und er soll es auch nicht erfahren. Unsere Ehe ist so schon schwierig genug.“
Reuther traf eine spontane Entscheidung. „Dann soll er meinen Namen tragen, Luca Reuther, was meinst du?“
„Und, wirst du für ihn sorgen? Er hat so furchtbare Dinge durchgemacht, wer weiß, ob er wieder richtig gesund wird. Kann er selbständig leben und wenn ja, wie soll es nach seiner Genesung weitergehen?“
Das war allerdings tatsächlich ein Problem, in seiner jetzigen Bude fand sich kaum Lebensraum für ihn allein und bezahlbarer Wohnraum in Frankfurt war so knapp wie sein finanzieller Spielraum an Möglichkeiten.
Trotzdem wischte Reuther diesen Einwand zur Seite. „Eins nach dem anderen. Ich werde zunächst beim Vormundschaftsgericht vorsprechen, ich will ihm seine wahre Identität zurückgeben und vielleicht können die dort auch was für ihn tun. Ich habe damals, als ich aus dem Heim entlassen wurde, auch eine Wohnung von der Stadt bekommen. Die Frage ist viel mehr, was für dich machbar ist. Wirst du ihm eine Mutter sein können, kriegst du das mit deiner Familie unter einen Hut? Und für das Gericht werde ich dich ebenfalls brauchen, nur ein Vater geht irgendwie schlecht.“
„Die werden wissen wollen, wie er abhandengekommen ist“, warf Gloria vorsichtig ein. „Ich kann wohl kaum meinen Vater belasten.“
„Die Toten können sich nicht wehren.“
„Willst du ihn umbringen?“
Reuther lachte. „Nein, ich dachte eher an Friedrich, eine Entführung oder so. Denk dir irgendwas aus, warum ihr keine Anzeige erstattet habt, zieh den Arzt mit rein, von wegen Totgeburt oder so.“
Gloria seufzte. „Also das gleiche Märchen, das man mir aufgetischt hat, nochmal fürs Gericht!“
Der Kellner brachte das Essen und den Wein. Er schenkte eine kleine Menge ein, Reuther probierte und gab den Wein frei.
Beide schwiegen über den ersten Bissen ihrer teuren Mahlzeit.
„Ich kann nichts versprechen“, bekannte Gloria. „Schon dieses Treffen heute mit dir hat mir logistische Hochleistungen abverlangt. Edgar ist penetrant misstrauisch und fast schon krankhaft eifersüchtig.“
„Das wäre ich an seiner Stelle auch“, schmunzelte Reuther.
Sie blinzelte ihn nur kurz vorwurfsvoll an. „Prinzipiell kann Edgar mir gestohlen bleiben, wären da nicht die Kinder. Sie sind mein ein und alles, machen das Zusammensein mit diesem Mann überhaupt erträglich.“
„Warum hast du ihn dann geheiratet?“
„Ich hatte keine Wahl“, entgegnete Gloria knapp, „und nach der überraschenden Schwangerschaft erst recht nicht mehr.“
Schuldgefühle breiteten sich in Reuthers Magengrube aus. Noch etwas, wofür er einen Teil der Verantwortung trug.
„Ich glaube, du wirst Luca ein guter Vater sein“, wechselte Gloria spontan das Thema. „Ich habe noch keinen Anwalt erlebt, der sich so in einen Fall hineinkniet und gleich noch die Aufgaben der Polizei miterledigt.“
Reuther zuckte mit den Schultern. „Stimmt schon, sein Schicksal hat mich sehr berührt. Aber ob ich den Alltagstest bestehe?“ Sie lachten beide und Gloria fuhr fort.
„Ich denke auf jeden Fall drüber nach, aber ich kann dir jetzt noch nichts versprechen. Kennenlernen würde ich ihn allerdings schon sehr gern.“
„Dann wäre es sehr hilfreich, wenn du mir eine Telefonnummer gibst, unter der ich dich erreichen kann. Das Lauern vor der Haustür deines Vaters und nicht zu wissen, ob der Bedienstete dir den Brief tatsächlich überreichen wird oder die Loyalität zu seinem Arbeitgeber Überhand gewinnt, ist auf die Dauer doch sehr nervenaufreibend.“
Gloria zauberte einen Stift aus ihrer Handtasche und schrieb eine Nummer auf die Serviette.
„Ich habe kein eigenes Telefon, nur den Hausanschluss. Wenn sich eine männliche Stimme meldet, leg bitte auf, ohne ein Wort zu sagen. Edgar wird mir mit Sicherheit davon berichten, dann kann ich dich bei Gelegenheit zurückrufen.“
Reuther trennte den unteren Teil der Serviette ab und schrieb seine eigene Nummer darauf. Gloria verstaute sie in ihrem Schminktäschchen.
„Wie alt sind deine Kinder eigentlich?“
„Giulio ist sechzehn, Mario vierzehn und Graziano und Franca sind zwölf. Wieso interessiert dich das?“
„Dann sind sie jetzt also in der Schule?“
„Es sind Ferien!“
„Ach so.“ Reuther kam sich sehr unerfahren vor. „Ich meine nur, dann sind sie nicht mehr wirklich klein und auf ständige Betreuung angewiesen.“
Gloria schüttelte amüsiert den Kopf. „Es geht so. Die beiden Großen sind auf einer Sprachreise in London, die Zwillinge bei meinem Vater. Erzähle mir lieber, wie es mit Luca weitergeht. Hast du ihn im Krankenhaus schon besuchen können?“
„Nein.“ Reuther schüttelte bedauernd den Kopf. „Die lassen im Moment niemand zu ihm. Ich habe nur mit dem behandelnden Chefarzt gesprochen. Er sagte was von schweren seelischen Schäden, ein Trauma oder so, und dass die Behandlung Monate dauern würde. Als Vater würde ich zu gegebener Zeit aber einbezogen werden. Ich darf ihm aber selbst dann nichts weiter über die Familie erzählen, nur nach Absprache und in Begleitung des Arztes.“
„Das verschafft uns zumindest etwas Zeit“, warf Gloria ein.
„Zeit wofür, was hast du denn vor?“, wollte Reuther wissen.
„Um nachzudenken, wie es weiter geht.“
Kaltes, weißes Licht, weiße Gestalten, die sich wie Schatten lautlos bewegten. Sie hatten dunkle Köpfe mit schwarzen Löchern in der Mitte, die sich öffneten und schlossen wie die Schnauzen der Karpfen im Palmengarten.
Hannes wandte den Kopf zur Seite.
Er hatte Karpfen nie gemocht. Weiterschlafen.
Dunkelheit, Ruhe. In der Ferne klapperte etwas und Hannes fuhr hoch. Wo war er?
Erinnerungsfetzen durchzuckten seinen Kopf, die Haftanstalt, der Anwalt, dessen Worte. Mutter. Er hatte eine Mutter. Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Warum war er nicht bei ihr, wieso glaubte diese Frau, dass er tot sei, wieso wusste sie nicht, dass er lebte, hatte sie nie nach ihm gesucht?
Er verstand das alles nicht. Zurücklehnen und nachdenken.
Aber seine Gedanken fühlten sich an wie fremde Wesen in einem Luftballon, es war anstrengend über das Wort Mutter nachzudenken. Es war nur eine leere Aneinanderreihung von Buchstaben, wie eine aufgegessene Tüte Gummibären, die der Wind wegpustete, wenn man sie fallenließ, leer, wie so viele gebrochene Versprechen, wie ein Blick in die Zukunft. Die Worte entglitten seinem Kopf, er konnte sie nicht fassen, nicht festhalten.
Ein Blick zum Fenster, vertraute Gitter. Er war also noch in Untersuchungshaft. Aber im Bett lag es sich anders als auf der festen Pritsche, auch die Zelle war nicht mehr dieselbe, das Fenster auf der falschen Seite. Vorsichtig richtete er sich auf, ein spitzes Ding steckte in seinem Arm, ein Schlauch hing daran, der zu einer merkwürdigen, kopfüber gehängten Flasche an einem hohen Gestell führte. Er erinnerte sich, so etwas bereits gesehen zu haben, vor sehr langer Zeit.
Seine linke Armbeuge war am Bett festgebunden. Was für eine verdammte Scheiße war das nun wieder!
Mit den ungeschickten Fingern seiner Rechten zottelte er erst die Bandage ab und zog dann die Nadel aus seinem Arm. Aus der Spitze tropfte eine Flüssigkeit.
Hannes setzte sich auf und ließ die Füße über der Bettkante baumeln. Ihm war schwindelig.
Er entdeckte einen Lichtschalter neben dem Bett und betätigte ihn. Blinzelnd von der ungewohnten Helligkeit, schob er den rechten Unterarm vor die Augen, die sich nur langsam an den grellen Schock gewöhnten. Erst nach einigen Minuten sah die Welt weicher aus. Dies war eindeutig nicht seine Zelle, hier war alles weiß und kahl und es roch fremd, scharf wie beißendes Putzmittel. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf den kalten Linoleumboden. Ihm fiel auf, dass er einen albernen kurzen Kittel anhatte, der nur bis zu Mitte reichte und kaum sein Hintern bedecken würde.
Der zweite Fuß berührte langsam den Boden, dann stand der Junge auf zittrigen Beinen an seinem Bett und bemühte sich, nicht umzufallen. Drei Schritte, er hielt sich klammernd am Fensterbrett fest. Das Fenster hatte keinen Riegel, jedoch die unvermeidlichen Gitter. Draußen konnte er nichts erkennen, da die Leuchtstoffröhre reflektierte. Im Spiegelbild sah er eine magere, dunkelhaarige Gestalt die auf ihn wie ein Gespenst wirkte. Aber die Haare waren kurz, einfach verschwunden!
Er stolperte zum Bett zurück und knipste das Licht aus, schwankte wieder an die Scheiben.
Dies war nicht der Gefängnishof. Dort draußen lag ein Park im trüben Licht der Laternen. Es gab Bäume und Bänke und Kieswege.
Hannes verstand die Welt nicht mehr. Wo war er und was war geschehen?
Der kurze Kittel würde ihn nicht davon abhalten, vor die Tür zu gehen und nachzusehen, aber auch die hatte keinen Riegel, sondern nur einen runden Knauf, der sich nicht drehen ließ. Hannes war nach wie vor eingesperrt. Resigniert tapste er ins Bett und rollte sich wie eine kleine Katze zusammen.
Aus der Spritze tropfte es noch immer auf den Boden.
„Verdammte Schweinerei, kann das mal jemand wegwischen?“
Hannes schreckte jäh hoch. Weiß bekittelte Menschen waren in seiner Zelle, einer kroch an der Seite des Bettes mit einem Lappen in der Hand. Auf der anderen Seite, direkt vor dem Fenster stand ein Mann, ebenfalls ganz in Weiß. Er hatte dichtes, schwarzes Haar, in dem sich graue Strähnen abzeichneten, dunkle Augen versteckten sich hinter einer strengen Hornbrille. Sein Mund war durch den gestutzten, graumelierten Vollbart kaum auszumachen.
„Da hast du ja was Schönes angerichtet.“
Jetzt entdeckte Hannes gerade, gepflegte Zähne hinter dem Bart. Der Mund lächelte nicht, doch die Stimme bereitete ihm keine Angst, sie klang nicht böse.
Hannes schwieg und blieb still liegen. Der Mann zog sich einen Stuhl von der anderen Seite des Zimmers und setzte sich neben das Bett.
„Wir haben uns noch nicht kennengelernt“, stellte er fest.
Er reichte Hannes die Hand. „Mein Name ist Dr. Bender. Ich bin der Chefarzt und du bist Hannes Friedrich, nicht wahr?“
Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu nicken und die weiche Hand zu nehmen.
„Ich hoffe, du kommst schnell zu Kräften. Sobald es dir besser geht, werden wir häufiger miteinander sprechen. Das da …“, er nickte zum Fusionsständer, „hat dich in den letzten Wochen mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt. Aber du magst es offensichtlich nicht, nun, dann wirst du von jetzt an selbst essen, einverstanden?“
Welch blöde Frage, hielt ihn dieser Doktor für einen schwachsinnigen Dummkopf?
Hannes zuckte mit den Schultern. „Wo bin ich?“
„Uniklinikum Frankfurt, Station für Neurologie und Psychiatrie. Das mit dem Gitter ist nur eine Vorsichtsmaßnahme, wenn es dir besser geht, kannst du dich auf der Station frei bewegen.“
„Aha“, sagte Hannes, was mochte ein Uniklinikum sein? Klang wie Ungeheuer. Auch die anderen Worte waren seinem Wortschatz fremd. Der Mann langweilte ihn, er erzählte nur Scheiße. Außerdem war er immer noch müde und so drehte er sich um und schloss desinteressiert die Augen.
Bender hatte Wort gehalten. Hannes bekam Essen, wozu jedes Mal ein kleiner Becher mit bunten Pillen gehörte, eine Art Jogginganzug und Hausschuhe. Die Sachen waren besser als im Knast, auch das Essen und die Getränke. Selbst das Zimmer war ziemlich in Ordnung, angenehm warm und recht behaglich, nur fühlte er sich sehr viel träger und antriebsloser als früher.
Am liebsten saß er still auf einem Stuhl am Fenster und sah hinaus, oder aber er lag dösend auf seinem Bett und dämmerte vor sich hin. Es gab auch einen Raum mit Tischen und Stühlen, dort dudelte aus einem Lautsprecher über der Tür klassische Musik, die zu seiner Trägheit passte. Manchmal waren andere Leute in dem Zimmer, die trugen eine ähnliche Kleidung wie er selbst und saßen ebenfalls nur so herum.
Gespräche hatte es nicht gegeben, jedenfalls keine, die über ein paar höfliche Floskeln und die Frage nach dem Essen hinausgingen. Hannes war zufrieden, sein Kopf voll dumpfer Watte, die weder schlechte noch gute Gedanken zuließ. Manchmal nur, meist vor den Mahlzeiten, blitzten Bilder in ihm auf. Gesichter, die er glaubte zu kennen, denen er wegen der betäubten Erinnerungen in seinem Schädel keinen Namen zuordnen konnte. Dann zog sich sein Herz wieder zusammen, für einen Moment, bis er getrunken und die Tabletten genommen hatte.
Die Bilder flogen fort, alles war egal, denken schwer. Schlafen.
Gloria schlenkerte die Pumps von den Füßen und schlüpfte in die Ballerinas, die Handtasche platzierte sie auf dem Beifahrersitz. Der Schlüssel steckte bereits im Schloss, doch noch immer zögerte sie.
Winnie war fort, sie waren nach dem Restaurantbesuch gemeinsam bis zu ihrem Wagen geschlendert und hatten sich dann verabschiedet. Er war mit einem Lächeln auf seinen vollen Lippen gegangen und sie hatte ihm nachgeschaut. Ein Mann im besten Alter, um die 40 musste er schätzungsweise sein, etwa sechs Jahre älter als sie selbst. Vor zwanzig Jahren war dies schicksalhaft, heute spielte es keine Rolle mehr.
Sie hatte seit Wochen mit einer Kontaktaufnahme gerechnet, selbstverständlich hatte sie zugesagt. War es selbstverständlich?
Sie startete den Motor und schaltete den Kassettenrekorder ein. Santa Esmeralda mit Leroy Gomez, Don’t Let Me Be Misunderstood. Sie sang laut mit. Auf nach Eschersheim, die Kinder abholen.
Es war nicht selbstverständlich. Er war in ihr Leben eingedrungen, hatte ein Kind mit ihr gezeugt und sie am darauffolgenden Mittag bis zur Bushaltestelle gebracht. War das Schicksal des Jungen seine Schuld? Er hätte sie damals nach Hause bringen, zu seinem Handeln stehen und die Verantwortung übernehmen können, dann wäre Luca nie geboren worden. Dafür hätte ihr Vater gesorgt.
Sie schaltete den Rekorder ab. Die Fröhlichkeit des Rhythmus’ passte nicht zu ihren Gedanken.
Auf der anderen Seite war es ihr Vater, der das Kind beseitigt haben wollte, dabei hätte er es in der Klinik als Findelkind ausgeben können und ihm damit ein normales Leben ermöglicht.
Doch sie wusste auch, dass diese Option für ihren dominanten alten Herrn unakzeptabel gewesen sein musste.
Ein adoptiertes Kind sucht irgendwann immer seine Eltern. Das hatte er ausschließen wollen. Entweder, oder. Ihr Vater hatte sich für das „oder“ entschieden.
Gloria schüttelte den Kopf. Wie hatte er all die Jahre mit der Lüge leben können?
Dass er ein skrupelloser Geschäftsmann war, wusste sie, seine Manipulationen im Westend erzählten eine eigene Geschichte. Doch hatte sie geglaubt, dass die Familie ihm mehr bedeutete, ihm wichtig war. Irrte sie darin? Erinnerungen an die erzwungene Hochzeit, ihre endlosen Tränen, sein konsequentes Nein auf ihr Betteln.
Sie hasste Edgar, hatte ihn in all den Jahren nie respektieren oder gar lieben gelernt. Jede Berührung erzeugte Ekel, der Sex mit ihm eine Pflicht, der sie sich lange nicht entziehen konnte. Sein anfängliches Protzen vor seinen Geschäftsfreunden über die Eroberung einer äußerst jungen Frau war indes bereits kurz nach der Hochzeit auf Eisesgrade abgekühlt. Und nach nunmehr drei Söhnen gab es auch keinen Grund mehr, eheliche Pflichten im häuslichen Bett zu erfüllen. Seine sexuellen Abenteuer erlebte er lieber woanders. Ihn langweilte der Alltag in der Ehe und Familie.
Die Aufgabe einer Frau blieben die Kinder.
Seit der Geburt der Jüngsten hatte Edgar sie nie wieder angefasst, er wollte junges Fleisch, unberührt, nicht von Schwangerschaften gezeichnet. Gloria war darüber erleichtert und doch versetzte es ihr einen Stich in die Magengrube, als sie bemerkte, dass er nicht nur häufig Bordelle besuchte, sondern scheinbar bereits vor Jahren eine Liaison mit einer seiner Mitarbeiterinnen angefangen hatte. Die Zeit hatte die Wunde geheilt und nun verschaffte er ihr dadurch genug Luft zum Atmen; seiner Eifersucht indes tat dies aber keinen Abbruch.
Ihr Vater wusste um die Situation und sah es als ihre Aufgabe gegenüber der Familie an, den Schein zu wahren.
Nun war Winnie zurück, oder besser, Vincent. Der Name klang romantisch und überraschend. Sie hatte mit Winfried gerechnet.
Er war das komplette Gegenteil von Edgar, in jeder Hinsicht. Attraktiv, aber erfolglos im Job. Und seinen Worten nach ledig. Gloria schob den Gedanken fort, das durfte nicht sein. Die Kinder, sie musste an die Kinder denken. Edgars Kinder. Er war ihnen, weiß Gott, viel zu selten ein gerechter Vater, besser gesagt, sie interessierten ihn wenig. Eigentlich nur, wenn es darum ging, die ältesten Söhne im Kreis seiner Geschäftsfreunde vorzuführen. Oder sie befragten ihn zu Themen, die ihn selbst interessierten. Dann bekamen die Jungen seine absolute Zuwendung. Edgar konnte endlos referieren und war in diesen Momenten ein hingebungsvoller Vater. In dieser Hinsicht war er genau, wie ihr eigener Erzeuger.
Um die Kinder hatte sich ansonsten die Mutter zu kümmern. Im Übrigen mussten die vier nach den Anforderungen ihres Vaters lediglich perfekt funktionieren, sobald er anwesend war. Feste Kleiderordnung, Tischgebete, schweigende Mahlzeiten und bei Verstößen Züchtigung mit dem Stock.
Die Gedanken entflohen zu ihren Brüdern. Heinrich hatte zwar offiziell längst die Geschäfte des Familienunternehmens übernommen, wichtige Entscheidungen trafen beide Männer jedoch gemeinsam, das würde so bleiben, solange Vater lebte. Der Bruder hatte spät geheiratet, dazu noch eine Frau, die fast zwölf Jahre älter als er selbst war. Kinder waren aus dieser Ehe nicht hervorgegangen, Gloria glaubte, dass Beate keine bekommen konnte.