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Traian Suttles

Bakterien

Gegner und Verbündete












kurz & bündig verlag | Basel | Frankfurt a. M.



Inhalt

1 Bakterien – viel mehr als nur Krankheitserreger

2 Naturschönheit dank Bakterien: Blattgrün, Himmelsblau und Meeresleuchten

3 Bakterien im System der Lebewelt: Einzeller ohne Zellkern

4 Bakterien und Archaeen: Ähnlichkeiten und Unterschiede

5 Besonderheiten von Bakterien: Körperformen, Kleinheit und Stoffwechseleffizienz

6 Bakterienarten und Bakteriengenetik

7 Grundaufbau und weitere Merkmale von Bakterien: Zellwand und Zellanhängsel

8 Bakteriengeißeln: Hochleistungsmotoren im Nanomaßstab

9 Kolonieverhalten: Kooperation und Kannibalismus

10 Die Evolution des Bakterienreiches: frühe Konkurrenzvermeidung?

11 Das Reproduktionspotenzial der Bakterien: Notwendigkeit der Regulation

12 Natürliche Bakterienvernichter: Bakteriophagen, Protisten, Nematoden und UV-B-Strahlung

13 Wie Bakterien zu biochemischen «Hochleistungsfabriken» wurden

14 Bakterielle Überlebenskunst

15 Bakterielle Pioniere: die Eroberung des Festlandes

16 Bakterien als Regler im Stickstoff- und Kohlenstoffkreislauf

17 Bakterielle Überlebenshilfe 1: von Symbionten zu Xenosomen

18 Bakterielle Überlebenshilfe 2: Symbionten in Mehrzellern

19 Das Vordringen in den menschlichen Körper: humanpathogene Bakterien

20 Weitere Strategien humanpathogener Bakterien – und ihre Bekämpfung

21 Nachschub aus der Bakterien(gift)küche: Paradebeispiel Streptomyceten

22 Bakteriologische Waffen

23 Bioremedation: Umweltsanierung mit Bakterien

24 Bakterien als «letzte Rettung»

Literatur

Register

Weitere Titel aus dieser Buchreihe

1. Bakterien – viel mehr als nur Krankheitserreger

Die Zeiten, in denen man beim Begriff «Bakterien» nur an medizinische Zusammenhänge dachte, sollten eigentlich längst vorbei sein. Ihr Gefahrenpotenzial wurde von den großen bakteriologischen Forschern des 19. Jahrhunderts klar erfasst und ist bis heute nicht geringer geworden (Stichwort Antibiotikaresistenz), doch dieser «feindseligen» Seite stehen eine ganze Reihe «lebenserhaltender» Eigenschaften gegenüber. Eigen­artigerweise scheint die enorme biologische Bedeutung der Bakterien sogar heute, d. h. in Zeiten intensiver Diskussionen über globale Kreisläufe und Klimaveränderung, nur langsam ins allgemeine Bewusstsein vorzudringen.

Bei der genaueren Beschäftigung mit diesen Einzellern bemerkt man bald eine auffällige Grundtendenz: Sie führen uns immer wieder in Extrembereiche, und zwar im negativen wie im positiven Sinne. Im medizinischen Wissensbereich kennen wir Bakterien vor allem als Auslöser von Infektionskrankheiten, und einige davon – wie etwa die Pest oder Tuberkulose – gehören zu den verheerendsten «Dezimierern», denen die Menschheit jemals ausgesetzt war. Hinzu kommt, dass keine andere Gruppe giftiger Organismen derart starke Toxine produziert. Tödliche Nervengifte z. B. sind von vielen Tieren bekannt, aber keines wirkt in so geringer Dosis wie »Botox«, das Botulinum­toxin. Dieses vom weltweit verbreiteten Bodenbakterium Clostridium botulinum produzierte Protein (ein Eiweißstoff also) führt zum Tod durch Atemlähmung; es hat beim Menschen eine Toxizität von einem Nanogramm pro Kilogramm Körpergewicht. Ein Nanogramm ist ein Milliardstel Gramm, und je nachdem, wie hoch man das Körpergewicht eines durchschnitt­lichen Bundesbürgers ansetzt, könnten fünf Gramm Botulinumtoxin schon ausreichen, um die gesamte Bevölkerung Deutschlands zu vergiften.

Ironischer- und bekannterweise mauserte sich Botox im Laufe der letzten Jahre trotzdem zu einem begehrten Naturstoff, womit wir beim Nutzen für uns Menschen angelangt sind. Vom kosmetischen «Botoxen» bis zur Optimierung unserer bakteriellen Darmflora mit dem geschichtsträchtigen Kuriosum E. coli Nissle 1917 landeten Bakterien immer wieder in den Schlagzeilen oder schafften es auf dem Buchmarkt sogar in die Bestsellerlisten. Das Thema Darmmikrobiom, also die Besiedlung des Darms mit Mikroben, führt auf kürzestem Wege zur globalen Perspektive: Bakterien spielen eine überragende Rolle als symbiontische Partner anderer Organismen, vom Menschen bis zu den Einzellern (zu denen sie ja selbst gehören). Erweitert man den Blick vom Menschen auf andere Lebewesen, kommt man nicht umhin, Bakterien als einen global lebenserhaltenden Faktor zu bezeichnen. Nicht nur als symbiontische Unterstützer des Stoffwechsels sind sie für unzählige Lebewesen unentbehrlich geworden, sie stellen auch die Grundbedingung für alles Leben dar, wie wir es heute auf der Erde kennen. Bakterien sind in entscheidender Weise an geochemischen Prozessen beteiligt, z. B. dem globalen Kohlenstoffzyklus oder dem Stickstoff- und Schwefelzyklus. Hierbei handelt es sich um die natürlichen Kreisläufe dreier Elemente, aus denen ausnahmslos alle Lebewesen bestehen. Ohne die biochemischen Umsetzungsprozesse, die bestimmte Bakteriengruppen innerhalb dieser Kreisläufe leisten, würden die genannten Zyklen kollabieren und unser Planet zu Wasser, zu Lande und in der Luft in einen lebensfeindlichen Zustand «umkippen».

Kurz zusammengefasst lässt sich sagen: Die äußerst vielseitige biochemische Arbeit der Bakterien hat unsere Existenz erst ermöglicht und ermöglicht sie immer noch – aber sie fordert auch in gewaltiger Zahl Opfer. Hätten unsere Vorfahren dies gewusst, wäre den in allen frühen Kulturen verbreiteten Naturgottheiten vermutlich eine weitere zur Seite gestellt worden: der Bakteriengott. Ihre außerordentlich geringe Größe und späte Entdeckung haben die Bakterien vor dieser Form der Idolisierung bewahrt; ein wenig davon wird in der Moderne aber nachgeholt, je mehr man den Interaktionscharakter sämtlicher Lebensformen erforscht. Im Extremfall könnte es dazu kommen, dass unser bakteriologisches Wissen uns vor den schlimmsten drohenden Umweltkatastrophen bewahrt – spätestens dann hätten die unsichtbar kleinen und uns gegenüber nicht immer kooperativen Winzlinge wohl ihre «Denkmäler» verdient.

Mit diesen Basisinformationen ausgestattet, drängt sich vor allem die Frage auf, warum Bakterien so anders als andere Einzeller sind. Einzellige Organismengruppen gibt es ja genug, aber nur bei bakteriellen Einzellern stoßen wir immer wieder auf Rekorde, extreme Leistungen und eine unbestreitbar globale Bedeutung für alles Leben. Es ist daher nur folgerichtig, über ihre «bautechnischen» Besonderheiten im Vergleich zu anderen Einzellern nachzudenken. Irgendwann im Laufe der Erd- und Evolutionsgeschichte errangen Bakterien einen Sonderstatus; ihr Geheimnis als globale Supermacht muss mit der speziellen Organisation ihrer Zellen zu tun haben (anders ausgedrückt, mit dem «Bauplan» der Bakterienzelle).

Wenn man Bakterien mithilfe dieses Untersuchungsansatzes betrachtet, tritt ihre Bedeutung als Krankheitserreger erst einmal in den Hintergrund – berechtigterweise, denn nur ein kleiner Teil von ihnen ist Verursacher von Infektionskrankheiten. Wir werden die medizinische Bedeutung der Bakterien im Folgenden nicht übergehen, aber vorrangig versuchen, ihre Erfolgsgeschichte als Ganzes zu würdigen: Nicht zuletzt, weil der Erfolg der Bakterien unseren Aufstieg erst ermöglicht hat und absehbar ist, dass wir auf ihre Hilfe angewiesen sein werden, wenn es für die Menschheit in erträglicher Weise weitergehen soll.

2. Naturschönheit dank Bakterien: Blattgrün, Himmelsblau und Meeresleuchten

Will man dem Schrecken, den pathogene (also krankheits­erregende) Bakterienarten über die Menschheit brachten, etwas entgegensetzen, liegt es nahe, die Nützlichkeit der vielen nicht pathogenen Formen aufzuzählen. Doch auch etwas anderes lässt sich bei solchen Überlegungen hervorheben: der Aspekt der Naturschönheit, den bakterielle Innovationen in die Welt gebracht haben. Wenn wir im Mai durch Wald und Wiesen gehen und das satte Grün rings umher unser Wohlgefallen erregt, verdanken wir diese Eindrücke einem «Antennenpigment», das einst von Bakterien im Ozean geschaffen wurde: dem Chlorophyll-Molekülkomplex, mit dem sie begannen, Teile des Sonnenlichtes zu absorbieren. Die pigmentvermittelte Aufnahme und kontrollierte Weiterleitung von Sonnenenergie befähigte bestimmte Bakterien, energiereiche Nährstoffe aus Kohlendioxid und Wasser herzustellen – uns allen bekannt als Photosynthese. Da Sonnenlicht so etwas wie eine «geschenkte» Energiequelle darstellt, war dies eine ungeheure Innovation. Sämtliche Pflanzen arbeiten immer noch mit dieser bakteriellen Erfindung; sie sind CO2-Fixierer, ziehen also Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Nicht nur das «schöne» Grün der Pflanzen, auch das genauso schöne Blau des Himmels hätten wir nicht, wenn nicht genau dieser evolutive Dammbruch einst die Zusammensetzung der Erdatmosphäre verändert hätte: Die Lufthülle unseres Planeten wurde im Zuge der sogenannten oxygenen Photosynthese mit Sauerstoff angereichert (heutiger Anteil etwa 21 Prozent). Gegenwärtig werden etwa 55 Prozent des atmosphärischen Sauerstoffs von Landpflanzen und 45 Prozent durch Photosynthese in den Ozeanen sowie im Süßwasser erzeugt, sprich, immer noch unter erheblicher Beteiligung von Bakterien.

Doch nicht nur elementare Farbeindrücke der uns umgebenden Natur hängen mit bakterieller Innovationskraft zusammen. Bei einem Wald- oder Wiesenspaziergang empfindet man oft auch den weichen Boden als angenehmen Entspannungsfaktor. Für die Entstehung dieser lockeren oberen Bodenschicht ist die «abbauende» (dekomponierende) Arbeit bestimmter Bodenbakterien unerlässlich. Die wichtigsten Bodenbakterien setzen zudem einen flüchtigen Stoff frei, der nur von ihnen produziert wird und den man sehr treffend Geosmin («Erdgeruch») nennt: Er ist die charakteristische Komponente für den Geruch nährstoffreicher Böden und begegnet uns in Wald und Wiese wie bei der Gartenarbeit.

In Kurzform heißt dies: keine Naturschönheit zu Lande ohne bakterielle Vorarbeit. Doch auch im Meer lassen sich bestimmte ästhetisch beeindruckende Phänomene auf Bakterien zurückführen. Während wir das Grün der Pflanzen und das Blau eines wolkenfreien Himmels am Tag bewundern, entfaltet das Meer oft nachts seine wahre Schönheit, und zwar in Form des (vorwiegend blauen, seltener grünen) Meeresleuchtens. Erzeugt wird dieses Leuchten von Massen kleiner Organismen, die zu unterschiedlichen biologischen Gruppen gehören – bekannt ist vor allem die einzellige «Leuchtalge» Noctiluca. Viel artenreicher sind jedoch Leuchtbakterien, und auch ihre Lebensweise ist vielfältiger. Sie können – wie die Noctiluca – frei im Wasser vorkommen, aber auch eine symbiontische Lebensgemeinschaft mit anderen Organismen eingehen: So finden sich Vertreter der Gattung Photobacterium in leuchtenden Fischen, also in Wirbeltieren, während die Leuchtbakterien­gattung Beneckia in wirbellosen Meerestieren vorkommt. Gemeinsam ist ihnen, dass in ihrem Zellplasma bestimmte chemische Reaktionen ablaufen, bei denen Photonen (Lichtquanten) freigesetzt werden. Tausende und Millionen gleichzeitig ablaufende Prozesse dieser Art lassen aus unzähligen kleinen Lichtblitzen ein großflächiges, pulsierendes Leuchten hervorgehen. Handelt es sich um Bakterien, deren Leuchten innerhalb eines Wirtstieres produziert wird, spricht man von einer Leuchtsymbiose, auch wenn oft gar nicht recht klar ist, wo genau der Vorteil für die Bakterien liegt (viele Leuchtbakterien sind primär als Krankheitserreger aktiv, erst in einem zweiten Evolutionsschritt wurden manche von ihnen zu «friedlichen» Symbionten). Der Nutzen für die Wirte dagegen ist meist recht offensichtlich, etwa bei den als Tiefseeanglern bekannten Raubfischen, die ihre Beute mit einem laternenartigen Leuchtorgan anlocken. Andere Meerestiere senden innerhalb ihrer Art Kommunikationssignale mithilfe inkorporierter Leuchtbakterien aus, wobei sie bemerkenswerte Erfindungen gemacht haben, um das Leuchten verstärken oder inter­vallartig steuern zu können. Besonders Tintenfische sind hier zu erwähnen: So hat der Tintenfisch Euprymna morsei eines der perfektesten Leuchtorgane der Tierwelt ausgebildet (der Artname verweist auf seine Befähigung zu «Morsesignalen»). In seinem Tintenbeutel wurde eine Pigmentfläche angelegt, die das Leuchten seiner bakteriellen Symbionten wie mit einem Reflektor verstärkt, und zusätzlich dazu wurde sogar eine Art Abblend- und Linsensystem zur Perfektionierung der dargebotenen Leuchteffekte entwickelt. All diese hochspeziellen Umwandlungen konnten natürlich erst dann von der natürlichen Selektion begünstigt werden, nachdem sich Leuchtbakterien «dauerhaft» im Körper des Tintenfisches angesiedelt hatten, ohne ihm infektionsbedingten Schaden zuzufügen.

Aus den genannten Beispielen lassen sich, neben den vielfältigen ästhetischen Nebeneffekten, zwei grundsätzliche Folgerungen ableiten. Bakterien mögen winzig klein sein, in der Masse jedoch haben sie das Potenzial, die Erde und die Erd­atmosphäre chemisch zu verändern. Ebenso haben sie die Macht, die Evolution weitaus größerer Lebewesen direkt zu beeinflussen, indem sie sich in deren Organen ansiedeln und (im Falle symbiontischer Kooperation) das Leistungsspektrum ihrer Gastgeber erweitern. Wie wir in einem späteren Kapitel erfahren werden, ist es sogar denkbar, dass die Evolution der größten Landlebewesen aller Zeiten – Dinosaurier aus der Gruppe der Sauropoden – durch symbiontische Bakterien entscheidend unterstützt wurde. Und auch auf dem Evolutionsweg von uns Menschen werden Bakterien auf die eine oder andere Weise eine Rolle gespielt haben, die sich in der menschlichen Kulturgeschichte nochmals fortsetzte: etwa bei der Erfindung neuer Lebensmittel wie Wein oder Käse.

3. Bakterien im System der Lebewelt: Einzeller ohne Zellkern

Auf den ersten Blick – sprich in die Lehrbücher – lassen Bakterien sich sehr einfach klassifizieren: Sie sind prokaryotische Einzeller, was bedeutet, dass sie keinen durch ein Membransystem eingefassten Zellkern besitzen. Das griechische Wort karyon steht für «Kern», und die Bezeichnung «Prokaryot» (früher auch: Prokaryont) würde, frei übersetzt, «Einzeller vor Entstehung eines Zellkerns» bedeuten. Weil ihnen ein abgegrenzter Zellkern fehlt, liegt die Erbinformation der Bakterien – ihre DNA – frei in ihrem Zellplasma (=Zytoplasma), wobei diese genomische DNA punktuell mit der Zellmembran, also der ausnahmslos bei allen Lebewesen vorhandenen Umhüllung des Zytoplasmas, verbunden sein kann. In der Regel ist dieser DNA-Strang ringförmig (toroidal, von lat. torus), doch von bestimmten Bakterien wie den Streptomyceten ist auch eine lineare DNA bekannt, vergleichbar den Chromosomen «höherer» Lebensformen. Erst bei evolutiv später aufgekommenen Einzellern, den sogenannten Eukaryoten, wurde die Erbinformation in eine besondere, optisch recht auffällige Zellkernstruktur eingeschlossen (eukaryotisch bedeutet übersetzt «mit echtem Kern»).

Vom Zellbiologen Peter Sitte (19292015) stammt der witzige Vergleich, das Periodensystem des Chemikers umfasse über hundert Elemente, das des Biologen jedoch gerade mal zwei: eben prokaryotische und eukaryotische Zellen. Lebewesen sind nur auf die eine oder andere Weise gebaut. Vielzellige Lebewesen etwa sind allesamt Eukaryoten; jede einzelne ihrer Körper- und Geschlechtszellen hat einen definierten Zellkern.

Den Bakterien fehlt dieser Zellkern nicht nur, sie sind in der Regel auch viel kleiner als eukaryotische Zellen. Außerdem fehlen ihnen andere innere Strukturen, die für eukaryotische Zellen typisch sind: vor allem weitere, durch Membranen abgegrenzte Subsysteme. Eukaryotische Zellen besitzen mehrere solcher Zellorganellen, während Bakterien kaum etwas Vergleichbares zu bieten haben – eine Ausnahme sind ihre Ribosomen (Orte der Proteinsynthese), doch diese gehören zu den membranlosen Organellen. Bakterienzellen sind so gesehen nicht nur auffällig klein, sondern auch relativ arm an differenzierten Substrukturen, woraus man allzu gern die Folgerung ableitet, sie seien «urtümliche» oder gar «primitive» Lebensformen. In etlichen Lehrbüchern wird bis heute behauptet, dass sie die ersten Lebewesen gewesen seien, die auf der Erde entstanden (eine irreführende Aussage, die wir im 10. und 13. Kapitel kritisch diskutieren).

Es stimmt durchaus, dass Bakterien sehr alt sind: 3,5 Milliarden Jahre alte Mikrofossilien belegen dies (und unser Planet dürfte erst vor 3,8 Milliarden Jahren überhaupt bewohnbar geworden sein). Jedoch sollte man mit wertenden Begriffen wie «primitiv» vorsichtig sein – bereits in der Einleitung haben wir ja festgestellt, dass Bakterien z. B. in puncto Giftigkeit Leistungen vollbringen, die wir weder von anderen Einzellern noch von vielzelligen Organismen kennen. Auch Bakterienzellen müssen im Laufe der Evolution also sehr spezielle, für sie charakteristische Befähigungen erworben haben, an die angeblich «modernere» oder «höher entwickelte» Lebensformen bis heute nicht herankommen. Am treffendsten lässt es sich wohl mit der Alltagswendung zusammenfassen, dass Bakterien «klein, aber oho» seien, und Beispiele dafür werden wir in diesem Buch genügend kennenlernen. Von ihren unvergleichlichen biochemischen Tricks abgesehen, können sie ihre menschlichen Erforscher auch auf anderen Ebenen überraschen: So wurden mit Epulopiscium fishelsoni im Jahr 1985 und Thiomargarita namibiensis im Jahr 1999 zwei außergewöhnlich große Bakterienarten entdeckt; sie sind mit 0,6 und 0,75 Millimetern wahre Giganten des Bakterienreiches und mit bloßem Auge sichtbar – eine absolute Ausnahme. Gewöhnlich werden Bakterien mit der «Elle des Mikrobiologen» gemessen, soll heißen, in Mikrometerdimensionen: ein Mikrometer (Abkürzung µm) entspricht einem Tausendstel Millimeter.

In der Biologiegeschichte haben sich bestimmte Gruppenbegriffe herausgebildet, die zuweilen leider für Verwirrung sorgen, welche Einzeller zu den «eigentlichen» Bakterien gehören und welche nicht. Außer den Bakterien gibt es noch eine zweite wichtige Gruppe von Einzellern, denen ebenfalls ein Zellkern fehlt. Diese nannte man «Archaebakterien», was wörtlich Ur-Bakterien bedeutet. Der gewählte Begriff war zunächst sinnvoll, da viele Archaebakterien an ungewöhn­lichen und «extremen» Standorten wie kochend heißen Quellen oder Salzseen vorkommen, die sie vielleicht schon seit Urzeiten besiedeln. Erst später, nach Vergleich ihres Erbmaterials, bemerkte man, dass Bakterien und Archaebakterien genetisch sehr verschieden sind und «normale» Bakterien mit Sicherheit keine direkten Nachfahren der Archaebakterien. Die ersten beiden Organismen, deren Genom vollständig sequenziert wurde, waren die Bakterien Haemophilus influenzae und Mycoplasma genitalium (1995), der dritte das Archaebakterium Methanococcus jannaschii (1996). Spätestens bei Erreichen dieses Kenntnisstandes begannen Biologen, den Namen «Archae­bakterien» zu bedauern, weil er irreführend wirkt. Verbesserungshalber spricht man heutzutage nur noch kurz von Archaeen (oder eindeutschend «Archeen»), um diesen Typ prokaryotischer Einzeller von echten Bakterien abzugrenzen. Halten wir also fest: Archaebakterien sind keine Bakterien im engeren Sinne und sollten deshalb Archaeen genannt werden!

Gibt es noch andere Quellen sprachlicher Verwirrung? Leider ja, und zwar in Gestalt des veralteten Begriffes «Blaualgen». Gemeint sind zellkernlose Einzeller, die genau wie Pflanzen oxygene Photosynthese betreiben, also Sonnenlicht für ihre Energiegewinnung nutzen und dabei Sauerstoff freisetzen. Eben deshalb stufte man diese in riesigen Mengen im Meer, Süßwasser und auch zu Lande lebenden Einzeller früher als Algen ein, doch mittlerweile ist längst klar, dass man sie zu den Bakterien zählen muss. Deshalb lautet ihre moderne Bezeichnung Cyanobakterien, obwohl sie bis heute immer wieder als «Blaualgen» durch die Presse geistern (besonders als Vergifter von Badeseen). Halten wir also fest: Cyanobakterien sind echte Bakterien! Sie stellen nichts weiter als eine von vielen Untergruppen der Bakterien dar.

Auch wenn die latente Begriffsverwirrung «Blaualgen» = Cyanobakterien etwas lästig ist, hat die Sache doch einen Vorteil: Am Beispiel der Cyanobakterien kann man sich gut einprägen, dass Bakterien die «Erfinder» der oxygenen Photosynthese sind. Das übliche Schulwissen beeinflusst uns ja eher in der Richtung, dass speziell Pflanzen Photosynthese betreiben, während Tiere und Pilze kein Sonnenlicht zur Energiegewinnung nutzen können. Diese Perspektive, bei der die Leistungsfähigkeit einzelliger Lebensformen ausgeblendet wird, ist insofern nachvollziehbar, als man Einzeller für gewöhnlich nicht sehen kann und ihre Alltagsbedeutung auf rein optischer Ebene gegen null tendiert. Sobald man sich näher mit ihnen beschäftigt, also geistig oder mithilfe eines guten Mikroskopes in ihre verborgene Welt eindringt, ändern sich die Dinge jedoch ganz entscheidend. Als Ergebnis der bisherigen mikro­biologischen Forschung weiß man, dass fünf größere Bakteriengruppen zur Photosynthese mit dem «Lichtsammelmolekül» Chlorophyll befähigt sind und eine sechste, eben die Cyanobakterien, statt anoxygener Photosynthese eine oxygene Photosynthese betreibt. Ihnen, und im Grunde genommen nur ihnen, gelang vor mehr als zwei Milliarden Jahren dieser so ungeheuer wichtige Durchbruch. Den Pflanzen hingegen nicht: Sie haben sich diese bakterielle Besonderheit nur ausgeliehen! Früheste einzellige Pflanzen entstanden, indem bestimmte Einzeller eine symbiontische Beziehung mit Cyanobakterien eingingen. Dieses spezielle Thema, die ungeheure Befähigung von Bakterien als symbiontische «Hilfsorganismen», haben wir bereits angesprochen; es kann nahezu beliebig vertieft werden (siehe unsere Kapitel 17 und 18). Festhalten darf man, dass auch die überragende symbiontische Leistungsfähigkeit der Bakterien zeigt, wie sinnlos es ist, sie als «primitive» Lebensformen anzusprechen.