Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender
Die kanadische Erstausgabe erschien 2014 unter dem Titel Alphabet bei Biblioasis in Windsor/Ontario, die englische Erstausgabe 2004 bei Weidenfeld & Nicolson in London.
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. für die großzügige Förderung ihrer Arbeit an diesem Buch.
We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien. Wir danken dem Canada Council for the Arts für die Unterstützung der Übersetzung.
E-Book-Ausgabe 2021
© 2004, 2014 Kathy Page
© 2021 für die deutsche Ausgabe:
Verlag Klaus Wagenbach Emser Straße 40/41 10719 Berlin
Covergestaltung Julie August unter Verwendung einer Fotografie (»Ulli 2«, 1965) © Herbert List / Magnum Photos.
Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.
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ISBN: 9783803143150
Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3337 3
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Für Richard
Es gibt keinen Stuhl, nicht mal das. Der Raum ist blaugrau, neonhell erleuchtet, wie alles andere auch.
»Persönliche Sachen?«, fragt der Mann am Schalter. Seine eigene Kleidung hat man ihm schon abgenommen: Simon steht da in einem gestreiften Hemd und einer dünnen Jeans, die nicht hält.
»Alles, was geklaut werden oder kaputt gehen kann«, sagt der Mann, »gib her –.« Er hat das schon tausendmal gemacht, hat das Timing genau raus. »Das wird jetzt schön fest versiegelt … und dann schön gründlich verschlampt … Ha! Im Ernst, keine Haftung.« Oh, der ist stolz auf sich, klar. Sein weißes Hemd leuchtet fast lila. Die Brusttasche spannt über einer Packung Bensons. Seine Glatze schimmert im Licht, als er sich seitlich an die Nase tippt, sich vorbeugt:
»Also, was hast du da«, sagt er, »Muttis Asche? Die Scheiß-Kronjuwelen? Spuck’s aus, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Hinter mir sind noch sechs, denkt Simon, und weiß der Geier was vor mir … Am Ende ist es wohl egal, was mit seinen beiden Sachen passiert. So muss er wenigstens nicht auf sie aufpassen, und falls sie wirklich verloren gehen, wäre es nicht seine Schuld, egal was dieser kahlköpfige Arsch sagt. Und je schneller er mit dem hier durch ist, desto schneller kann er sich vielleicht hinlegen, er könnte ein Erdbeben auf einem Nagelbrett verschlafen, wenn er nur erstmal läge.
Er grinst den Mann an, wie der mit seinem Riesenschädel und den fetten Fingern dasteht; er behält seine Gedanken für sich und legt seine Sachen auf den Tresen. Zuerst den Briefumschlag. Es ist ein kleiner, dünner Umschlag mit seinem Namen, Simon Austen, sonst nichts.
»Der ist zugeklebt«, sagt er. Also, antwortet ihm ein langsamer Blick, deine Scheißkorrespondenz öffnen, das wäre das Letzte, was ich tun würde, weil sie genau wie du ein Stück –
Simon ist zu fertig, um zu reagieren. Seine Augen sind so verklebt, er kann jedes Blinzeln hören, ja spüren. Nach der Leibesvisitation gab es eine Dusche, aber das Wasser war kalt, und er kann den eigenen Schweiß noch immer riechen. Er starrt auf die Tresenplatte, dunkle Eichenkanten mit Resopaleinsatz, und erinnert sich daran, wie ihm der Brief von einer erschöpften Sozialarbeiterin ausgehändigt wurde, die erst seine Geburtsurkunde überprüft und ihm einen Vortrag darüber gehalten hatte, nicht zu viel zu erwarten. Dann sah sie ihm dabei zu, wie er den Umschlag aufriss, das einzelne Blatt darin entfaltete. Anschließend las sie ihm den Brief vor, die zwei Zeilen: »Es tut mir leid. Es ging nicht anders. Ich hoffe sehr, dass für dich alles gut ausgeht, Sharon«. Das war der Inhalt, laut der Frau. Dann fragte sie ihn, ob er ein bisschen über die Gefühle seiner Mutter gegenüber reden wolle, und als er verneinte, sagte sie, er brauche eine Therapie und gab ihm eine ellenlange Liste mit Telefonnummern; er war so angepisst von ihr, dass er den Brief beinahe weggeschmissen hätte, aber schließlich strich er ihn glatt und klebte den Umschlag wieder zu, trug ihn jahrelang in der Innentasche seiner Pilotenjacke mit sich herum … Tja, genau genommen ist es für ihn so übel wie nur möglich ausgegangen, und die Leute hier können das Scheißding ruhig verschlampen, wenn sie wollen, denkt er. Er lässt es hinter sich, macht sich frei davon. Ausgerechnet hier.
»Eine Uhr«, bemerkt Fettfinger.
»Das ist eine Rolex«, erklärt Simon. Obwohl es keine ist. Er hat sie von seinem ersten echten Monatslohn gekauft, von jemandem, den er in einem Pub kennengelernt hatte. Er wurde über den Tisch gezogen. Also weg damit. Er reist mit leichtem Gepäck: Waschsachen, Bettzeug, Teller, Schüssel, Becher.
»Das war’s?«
Er macht seinen Kringel mit dem Stift. Der Witzbold gegenüber versiegelt seine Sachen, dann schiebt er ihm einen leeren Umschlag rüber: braun mit schwarzer Schrift, sieht amtlich aus.
»Dein Gratisbrief.«
»Wofür ist der?«
»Tja, Junge, wenn du willst, kannst du dir damit den Arsch abwischen!«
»Alles klar, Mann«, spuckt Simon zurück. »Mach ich vielleicht.« Seine Hände sind zu Fäusten geballt, jetzt ist er richtig wach.
»Bleib aus der Schusslinie«, sagt der Mann zufrieden und wendet sich ab. Simon schiebt den Umschlag in die Hosentasche, nimmt sich zwei Laken und eine Decke, stopft alles in den Kissenbezug, geht weiter.
Der Mann vor ihm hat einen Schnauzer, der hinter ihm das Kinn voller Haare. Er kann das Quietschen ihrer Schuhe hören, das Klirren ihrer Schlüsselketten, ihren Atem, seinen eigenen. Sie gehen durch die nächste Doppeltür, erst massiv, dann vergittert, und die nächste, und die nächste, bleiben jedes Mal stehen und warten, bis der Schlüssel hineingleitet und seine Arbeit macht, zweimal öffnen, zweimal schließen. Es fällt kein Wort. Er könnte hier sterben, überlegt er. Könnte umgebracht werden. Drogen nehmen und die Sache selbst erledigen. Einfach alt werden … und ganz plötzlich verlangt es ihn nach dem, was er nie hatte, unbedingt, er will alles, auch ohne zu wissen, was es ist! Wie sehr er den Schalter umlegen will, sich auflösen, woanders wieder auftauchen oder als jemand anderes, irgendjemand. Schon kämpft sein Herz, will aus seiner Brust fliehen, als sich die letzte Doppeltür zum Trakt öffnet und ihm der Gestank und das Echo von Gefangenschaft entgegenschlägt. Wie das Öffnen einer Ofenklappe. Eine Hitzemauer. Sie müssen ihn hindurchschieben.
»Geh schon«, sagt der bärtige Mann hinter ihm, »jetzt geh schon, Junge, das ist eine Einbahnstraße hier.«
Ich bin nicht gut im Lesen, sagt er, als sie ihn nach seinen Bedürfnissen fragen. Weil sie in Sachen Pädagogik unterversorgt sind, kommt Ted Kennet mit dem Bus, steigt zweimal um, Woche für Woche, um auszuhelfen.
Rauchst du?, fragt Ted, als er sich zum ersten Mal hinsetzt. Nächstes Mal bringt er eine Papiertüte mit Süßigkeiten mit, Süßigkeiten, du lieber Himmel: A wie Anissamen, B wie Buttertoffee, C wie Colastangen: Es muss nicht Apfel, Ball, Clown sein. Man kann nehmen, was man will, und man muss auch nicht vorne anfangen und in einem durchmarschieren. »Fang an, wo du magst!«, sagt Ted. »Du entscheidest. Ich versuche, es dir leicht zu machen.«
Sie sitzen im hinteren Teil des Lehrerzimmers, unter ein paar schief aufgestellten Bücherregalen. Immer wieder kommen Leute rein, weil sie zum Papierschrank wollen, der jedes Mal auf- und wieder abgeschlossen werden muss.
»Denk dran, du willst das hier, auch wenn du manchmal glaubst, dass du es nicht willst«, sagt Ted. Wenn er nicht mit seinem Zigarettenroller oder seinen Stiften und Zetteln beschäftigt ist, sitzt er da, die großen quadratischen Hände wie tote Gewichte auf den Knien. Die Adern auf seiner Nase und den Wangen sind alle aufgeplatzt, die Falten auf seiner Stirn verlaufen quer und von oben nach unten und schneiden sie in Quadrate. Sein Haar ist kurz und ordentlich geschnitten, doch das meiste davon ist schon lange nicht mehr da. Simon hat noch nie so nah bei einem alten Menschen gesessen, und jedes Mal, wenn Ted hustet, kann er irgendwas in seiner Brust blubbern hören. E wie eklig.
Manchmal verliert er die Geduld. A wie Arschloch. B wie Bastard. C wie Clown.
»D wie durchhalten. Ich gebe nicht so leicht auf«, sagt Ted. Ihm zufolge ist Lesen die eine Hand (er hebt sie hoch, zeigt die von Linien zu einer kunstvollen Hieroglyphe geritzte Handfläche) und Schreiben die andere. Ohne sie muss man Türen mit den Zähnen und Zehen öffnen. »Du hast ein Hirn«, sagt er. »Benutze es.«
Simon bemerkt, dass es Ted nicht gut geht, und sie bezahlen ihn nicht. Das beeindruckt ihn, er macht sich aber nicht vor, dass Teds Freundlichkeit allein mit ihm zu tun hätte, weil er weiß, dass er seine Frau verloren hat und nicht zu Hause herumsitzen und Trübsal blasen will. Gleichzeitig ist auch klar, dass Ted der Typ Mensch ist, der Gutes tun muss. Er hat dreißig Jahre als Betriebsrat der Bauarbeitergewerkschaft hinter sich. Du hättest beitreten sollen, sagt er. Hätte vielleicht was genutzt, wer weiß? Er glaubt an R wie Recht und U wie Unrecht. Analphabetismus ist ein Unrecht, auf derselben Ebene wie von der Stromversorgung abgeschnitten zu sein.
»Man bleibt außen vor«, sagt er. Wissen, das mit W anfängt, ist Macht. Arbeit ist ein weiteres Recht. »Zwei Millionen Arbeitslose!«, spuckt er und zerreibt seine Selbstgedrehte im Aschenbecher. »Wieso hat Thatcher noch einen Job?«
Simon kann sich an niemanden aus seinem früheren Leben erinnern, der ihm detailliert erklärt hätte, dass die Buchstaben, meistens jedenfalls, für Laute stehen, und wie man die Wörter aufbaut. Hat bestimmt jemand gemacht, aber er hat es ganz sicher nicht begriffen. Er war in Burnside und Nummer 32 und mit Iris und John Kingswell in ihrem bescheuerten Bungalow mit dem braunen Teppich und den zugigen Lamellenfenstern. Er hat diese eine große Erinnerung, die auf alle Schulen passt, die er nicht besucht hat – der Geruch von Eintopf und Schweiß, das elende Gefühl beim Hineingehen und die beißende frische Luft in seiner Lunge, wenn er sich um halb zehn über den Zaun gleiten ließ, um draußen frei herumzulaufen. Es ist also mehr als seltsam, wo er jetzt gelandet ist:
»Paradox.« Kommt aus dem Griechischen, sagt Ted. »Das eine und das andere.«
Er hat alle Zeit der Welt, und es ist kein bisschen wie Schule. Simon merkt sich alles. Schon bald ist er über das Alphabet und die kurzen, vernünftigen Wörter wie Bus, Hut, Fuß weit hinaus. Rhythmus. Wagen. Waagen. Vagen. Absätze, Zeichensetzung, sogar ein paar Bong-Mo auf Französisch und Lateinschnipsel nach Bedarf: et cetera, per se, ergo, ad infinitum, er schnappt sie alle auf. Und was Ted angeht, so empfindet Simon ihm gegenüber etwas, was er, soweit er sich erinnern kann, noch nie empfunden hat: Ich habe absolut nichts gegen den Mann, denkt er, und das fühlt sich gar nicht schlecht an.
Achtzehn Monate später ist er funktionstüchtig, und Ted kommt vor allem zum Plaudern vorbei. Sie tauschen sich über die Nachrichten aus, die fast immer schlecht sind: Arbeitslosigkeit, Privatisierung, die Falklandinseln. Dann wird ihm mitgeteilt, Ted sei krank. Drei Wochen lang taucht er nicht auf. Simon schreibt ihm in seiner saubersten Schönschrift, doch wie sich herausstellt, ist er gestorben.
Ted hat ihm ein Gewerbe geschenkt: Er schreibt Briefe. Er sitzt im Schneidersitz auf dem Bett in seiner zwei mal drei Meter großen Zelle, ein Stück Hartfaserplatte als Unterlage, und schreibt an faule Anwälte, Abgeordnete im Parlament, den Innenminister, die Bewährungskommission; an untreue Freundinnen, murrende Ehefrauen, traurige Mütter. Er berechnet pro Seite und je nach Schwierigkeitsgrad. Er gibt sich große Mühe. Er hat verschiedene Handschriften entworfen, passend zu den unterschiedlichen Aufgaben. Er hört den Typen zu, dann spart er die Abschweifungen aus oder verschleiert die Grobheiten, sorgt dafür, dass es besser klingt. Er schlägt Wörter nach, findet bessere, prüft nach Möglichkeit rechtliche Punkte. Dastehen und rot anlaufen und nach den richtigen Worten kramen ist das eine, aber mit einem Brief kann man sofort ins Schwarze treffen: »Es wirkt«, sagt er seinen potentiellen Kunden. Aber natürlich nicht immer. Er hat einen Typen wegen eines Briefs weinen sehen, den er erhalten hatte, zwei Wochen später fiel er Simon um den Hals. Da er keine eigene Post hat, legt er ab und zu sogar seinen Gratisbrief drauf. Und weil er von oben bis unten sauber ist, verkauft er dazu noch seine Pisse, wenn sie testen. Es läuft gar nicht so übel, obwohl er oft an Ted denken muss, als die Eiserne Lady es wieder schafft. Erdrutsch.
Er fängt an, sich für Bildung zu interessieren, so richtig. Er lässt das mit dem Briefeschreiben und konzentriert sich auf Kursarbeiten, Hausaufgaben. Er besteht den mittleren Schulabschluss in Englisch, Mathe, Soziologie und Informatik, außerdem einen Kurs in Maschineschreiben und ein Zertifikat in verbaler Kommunikation, bevor sie ihn auf halbem Weg zur Hochschulreife stoppen und beschließen, ihn hierher zu verlegen, wo es heißt, er habe schon zu viel Bildung genossen und müsse sich hinten anstellen. Jede Form von Beschäftigung ist ein Plus und muss aufgeteilt werden. Ein bisschen Küchenarbeit. Eine Schicht im Elektroladen, wo sie recycelte Stereoanlagen zusammenbauen. Und jetzt ist er seit über sieben Jahren drin, zwölf Monate in derselben Zelle mit demselben Wichser nebenan.
Die haben mir gesagt, ich sei schlau, erinnert er sich. Da ist definitiv was dran, denn als er mit einem Abszess an einem Backenzahn zur Notaufnahme geschickt wurde, saß er da mit seinen Schmerzen, wartete stundenlang mit Handschellen an zwei Wärter gefesselt, und dann kam endlich der Arzt und fragte: »Wer von Ihnen ist Simon?« Ein Arzt – noch Fragen?
Irgendwann kann ich vielleicht einen Abschluss machen, sagt er sich. Nicht ausgeschlossen.
Die Container riechen nach glühendem Heizungslack und nach denen, die zuvor drin waren. Rührt sich wer nebenan, bewegt sich der Boden. Es gibt keine Lüftung, und Barry, der Betreuer der Stunde, ist zwar ständig dabei aufzuhören, aber er raucht, ziemlich viel sogar.
»Wie steht’s, Simon?«, fragt er. Er spricht mit einem weichen walisischen Rollen und hat ein Jungengesicht, dabei muss er über vierzig sein.
»Normal«, sagt Simon, »zu Tode gelangweilt.« Barry lehnt sich zurück, faltet die Hände hinter dem Kopf. Das schmale Fenster befindet sich hinter ihm, weit oben, mit Ausblick direkt auf die Gefängnismauer. Geputzt wurde es auch noch nie. Also muss Simon Barry ansehen, der den Blick mit seinen ernsten braunen Augen erwidert, oder halt seine eigenen Hände. Die sind immer sauber und gepflegt, da passiert also auch nicht viel.
»Am Thema Bildung bin ich immer noch dran«, fährt Barry fort, »aber das System ist so überfüllt. Stehen auch noch mehr Kürzungen an. Eine Schande. Aber auch so gibt es vieles, worüber Sie sich Gedanken machen können. Haben Sie über das nachgedacht, was wir letztes Mal besprochen haben?« An dieser Stelle löst er seine zurückgelehnte Haltung und wirft einen Blick in seine Notizen, um sich in Erinnerung zu rufen, was vor vier Monaten gesagt wurde. »Simon«, sagt er, »Sie wirken sehr zynisch.«
»Sind Sie doch sicher auch«, erwidert Simon.
»Sie sind zur Einsicht fähig«, beharrt Barry, »aber Sie verdrängen immer noch. Sie werden erst weiterkommen, wenn Sie das durchbrechen.«
»Sie kennen sich da natürlich aus«, sagt Simon. »Eigene Erfahrung, was?«
»Passen Sie mal auf, Simon«, sagt Barry. »Ich bin hier, weil ich mich in meinem alten Job immer gefragt habe, was danach passiert.« Tja, denkt Simon in seine Richtung, das hier! Das passiert danach! Er beschließt, es nicht auszusprechen. Lange Pause. Draußen vor dem Container gehen ein paar Wärter mit rasselnden Schlüsselbunden vorbei, und dann ein jähes Stakkato-Lachen, das verstummt, als sich die Tür zum B-Trakt hinter ihnen schließt.
»Frauen sind bei Ihnen ein Thema, oder?« Barry wirft das nebenbei hin, als ginge es um Zuckerstücke im Tee, nicht um die halbe Menschheit. »Ich habe hier einen Stapel Karten, die sind dazu da, ein Gespräch in Gang zu bringen.« Er zeigt sie ihm: Auf den Karten steht ein Satz, und man muss aus dem Bauch heraus sagen, ob man zustimmt oder nicht.
»Mal probieren?« Mir doch egal, denkt Simon. Viel wichtiger ist die Frage, wann Barry seine Thermoskanne rausholt und ihnen beiden, wie sonst immer ungefähr zur Halbzeit, eine Tasse anständigen Kaffee einschenkt.
Barry reicht ihm die erste Karte. Sie ist mit sehr großen Buchstaben beschrieben und in glänzendem Plastik laminiert.
»Frauen haben kleinere Gehirne als Männer und sind weniger intelligent«, steht darauf.
»Weiter«, sagt Simon, weil er das Gegenteil behaupten würde, auch wenn manche von ihnen sagenhaft dämliches Zeug machen. Zum Beispiel: Fast alle Männer hier drin, Knackis wie Schlusen, selbst Barry, sind verheiratet oder so gut wie. Er nimmt die nächste Karte.
»Frauen sind von Natur aus fürsorglicher«, steht da. Von Natur aus ist verwirrend.
»Weiter«, sagt er wieder. »Ich sag Ihnen, was ich denke, aber erst müssen Sie den Kaffee rausholen.« Er sieht Barry dabei zu, wie er die Thermoskanne aus seiner ausgebeulten Aktentasche zieht und einschenkt: den Edelstahlbecher für sich, die Plastikkappe für Simon. Zucker aus einem kleinen Schraubglas. Der starke, bittere Kaffeegeruch scheint fast aus einem anderen Leben zu stammen. Nach ein, zwei Schlucken fängt das Koffein an zu wirken.
»Frauen. Ganz spontan, ohne nachzudenken –«, sagt Simon zu Barry, »erstens: Sie mögen es, wenn man sie ansieht. Sie riechen gut. Sogar die hier bei uns. Zweitens: In der Regel schlagen sie nicht zu. Eine Frau kann einem irgendwie Angst einjagen, aber die Gefahr, dass sie einen richtig, also körperlich verletzt, ist mehr oder weniger gleich Null. Drittens: Sie bringen Kinder zur Welt oder entscheiden sich dagegen. Manchmal bekommen sie Kinder, ohne es geplant zu haben, und manchmal bekommen sie welche und wollen sie dann nicht –.« An dieser Stelle versucht Barry, Simon zu unterbrechen, aber er hat einen Lauf: »Ok«, räumt er ein, »Männer haben was damit zu tun, aber nicht viel. Wir waren alle mal im Körper einer Frau. Viele verbringen viel Zeit mit dem Versuch, wieder in einen reinzukommen: Ich bin keiner von denen. Ich würde auf gar keinen Fall eine Frau sein wollen. Wäre ich eine, würde ich um Männer einen großen Bogen machen. Ich wäre lesbisch! Und ganz bestimmt würde ich nichts in mir wachsen lassen. Und noch was«, sagt Simon zu Barry, »um eine Frau dazu zu bringen, einen zu mögen, muss man ihre Schwächen ausnutzen.« Er weiß nicht mehr, bei welcher Nummer er war, also hört er auf und trinkt den restlichen Kaffee aus, der jetzt abgekühlt und genau richtig ist. Er sieht Barry dabei zu, wie er aufschreibt, was er gesagt hat.
»Da steckt eine Menge drin«, meint Barry, als er fertig ist, »und, ganz wertfrei, weil das bei Ihrem Hintergrund wenig überraschend ist, ich würde auch sagen, dass es da eine Menge Widersprüche gab …« Er strahlt Simon an und nippt an seinem Becher. »Also, Amanda mochte Sie, oder?«, sagt er. Simon blickt einfach durch ihn hindurch; so bekommt ihn niemand zu fassen.
»Was an Frauen macht Ihnen Angst?«, fragt Barry nach einer weiteren langen Pause. »Was ist –«
»Sie haben das Sagen, oder?«, sagt Simon. »Lehrerinnen. Thatcher. Diese Currie. Madonna.«
»Es ist offensichtlich, dass Sie das Gefühl brauchen, Ihr Leben in hohem Maße unter Kontrolle zu haben«, sagt Barry. Simon erkennt darin ein wörtliches Zitat von Dr. Grice.
»Na, dann bin ich hier ja wohl richtig, was?«, sagt er und prustet los, aber Barrys Mund zuckt nicht mal; eine Weile lang sagt er nichts, dann tastet er in seiner Tasche nach den Marlboros. Simon greift zu und steckt eine zum Tauschen ein. Barry zündet sich eine an, spielt dann mit der Zigarette, klopft sie über der weißen Untertasse ab, die er als Aschenbecher benutzt, obwohl das noch gar nicht nötig wäre.
»Es liegt ganz an Ihnen, Simon«, sagt er schließlich, und sie verbringen die nächsten zehn Minuten damit, über Fußball zu sprechen.
Simon ist wütend, als er zurückkommt. Das mit den Frauen stimmt, aber er findet auch, dass Barry von Kopf bis Fuß absolut reiner Bullshit ist. Liegt ganz an mir? Nee, klar. Und wofür werden du und der andere dann bezahlt? Aus seiner Sicht ist es nämlich so: Natürlich kann man kapieren, wie ein Fahrrad funktioniert, aber trotzdem muss man noch die körperliche Balance finden, um darauf fahren zu können. Das könnte man sogar auch ohne das Wissen hinkriegen. Man braucht erstens ein Fahrrad und zweitens Zeit zum Üben. Die hier verfügbaren Ressourcen hinsichtlich Umgang-mit-Frauen-Lernen sind gelinde gesagt begrenzt, angespannt: Die weiblichen Schlusen, die nicht zählen (womöglich, so das Gerücht, sind das gar keine echten Frauen), die Seelsorger-Groupies und vier Lehrerinnen im Pädagogikzentrum, das er nicht betreten darf. Weibliche Teile der Gesellschaft stehen nicht gerade Schlange, um es einem beizubringen, oder? Na gut, denkt er, aber wenn ich was will, was auch immer das Gegenteil von dem hier sein mag, muss ich den Weg selbst finden.
Es ist gut, ein Vorbild zu haben. Jay Cartwell, sagt sich Simon, war nur drei Tage im B-Trakt, bevor er herausfand, wie sich aus geflochtener Zahnseide eine Schlinge machen lässt. Er nahm, was er bereits hatte, um an sein Ziel zu gelangen, und das, denkt er, werde auch ich machen.
Erstens: In den Anzeigen, die man so sieht, geben die Leute ihr Alter an, manchmal den Beruf, Hobbys, beschreiben ihr Aussehen – alles höchstwahrscheinlich Lügen, Wunschdenken oder Übertreibung. Dann geben sie an, was für eine Person sie suchen, Größe zum Beispiel, irgendeine Eigenschaft wie lebhaft, sinnlich, humorvoll, blond oder so. Aber Simon glaubt, jedes konkrete Detail könnte gegen ihn sprechen, also wird er sich kurzfassen: Mann sucht Frau zwecks Brieffreundschaft, Alter egal. Außerdem, zweitens, wird er nichts zum Aussehen schreiben, weil so was doch sicher nur eine Rolle spielt, wenn man jemanden tagein, tagaus vor sich hat und man sich die Stimme anhören muss, die einem dann höchstwahrscheinlich ganz schön auf den Zeiger geht. Und drittens erwähnt er nicht, wohin der Briefwechsel seiner Meinung nach führen soll, weil er es selbst nicht genau weiß. Aber er vermutet, dass man per Brief durchaus weiter und einander näherkommen kann als mit Gesprächen. Manchmal sind die Leute mitteilsamer, wenn sie meinen, für sich zu sein, und können sich besser auf das konzentrieren, was sie sagen wollen.
Ich mache das auf meine Art, denkt er. Keine Bitte um »Erlaubnis des Direktors, wenn Sie eine Anzeige für eine Brieffreundschaft aufgeben möchten«, keine Angabe »der korrekten Adresse oben auf jeder Seite« und schon gar kein idiotischer Zensor, der seine Briefe und die Antworten auf der Suche nach Beilagen öffnet und sie am Ende noch liest … Das hier wird sein ganz privater Korrespondenzkurs. Was bedeutet, dass er, weil er keinen Besuch bekommt, Hilfe für das Schmuggeln der Briefe hinzukaufen muss. Er braucht jemanden, der Geld schnell verbrennt: Teverson, im Dritten. Schwerer Einbruch und schwere Körperverletzung, hält Wunder was auf sich. Normalerweise würde er sich fernhalten, aber.
Tev ist drüber, wie immer. Während ihres Gesprächs ist seine Anlage voll aufgedreht und frisst Batterien. Auf dem Tisch zwei leere Mars-Verpackungen und eine Schüssel Dosenpfirsiche, dazu ein voller Aschenbecher. Seine Bude ist mit Frauen tapeziert, meist von hinten. Er steht auf Hintern. Natürliche Position der Frau, erklärt er Simon, mit dem Gesicht nach unten. Der Hintereingang ist schön fest, und man muss sich keine Sorgen ums Schwängern machen.
»Also, Mann, warum bist du hier?«, sagt er. Er trägt seinen Trainingsanzug und schwitzt, als wäre er noch beim Sport. Der Geruch verbreitet sich schwallweise um ihn.
Besuch? Seine Alte kommt, und ihre Schwester und seine Schwester und seine Mum: »Wenn du eine Frau willst«, sagt er, »nimm mir doch eine von denen ab! Nichts als Ärger. Oder ich könnte dir ein nettes Mädchen besorgen, Freundin meiner Frau, die kommt dich besuchen, falls du was Leckeres für die Augen willst, an das du dann später denken kannst, alles klar?«
»Nein.« Simon will nichts aus zweiter Hand. Das hier macht er auf seine Art. »Danke, Mann. Ich will Briefe«, erklärt er Teverson.
»Na, die würde sie doch schreiben!«, sagt Tev. »Musst du ihr nur sagen. Würde uns beiden viel Ärger ersparen.«
»Ich will jemanden, der es will. Ich mache das auf meine Art, ok?«, erklärt Simon. »Ich zahle dafür. Ich suche einen Kurier. Sie muss den Brief bei einem Besuch einstecken, dann die Antwort bei sich zu Hause annehmen, den Umschlag austauschen und dir mitbringen. Falls sie mehr als eine Antwort erhält, tja, dann sagst du ihr, sie soll den dicksten mitbringen und den Rest wegschmeißen.«
Er hat ein paar Kippen gesammelt, also bietet er Teverson eine an. Tev nimmt sie wortlos, nickt mit dem Kopf im Takt. »Riskant«, sagt er. »Ich will ja nicht die Gans umbringen, die meine goldenen Eier legt, oder?« Andererseits hat er mehr als eine.
»Wie viel?«, fragt Simon. Will man was, Alk, Tabak, Stoff, Sex, Briefe, ist es immer dasselbe: Man muss was zu bieten haben. Aber wenn der Typ bei Verstand ist, verlangt er nicht mehr von dir, als du auftreiben kannst.
»Dreißig«, sagt Teverson. Er klatscht Simon den Arm um die Schultern und drückt ihn, gibt ihm dann einen Schlag zwischen die Schulterblätter.
»Wie lange haste schon?«, fragt er. »Acht? So lange werd ich wohl insgesamt drin sein«, sagt er selbstzufrieden. »Immer auf Trab bleiben, dann ist es in Nullkommanix vorbei. Wird alles in Butter sein, wenn ich rauskomme.«
Liebe, damit fangen Briefe an, selbst wenn man die Person nicht kennt, selbst wenn man sie nicht mag, und Lieber nennen sie einen in ihrer Antwort. Das gefällt mir, denkt Simon, und ihm gefällt auch der Gedanke, dass jemand sich die Mühe macht, Papier und Stift herauszuholen, vielleicht nochmal seinen letzten Brief überfliegt, um zu sehen, ob es darin Fragen gab, die beantwortet, Punkte, die aufgegriffen werden sollten, kurz zögert und dann zu schreiben beginnt. Irgendwann halten sie möglicherweise inne oder werden unterbrochen. Aber die Vorstellung, dass er darauf wartet zu erfahren, was sie zu sagen haben, treibt sie bis zum Ende an: Ihre, herzliche Grüße, bleiben Sie gesund und munter, passen Sie auf sich auf, schreiben Sie mir bald, alles Liebe … Keines dieser Worte verdient er, aber Dr. Grice zufolge muss es mal anders gewesen sein. Nun, vielleicht kann er diejenigen bekommen, die man ihm von damals noch schuldet?
Er wartet, wartet einfach, hier auf seinem Bett. Rechts von ihm: Tür, Sanitäreinheit, vor ihm: Tisch, Stuhl, Bücher, Stifte. Fünfzehn Jahre, mindestens. Noch fünf Minuten bis zum Einschluss. Elf Stunden drin. Vier Stunden, bis es friedlich wird und ruhig. Acht Wochen, schätzt er, bis er vielleicht Antwort erhält: Zehn Tage oder so liegt die Anzeige in der Redaktion der Zeitung herum. Dann erscheint die Zeitung, dann flattert sie eine Weile durchs Haus, wird fast weggeworfen, und dann, spätabends, blättert sie sie durch und denkt, na ja, ja, könnte ich doch. Dann muss sie den Brief auch wirklich schreiben. Dann vergisst sie ihn wieder, dann hat sie keine Briefmarke und vergisst eine Woche lang, ihn einzuwerfen, und fast ist es ihr egal. Dann wirft sie ihn doch ein, und er gelangt zur Schwester von Teversons Frau und versteckt sich unter der Fußmatte. Natürlich findet sie ihn just nach einem Besuch, oder sie ist nicht an der Reihe, das macht wieder zwei Wochen.
Alles relativ, nicht vergessen, und ihm hilft es, langsam einzuatmen, kurz zu halten, dann langsam wieder aus. Und er versucht, seine Gedanken in die Richtung zu lenken, in die er sie haben will. Nach vorn, nicht zurück. Was sein könnte, nicht was mal war. Jetzt denkt er daran, wie er Kopien seiner Briefe in der einen Hälfte der Adidas-Schachtel, die er von dem Iren bekommen hat, aufbewahren wird und ihre Briefe samt Umschlägen in der anderen. Er denkt daran, wie er mit dem Hapkido weitermachen wird und mit den Dehnübungen und natürlich der yogischen Atmung. Er wird lesen und seine Fantasie weiterentwickeln. Das macht man, etwa indem man sich selbst Fragen stellt, zum Beispiel: Wie stellst du dir Teversons Wohnung draußen vor? Leicht.
Eine große Maisonettewohnung, Sozialbau, außen blättert die Farbe ab, drinnen das volle Programm. Teppich mit Tigermuster, großer Spiegel, Riesenfernseher, Marantz-Stereoanlage, schicke Lampen. Tropenfische. Riesenbett. Abgesägte Schrotflinte darunter. Wohnungstür aus Stahl, Metallgitter an den Fenstern.
Wie wird sie wohl sein?, denkt er. Ich weiß es nicht.
Wer wird aus mir? Dito. Ein Sprung ins Ungewisse.
Es ist gerade mal vier Tage her, seit Dickie Walters Simon zu sich ins Büro gerufen hat. Was ist los?, dachte er, während er dem Beamten in die Magnolienzone folgte, wo der Geruch nach abgestandenem Essen und körperlichen Nöten ganz plötzlich aufhört, abgelöst wird vom Aroma frischen Kaffees, das dem Kabuff am Ende des Trakts entströmt. Waren sie hinter den Deal mit Teverson gekommen? Hatte ihn jemand wegen so einer Kleinigkeit verpfiffen? Allein der Gedanke ballte seine Hände zu Fäusten; gleichzeitig sogen seine Augen das tiefdunkle Rot des Teppichs auf, und seine Ohren passten sich dankbar der neuen, leisen Geräuschkulisse aus gedämpften Stimmen, Tippen und Telefonen, Frauenlachen hinter angelehnten Türen an.
Jetzt mach schon!, dachte er, als der frisch aussehende Walters ihm die Hand schüttelte, sich setzte und endlose Einleitungen durchging. Komm endlich zur Sache!
»Nun«, sagte Walters schließlich, »gute Nachrichten. Nach eingehender Prüfung, als Privileg, nicht als Recht, habe ich beschlossen, Ihnen Zugang zu Ihrem letzten F75-Bericht zu gewähren –« Warum?
»Den will ich nicht«, sagte Simon. »Warum sollte ich? Ich habe nie darum gebeten.«
»In letzter Zeit versuchen wir, so transparent wie möglich zu sein«, fuhr Walters unbeirrt fort, während das Licht in den schlierenfreien Gläsern seiner Brille funkelte. »Wir meinen, dass Sie aus diesen Berichten Nutzen ziehen könnten, natürlich nur, falls und sobald es die Personaldecke erlaubt. Stellen Sie einfach einen Antrag bei Ihrem Sachbearbeiter.« Zuerst hat er nur gelacht. Den Arsch um was bitten? Du machst wohl Witze! Dann dachte er, es sei ihm egal. Dann dachte er, er würde es aushalten: falsch. Er hat einen Antrag gestellt, und hier sitzt er nun, an einem ein mal ein Meter großen Resopaltisch mitten in einem fensterlosen Kubus, genau unter der rechteckigen Neonleuchte an der Decke. Hoskins lehnt zwei Schritte entfernt an der Wand, saugt den Atem durch die Zähne ein und sieht alle zwei Minuten auf die Uhr. Der Bericht liegt vor ihm in einem Klemmhefter, gut einen Zentimeter dick. Ihm wird klar, dass es ein Fehler war herzukommen, schlägt den Hefter aber trotzdem auf.
»Austen hat eine arrogante Einstellung. Bislang hat er keine Anstalten gemacht, sich mit seinem kriminellen Verhalten auseinanderzusetzen, mit Ausnahme seiner Schreib- und Lesestörung, die nur einen geringen Einfluss auf den Tathergang gehabt haben dürfte …« Walters höchstpersönlich. Wo lernen sie dieses Zeug bloß! So geht es weiter, immer weiter. Fünf, sechs Seiten! Er blättert alles jäh durch und zerreißt dabei fast die maschinegeschriebenen Blätter:
»… nahm am Antiaggressionstraining teil, sagte aber, er mache das nur der Anstalt zuliebe, und merkte an, die meisten Techniken bereits selbst entdeckt zu haben …« Ja, genau, das nennt man den Scheißdruck rausnehmen, muss man auch, sonst explodiert man! Er blickt zu Hoskins hinüber, der die Decke betrachtet, leuchtende Wangen vor lauter geplatzten Äderchen, Schuppen auf den Schultern, und bestimmt von der Pensionierung träumt, sechs Monate später ist er vermutlich tot.
»Austen verdrängt die Tat völlig …« Bei diesen Worten, getippt von der Frau im Kunstfaser-Strickkostüm, die neben den Chefbüros sitzt, klackklackklack, wird ihm speiübel. Im wahrsten Sinne des Wortes, er spürt schon, wie sich ihm der Mund füllt. Den Reiz beseitigen! Er blättert ein paar Seiten gleichzeitig um. Time out, alles klar? Der Sachbearbeiter, immerhin selbst per Hand geschrieben, hat fest aufgedrückt, Kleckse mit der Kulitinte hinterlassen: »Gutes Betragen, aber sarkastisch und Einzlgänger (sic). Der Mann wirkt auf mich wie eine Zeitbombe, die jederzeit hochgehen kann.«
Wieder blättert er eine Handvoll Seiten um. Dr. Grice!
»Ganz ruhig«, schnauft Hoskins und drückt sich einen Augenblick lang von der Wand ab für den Fall, dass er einschreiten muss, lehnt sich dann wieder zurück.
»Anstatt sich seinen frühen Erfahrungen von Verlassenwerden und Zurückweisung zu stellen, hat Simon eine Strategie entwickelt, bei der er weiteren Zurückweisungen mit Feindseligkeit zuvorkommt. Er zeigt kein Interesse daran, dies zu hinterfragen, und im Laufe von sechs Sitzungen verspottete er häufig …«
Und damit ist er auf einmal so angespannt, wie er es immer in Grices apricot-weißem Raum wurde: Es gab nichts zu tun außer die übermalte Ziegelmauer zu betrachten, die Sommersprossen auf Grices Handrücken, die vereinzelten grauen Haare in seiner Nase, die Glatze, das Webmuster seines Jackenstoffs, betrachten, betrachten, betrachten, bis es zu einer Art Halluzination wird, und darauf warten, dass die Zeit vergeht. Grice konnte eine Frage stellen und zwanzig Minuten lang warten, ob eine Antwort kam oder eben nicht. Schien ihm nichts auszumachen. Wann immer Simon zu seinem Gesicht aufblickte, sah er ihn an, nicht starrend, nur aufmerksam, so als wäre gerade eben etwas gesagt worden, das in ihm einen neuen und interessanten Gedankengang in Bewegung setzte. Immer wenn Simon diesen Raum wieder verließ, war sein Kiefer völlig verspannt und sein ganzer Rücken tat ihm weh, und er wünschte, jemand würde auf ihn losgehen, nur damit sich die Spannung lösen und er zurückschlagen konnte. Einmal war das tatsächlich passiert, im Duschraum, da hatte irgendein Idiot über eines seiner Tattoos gelacht, in zwei Sekunden hatte er ihn am Boden und schlug seinen Kopf gegen die Fliesen: »Wag es ja nicht, über mich zu lachen.« Ergebnis: jede Menge Respekt, plus fünf Extratage, wegen Widerstands gegen die Wärter, die sie getrennt hatten, plus das Antiaggressionstraining, das er machen musste. Das war beim letzten Mal, als er zu Walters musste.
»Also«, sagte Grice am Ende ihrer letzten »Sitzung«, wie er das nannte, »wir können zu einem späteren Zeitpunkt natürlich weitermachen, sollten Sie Ihre Meinung ändern …« Simon dachte: Soll das ein Witz sein, muss es wohl, wann brüllen wir beide los vor Gelächter, oder hast du das noch nie gemacht? Aber gleichzeitig stand er vor Grice, als wäre er zu Stein erstarrt, als könnte er aus irgendeinem Grund nicht gehen, jetzt, wo es tatsächlich vorbei war.
Hoskins räuspert sich, es klingt, als wäre seine Kehle mit ausgehärtetem Zement gefüllt, dazwischen eine Handvoll Kieselsteine oder zwei. Er ist bei mindestens vierzig am Tag und will ganz klar nichts wie raus aus diesem Nichtraucher-Raum. »Paar Minuten noch«, sagt er, und Simon könnte es dabei belassen, doch allein schon um Hoskins zu ärgern, blättert er wahllos ein paar weitere Seiten um: »Austen ist körperlich fit und achtet gut auf persönliche Sauberkeit«, entdeckt er dank des Anstaltsarztes. So ein Schätzchen! Wer war hier doch gleich der Experte? Hab ich recht oder nicht? Aber hat das auch nur die geringste Bedeutung?
»Was für ein Scheiß!«, bellt Simon Hoskins an.
»Ach was?«, kommentiert Hoskins und lächelt dankbar, als er sich endlich wieder von der Wand löst.
»Was gelernt?«, röchelt er, während er sich vorbeugt, um die Tür hinter ihnen abzuschließen. Den fetten Scheißer hätte ich im Handumdrehen am Boden, denkt Simon, aber aus irgendeinem Grund passiert das nicht. »Zurück ans Werk?«, grinst Hoskins und langt nach seinen Embassys und dem vergoldeten Feuerzeug. Wie oft hat er das in seinem Leben schon gemacht? Ich könnte deine Karte schreiben, denkt Simon:
Hoskins setzt Nikotin, Alkohol, Misshandlung der Ehefrau und eine leicht sarkastische Art ein, um sich von seiner Umgebung, von Kollegen und Vorwürfen abzugrenzen. Sein ungewöhnliches Hobby, das Fotografieren von Nachtszenen, insbesondere Feuerwerk-Darbietungen, verschafft ihm Erleichterung und Befriedigung …
Wie kann sich hier irgendwer normal verhalten oder sich auch nur daran erinnern, was das überhaupt ist? Hoskins zündet sich die Zigarette mit einem Seufzen an und hält Simon in einem nachträglichen Einfall die Schachtel hin. Er nimmt zwei, steckt sich je eine hinters Ohr.
Hoskins begleitet ihn zum Werkzeugschuppen, schließt auf, sieht ihm dabei zu, wie er riesige rote, euterähnliche Gummihandschuhe anzieht und Schubkarre, Kehrblech, Bürste und so weiter herausholt. Dann ist er fast eine Stunde lang allein. Obwohl er eine Zeitbombe ist, verlangt sein neuer Job Zuverlässigkeit, und er bekommt eine rote Binde, die er am Arm tragen muss, so lange er draußen ist. Morgens gilt es, neben dem einen oder anderen Sandwich, Süßigkeitenpapier und so weiter die aus den Zellenfenstern geworfenen Scheißepäckchen jener Insassen aufzuheben, die nicht das Glück haben, über eine eigene Sanitäreinheit zu verfügen. Nachmittags Staub zusammenkehren. Der Job bringt keinen Respekt ein, aber er kommt dadurch raus. Er kann hinter den Pädagogiktrakt gehen und Marsden beim Klavierüben zuhören. Er kann sich einen größeren Himmelsausschnitt ansehen, Windfetzen im Gesicht spüren. Und irgendwann kann er an den Heizungsschuppen vorbeigehen, wo Teverson arbeitet und Kohle schaufelt. Das macht er mit freiem Oberkörper, staubig und verschwitzt, wie in einem Bildband über die Minen von vor hundert Jahren. Er hat den Job nur wegen der Fitness übernommen, sagt er, und da punktet er zweifellos. Der Wärter sieht zu, dicker Bauch, rauchend.
»Hast du meins auch?«, ruft Tev Simon zu. »Groß und klebrig. Ohne Papier. Tut mir leid, Mann, ich hab’s nicht einpacken können.«
»Hat ne Ratte gefressen«, sagt Simon. »Ist dran verreckt.«
»Man sieht sich!«, sagt Tev, offensichtlich zufrieden, und wendet sich wieder seiner Arbeit zu. Tev kommt zwei-, dreimal die Woche zum Schnorren bei Simon vorbei. Hand auf die Schulter, wie eine Tonne Ziegel von hinten. Meistens, aber nicht jedes Mal, gibt Simon ihm etwas dunklen, gummiartigen Tabak oder ein paar echte Zigaretten, so wie die, die er vorhin von Hoskins bekommen hat. Simon fragt nie nach seinem Brief, noch nicht mal wenn er, wie heute, weiß, dass Tev gerade Besuch hatte und seine halbe Stunde in dem stickigen Raum abgesessen hat, in dem zwei Welten aufeinandertreffen, wo die Hälfte der besseren Hälften flennt, sämtliche Kinder Zeter und Mordio schreien und alle Beteiligten besser dran wären, das Ganze nicht mitzumachen, aber sie tun’s trotzdem.
Seinen eigenen letzten – und einzigen – Besuch bekam er in Untersuchungshaft. Seine Ex-Pflegemutter Iris Kingswell hatte darum gebeten, und er ließ es geschehen, ganz einfach, um reinen Tisch zu machen.
»Simon«, japste sie, als man sie hereinbrachte, »es ist zehn Jahre her, aber du siehst noch genauso aus!« Sie nicht. Sie war fülliger, weicher und weniger markant, wie eine Spiegelung ihres früheren Selbst in einem Schaufenster. Alt. Er erkannte sie kaum wieder, was es ihm schwer machte, zu sagen, was er zu sagen hatte, aber er fing trotzdem an.
»Ich weiß nicht, warum du hier bist –« Er wollte gleich fortfahren, aber in diesem Moment lehnte sie sich über den Tisch und fasste seinen Arm.
»Weil ich mir Sorgen um dich mache«, sagte sie und blickte ihm mit gerunzelter Stirn ins Gesicht, als könnte sie darin etwas Verlorenes wiederfinden. »Es tut mir so leid, dich hier zu sehen«, sagte sie; ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß, es ist schiefgelaufen, Simon. Und ich gebe zu, es war nicht allein deine Schuld. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir dich wirklich im Stich gelassen haben. Ich war gerade in den Wechseljahren, weißt du.« Schade, dass es kein Wechsel zu etwas Besserem war! Er weiß noch, wie sie zu ihm sagte, er mache mehr Ärger, als man ihr bezahle, und jetzt wollte diese Frau, in der sie sich versteckte, von ihm hören, dass sie keine Schuld daran hatte, was aus ihm geworden war. Tja, das machst du mal schön mit dir aus.
»Aber egal was passiert ist, du warst ein paar Jahre bei uns.«
»Was ich nicht wollte!«, erwiderte er, aber sie sprach weiter, als hätte er nichts gesagt, redete einfach über ihn hinweg, es war alles eine Art Drehbuch, das sie auswendig gelernt hatte.
»Wie es auch weitergehen mag, ich würde gern mit dir in Kontakt bleiben: Das habe ich immer gewollt.« Endlich hörte sie auf.
»Aber ich nicht. Noch nie«, sagte er. »Ich habe diese ganzen Geburtstagskarten nie gewollt. Ich will nicht, dass du dabei zusiehst, wie sie mich ins Gefängnis stecken. Ich will nichts von dir, nichts, verstehst du? Ich werde lebenslänglich bekommen. Dann fange ich neu an, wenn ich richtig drin bin. Pass mal auf, Iris, die Vergangenheit, der ganze Scheiß – vergiss es einfach!« Sie saßen da, einander gegenüber auf den festgeschraubten Stühlen, sie mit den Tränen, die ihr mittlerweile die gepuderten Wangen hinabliefen, zwischen sich den Sperrholztisch mit den abgerundeten Ecken, ebenfalls festgeschraubt. Warum, dachte er, steht sie nicht einfach auf und geht?
»Es hat früher nicht geklappt, und es wird jetzt wohl kaum besser werden, oder?«, sagte er.
Endlich stemmte sie sich vom Stuhl auf, zog ihre Strickjacke eng um den Körper. »Nichts, was ich sage, wäre je gut genug. Du bist ein schlechter Mensch, und das war’s!«, sagte sie. »Ich hätte nicht herkommen sollen.« Er blieb sitzen, bis sie in Richtung Tür ging.
»Leb wohl, Iris«, sagte er dann, und sie drehte sich um.
»Wo in alles in der Welt kommt dieses Lächeln her?«, sagte sie. »Es gehört dir nicht. Es passt nicht zu deinen seltsamen Augen. Du musst es einem anderen kleinen Jungen gestohlen haben, beim Rutschen im Park.« Bis dahin hatte er nicht mal gewusst, was seine Lippen taten, aber wie auch immer, das war das Ende.
Teversons Schaufel kratzt den Boden entlang, dann treffen die Kohlen die Bunkerwand und prasseln auf den bereits vorhandenen Haufen.
Simon zieht seine Handschuhe aus, wirft sie und seine eigene Schaufel auf den Plastikbeutel voller Scheiße in seiner Schubkarre, nimmt die Griffe, schluckt seinen Frust runter und macht sich auf die Rückreise zu den Mülleimern. Es hat keinen Sinn sich zu beeilen. Draußen vor der Tür ist es immer noch besser als dahinter.
»He, Mann«, ruft Tev, gerade als er um die Ecke biegen will, »bis später, ja? Komm vorbei.«
Big T, so lässt sich Teverson gern nennen. Irgendein Arschkriecher hat eine Karikatur von ihm gezeichnet, alle Muskeln noch größer, als sie sind, was ihn genau wie den Buchstaben aussehen lässt, und er hat sie sich an die Wand geklebt. Gerade liegt er auf seinem Bett, zugedröhnt, das Magazin, das er in der Hand hatte, neben ihm auf dem Boden. Hinter ihm blicken die Pobacken wie lauter unförmige Planeten von der Wand herab.
»Hast du Batterien?«, fragt er, mit lallender Stimme. Er dreht sich auf die Seite, um Simon anzusehen, der im Türrahmen steht. Eine Hand baumelt über den Bettrand herunter. Wie ein scheißrömischer Kaiser oder so, denkt Simon, für so einen hältst du dich?
»Nein«, sagt er. Entweder hat Tev den Brief oder nicht … Also los. Langsam setzt Tev sich auf, dann drückt er sich von der Bettkante ab, um aufzustehen.
»Hast du welche von diesen Eiern, die gerade die Runde machen?« Da liegt eine, die ihm auf den Boden gefallen ist, knallgrün, und Simon zeigt darauf.
»Pass mal auf, T, ich hab im Voraus bezahlt«, sagt er.
»Es war schwerer als gedacht«, erklärt Tev. »Ich brauch noch was anderes. Was kannst du mir besorgen?« Simon sieht ihn an, bemüht sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Ihm fällt die Wölbung von Tevs strahlend blauen Augen auf, ihre roten Ränder, die Mischung aus Sonnenbrand und Sommersprossen, rote Ein-Tages-Stoppeln, der Hals, doppelt so breit wie sein eigener, Schultern so ähnlich wie in der Karikatur, eine Art anatomischer Scherz. Tev erwidert seinen Blick.
»Nicht viel los mit dir, was?«, sagt er schwer atmend. Er ist halb aus dem Bett, gleich versucht er, auf mich loszugehen, denkt Simon. Er lockert seine Hände, entspannt die Knie, stellt sich fest auf beide Füße, damit er ihm aus dem Weg gehen oder ihn sogar aufs Kreuz legen kann, falls dafür Platz ist. Nach all der Zeit, die er Tev jetzt schon ertragen muss, könnte man glatt von einer guten Gelegenheit sprechen – aber dann grinst der Arsch und sagt:
»Bringt mir nichts, was? Da drüben, unter der Sun«, und Simon muss nur einen Schritt machen, einen Blick auf die Tür werfen, den Umschlag nehmen und ihn in seine Klamotten stecken.
»Na dann!«
Big T grunzt, lässt sich wieder schwer auf sein Bett fallen, dämmert weg.
»Durchzählen! Zurück in die Zellen«, rufen sie draußen auf dem Flur, plötzlich ganz geschäftsmäßig, und manche Typen brüllen zurück.
»Was soll das!«, »Haut ab!«, »Verpisst euch!«, »Raus aufs Dach!«, weil es fast zehn Minuten zu früh ist und der Fernseher schon abgestellt wurde.
»Beeilung. Rein mit euch. Einschluss, jetzt!« Die Metallflure beben vor dem Gewicht der Männer, die auf dem Rückweg einen Zahn zulegen. Die Riegel schießen vor, schneller, härter als sonst. Das wird eine lange Nacht, denkt Simon. Er sitzt im Schneidersitz auf seinem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, wie jeden Abend. Der Umschlag wartet unter seinem Kissen. Er legt die Handgelenke auf die Knie, öffnet die Hände in die Richtung, wo der Himmel wäre, wäre er verfügbar. Er atmet ein, eine Weile später aus und – ganz der Anregung im Buch entsprechend, das ihm der Tutor vor Jahren geliehen hat – stellt sich vor, er säße auf dem Grund eines tiefen, grünen Teiches, über ihm und um ihn herum dickflüssiges, trübes Wasser, die Luftblasen – Bilder, Erinnerungen, Gedanken – entsteigen langsam seiner Nase und schweben davon.
Es riecht nach heißem Staub und Abfluss, nicht eingesammelten Scheißepäckchen. Simon trägt seine Fußball-Shorts und hat das Fenster die vollen acht Zentimeter geöffnet, aber es macht keinen Unterschied. Die Zelle geht nach innen raus; Ziegel halten die Hitze. Typisch: Die Schlusen beschließen mehr oder weniger zu streiken, machen nur noch Dienst nach Vorschrift, und noch am selben Tag steigen die Temperaturen auf 28 Grad im Schatten und gehen nicht mehr runter. Alle haben inzwischen genug. Es gibt plötzliche, überraschende Momente der Ruhe, die einem den Atem stocken lassen, dann geht das Geballer und Gebrüll wieder los. Roger von nebenan singt Kirchenlieder. Chip Butty zwei weiter hat gestern die Kontrolle verloren, bekam zwanzig Tage Einzel für den Versuch, die Lüftung zu verbessern. Niall ebenso, weil er auf eine der Schlusen losging, als bei ihm aufgesperrt wurde. Aber Simon ist ok. Er hat viel zum Nachdenken.
Lieber Wer-Sie-auch-sein-mögen, so beginnt der Brief. Ihr eigener Name, Vivienne Anne Whilden, steht samt Adresse geprägt oben auf dem cremeweißen, weichen Briefbogen, dickes Papier, das sich nicht anständig falten lässt. Beim Lesen zerrinnt der Lärm zu einer Art Suppe, bis er ihn überhaupt nicht mehr hört.
Wer bin ich? Eine gefühlsduselige Trinkerin in den Wechseljahren, die haargenau ihrem Alter entsprechend aussieht und bald arbeitslos sein wird. Momentan krankgeschrieben, was wenig hilfreich ist. Seit drei Jahren verwitwet, aber ich sollte inzwischen darüber hinweg sein. Zu Befehl! Ich habe so etwas noch nie gemacht. Vermutlich schicke ich ihn nicht ab …
Der Brief hat acht Seiten, was zum Teil der Größe der Schrift geschuldet ist. In riesigen Kursivbuchstaben, denen es schnurz ist, ob man sie lesen kann oder nicht, oder vielleicht wäre ihnen Letzteres sogar lieber, tanzt sie über das Papier. Doch Simon sitzt seit Stunden auf dem Bett, den Rücken an der Wand, und liest ihn ein ums andere Mal, bis der Brief fast ein Teil von ihm ist.
Hal und ich haben siebenundzwanzig Jahre zusammengelebt. Keine Kinder – das bereue ich jetzt. Meine Nichte, ein Teenie, habe ich s. lieb. Zurzeit darf sie mich nicht besuchen, weil ich, laut meiner heiligen Schwester Laura, ein schlechtes Vorbild bin.