Danksagung

Wir danken allen Autoren, die zum Gelingen dieses Buches beigetragen haben und auch allen, die uns mit Rat und Tat zu Seite standen. Sie haben ermöglicht, eine aktuelle Rundschau über die Erfahrungen und Aktivitäten rund um die Methode Naikan zu erfassen und darzustellen.

Wir danken auch der Familie Yoshimoto in Nara, in deren Schoß Naikan geboren wurde und die auf viele persönliche Interessen verzichteten, um die Methode wachsen und in die Welt hinausgehen zu lassen.

Wir danken weiters den Naikan-Leiter*innen rund um die Welt, die durch ihren Einsatz und ihre nachhaltige Bemühung den Zugang zur Methode Naikan als einen wichtigen Beitrag für das Glück vieler Menschen offenhalten.

Und wir danken allen Naikan-Teilnehmerinnern und Teilnehmern, von denen wir lernen durften, die uns immer wieder gezeigt haben, in welche Tiefen Naikan führen kann und die uns mitgenommen haben auf ihren Reisen in das Innere ihres Seins.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Kulturverein Naikan, Neunkirchen, Niederösterreich

Herausgeber:

Sabine Kaspari - Naikan-Zentrum Bayrischer Wald

Margit Lendawitsch, Franz Ritter - Neue Welt Institut

Cover design: Suzanne Jahrl sjc@artfox.cc
Naikan Logo: Julian Ritter julian.ritter@gmx.at

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

© Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978 3753 434209

Widmung

Akira Ishii und Lothar Finkbeiner 1988 in Klein Flöthe

Dieses Buch ist dem europäischen Naikan-Pionier Pastor Lothar Finkbeiner gewidmet, der im Sommer 2020 von uns gegangen ist.

Der deutsche Gefängnispfarrer Lothar war im deutschsprachigen Raum der erste Mensch, der 1976 unter der Begleitung von Akira Ishii Naikan geübt hat.

Anschließend hat er in der Anstaltskirche der JA Vechta die ersten Naikan-Wochen für Strafgefangene veranstaltet. In späteren Jahren brachte er Naikan nach Südafrika und coachte die dortigen Naikan-Leiter bei ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit. Bis heute ist Naikan eine der Therapie-Methoden, die in südafrikanischen Gefängnissen eingesetzt werden.

Lothar Finkbeiner wurde am 14. Juli 1939 in Finsterwalde/Uckermark geboren. Sein Vater war dort als Offizier der Luftwaffe stationiert. Die Familie musste vor Kriegsende fliehen, Ziel war Baiersbronn im Schwarzwald, dem Heimatort des Vaters. Für den Vater war es schwer, dort eine Arbeit zu finden, um die Familie zu ernähren. Dort wurde Lothar eingeschult und besuchte die Volksschule.

Als der Vater ein gutes Arbeitsangebot bekam, zog die Familie nach Dülmen/Westfalen. Hier absolvierte Lothar sein Abitur. Schon damals interessierte er sich für Randgruppen in der Gesellschaft. Ihm schwebte der Beruf des Jugendrichters vor. Er begann das Jurastudium, merkte aber, dass die Gesetze es nicht hergaben, den Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren, so zu helfen, wie er gerne helfen würde.

So machte er sich auf Studiensuche. Was passt zu mir und meinen Vorstellungen vom Leben? Unter anderem führte er ein Gespräch mit einem Theologie-Professor. "Sollte ich vielleicht Theologie studieren?" Er war sich nicht sicher. Der Professor sagte ihm: "Probieren Sie es aus. Sie werden sehr bald spüren, ob es das Richtige ist oder nicht." Es war die richtige Entscheidung. Er hatte seinen Weg gefunden. Es folgten Studienjahre in Bethel, Münster, Bonn, Göttingen. Während dieser Zeit lernte er seine spätere Frau kennen. 1966 wurde geheiratet, 1968 und 1971 wurden zwei Söhne geboren.

Nach dem theologischen Examen kam Lothar zum Vikariat nach Vechta. Der damalige Pfarrer betreute auch die JVA, da die Stelle des Gefängnisseelsorgers vakant war. Er nahm seinen Vikar mit zu den Gottesdiensten in die JVA und Lothar spürte hier seinen Auftrag, die Arbeit mit Randgruppen in der Gesellschaft. Die Stelle war auch noch nach seinem Vikariat vakant, er bewarb sich darauf und wurde genommen.

Von 1971 bis zu seiner Verabschiedung 2004 arbeitete er in der JVA Vechta, aber nicht nur dort. Darüber hinaus war er in unterschiedlichen Gremien national wie international tätig. Er war immer auf der Suche nach neuen Wegen, wie die Gefangenen Stabilität und die Kraft des Glaubens für ihr Leben finden konnten. Das hat ihn auch nach seiner Pensionierung noch zu Projekten bis nach Südafrika geführt.

Nach einem Autounfall im Jahr 2017 hatte Lothar dauerhaft mit wechselnden Beschwerden zu leben. Wegen eines Nierenleidens konnte er die Naikan-Kurse in Afrika nicht fortsetzen. Zunächst konnte die Dialyse zu Hause durchgeführt werden. Als aber die Hämodialyse ab 2018 notwendig wurde, musste er 3 x wöchentlich ins Krankenhaus. Diese Zeit hat ihn körperlich und seelisch zermürbt.

Ostern 2019 erlitt Lothar den 1. Schlaganfall, von dem er sich aber relativ gut erholen konnte. Am 24.12.2019 traf ihn ein zweiter Schlaganfall, der ihn so schwächte, dass er in einem ganz nahe gelegenen Seniorenheim gepflegt werden musste, dazu unter all den Auflagen der beginnenden Corona-Pandemie.

Lothar Finkbeiner im Jahr 2000
bei einer Naikan-Übung
im Neue Welt Institut

Im Pflegeheim stürzte er und musste wegen eines Becken-Ring-Bruchs in das Krankenhaus verlegt werden. Am 19. August 2020 starb Lothar dort an den Folgen einer inneren Blutung.

Pastor Lothar Finkbeiner war ein Mensch, der kraftvoll zupackte und nachhaltig „forderte“, wenn es notwendig war, ein erkanntes Problem zu lösen. Er nutzte Naikan nicht nur in seinem Aufgabenbereich Gefängnis-Seelsorge, sondern auch für sich selbst. In ihm verband sich Erfahrung und Überzeugung in eine tief verwurzelte Lebensführung, die seinen Glauben und sein Sein auf beeindruckende Weise verband.

INHALT

Vorworte

5 Jahre sind vergangen, seit unserem ersten Überblick über die gesamte Naikan-Bewegung im deutschsprachigen Raum. 5 einerseits turbulente Jahre, in denen viele Veränderungen stattfanden. Aber auch 5 Jahre des ruhigen Weiterentwickelns der Naikan-Grundlagen in Form von Kongressen (2016 und 2019), der Übergabe des Naikan-Zentrums in Tarmstedt an Jörg Fot in Schleswig-Holstein, die Mitarbeit bei der Entwicklung von Naikan in Nepal (siehe Artikel) und viele, viele Wochen-Naikan im ganzen deutschsprachigen Raum. Alljährlich treffen einander die Naikan-Begleiter*innen zum Erfahrungs- und Gedankenaustausch, 2020 coronabedingt über Zoom. Diese überarbeitete Version des 2015 erschienen Buches „Eintauchen ins Sein“ ist auch ein Produkt unserer Zusammenarbeit und zugleich die Begrüßung einiger neuer Kolleg*innen im Naikan-Leiter-Kreis.

40 Jahre sind vergangen, seit Naikan erstmals in Europa öffentlich bekannt wurde. Wir wollen nicht die Zeit davor unterschlagen, in der Lothar Finkbeiner, Anstaltspfarrer in Vechta, erstmals Naikan mit Strafgefangenen in seiner Anstalt übte. Doch 1980 war das erste Retreat-Angebot für deutschsprachige Teilnehmer*innen, dem seither hunderte, vielleicht sogar schon tausende Naikan-Wochen und Tages-Naikan vom Norden Deutschlands bis Südtirol, vom äußersten Osten Österreichs (Hainburg) bis in die Schweiz folgten. Die letzten 5 Jahre waren dabei nicht einfach, aber Naikan zeigt sich als kraftvolles Angebot, das einen eigenständigen Weg geht und den Menschen tiefgehende Selbstheilung und Selbstentwicklung auf sichere Art anbietet. Das zeigt sich als besonders wertvoll in den Corona-Zeiten, in denen Naikan durch sein spezielles Setting geübt werden kann, ohne Teilnehmer*innen und Begleiter*innen zu gefährden.

Neu hinzugekommen sind die Angebote über Online-Naikan, die durchaus ermöglichen, die Naikan-Erfahrung auch von zu Hause aus zu machen. Das ist noch zu neu, um darüber zu berichten, aber im nächsten Buch, geplant für 2025, werden wir da schon valide Ergebnisse melden können.

Darauf freuen wir uns, das Herausgeber-Team, Sabine Kaspari, Margit Lendawitsch und Franz Ritter, ganz besonders.

Alles Gute und viel Freude bei der Lektüre unseres Buches:

„Eintauchen ins Sein 2“

das Buch-Team

DIE GRUNDLAGEN VON NAIKAN

Akira Ishii - Eine Empfehlung für Naikan

Wenn wir etwas sehen, dann nehmen wir es normalerweise durch unsere eigenen Interessen gefiltert wahr. Weil die Wahrnehmung durch unsere Interessen verändert wird, erkennen wir manchmal die Realität nicht so an, wie sie ist, sondern versuchen sie unseren Erwartungen anzupassen. Wenn ich meine Studenten bitte, ihre Augen zu schließen und sie frage, was die Farbe der Wandtafel ist, dann sagen viele Studenten, dass sie schwarz sei. Tatsächlich ist die Farbe Grün. In einer Klasse ist die Tafel sogar blau. Trotzdem können nur zwei von hundert Studenten die richtige Farbe nennen. Wir erwarten meist, dass eine Wandtafel (in Japan Blackboard genannt) schwarz ist und versehen sie darum mit einem Vorurteil, nämlich dem, dass alle Wandtafeln schwarz sind. So wird die Realität durch unsere Erwartungen verändert.

Wenn Jugendliche eine Verfehlung begehen, versehen wir diese jungen Menschen sofort mit einem Vorurteil. Dann werden diese Jugendlichen oft genauso wie es dem Etikett, mit dem wir sie versehen haben, entspricht. Manchmal sagen wir, „obwohl sie meine eigene Mutter ist, sorgt sie nicht gut für die Familie“. Oder „obwohl er mein Lehrer oder mein Chef ist, verhält er sich nicht wie ein Lehrer oder ein Chef“. Dann sehen wir nicht die Person, sondern nur die Rolle, die dieser Mensch spielen sollte.

Es ist auch nicht immer eine Tatsache, dass der „blaue“ Himmel blau ist. Der Himmel ist nur an manchen Tagen blau. In der Nacht ist er überhaupt schwarz. Zum Sonnenaufgang oder Untergang spielt er in vielen Farben. Oft ist er auch grau gefärbt von Regenwolken.

Wenn eine Frau schwanger ist oder die eigene Partnerin ein Kind erwartet, dann stechen einem viele schwangere Frauen in die Augen. Wenn die eigenen Kinder drei Jahre alt sind, dann sehen wir viele Dreijährige in Parks oder auf der Straße.

Vor kurzem haben wir in unserem Haus die Tapeten erneuert. In dieser Zeit sah ich in Kaffeehäusern nur die Farbe der Wandverkleidungen. Nachdem wir entschieden haben, welche Tapeten wir kaufen werden, habe ich anderswo nicht mehr auf die Wände geachtet. Wenn man den Führerschein machen möchte, dann fallen einem plötzlich alle Fahrschulautos auf. Hat man den Führerschein geschafft, dann sieht man plötzlich kaum mehr eines. So sehen wir nur die Einzelheiten, die zu uns passen und auch die nur von der Seite, die unserem Interesse entspricht.

Wenn wir einmal beschließen, dass wir eine Person nicht mögen, dann können wir nicht mehr die Wahrnehmung zulassen, dass dieser Mensch auch etwas für uns getan hat. Wenn man sich nur daran erinnert, dass einen der Vater einmal geschlagen hat, dann vergisst man alle netten Worte und Gesten, die auch vom Vater kamen.

Einmal schrieb ein Student, warum er nicht Naikan machen konnte: „Ich rede nur einmal oder zweimal pro Jahr mit meinem Vater. Wenn ich mit ihm rede, dann geht es nur um Geld, das er mir geben soll. Deswegen gibt es nichts, was ich für ihn gemacht habe und was er für mich gemacht hat.“ Dieser Student sieht die Sache wirklich nur von seiner Seite. Wenn wir unser Verhalten nur von dieser Seite sehen, dann sind wir die einzigen Menschen auf der Erde, die das so wahrnehmen. Alle anderen sehen uns von einer ganz anderen Seite, nämlich der, die sich nach außen zeigt. Und ich bin der Einzige, der sich nicht von dieser Außenseite wahrnehmen kann. Um aber wirklich zu wissen, wer ich bin, ist es notwendig, mich von der Außenseite her anzusehen. Wenn wir kritisieren, dass unsere Reisetasche schon alt und schäbig ist, dann vergessen wir, uns die Sache von der Seite der Tasche her anzusehen. Die Gestalttherapie zum Beispiel lädt uns ähnlich wie Naikan ein, die Sache mit den Augen der Tasche zu betrachten. Sie würde in diesem Fall sagen: „Ich habe Dich viele Jahre begleitet. Ohne mich hättest Du alle Sachen unterwegs verloren. Du hast mich schmutzig gemacht und mich nie gereinigt. Und jetzt sagst Du, ich bin schmutzig.“

So ähnlich könnten sich auch unsere Eltern über uns äußern. Kinder beklagen sich manchmal darüber, dass ihre Mutter nicht mehr so jung und hübsch ist. Aber sie vergessen, dass die Mutter jung und hübsch war, bevor sie geboren wurden. Die Geburt hat die Figur der Mutter verändert und die Sorgen ihr Gesicht. Während sich die Mutter um die kleinen Kinder kümmert, hat sie kaum mehr Zeit, sich mit ihrer Schönheitspflege zu beschäftigen. Und wenn sie Geld hat, kauft sie eher hübsche Kinderkleidung als sich selbst ein neues Stück.

Wir können die Sache natürlich auch wie im Psychodrama mit Hilfe eines Rollenspiels ansehen. Der Klient lässt dabei einen anderen die eigene Rolle spielen und übernimmt selbst die Rolle dessen, den er kritisiert. Dann würde der Junge, der sich über den Vater beklagt, selber den Satz sagen: „Du musst fleißig lernen, damit Du etwas im Leben erreichst.“

Vielleicht fängt das Rollenspiel so an: Es ist zehn Uhr abends und der Junge kommt nach Hause zurück. Der Vater liest gerade die Zeitung. Dann würde er als Vater sagen: „Warum kommst Du so spät zurück? Hast Du schon Deine Hausaufgaben gemacht?“ Dadurch, dass er selbst diesen Satz sagt, versteht er plötzlich den Standpunkt des Vaters. Und er versteht, wie er selber von seinem Vater gesehen wird.

In einer gruppendynamischen Sitzung würden andere das Verhalten des Teilnehmers beurteilen und vielleicht sagen: „Du bist zu stolz“ oder „Du wirkst depressiv auf mich.“ Es ist hart, wenn wir von außen ungefiltertes Feedback bekommen. Manchmal wird das Selbstbild zerstört und es dauert dann lange, bis wir uns von diesem Schlag erholen und ein neues Selbstbild aufbauen. Durch diese Methoden lernen wir, uns von unterschiedlichen Standpunkten her zu sehen.

Ich bin an der juristischen Fakultät tätig. Studenten lernen an dieser Fakultät von Anfang an, einen Fall mit juristischer Denkweise (legal mind) zu betrachten. Das heißt, dass man die Angelegenheit auch vom Standpunkt anderer Beteiligter sehen lernt. In einem Streitfall versteht man dann auch die Behauptung der Gegenseite von deren Standpunkt aus. Mit diesem Verständnis lernt man, eine Causa zu klären und zu interpretieren. Wenn man das schafft, dann hat man legal mind verwirklicht.

Durch diese Sichtweisen erkennen wir uns selbst und unsere Vergangenheit von einer ganz anderen Seite. Insofern ist Naikan ein Teil der vielen Methoden, die uns dies lehren wollen. Was Naikan von all diesen Methoden unterscheidet, ist die Arbeit mit den drei Fragen:

  1. 1. Was hat die Person, die ich gerade betrachte, für mich getan?
  2. 2. Was habe ich für diese Person getan?
  3. 3. Welche Schwierigkeiten habe ich dieser Person verursacht?

Mit diesen drei Fragen prüfen wir uns von der Kindheit bis zur Gegenwart. Das sind eigentlich Fragen, die wir uns normalerweise nicht stellen.

Die erste Naikan-Frage

Wir denken nicht daran, was zum Beispiel unsere Mutter für uns getan hat, weil wir das als selbstverständlich ansehen. Dagegen erinnern wir uns sehr leicht daran, was unsere Mutter nicht für uns gemacht hat. Wenn uns ein Onkel ein kleines Geldgeschenk macht, dann freuen wir uns sehr darüber. Andererseits ist das Taschengeld der Eltern eine Selbstverständlichkeit, die wir aber nur dann wirklich wahrnehmen und kritisieren, wenn es niedriger ist als das Taschengeld unseres besten Freundes. Dieser Umstand kann zu Unzufriedenheit und sogar zu Hassgefühlen gegenüber den Eltern führen. Oft kaufen Mütter ein Kleidungsstück in einer größeren Größe, damit es einige Zeit getragen werden kann. Das Kind empfindet aber nur die Unförmigkeit beim ersten Anziehen und ist enttäuscht. Dass diese Kleidung später gut passte, wird nicht registriert. Man sieht auch nicht, dass die Mutter einige Stunden ihrer knappen Zeit dafür geopfert hat, dieses Kleidungsstück auszusuchen.

Wir erkennen oft nicht, wenn ein Mensch etwas für uns macht. Spielende Kinder in einem Sandkasten bemerken nicht, dass die Mutter die ganze Zeit nebenan auf der Bank sitzt und sie beobachtet. Ein Kind denkt in dieser Situation niemals daran, dass die Mutter etwas für es tut. Aber die Mutter sitzt auf der Bank, damit sie sofort eingreifen kann, wenn etwas passiert. Weil meist nichts passiert, sieht es so aus, als ob die Mutter nur einfach dagesessen hat. Den Zusammenhang zwischen sitzen und achtgeben registriert man als Kind nicht, sondern nur, wenn man sich später an diese Situation erinnert.

Oft denken wir auch nicht daran, was wir bekommen haben, weil es uns nicht angenehm war. Ein Seminarist von mir erinnerte sich daran, dass sein Vater vor seinem Eintrittsexamen zur Universität zum Schrein beten gegangen ist. Damals hat er seinen Vater verachtet, weil er persönlich das Beten für nutzlos hielt. In seinem Naikan hat er aber bemerkt, dass dies die einzige Möglichkeit für seinen Vater war, etwas für ihn zu tun.

Zu sehen, was die Mutter oder der Vater für uns gemacht hat, bedeutet, dass wir die Mutter oder den Vater als einen eigenständigen Menschen begreifen. Durch die erste Frage im Naikan separieren wir uns innerlich von dieser Frau oder diesem Mann. Dadurch fallen sie aus unserer Rollenerwartung an eine Mutter oder einen Vater heraus und wir können erkennen, was sie als Menschen für uns getan haben.

Ein Teilnehmer hat in einem Bericht über seine Naikan-Erfahrung beschrieben, dass er als Kind dachte, dass seine Mutter einer Rasse angehörte, die „Mutter-Rasse“ hieß. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sie auch eine andere Rolle einnehmen könnte.

Wenn wir älter werden, bedeutet das nicht unbedingt, dass wir von unseren Erwartungen als Kinder Abschied genommen haben. Auch wenn wir heute älter sind als unsere Mutter damals in unserer Kindheit, empfinden wir noch immer, dass sie ausschließlich „Mutter“ zu sein hat. Daraus entstehen oft nachträglich noch Hassgefühle gegenüber dem Verhalten der Mutter in der Kindheit. Darum ist es notwendig, im Naikan die Situation noch einmal zu prüfen, um sie als die junge Frau mit vielen unterschiedlichen Aufgaben und Rollen zu begreifen, die sie damals war.

Dadurch, dass wir verstehen, was unsere Eltern für uns konkret getan haben, beginnen wir innerlich unabhängig von ihnen zu werden. Bevor wir das nicht tief verstehen, haben wir immer noch das Gefühl, zu wenig von ihnen bekommen zu haben. Ein japanischer Naikan-Leiter nennt solche Menschen „Nach-Liebe-Jagende“. Wenn uns dieses Denken noch beherrscht, sind wir immer noch in einer Eltern-Kind-Beziehung fixiert. Das ist unabhängig davon, wie alt wir sind oder ob die Eltern noch leben – wir bleiben ein Kind in dieser Beziehung. Auch wenn wir Naikan machen, können wir uns nur an ein Millionstel von dem erinnern, was wir bekommen haben. Trotzdem ist es enorm wichtig, danach intensiv zu suchen.

Einige Leute sagen, dass es doch selbstverständlich ist, was die Eltern für ein Kind machen. Aber es ist nicht selbstverständlich. Denn es gibt durchaus Mütter, die ihre Kinder weggeben. Andererseits behält eine Mutter ihr Kind 9 Monate im Bauch, schützt und nährt es und bringt es unter Lebensgefahr zur Welt. Ob man – wenn man das ansieht - immer noch sagen kann, dass die Leistungen einer Mutter selbstverständlich sind? Die Naikan-Fragen haben in keinem Fall etwas damit zu tun, ob eine Handlung selbstverständlich ist oder nicht. Auch wenn es selbstverständlich ist, lautet die Frage, was meine Mutter für mich getan hat. Ob es selbstverständlich ist oder nicht, hat nur mit unserer eigenen Betrachtung der Angelegenheit zu tun. Was wir im Naikan gefragt werden, ist ausschließlich der eine Punkt, was wir von den Eltern oder anderen Menschen gemacht bekommen haben.

Wenn ein Mensch von einem Wolf aufgezogen wird, dann wird er wie ein Wolf sein. Wenn niemand ein Baby anredet, wird es nicht reden lernen. Wenn niemand in seiner Umgebung aufrecht geht, wird es nie aufrecht gehen lernen. Dass wir gehen und sprechen können, heißt, dass es jemand gab, der es uns beigebracht hat.

Die zweite Naikan-Frage

Die nächste Frage ist, was wir für den anderen Menschen konkret gemacht haben. Das ist für die meisten Menschen eine sehr harte Frage. Als ich das erste Mal bei Yoshimoto-Sensei in Nara Naikan gemacht habe, konnte ich bis zum dritten Tage nichts finden, was ich für meine Mutter getan habe, obwohl ich mich intensiv prüfte. Dann habe ich etwas Wichtiges bemerkt: Ich hatte vorher nie die Idee, etwas für meine Mutter zu tun. Als ich Student war, konnte ich mit ihrer finanziellen Unterstützung eine Gruppenreise nach Europa mitmachen. Meine Mutter hat mir ein Dutzend kleiner japanischer Puppen mitgegeben, damit ich denjenigen, die mir halfen, ein kleines Geschenk überreichen konnte. Ich habe den Menschen, die mir den Weg erklärten und auch anderen jeweils eine Puppe geschenkt. Die letzte Puppe brachte ich wieder nach Japan zurück. Das war mein Souvenir aus Europa für meine Mutter. Meine Mutter stellte diese Puppe in den Glaskasten, in dem sie ihre Erinnerungsstücke aufbewahrte. Das war bei mir immer so ähnlich.

In solchen Fällen ist es sehr hart, sich zu prüfen, was man für den anderen getan hat. Diese Frage erzählt selbst etwas. Auch wenn wir beim Abwaschen geholfen haben, so können wir durch diese Frage vielleicht entdecken, dass wir ausschließlich unser eigenes Geschirr gereinigt haben. Auch wenn wir sagen, dass wir Betten gemacht haben, dann zeigt sich möglicherweise, dass wir gerade nur unser eigenes Bett geordnet haben. Oder vielleicht habe ich in Erinnerung, dass ich in der Schule fleißig gelernt habe. Anfänglich beantworten wir die Frage, als ob wir für die Mutter oder den Vater gelernt hätten. Aber nur wir selbst haben etwas davon, wenn wir fleißig lernen. Unsere Eltern freuen sich natürlich über unseren Erfolg. Das machen sie aber eigentlich für uns, weil wir es dann leichter haben werden im Leben. Oder jemand schenkt seiner Mutter Blumen zum Muttertag, doch entdeckt er, dass dies einfach ist, weil man nur zum Blumengeschäft gehen muss und dort einkauft. Vor meinem ersten Schultag hat meine Mutter auf all meine Schulsachen, auch auf jeden einzelnen Bleistift, meinen Namen geschrieben. Das ist viel anstrengender als nur einen Blumenstrauß zu kaufen. Vielleicht erinnern wir uns auch, dass wir am Muttertag etwas für die Mutter gekocht haben. Wir werden aber herausfinden, dass wir nur einmal im Jahr gekocht haben, die Mutter aber an allen anderen 364 Tagen.

Die dritte Naikan-Frage

Die dritte Naikan-Frage ist, welche Schwierigkeiten wir anderen Menschen verursacht haben. Oft erinnern wir uns aber nur daran, welche Schwierigkeiten andere uns gemacht haben. Wir wünschen uns heftig, dass die Eltern unsere Erwartungen erfüllen und wenn sie das nicht tun, hassen wir sie. Ich habe auch bemerkt, dass ich oft, wenn ich meine Mutter anrief, sagte, dass ich Geld brauche. Wenn meine Mutter mich anrief, dann fragte sie auch jedes Mal, ob ich noch genug Geld habe. Trotzdem fühlte ich mich durch ihr Telefonat belästigt, weil ich eigentlich nicht wollte, dass sie mich anruft.

Einige Leute behaupten, dass sie – weil sie getrennt von ihren Eltern wohnten – nichts von ihnen bekommen haben. Wenn sie feststellen, dass sie getrennt von ihren Eltern leben und nichts finden, was sie sich gegenseitig gegeben haben, so könnte das aber auch bedeuten, dass diese Trennung schwierig für die Eltern war. Wir stellen manchmal fest, unzufrieden zu sein, ohne zu beachten, dass wir die unbefriedigende Situation selbst mit verursacht haben. Man ist vielleicht unglücklich, weil der Vater auswärts arbeiten muss und nicht daheim ist. Die Eltern überlegen in so einer Situation, ob es gut für das Kind ist, wenn es jetzt die Schule wechselt. Damit die Schule nicht gewechselt werden muss, beschließen die Eltern, dass die Mutter allein beim Kind bleibt. Das bedeutet aber für den Vater, woanders zu arbeiten und während der Woche nicht daheim sein zu können.

Andere sagen wiederum, dass ihre Mutter nicht jung und hübsch ist. Wenn eine Frau ein Kind bekommen hat und es aufzieht, hat sie wenig Zeit, ihre Attraktivität als Frau zu pflegen. Die Kinder beschweren sich dann vielleicht, dass ihre Mutter mit unordentlichen Haaren herumläuft, wenn sie frühmorgens die Schulbrote vorbereitet.

Oder einige sagen, dass sich die Mutter in der Welt gar nicht mehr auskennt, weil sie kaum mehr auf die Straße geht. Warum geht sie nicht mehr auf die Straße? Weil sie ein Kind hat und sich um dieses Kind kümmert. Es ist notwendig für die eigene Entwicklung, solche Zusammenhänge zu bemerken.

Besonders viele Schwierigkeiten verursachen wir, wenn wir unter etwas leiden. Wenn wir uns auf unser Examen vorbereiten, dann erwarten wir oft, dass die Mutter noch mitten in der Nacht etwas zu essen bringt. Wir denken, dass es selbstverständlich ist, versorgt zu werden, wenn wir uns so fleißig bemühen. Wenn wir später in Ruhe an diese Zeit zurückdenken, dann können wir vielleicht bemerken, dass es auch eine schwierige Periode für die eigene Mutter war. Auch wenn man etwas mit voller Kraft tut, verursacht man Schwierigkeiten in seiner Umgebung. Wenn ich zum Beispiel einen Kongress organisiere, dann nehmen meine Seminaristen verschiedene Aufgaben wahr. Auch meine Familie unterstützt mein Vorhaben. Besonders meine Frau ist da eine große Hilfe. Wenn ich aber nicht genau hinsehe, entsteht die Gefahr, dass ich denke, dass ich keine Schwierigkeiten mache, weil ich etwas Gutes tue. Aber ich mache Schwierigkeiten und muss mir dessen immer bewusst sein.

Es gibt Leute, die vor Naikan und sogar noch während der Übung behaupten, dass sie keine Schwierigkeiten verursacht haben. Es hat keinen Sinn, stolz zu behaupten, dass man keine Probleme verursacht hat. Vernünftiger ist es, stattdessen sich noch intensiver zu prüfen. Denn die Behauptung, dass man sowieso richtig gehandelt hat, ist bloße Rechtfertigung. Die Fähigkeit, sich selbst gründlich zu prüfen, ist viel wichtiger als die Überzeugung, dass das Leben, das man bisher gelebt hat, ein vorbildliches war.

Es gibt Leute, die von sich behaupten, dass sie nicht Naikan machen wollen, weil eigentlich andere Menschen ihnen sehr viele Probleme gemacht haben. Auch wenn der Anteil an Schwierigkeiten in einer Beziehung 90 zu 10 ist, dann ist es wichtig, die eigenen 10% zu prüfen. Denn was die anderen an Schwierigkeiten verursacht haben, ist die Angelegenheit der anderen. Wir brauchen aus Naikan-Sicht nicht die Aufgabe der anderen für die anderen zu lösen. Das heißt, wir müssen nicht für andere Naikan machen, sondern nur für uns selbst.

Genauer betrachtet, ist es auch eine Schwierigkeit, wenn man nicht macht, was man hätte machen können. In einem Naikan-Bericht findet sich die Stelle: „Ich habe meiner Mutter nie gesagt, dass mir ihr Jausenbrot sehr gut geschmeckt hat. Bei meinem Vater habe ich mich nie dafür bedankt, dass er für die Familie hart gearbeitet hat. Das war die Schwierigkeit, die ich verursacht habe.“

Wann macht man Naikan?

Es gibt Menschen, die sagen, dass sie sowieso viel Selbstreflexion üben und daher kein Naikan machen müssen. Normalerweise fühlen wir uns aber nur dann bemüßigt, über eine Situation zu reflektieren, wenn wir mit unserem Verhalten keinen Erfolg hatten. Naikan hat nichts damit zu tun, ob der Erfolg gut oder schlecht war. Naikan hat auch nichts damit zu tun, ob ich ein guter oder ein schlechter Mensch war. Naikan fragt nur, was für ein Mensch ich war.

Es gibt auch andere, die fragen, was man in einer Woche schon viel erfahren kann. Wenn man von morgens bis abends nur Naikan macht, dann arbeitet man in dieser Woche fast 100 Stunden an sich selbst. Man kann es natürlich nicht so einfach vergleichen, aber wenn man zum Beispiel einmal pro Woche zu einem Therapeut gehen würde, dann wäre das eine Behandlungszeit von fast zwei Jahren. Deswegen kann man nicht sagen, dass eine Woche zu kurz ist.

Andere wieder behaupten, dass eine Woche zu lange ist. Aber wenn wir uns über unser Leben ernsthaft als Ganzes prüfen möchten, kann man wirklich nicht sagen, dass eine Woche zu lange ist. Die Naikan-Übung ist eine Woche Auseinandersetzung mit sich selbst. Das Naikan geht natürlich im Alltag dann noch weiter, aber das konzentrierte Naikan ist nach einer Woche zu Ende. So betrachtet ist es eigentlich sehr kurz.

Die Furcht, das Selbstbild zu zerstören

Viele Menschen fürchten sich auch, sich selbst zu erkennen. Aber eigentlich ist es doch viel schrecklicher, den Rest des Lebens unterwegs zu sein, ohne zu wissen, wer man wirklich ist. Es ist auch wichtig, hinzusehen, warum man sich vor der Selbsterkenntnis fürchtet. Was würde das denn bedeuten, wenn man sich auf etwas verlässt und das ganze Leben mit sich trägt, das man in nur einer Woche Naikan zerstören könnte? Das wäre, wie wenn wir einen Palast auf Sand erbauen würden. Die Frage ist einfach, ob man mit dieser Illusion weiter leben möchte.

Es ist auch nie zu spät, sich selbst zu erkennen. Nach Naikan sieht man, wie man war und löst damit das bisherige Selbstbild auf. Wenn dieses Selbstbild aufgelöst ist, finden wir dahinter bereits ein neues. Deswegen ist es nicht so schrecklich, Naikan zu machen. Wie wir gesehen haben, wird in der Gruppendynamik das Selbstbild von anderen zerstört. Es dauert dann manchmal bis zu einem halben Jahr, bis man sich selbst wieder in die Augen sehen kann. Es hat in manchen Lebenssituationen durchaus einen Sinn, sich diesen Erfahrungen auszusetzen, aber Naikan ist lange nicht so aggressiv in seiner Wirkung. Es ist eher mit der Entwicklung eines Schmetterlings vergleichbar, der von innen her seine Raupengestalt aufgibt und nicht von außen dazu genötigt wird.

Wieder andere Leute haben Angst, sich zu ändern und gehen deshalb nicht ins Naikan. Sich vor Veränderung zu fürchten, bedeutet, kein Selbstvertrauen zu besitzen. Dadurch, dass man im Naikan erkennen kann, wie viele Menschen bisher einen unterstützt und akzeptiert haben, wächst das innere Selbstvertrauen. Wenn man einmal Selbstvertrauen entwickelt hat, dann ist man auch bereit, seine Schwächen anzunehmen und sich in diesen Bereichen weiter zu entwickeln.

Das eigene Leiden beibehalten

Es gibt auch Leute, die sagen, dass ihr aktuelles Leiden so groß ist, dass Naikan für sie nicht so wichtig ist. Aber man leidet hauptsächlich deswegen, weil sich die Sichtweise sehr verengt hat. In Japan zum Beispiel gibt es Menschen, die sich selbst töten, weil sie das Eintrittsexamen in die Senior High School nicht geschafft haben. Für solche Menschen existiert nur die Wahlmöglichkeit, entweder die Prüfung zu bestehen oder zu sterben. Diese Sichtweise ist sehr eng. Wenn man die Prüfung nicht bestanden hat, ist es sehr sinnvoll sich selbst zu prüfen. Was hat die eigene Mutter für einen in der Zeit, bevor man in die Volksschule eingetreten ist, gemacht? Wenn man sich so intensiv geprüft hat, dann kann man das aktuelle Problem, nämlich die Prüfung, die man nicht schaffte, einfach als aktuelles Problem sehen, dass man lösen muss. Aber man wird nicht mehr unter dieser Situation leiden.

Hier und Jetzt – von der Vergangenheit befreit

Es gibt auch Leute, die sich nicht mehr an ihre Vergangenheit zurückerinnern möchten. In der Meditation zum Beispiel versuchen Menschen sich ganz auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Beim Essen nimmt man die Schwere und die Kühle des Bestecks wahr, man merkt, wie hart das Fleisch beim Schneiden ist, man spürt auch die Konsistenz des Fleisches im Mund und empfindet seinen Geschmack. Viele Menschen, die in ein Meditations-Zentrum kommen, um dort die Gegenwart zu erleben, haben etwas, das sie vergessen möchten - auch wenn sie das manchmal selbst nicht bemerken. Sie bemühen sich, auf das Hier und Jetzt konzentriert zu sein, um sich nicht mit dieser Angelegenheit zu konfrontieren. Die Ursache dafür ist oft, dass man sein Problem nur von einer einseitigen Sichtweise aus ansieht und nicht gelernt hat, es von verschiedenen Seiten her zu betrachten. Dann kann man das vergangene Geschehen nicht akzeptieren. Um es zu akzeptieren, braucht man Naikan. Wenn man Naikan macht, dann konfrontiert man sich direkt mit dem Geschehen. Insofern ist es eine harte Arbeit. Wenn man aber mutig das Geschehen als Realität akzeptiert hat, dann wird man davon frei. Naikan machen heißt, sich von den Verflechtungen der Vergangenheit zu befreien und das gegenwärtige Selbst völlig zu akzeptieren. Wenn man das geschafft hat, dann hat man sich von den selbstgeschaffenen Verflechtungen befreit und kann wirklich im Hier und Jetzt leben. Wenn man sich nur bemüht im Hier und Jetzt zu sein, ohne sich von der Vergangenheit befreit zu haben, dann ist man auf eine sehr eingeschränkte Art in der Gegenwart. Wenn man dagegen von der eigenen Vergangenheit befreit ist, dann kann man die Gegenwart voll genießen, das gute Essen oder die Musik. Wenn man nicht befreit ist, dann bemüht man sich nur, das Hier und Jetzt wahrzunehmen, ohne wirklich zu erfahren, was das ist.

Eine andere Gefahr dieser Haltung ist übrigens, dass man alles ohne Überlegung macht. Man macht alles nur aus dem "Hier und Jetzt" und verstrickt sich dadurch immer tiefer in die Verflechtungen der Vergangenheit.

Anderen Naikan empfehlen

Es gibt auch viele Leute die sagen, dass dieser oder jener Mensch Naikan machen sollte. Dass man selbst vielleicht Naikan brauchen würde, auf diese Idee kommt man dabei nicht. Aber wir können andere Menschen nicht beurteilen. Das müssen diese Menschen für sich selbst tun. Wir können nur uns selbst prüfen. Hinter dieser Haltung, bei anderen die „Notwendigkeit“ für Naikan festzustellen, versteckt sich oft der Vorwurf, dass dieser Mensch daran schuld ist, dass ich Schwierigkeiten mit ihm habe. Im Naikan entdecken wir aber unseren Anteil an einer Situation. Wenn wir unser Leben nicht als unsere Verantwortung betrachten, sondern alles auf andere schieben, leben wir nicht unser eigenes Leben.

Selbstverantwortung und neues Leben

Wenn man seine Eltern hasst, dann zieht einen dieser Hass selbst zu Boden. Auch wenn man sagt, dass man Recht hat, löst das dieses Problem nicht. Eine Maus, die man in einer Laborsituation trainiert, indem man ihr Käse auf einen bestimmten Platz gibt, wird sehr schnell lernen, wo der Käse liegt. Wird nach einiger Zeit der Platz, auf dem der Käse liegt, verändert, dann wird die Maus am Anfang kurz verwirrt sein. Aber sie wird auch recht bald lernen, die neue Stelle zu finden. Der Mensch jedoch hat die Neigung, in einer ähnlichen Situation den Käse gar nicht mehr zu suchen. Er entwickelt vielmehr den Anspruch, dass der Käse auf dem alten Platz zu liegen hat und wird sich möglicherweise nicht mehr auf die Suche nach dem neuen Ort machen. Wenn man darunter leidet, dass man seinen Vater hasst, dann ist es oft wichtiger, dass der Vater dafür Gründe geliefert und man daher mit seiner Sicht recht hat, ihn zu hassen, als dass man sich von diesem Leiden befreit. Dann lebt dieser Mensch nur, um seine Gedanken zu bestätigen. Derjenige, der zum Beispiel behauptet, dass seine Mutter an seinem Unglück schuld ist, kann nicht glücklich werden. Denn würde er glücklich, wäre das der Beweis, dass er mit seinen Gedanken nicht Recht hatte. Für ihn ist es wichtiger, dass er Recht hat. Deswegen kann dieser Mensch nie glücklich werden.

Manchmal kommt das ablehnende Gefühl gegenüber den Eltern aus Erinnerungen, die man nur einseitig durch seine eigene Brille betrachtet. Ein Naikan-Teilnehmer hat sich einmal erinnert, dass seine Mutter oft Knödelsuppe kochte, obwohl er lieber Gemüsesuppe wollte. Er bekam auch immer die abgelegenen Kleidungsstücke seiner Geschwister. Nur an seinem ersten Schultag erhielt er ein neues Gewand. Dieses mochte er jedoch auch nicht, weil er damit nicht spielen durfte. Das heißt, er mochte keine Knödelsuppe, und er mochte das alte Gewand seiner Geschwister nicht, aber die neue Kleidung an seinem ersten Schultag mochte er auch nicht. Erst im Naikan registrierte er, dass ihm seine Mutter gar keine Gemüsesuppe kochen konnte, weil er diesen Wunsch niemals äußerte. Er hat auch bemerkt, dass es seinen Eltern finanziell nicht möglich war, für 5 Geschwister ständig neue Kleider zu kaufen. Und er konnte auch das erste Mal verstehen, dass es ein tiefer Wunsch seiner Mutter war, ihn am ersten Schultag mit neuer Kleidung in die Schule zu schicken. Dadurch hatte er verstanden, dass seine Unzufriedenheit nur sein eigenes Problem ist.

Ein Naikan-Teilnehmer in der Drogentherapie berichtete, dass er mit 3 oder 4 Jahren in die Isolationsabteilung eines Krankenhauses eingeliefert wurde. Durch diese Einlieferung, so sagte er, habe er den Kontakt zu seiner Mutter verloren. Im Naikan wurde ihm das erste Mal bewusst, dass er seine Mutter eigentlich hasst. Dadurch bekam er Schuldgefühle und wollte das Naikan abbrechen. Aber Schuldgefühle sind nur ein Gefühl und so habe ich ihn gefragt, ob er seine Mutter hasst. Das bestätigte er. Dadurch verschwand plötzlich sein Schuldgefühl, weil er erkannte, dass er seine Mutter wirklich hasste, dies aber bisher nicht akzeptieren konnte. Er hasste seine Mutter, weil sie ihn in dieses Krankenhaus gebracht hatte.

Als nächstes habe ich ihn gefragt, was passiert wäre, wenn ihn seine Mutter nicht ins Krankenhaus gebracht hätte. Er sagte, er wäre gestorben. Ich stellte daraufhin fest, dass er eigentlich einen Menschen hasst, der ihn auf die Welt gebracht und in dieser Situation das Leben gerettet hat. Diese Feststellung hat ihn sehr schockiert und er begann zu weinen. Danach konnte er sich erinnern, dass ihn seine Mutter jeden Tag im Krankenhaus besuchte und jedes Mal vor der Isolationsscheibe stehend weinte. Durch die Erinnerung an diese Situation konnte er verstehen, dass sein Kranksein auch für seine Mutter sehr schwierig war. Diese Erkenntnis brachte einen tiefen Durchbruch in seinem Verständnis. Wenn man alle vergangenen Ereignisse auf eine solche Art akzeptiert, dann kann man sich selbst ganz akzeptieren. Dieser Teilnehmer hatte verstanden, dass alle seine bisherigen Drogenexzesse und die anderen Probleme, die er verursachte, eine Art Racheakt an seiner Mutter war. Nachdem er diese Zusammenhänge erkannt hatte, hatte er keinen Grund mehr, Rache zu nehmen und konnte ein völlig neues Leben beginnen.

Wenn man jemanden hasst, dann ist das Problem in einem selbst und es ist wichtig, dass man das löst. Im Drogentherapie-Zentrum gab es eine Teilnehmerin, die von ihrem Bruder sexuell missbraucht wurde. Ihr Leben wurde von der Frage, ob sie ihrem Bruder verzeihen konnte oder nicht, tief beeinflusst. Aber das war nicht die Schwierigkeit ihres Bruders, sondern ihr eigenes wichtigstes Problem. Auch diese Teilnehmerin konnte durch Naikan ihrem Bruder verzeihen, weil sie erkannte, dass er andererseits schon von klein auf sehr viel Gutes für sie getan hat. Dadurch, dass sie ihrem Bruder verzeihen konnte, konnte sie auch ihr Leben ändern.

Die Vergangenheit wird Vergangenheit

Wenn man die Vergangenheit im Naikan von verschiedenen Seiten her ansieht, sieht man sie als Ganzes. Erst wenn man die Vergangenheit als Ganzes gesehen hat, kann man sie ganz akzeptieren. Erst wenn man sie ganz akzeptiert hat, wird die Vergangenheit wirklich Vergangenheit und man kann sich von ihr verabschieden. Wenn wir nur versuchen die Vergangenheit zu vergessen, dann verdrängen wir sie ins Unbewusste und können uns nicht von ihr trennen. Dann ist es, als ob wir auf unseren Schultern eine große Last immer weitertragen. Weil man die Vergangenheit nicht mehr ändern kann, ist es vollständig unser eigenes Problem, ob wir sie akzeptieren oder nicht. Dafür ist Naikan eine außerordentlich große Hilfe. In einer Naikan-Woche in Deutschland saß einmal ein Mann, der erst am Ende des Seminars wirklich realisieren konnte, dass seine Mutter eine Alkoholikerin war. Er wusste dies natürlich schon vor seinem Naikan-Besuch, hat aber diese Tatsache nie anerkannt. Erst durch Naikan konnte er akzeptieren, dass seine Mutter krank war. Und trotz ihrer Alkohol-Krankheit hatte sie ihn großgezogen.

Es ist wichtig, solche Tatsachen zu erkennen. Wenn man das nicht vollzieht, dann stoppt die eigene Entwicklung an dieser Stelle.

Tatsachen und Gefühle

Minderwertigkeitsgefühle, Selbsthass und Schuldgefühle bekommt man nur, weil man die Tatsachen nicht so wahrnimmt, wie sie waren. Minderwertigkeitsgefühle stehen in einem inneren Zusammenhang mit dem Gefühl von Selbstüberschätzung. Selbsthass ist die größte Eitelkeit. Im Naikan lernt man Tatsachen nur als Tatsachen wahrzunehmen und trennt diese von den eigenen gefühlsmäßigen Reaktionen. Wenn die Diskrepanz zwischen dem real gelebten Ich und der Selbstvorstellung groß ist, dann ist auch das Leiden groß. Wenn man die Tatsachen als Tatsachen annehmen kann, wird man vom Leiden befreit. Dafür ist es notwendig, die Tatsachen von verschiedenen Seiten her anzusehen. Wenn man eine egozentrische Person dafür kritisiert, dass sie sich rücksichtslos verhält, ist das ein Widerspruch in sich. Wer diese Kritik ausspricht, erkennt nicht, dass das zu 100 % seine eigene Angelegenheit ist. Das ist, als ob man die graue Farbe dafür kritisiert, dass sie nicht weiß ist. Wenn man einen körperlich behinderten Menschen trifft, dann versucht man automatisch Rücksicht auf ihn zu nehmen. Wenn man aber auf eine Person trifft, die von ihrer Egozentrik behindert wird, kritisiert man meist ebenso automatisch, ohne zu helfen. Naikan macht man nicht, um sich zu ändern, sondern um sich zu erkennen. Es ist aber andererseits auch eine Tatsache, dass man sich nicht ändern kann, wenn man sich nicht vorher erkennt. Deswegen ist es oft das Ergebnis einer Naikan Übung, dass man sich geändert hat. Trotzdem ist der wichtigere Aspekt der, dass man sich selbst erkannt hat.

Wenn ich die Naikanerfahrenen in meiner Umgebung beobachte, dann kann ich sehen, dass das Ausmaß ihrer Entwicklung seit ihrem ersten Naikan-Besuch enorm zugenommen hat. Nach 3 Jahren ist der Unterschied bei den meisten schon außerordentlich beeindruckend. Das kommt daher, dass man nach Naikan das, was man sieht oder hört, viel intensiver wahrnimmt. Auch in diesem Sinne ist Naikan sehr wichtig.

Über die Empfehlung hinaus

Wenn Sie jetzt schon denken, dass Sie Naikan machen sollten, dann brauchen Sie nicht mehr weiterlesen. Was nun kommt, geht über die reine Empfehlung für Naikan hinaus. Ich möchte nun den Faktor Glück darlegen. Glücksempfinden ist sehr subjektiv. Wenn man den Eindruck hat, in seinem Leben zu wenig Liebe empfangen zu haben, dann kann dieses Gefühl sich entweder nach innen richten oder nach außen. Richtet sich dieses Mangelgefühl nach innen, wird man depressiv und bringt sich im schlimmsten Falle um. Richtet sich dieses Gefühl nach außen, dann wird man aggressiv, in manchen Fällen sogar kriminell. Das Mangelgefühl ist jedoch eine subjektive Wahrnehmung.

Ich kenne eine Frau, die ihren Vater sehr hasst. Als Folge davon bekommt sie jedes Mal, wenn ihr ein Mann zu nah kommt, eine Gänsehaut. Wenn eine Tochter ihre Mutter hasst, dann kann sie selbst keine warmherzige Mutter sein. Wenn ein Sohn seinen Vater hasst, dann kann er selbst kein menschlicher Vater sein. Wenn ein Sohn mit seiner Mutter unzufrieden ist, versucht er das, was er an seine Mutter vermisst, von anderen Frauen zu bekommen. Deswegen kann er die Frauen nicht im richtigen Sinne des Wortes lieben. Denn der andere wird zu einem Instrument und man selbst wird von diesem Instrument abhängig.

Wenn diese Einstellungen und Komplexe unverändert bleiben, so entwickeln diese Haltungen auch eine große Wirkung auf die nächste Generation. Denn diese Geisteshaltungen haben einen gewaltigen Einfluss auf die Art der Kindererziehung. Um sich die Größe dieses Einflusses zu veranschaulichen, muss man sich nur einmal eine normale Familiensituation vor Augen halten. Wenn man 2 Kinder hat und diese wiederum zwei Kinder in die Welt setzen und so weiter, dann sind das in der 3. Generation bereits 8 Menschen, in der nächsten 16 usw. und so fort. Dann ist der Einfluss bereits sehr erheblich. Das konnte ich in der Drogentherapie sehr klar beobachten. Eine Klientin war nicht bei ihrer Mutter aufgewachsen, weil diese psychisch krank war. Deshalb erzog ihre Großmutter sie. Sie selbst ist nun in der Drogentherapiestation und ihre Tochter wird von ihrer eigenen, inzwischen gesundeten Mutter betreut. Ihr Mangelgefühl gegenüber ihrer Mutter war für sie der Grund, Drogen zu nehmen. Und durch ihre Drogenabhängigkeit hat sie wiederum dafür gesorgt, dass sich das Muster "Großmutter erzieht Enkelin" in ihrer Familie wiederholt. Auch weiß man, dass Kinder, die in ihrer Kindheit viel geschlagen wurden, als Eltern oft selbst dazu neigen, ihre Kinder zu schlagen. Fast bei jedem Klienten in der Drogentherapie konnte ich diese unheilvolle, aber zum Glück nicht unheilbare Kette beobachten. Wenn also ein Mensch Naikan macht, so hat dies auch eine große Bedeutung für die kommenden Generationen.

Bei uns in Japan kommen oft Mütter, deren Kinder den Besuch der Schule verweigern, mit diesen Kindern ins Naikan. Sie beklagen sich meist darüber, dass ihre Kinder nicht verstehen, wie viele Sorgen sie verursachen und wieviel diese Mutter für ihr Kind tut. Wenn ich aber eine dieser Mütter frage, was sie selbst von ihren Eltern bekommen hat, so antwortet sie oft sehr ausweichend und kann nichts Konkretes nennen. Manche von ihnen behaupten sogar, dass sie nichts Besonderes bekommen haben. Sie haben auch häufig selbst keine Idee davon, welche Schwierigkeiten sie ihren Eltern verursacht haben. Die Wahrnehmung der Kinder von ihrer Mutter gleicht also exakt der Wahrnehmung der Mutter von ihren eigenen Eltern.

Die Wahrnehmung der Liebe, die man erhalten hat, ist subjektiv. Man muss nur, und das tut man in Naikan, die Beweise für diese Liebe sammeln. Das nannte der japanische Naikanleiter Yanagida-Sensei das Sammeln der verlorenen Ähren. Früher gingen hinter den Erntewagen Menschen her, welche die Halme sammelten,