ISBN (eBook) 978-3-8974-930-8
ISBN (Print) 978-3-8974-453-2
© 2021 Copyright Ulrike Helmer Verlag, Roßdorf b. Darmstadt
Alle Rechte vorbehalten
Covergestaltung: Atelier KatarinaS / NL
unter Verwendung einer Zeichnung von
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Druck und Bindung: cpi, Leck
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Julia Hoch
LEBENS
WENDE
Die Schwestern Brüggemann
bleiben am Ball
ULRIKE HELMER VERLAG
– 1 –
Hilde
studierte die Zeilen. Spalte für Spalte. Unter die letzten Wörter des Artikels zog sie mit dem Nagel eine Rille in das Zeitungspapier. Eine Fliege setzte sich auf ihre Hand, lief bis zur Zeigefingerspitze, putzte sich, hob wieder ab. Flog in den Flur, flog ins Wohnzimmer.
»Lore! Schau dir das an!«
Schritte. Lore betrat die Küche.
Hilde schob die Zeitung über den Tisch und deutete auf die Textstelle mit der Rille darunter.
Lore setzte sich und begann zu lesen.
Hilde drehte derweil ihre Tasse hin und her. Henkel links, Henkel rechts, Henkel links, Henkel rechts. Ihr Finger fuhr über den Aufdruck, obwohl er keine Struktur besaß.
Die Fliege kam zurück und landete auf einem Apfel in der Obstschale. Hilde stellte sich vor, die Fliege könnte den Apfel schultern und losfliegen. Von Zimmer zu Zimmer. Bis sie schließlich samt ihrer Last gegen das Wohnzimmerfenster knallen und herabfallen würde. Schon als Hilde am Morgen aus unruhigem Schlaf erwacht war, hatte sie sich diffus an einen solchen Traum erinnert. Doch die Fliege lief bloß quer und kreuz über das Obst.
Lore hatte genug gelesen. Sie schob die Zeitung von sich und hieb mit der Faust auf den Tisch. Die Fliege floh.
Das Krachen ließ Hilde zusammenfahren, sie schluckte und fasste sich. »Genau! Wie kann das sein?«
Lores stumme Antwort bestand aus Naserümpfen, Kopfschütteln und Schulternzucken.
»Es gehört immer noch uns!«
Lore erhob sich, klapperte und rappelte im Nebenzimmer herum, kam mit einem Aktenordner zurück und klappte den Deckel auf, ehe sie ihn über den Tisch schob.
»Wie vergilbt die Seiten sind«, sagte Hilde. Sie begann zu blättern, das Papier knisterte und verströmte einen leicht muffigen Geruch. »Das sind ja noch die Verträge mit dem alten Hennes. Da hatten wir wirklich gut verhandelt.« Am Ende des Ordners angekommen, schlug sie die Seiten allesamt zurück und durchblätterte sie erneut im Schnelldurchgang. »Nanu? Ich kann den Grundbuchauszug nicht finden.«
Lore zog die Augenbrauen hoch.
Nun blätterte Hilde zum dritten Mal durch. »Der ist nicht hier drin. Aber er war doch immer in diesem Ordner, oder irre ich mich?«
Nachdem auch Lore die Papiere noch einmal durchgesehen hatte, seufzte sie. Ihre Lippen vibrierten. Plosiv.
Hilde schob die Zeitung zu den Akten. »Bestimmt eine Falschmeldung. Aber du, das ist mir trotzdem nicht geheuer. Holst du mir Briefpapier? Ich setze gleich ein Schreiben auf und fordere beim Amt einen neuen an.«
Lore.
Im Kistchen lagen drei Waschbärkinder, zwei Schweinswale, der Froschkönig und Loki Schmidt. Ein Waschbär sollte genügen. Sie leckte seine Rückseite an und presste ihn auf den Umschlag. Mehrmals strich sie darüber, denn sie traute der befeuchteten Gummierung nicht. Dieser Brief sollte schließlich ankommen und nicht aufgrund einer abgefallenen Briefmarke verschollen gehen. Lore malte sich aus, wie Türme von unfrankierten Briefen in dunklen Postlagerhallen auf den finalen Abtransport per Radlader warteten. Ungelesene Schicksale, die ins Feuer geschleudert wurden. Wahrscheinlich sah sie zu viel fern. Und wahrscheinlich zu viele Sendungen, die düstere und skurrile Assoziationsketten in ihr hervorriefen.
»Wo ist eigentlich der Schlüssel?«, rief Hilde aus dem Wohnzimmer.
Hilde
hatte derweil die zweite Schublade des Wohnzimmerschranks aufgezogen. Teelichter, Büroklammern, Anstecknadeln, Kugelschreiber, Schrauben, Dübel und ein Heiermann, aber kein Schlüssel.
»Lore? Schau mal bitte im Telefonschränkchen nach.«
Hilde schob beide Schubladen wieder zu, fuhr zu ihrer Schwester in den Flur.
»Nichts?«
Lore schüttelte den Kopf.
Sie suchten in der Küche, sahen in die alte Kaffeedose und öffneten nacheinander die Türen der Einbauküche. Zwischen Vorräten, Geschirr und Töpfen fanden sie ein zerbrochenes Porzellankätzchen, eine seit zehn Jahren abgelaufene Tüte mit Colaflaschen, eine zerknickte Elvis-Postkarte und einen wohlgenährten Silberfisch. Sie kramten im Schlafzimmer zwischen den Socken und der Unterwäsche und in der Medikamentenkiste. Nicht hier, nicht dort. Es fand sich kein Schlüssel.
»Lore, das gibt es doch nicht. Wieso kommt hier plötzlich alles abhanden?«
Stummes Schulternzucken.
»Ach, du wieder.« Hilde schnaubte. Sie zog Lore in den Flur, griff nach ihrer Jacke, griff nach Lores Jacke, schmiss sie ihr entgegen. »Los! Wir machen uns jetzt einfach auf den Weg und betrachten die Lage vor Ort.«
Hilde und Lore.
Das Gebäude zeigte Altersflecken. Rote, schwarze und grüne Algen, Moose und Flechten saßen auf der Fassade, als seien sie hingetupft, gepunktet, gestrichelt, gepinselt wie bei einer Aquarellmalerei. Unter dem Dachvorsprung hingen zwei Schwalbennester. Die mächtige Linde im Hintergrund streckte ihre Äste über das Dach hinweg. Sie ließ das Haus klein und unbedeutend wirken.
Die Tür war verschlossen.
»Lore, vielleicht kannst du sie aufdrücken. Versuch’s mal.«
Lore schüttelte den Kopf.
»Einen Versuch ist es wert. Na los!«
Lore kratzte sich an der Stirn.
»Jetzt mach schon!«
Lore seufzte, lehnte die Schulter schwunglos gegen das Holz, aber außer einem leisen Knacken tat sich nichts.
»So wird das nichts.« Hilde kramte in ihrer Handtasche, zog eine Kundenkarte hervor. Die hatte sie vor Jahren in einer Apotheke bekommen, aber nie benutzt. »Damit könnte es vielleicht gehen.« Sie manövrierte die Karte zwischen Zarge und Türblatt. Es war eine alte Tür, bei deren Einbau man sich keinerlei Gedanken um Schutz vor Einbrüchen gemacht hatte. Hilde fuhr mit der Karte den Schlitz hinauf, sie blieb hängen, wieder runter, noch einmal hoch und. Klack. Ein Spalt. Das Schloss war unverriegelt. Schon schwang die Tür auf.
Lore atmete auf und schloss ihre Hände um die Griffe.
Hilde hielt sich fest.
Mit Schwung zog Lore den Rollstuhl die steinerne Stufe hinauf. Im Windfang rüttelte sie an der Klinke der Zwischentür, bis die Verriegelung unter metallenem Knarzen nachgab. Rückwärts bewegten sie sich in den Raum. Drehten sich um.
Hilde.
Grau, grau, grau. Alles lag unter dicken Staubschichten verborgen. Der Lichteinfall durch die dreckigen Fenster war diffus, den Konturen fehlte jede Schärfe. Alles schlief.
Hilde rückte ihre Brille zurecht. Konzentriert ließ sie den Blick umherwandern. Links, geradeaus, rechts. Nach oben und nach unten.
Lore stand immer noch hinter ihr, wippte auf Fußballen und Fersen hin und her. Dreck knirschte unter ihren Sohlen.
Es roch muffig und abgestanden. Beinahe mit den Händen greifbar. Doch schwang in diesem Geruch eine unterschwellige Vertrautheit mit. Ein Mix kaum beschreibbarer Duftnuancen. Kein anderer Ort der Welt roch wie dieser.
Seit ihrem Treppensturz war Hilde nicht mehr hier gewesen. Etwa zwanzig Jahre. Zuerst hatte sie mit Schmerzen ringen müssen, die bald jedoch schwächer und schwächer wurden und schließlich vergingen. Krankenhaus, Reha, Therapie. Sie lernte. Tag für Tag für Tag. Sie brauchte Geduld, aber es wurde.
Dann aber gab der Arzt ihr einen Ratschlag. Für ihre Zukunft. Er riet ihr, kürzerzutreten, die Kneipe nicht mehr weiterzuführen und den Ruhestand einzuleiten. Sie solle an sich und nur an sich denken und das Arbeitsleben von nun an ruhen lassen. Vielleicht sich ein neues Hobby suchen. Häkeln. Stricken. Sticken. Das machen Frauen in ihrem Alter doch ganz gerne. Oder das ein oder andere Buch lesen. Es gibt so viel Frauenliteratur. Auf jeden Fall einfach mal zu Hause bleiben und die Beine hochlegen. Was ihr schließlich zustehe. Huch, ja, nein, Entschuldigung. So war das nicht gemeint. Hüsteln. Sie solle das Alte abschließen. Hinter sich lassen. Das habe er gemeint. Noch mehr meinte er dann nicht mehr.
Zunächst hatte sie den Gedanken weggeschoben, der Kneipe komplett den Rücken zuzukehren. Doch sie hatte viel Zeit zum Nachdenken. Tag für Tag für Tag. Lore und sie würden es schwer haben, den Laden weiterzuführen. Und das nicht bloß wegen ihrer Einschränkung. Die Umsatzzahlen hatten seit längerem nicht mehr gepasst, die Gäste waren stetig weniger geworden, Zulieferer hatten gewechselt und mehr Geld verlangt. Im Grunde war der Unfall nur der Punkt am Ende des Schlusssatzes gewesen.
Nach der Reha blieb Hilde fast ausschließlich in der gemeinsamen Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie las und aß, sah fern, ganz gern kochte sie ab und an oder sortierte die Schränke neu. Den Zauberwürfel meisterte sie in zwei Minuten fünfundvierzig. Lore kümmerte sich draußen um das alltägliche Leben. Sie kaufte ein, ging zur Bank, begleitete sie zu Arztterminen. Erfüllte Aufträge, die Hilde ihr dezidiert aufschrieb und haarklein und eindringlich wiederholend erklärte. Auf Lore war Verlass. Sie hatte sich auch in der Gaststätte ums Aufräumen und Reinhalten gekümmert und um den Aushang – Bis auf Weiteres geschlossen – im Schaukasten neben dem Eingang, wo sonst ihre nächsten Veranstaltungen angepriesen wurden. Bis der Schaukasten erstarrte und in ihm nur noch Vergangenes eingeschlossen war, statt die Zukunft zu zeigen.
Nach Hildes Heimkehr hatten die Schwestern versucht, mithilfe eines Maklers einen Pächter für die Wirtschaft zu finden. Vergebens. Jede Hoffnung, die der Makler ihnen im Vorfeld machte, starb stets nach kürzester Zeit, wenn er von den Bedenken der potenziellen Pächter berichtete: Man müsse zu viel modernisieren, mit diesem altmodischen Interieur könne niemand etwas anfangen, dieses Häuschen sei so winzig, dass sich das Geschäft kaum lohne, ohnehin könne man das Gebäude doch gleich abreißen und das Grundstück anderweitig nutzen. Außerdem stehe der Baum ungünstig, sei zu groß, mache zu viel Dreck, denn im Sommer klebe es unter einer Linde. Hilde hatte die Bedingung gestellt, dass die Kneipe eine Kneipe bleiben müsse. An den festen Einbauten dürfe ebenfalls nichts Wesentliches verändert werden. Nur kleine Änderungen wie etwa ein neuer Anstrich seien erlaubt. Die Linde sei ebenso unantastbar. Niemand wollte sich auf diese strikten Vorgaben einlassen, aber das war ihr egal. Da blieb sie stur. Nach ein paar Jahren verschwand dann auch der Makler. Ohne ein Wort. Um einen neuen wollten sie sich erst gar nicht mehr kümmern. Ruhestand.
Ein unsichtbares, ein latentes Band verblieb zwischen ihnen und diesem Ort. Irgendwo im Hintergrund ihres Daseins überdauerte es, straffte sich dann und wann und transportierte Erinnerungen. Stramm und fest war es jetzt gerade in Hilde. Es zeigte, wie tief Orte und Räume den Menschen prägen können und wie sie bei Gelegenheit ihre Plätze in seinem Gedächtnis verlassen, an die Oberfläche klettern und Zeichen geben.
Lore.
»Da steht ja noch der ganze Hochprozentige im Regal. Ich dachte, du hättest damals aufgeräumt?!«
Lore zuckte mit den Schultern. Sie redete nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ, wenn es unausweichlich war. Auch bei ihrer Schwester machte sie selten eine Ausnahme. Sie beschränkte sich fast ausschließlich auf Mimik und Gestik. Und manchmal schrieb sie Zettelchen. Wann das genau begonnen hatte, wusste sie schon gar nicht mehr. Irgendwann in der Jugend.
»Wie auch immer. Kommst du mit zur Stammtischecke?«, fragte Hilde.
Sie nickte.
Rechts am Tresen vorbei. Im Winkel stand eine geräumige Sitzecke, über der die Wand bis zur Decke mit Bilderrahmen übersät war. Das erste Bild hatten sie kurz nach der Eröffnung aufgehängt. Im Laufe der Jahrzehnte waren stetig mehr hinzugekommen. Nun hingen hier viele Dutzend, vielleicht fast hundert rechteckige, quadratische, runde und ovale Holzbilderrahmen. Die Motive verblasst unter Patina, die Glasscheiben blind vor Schmutz. Alles schlief.
»Schau mal in der Kammer nach, ob du dort noch einen Staubwedel oder einen Handbesen findest. Man kann ja gar nichts mehr erkennen.«
Lore marschierte in den schmalen Flurbereich. Vier Türen: Küche rechts, Herren links, Damen daneben sowie ein Lager am Ende des Flurs, das Hilde schon immer als Kammer bezeichnet hatte. Durch ein kleines Fenster fielen Sonnenstrahlen in den Lagerraum. Die Vorratsregale waren fast leer, nur ein Paket Würfelzucker, Bierdeckel und Servietten lagen auf einem mittleren Einlegeboden. Lore griff den Würfelzucker, klemmte das Paket unter den Arm. Hinter der Tür fand sie einen Staubwedel, ein Kehrblech mit Handbesen und einen roten Plastikpfannenwender. Sie legte alles auf den Stammtisch. Bis auf den Pfannenwender. Den reckte sie triumphierend in die Luft und schwenkte ihn wie eine Kelle.
»Da ist er ja! Das gibt es doch gar nicht. Wie lange wir den gesucht hatten!« Hilde lachte. »Wedel du doch bitte über die Bilder in der oberen Reihe, ich mache die unteren mit dem Handbesen sauber.«
Lore legte den Pfannenwender auf den Tisch und wedelte los. Eine Spinne raste von links nach rechts, um dem wilden Gefuchtel zu entkommen. Mancher Rahmen klapperte und klackerte, mancher Rahmen zitterte bloß ein bisschen, manch anderer rührte sich kein Stück.
Tiefer angekommen, merkte sie, wie Hilde auf ein Bild starrte. Scheinbar war sie über dieses eine nicht hinausgekommen. Es zeigte sie beide als junge Mädchen, vielleicht zwölf, dreizehn Jahre alt, mit dem Vater in der Mitte. Das musste Anfang der Fünfzigerjahre gewesen sein, nach dem Tod ihrer Mutter. Der Vater hatte nicht lange getrauert. Hilde und sie jedoch verkrafteten den Verlust nur langsam, aber als Zwillinge unterstützten sie einander, gaben sich gegenseitig das, was der Vater ihnen nicht geben konnte oder wollte. Erst als Erwachsene fragte sich Lore, was wohl der Grund für seine kurze Trauerphase gewesen war. Selten hatte er über sich selbst gesprochen, kaum über Vergangenes, schon gar nicht über den Tod. Wie den meisten saß ihm der Krieg tief in den Knochen, im Herzen und im Verstand. Jeder musste seinen eigenen Weg finden, um mit den Geschehnissen fertigzuwerden, um ein Leben zu führen, das diese harte Zäsur verkraften ließ. Ihr Vater arbeitete viel, steckte Kraft und Konzentration in die Kneipe. Sie war nicht nur Grundlage der eigenen Existenz, sondern auch Zufluchtsort für andere Menschen und deren Geschichten geworden. Nach dem Krieg hatte er sie mit einfachsten Mitteln und Hilfe von Bekannten auf einem kleinen Stück Land aufgebaut, das er von einem Bauern zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Der Bauer war begeistert gewesen von der Idee, eine Gaststätte ganz in der Nähe zu haben, das käme ja auch ihm zugute. Sie errichteten das Gebäude unter einer Winterlinde. Beiden Kriegen und allen Widrigkeiten hatte dieser Baum bisher getrotzt. Nun sollte er als Symbol für Gemeinschaft über die neue Gaststätte wachen. Das Lindenstübchen.
Im Lindenstübchen war es nicht wichtig, woher man stammte, wohin man wollte, ob man über das Erlebte redete oder nicht. Hier trank man ein Pils oder einen Korn oder beides, hier rauchten die Köpfe, flogen die Karten und ballten sich die Fäuste bei Stammtisch-Debatten.
Lore schniefte. Hilde zog ein Stofftaschentuch aus ihrem Täschchen hervor und reichte es ihr. Mit einem lauten Tröten befreite Lore sich von der Last der Erinnerung.
»Er war ein toller Mensch«, sagte Hilde.
Lore nickte und reichte ihr das zusammengeknüllte Taschentuch. Dann nahm sie den Rahmen von der Wand und legte ihn behutsam auf den Tisch. Dieses Bild wollte sie mit nach Hause nehmen.
Hilde.
Ein Mosaik aus Momentaufnahmen. An einige davon erinnerte sie sich nicht mehr, erkannte nicht mal die Leute. Andere Fotos ließen in ihr sofort Person und Situation lebendig werden wie ein Daumenkino. Blatt für Blatt für Blatt. Flip, flip, flip.
Für einen Moment glaubte sie ein Ticken zu hören. Sie sah zur großen Bahnhofsuhr hinter der Theke. Die aber stand still. Wie lange mochte sie ihre Zeiger noch Runde für Runde über das Ziffernblatt geschickt haben? Vielleicht hatte sie versucht durchzuhalten, bis endlich wieder jemand käme und die Wirtschaft in Betrieb setzte. Hilde hatte das Ticken noch genau in den Ohren, das stetige Hintergrundgeräusch der Vormittage, wenn nur vereinzelt Gäste kamen.
Lore.
Flasche für Flasche, Glas für Glas, Regalbrett für Regalbrett. Der Staubwedel zeichnete Striche in die graue Schicht. Ein Dreh und Partikel stoben in die Luft, segelten auf Bar und Boden. Kopfüber hingen Dutzende stumpf gewordene Pilstulpen an einem Eichenholzbrett über dem Tresen. Ihr Vater hatte sich damals für diese Aufbewahrungsweise entschieden. Es sähe besonders einladend aus, wenn der Gast, gerade durch die Windfangtür eingetreten, direkt auf den Ausschank mit den darüber glänzenden Gläsern schaue. So mache man Durst und Trinklust, so verkaufe man Bier.
Paarweise nahm Lore die Gläser herunter und wedelte sie ab, doch das brachte ihren Glanz auch nicht zurück.
»Ich habe noch ein frisches Stofftaschentuch, wenn du möchtest«, rief Hilde ihr zu.
Bereitwillig legte Lore den Wedel beiseite, nichts ging über ein Stofftaschentuch. Das Polieren der Gläser beherrschte sie wie eh und je. Drehen mit einem Hauch von Druck. Innen. Außen. Fuß auf die Theke. Alles klar. Glas. Glas. Glas. Bald stand die ganze Theke voll.
Hilde
entdeckte Fotos, die genau in dieser Ecke des Raums gemacht worden waren. Von den vier feinen Damen des Bridge-Clubs und den drei rauchenden Skat-Brüdern. Hilde roch die Zigarillos immer noch. Der Rauch war jahrelang in das Interieur eingedrungen. In aufnahmefähige Oberflächen. In Holz, in Polsterauflagen, in Vorhänge. Dieser Geruch verharrte hier stur. Eine der seltsam vertrauten Duftnuancen im Lindenstübchen.
Lore.
Der Spielautomat war stumm, ohne Licht und Leben. Lore feudelte die Oberseite ab, beförderte dicke graue Wolken zu Boden. Dumpfes Klacken. Etwas Festes war mit hinuntergefallen. Sie bückte sich, hob es auf, pustete und wischte die Staubflocken ab. Flach, rund, messingfarben, an einer Seite rötlich angelaufen. Ein Groschen. Jahrgang 1972. Ob der Automat noch funktionieren würde, wenn er Strom bekäme? Sie legte die Münze wieder zurück. Vielleicht würde ihn ja eines Tages noch einmal jemand zum Laufen bringen.
Jahrzehntelang war der Automat eine regelrechte Institution im Lindenstübchen gewesen. Er blinkte, er tönte, er lockte – jeder musste an ihm vorbei –, man zockte.
»Lore, schau dir mal das Foto hier an.«
Lore ging hinüber, schaute, lächelte, kicherte, wandte sich dann den Tischen zu. Ein Foto von sich selbst mit einem Blumenkranz auf dem Kopf wollte sie sich nicht ausgiebig ansehen. Jemand hatte es damals für eine tolle Idee gehalten, sie als Blumenkönigin auszuzeichnen, weil sie zuverlässig die perfekte Schaumkrone auf dem Pils fertigbrachte. So viel Aufmerksamkeit war ihr unangenehm gewesen. Aber die Wiesenblumen waren hübsch.
Eifrig fuhrwerkte sie über den ersten von sechs Tischen. Hustete. Inzwischen hatte sie einen im ganzen Raum umhertreibenden Nebel verursacht, der langsam zu Boden sank. Wie im Fernsehen, wenn getanzt wurde. Lore liebte das Tanzen. Sie sah sich mit größter Hingabe und Konzentration jede Tanzshow an. Wie gebannt starrte sie dann auf den Bildschirm, nichts und niemand war imstande, sie davon abzulenken. Standard, besonders der Walzer. Der hatte es ihr angetan. Da ging ihr das Herz auf. Als junges Mädchen war sie in einem Tanzkurs gewesen. Ohne Hilde. Denn die wollte lieber in der Kneipe helfen und brauchte den Vater darum nicht lange bitten. In der Tanzschule hatte Lore Heinz kennengelernt. Woche für Woche drehten sie ihre Runden übers Parkett (das eigentlich nur ein Linoleumboden war). Unversehens stellte er klar, dass er an ihr interessiert war. Da gab sie ihm den ersten Korb. Er machte ihr trotzdem den Hof. Lore hatte zwar brennendes Interesse am Tanzen, jedoch nicht an Heinz. Er aber blieb hartnäckig. Besuchte sie wieder und wieder im Lindenstübchen, verwickelte sie in Gespräche, machte ihr Komplimente, schenkte ihr Blumen. Aber sie wollte nicht. Eines Tages kam er ins Lindenstübchen marschiert, gab Lore einen Handkuss, bedankte sich für ihr zauberhaftes Wesen und verließ das Lokal. Sie hatte ihn seitdem nie wieder gesehen.
Hilde.
Weiße, mit goldenen Nieten verzierte Overalls, Soldatenuniformen, Lederoutfits, mit und ohne Gitarre. Das häufigste Motiv in den Bilderrahmen waren Männer in Elvis-Aufmachung. Elvis war Hildes große Leidenschaft. Zeit und Raum bogen sich, wenn sie seine Musik hörte. Nichts anderes entfachte in ihr ein derart wohliges Glücksgefühl. Niemand sonst entlockte ihr solche Seufzer. Nie hatte sie von Elvis genug bekommen. Ins Lindenstübchen lud sie regelmäßig Imitatoren ein. Nur die besten. Wenn es sich einrichten ließ, gab es in jeder Jahreszeit einen passenden Elvis-Auftritt. Der Höhepunkt war immer die Weihnachtsshow am vierten Advent. Menschen kamen und kamen, die Tür ging ununterbrochen, das Pils floss nonstop aus dem Hahn und die Kehlen hinunter, die Gäste sangen und tanzten und Hildes Herz pochte vor Lebensfreude. Besonders häufig trat einer im Lindenstübchen auf, in dem sah sie das perfekte Double ihres Idols. Kurt. Wenn er sang, enthüllte sich in Hilde das pure Dasein. In diesen Momenten war sie voll da, war bei sich, war einfach. Zu schön, um wahr zu sein. Kurt war verheiratet, anscheinend glücklich, seine Ehefrau begleitete ihn zu jedem Auftritt. Sie jubelte am lautesten. Hilde blieb nur das Träumen. Von Kurt und dem echten Elvis. Hilde träumte davon, dass Elvis Aaron Presley sie eines Tages im Lindenstübchen besuchen käme, ihr ein Ständchen vortrüge und sie dann in sein aufregendes Leben entführen und sie auf ewig lieben würde. Richtig kitschig. Nicht dass sie sich jemals über ihr Leben im und mit dem Lindenstübchen beschwert hätte, aber bei Elvis hätte sie vermutlich nicht nein gesagt. Vermutlich, denn es gab ja noch ihre Schwester. Aber von Lore getrennt zu sein …?
Der Schrank in der Küche, darin konnte noch das Album mit ihren Elvis-Sammeleien liegen. Zeitschriftenausschnitte, Fotos, Schnipsel, ein Autogramm. Sie hatte es unter dem untersten Einlegeboden versteckt. Das tatsächliche Ausmaß ihrer Sehnsüchte und Leidenschaften bewahrte sie für sich. Das war eine Sache zwischen ihr und Elvis.
»Lore, ich schau mal eben kurz in die Küche, ja?«
Lore nickte.
»Bleib ruhig hier. Ich komme zurecht.«
Dort war noch weniger Licht als im Gastraum. Die Scheiben schimmerten milchig und wie unter einem moderigen Belag. Hilde streckte sich zum Fenstergriff hin. Packte ihn, rüttelte daran, öffnete. Die Aussicht hatte sich verändert. Ein Haselnussstrauch reckte seine Ruten in die Luft. Aufrecht, ausladend, buschig. Seine Blütezeit war schon vorüber, die Kätzchen abgefallen, die eiförmigen Blätter zappelten im auffrischenden Wind. Im Herbst war die Ernte wahrscheinlich üppig.
Zum Schrank. Der Regalboden hielt sich hartnäckig an seiner Stelle. Doch Hildes Arme waren kräftig – sie hebelte, sie zog –, lange hielt er nicht stand. Geschafft.
Elvis.
Lore
fuhr mit dem Finger die Perforation entlang. Zog an der Lasche. Unter der Pappe kristallenes Glitzern. Pur und weiß. Sie nahm ein Stück Würfelzucker, steckte es sich in den Mund. Lutschte am Würfel, bis der Speichel ihn durchdrang. Eine Ecke löste sich, dann eine weitere, der Klumpen zerfiel, verteilte sich und aktivierte alle Geschmacksrezeptoren. Süßes Glück.
Sie nahm zwei weitere Stücke. Schob sie sich links und rechts in die Backen. Frisch motiviert entstaubte sie mit dem Wedel die Kunstblumen auf den Fensterbänken. Dicke Flocken flogen, feine Partikel trieben in Lores Nase. Sie atmete ein, Staub und Zucker trafen sich in ihrem Hals, traten in Verbindung, traktierten die Schleimhäute, bis der Reiz unbeherrschbar wurde. Lore brach in heftiges Husten aus.
Sie ließ den Staubwedel auf den Boden fallen, stolperte zur Windfangtür, weiter zur Eingangstür. Sie keuchte und japste. Setzte sich auf die Stufe, atmete, schluckte, atmete, schluckte. Endlich ließ der Reiz nach. Der Staub war weg, von der Süße des Zuckers nichts mehr zu schmecken.
Zwischen ihren Füßen entdeckte Lore einen Zweig. Vielleicht hatte ein Vogel ihn auf dem Weg zum Nest verloren. In den Platanen die Straße hinab waren zwei große Nester zu sehen. Ob die Elstern schon brüteten? Sie stocherte mit der Zweigspitze in der Treppenfuge und hebelte winzige Mooskissen heraus. Endloses wütendes Tschilpen von Spatzen. Jemand musste sie aus ihrem Gebüsch gescheucht haben. Zack, ein Moosstück flog gegen die Fassade.
»Lore?« Ein älterer Mann stand etwa zwei Meter neben ihr auf dem Gehweg.
Der Zweig zerbrach. Woher kannte dieser Mann ihren Namen? Was wollte er? Wollte sie das überhaupt wissen? Sie stand auf, wandte sich auf der Eingangsstufe um und war drauf und dran, in der Kneipe zu verschwinden.
»Warte bitte.«
Diese Stimme. Wenn man sie sich einige Jahrzehnte jünger dachte, stärker und tiefer … Im Alter verloren Stimmbänder an Elastizität, hatte sie kürzlich im Apothekenblättchen beim Arzt gelesen. Sie sah über ihre Schulter und hob die Augenbrauen.
»Lore? Bist du es?«
Er war es wirklich.
»Sag, bist du es?«
Mit einem kurzen Nicken hastete sie in die Kneipe.
Dort blieb sie mitten im Raum stehen, musterte ihre Füße. Sie setzte den linken zurück, den rechten zur Seite, schloss den linken zum rechten. Rechter Fuß vor, linker Fuß zur Seite, rechter Fuß zum linken, schließen.
»Immer noch eine zauberhafte Tänzerin!« Der Mann stand nun direkt hinter ihr.
Lore schluckte.
Er reichte ihr die Hand. »Darf ich?«
Sie legte ihre Hand in seine.
Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Langsam bewegten sie sich über den Boden, wirbelten Dreck und Staub in alle Richtungen. Nach und nach und Schritt für Schritt wurden die alten rotbraunen Fliesen sichtbar.
»Lore, warte. Man erstickt hier drin ja beinahe! Ich öffne die Fenster.« Er ließ sie los, ließ Licht und Luft herein, schloss wieder zu ihr auf, setzte an zum Schritt. Im Dreivierteltakt schwebten sie durch den Raum. Der Staub tanzte mit ihnen in den Strahlen der Nachmittagssonne, die sich in den Pilstulpen spiegelte und die Bilder an der Wand wie nachkoloriert leuchten ließ.
Hilde
nahm das Elvis-Album, strich zärtlich darüber und verließ die Küche. Durchquerte den Flur. Stoppte neben der Theke. Ein Mann. Ein fremder Mann. Sie wollte etwas rufen, schimpfen oder einfach nur kreischen. Irgendeinen Laut von sich geben. Aber kein Geräusch kam aus ihrer Kehle.
Lore drehte sich mit ihm im Kreis. Sie tanzten. Sie tanzten, als hätten sie das schon immer getan. Eins, zwei, drei. Eins, zwei, drei. Hinter den gealterten Gesichtszügen erkannte Hilde den jungen Mann von damals. Den jungen Mann, der Blumenstrauß um Blumenstrauß angeschleppt, ihrer Schwester Kompliment um Kompliment gemacht hatte.
Sie drehten eine letzte Walzerrunde, dann blieben sie stehen.
Hilde klatschte laut in die Hände. »Na, das könnt ihr ja immer noch.«
Sie sahen wie ertappt zu ihr herüber.
»Guten Tag, Heinz.«
»Hilde!« Er kam auf sie zu, ergriff ihre Hand und schüttelte sie feierlich. Schüttelte. Schüttelte.
»Schön, dich zu sehen. Nach all den Jahren.« Sie zog ihre Hand zurück.
»Wie ich mich freue!«, sagte Heinz.
»Welch eine Überraschung!«
»Ja, das ist es. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«
»Was treibt dich denn hierher?«
»Die Zeitung.«
»Die Zeitung?«, fragte Hilde.
»Ja, der Artikel im Tagesboten. Ich musste herkommen und schauen, ob das Lindenstübchen noch steht.«
»Da erging es dir genau wie uns.«
»Ich war ganz schockiert über die Pläne«, sagte er.
»Ja, dass hier ein Einkaufszentrum gebaut werden soll, ist ungeheuerlich.«
»Aber ihr habt dem doch zugestimmt?«, fragte Heinz.
»Nein, haben wir nicht«, sagte Hilde.
»Gehört euch das Lindenstübchen überhaupt noch?«
»Ja, selbstverständlich.«
»Ich war mir nicht sicher.«
»Wir waren nur lange nicht mehr hier. Seit meinem Unfall.«
Heinz blickte genauer auf ihre Beine und ihren Rollstuhl. »Was ist denn geschehen?«
»Ich bin die Treppe hinuntergefallen, war einige Zeit im Krankenhaus und in der Reha. Danach haben wir uns gegen eine Rückkehr ins Arbeitsleben entschieden.« Sie hatte keine Lust, die komplette Geschichte zu erzählen. Fragen, Mitleid, Ratschläge. Nicht jetzt, nicht hier.
Doch er fragte nicht weiter, bemitleidete nicht, schlug nicht mit Rat.
Sie schwiegen. Draußen rauschte der Wind durch die Linde.
Hilde schaute auf ihr Album. Eine Zitterspinne stakste darüber. Immer zwei Beine gleichzeitig. Durch die langen, dünnen Glieder wirkte ihr Körper fast schwerelos. Hilde schnipste. Die Spinne hob ab, flog ein kleines Stück und landete auf Heinz’ Schuh.
»Uaaah!« Er schlenkerte mit dem Fuß, schlug nach ihr, schüttelte sich.
Lore lachte. Tätschelte ihm den Rücken.
»Heinz, die Spinne ist weg. Ganz bestimmt«, sagte Hilde.
Er seufzte. »So ein Schrecken. Ihr habt nicht zufällig noch etwas von dem Genever hier, mit dem ihr damals die Leute rausgeschmissen habt?«
Hilde grinste. »Ich glaube, es könnte noch welcher im Regal stehen.«
Lore ging hinter den Tresen, griff nach drei Schnapsgläsern, die sie kurzerhand mit dem Stofftaschentuch auswischte, nahm eine Steinflasche aus dem Regal, kam mit allem zurück und reihte die Gläser nebeneinander auf. Der Wacholderschnaps rann zähflüssig aus der Flasche.
»Auf euch!«, sagte Heinz.
»Auf das Wiedersehen!«, sagte Hilde.
Die Gläser klirrten.
Prägende Erinnerungen, freundschaftliche Beziehungen, tiefe Zuneigung. Sie können über viele Jahre hinweg im Verborgenen erhalten bleiben. Und ganz plötzlich kommen sie wieder hoch. Mitunter stoßen sie übel auf. So wie der Genever, denn der war eindeutig gekippt.