Ullrich Bauer/Klaus Hurrelmann
Einführung in die Sozialisationstheorie
Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung (MpR)
14., vollständig überarbeitete Auflage
Dr. Ullrich Bauer ist Professor für Sozialisationsforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Er ist dort u. a. Leiter des Zentrums für Prävention und Intervention im Kindes- und Jugendalter (ZPI).
Dr. Klaus Hurrelmann ist Senior Professor of Public Health and Education an der Hertie School of Governance in Berlin. Davor war er zunächst an der Fakultät für Pädagogik und dann an der für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld tätig.
Vorwort
I.
Einführung
1. Sozialisation als produktive Realitätsverarbeitung
II.
Soziologische und psychologische Propädeutik
2. Soziologische Theorien der Sozialisation
3. Psychologische Theorien der Sozialisation
III.
Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung (MpR)
4. Die Verbindung soziologischer und psychologischer Propädeutik
5. Erkenntnistheoretische und konzeptionelle Grundannahmen
6. Produktive Realitätsverarbeitung im Lebenslauf
7. Kontexte der Sozialisation
8 Aktuelle Herausforderungen der Sozialisation
Anhang – Texte und Materialien zur Arbeit mit dem MpR in der Schule
Literaturverzeichnis
Sozialisation ist ein Schlüsselthema, wenn man verstehen möchte, wie die soziale Welt funktioniert. Menschen erleben von Geburt an das Zusammenleben im Sozialen, und deswegen durchlaufen sie den Prozess der Sozialisation quasi naturwüchsig. Diesen Prozess kann kein Mensch an- oder abstellen, es ist ein immerwährender und lebenslanger Prozess, in dessen Verlauf man Erfahrungen macht, sich mit der inneren und der äußeren Realität auseinandersetzt und versucht, auf sie Einfluss zu nehmen.
In den letzten zwanzig Jahren haben immer mehr Forschungsgebiete auf das Konzept Sozialisation zugegriffen. Zwei Beispiele: In der Bildungsforschung ist Sozialisation der Zugang, um zu verstehen, wie und warum Menschen unterschiedliche Bildungsbiografien durchlaufen. In der Gesundheitsforschung ist Sozialisation unverzichtbar für das Verständnis von Widerstandsfähigkeit und Verletzlichkeit und damit auch die ungleiche Verteilung von Gesundheit und Krankheit geworden. Überall, wo Menschen durch die Kontexte, in denen sie leben, angeregt, stimuliert, geleitet oder eingeschränkt werden, stoßen wir auf Sozialisationseinflüsse. Sozialisationsforschung leuchtet in die Black-Box der Entstehung menschlicher Verhaltensformen. Darum ist sie unverzichtbar, wenn auch nicht überall sichtbar.
Heute, rund 150 Jahre nach dem das Sozialisationsthema zum Gegenstand in der akademischen Forschungswelt wurde, sehen wir auf eine bewegte Geschichte der Disziplin zurück. Soziologie und Psychologie haben als erste verstanden, warum Sozialisation eine so große Bedeutung für das Verständnis des Zusammenspiels von Mensch und Gesellschaft hat. Später kamen viele neue Fragestellungen hinzu und auch unterschiedliche disziplinäre Koalitionen. Vor rund 50 Jahren waren die Biologie und Genetik noch Gegenspieler der Sozialisationsforschung. Heute sind sie genauso wie die neurowissenschaftliche Forschung Verbündete geworden. Wir wissen heute, dass die Epigenetik durch soziale Einflüsse veränderbar ist und der Aufbau unserer neuronalen Vernetzungen von der Nahrung durch die Erfahrungen lebt, die Menschen im sozialen Zusammenleben machen.
Gleichzeitig ist eine wichtige Korrektur in der Debatte vorgenommen haben. Während die ursprünglichen Ansätze Sozialisation mit der Denkfigur des noch-nicht-fertigen Menschen assoziierten, gehen jüngere Ansätze von der frühen Handlungsfähigkeit eines jeden Individuums aus. Umgekehrt wird heute nicht mehr angenommen, dass der Mensch wie eine Marionette an den Fäden der Beeinflussung durch die Umwelt hängt. Vielmehr gehen aktuelle Ansätze von einer komplexen, menschlichen Persönlichkeitsstruktur aus, die die inneren und äußeren Bedingungen sehr sensibel wahrnimmt, auf diese reagieren kann und selbst aktiv handelt.
Aus dieser Grundüberlegung ist vor rund 40 Jahren das »Modell der produktiven Realitätsverarbeitung« (MpR) in der Sozialisationsforschung entstanden. Dieses Modell ist seitdem zu einem wichtigen Element in der wissenschaftlichen Forschung geworden und hat den Weg in die Curricula von Schulen und Hochschulen gefunden. In diesem Sinne ist auch die Einführung in die Sozialisationsforschung von der ersten Auflage an als ein Lern- und Studienbuch konzipiert worden, das sich neben dem wissenschaftlichen Fachpublikum an Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen, an Lehrerinnen und Lehrer sowie an Schülerinnen und Schüler wendet.
Die »Einführung in die Sozialisationstheorie« wurde bis zur 10. Auflage 2012 von Klaus Hurrelmann als alleinigem Autor geschrieben. Seit der 11. Auflage im Jahr 2015 beteiligt sich Ullrich Bauer. Beide Autoren kennen sich aus ihrer gemeinsamen Zeit an der Universität Bielefeld.
Die hier vorliegende, völlig überarbeitete 14. Auflage wurde maßgeblich von Ullrich Bauer gestaltet. Zur Überarbeitung gehört ein übersichtlicher Aufbau in drei Teilen, eine systematische Aktualisierung des Forschungsstandes und die Neufassung der Kernannahmen des »Modells der produktiven Realitätsverarbeitung« in Gestalt von »Prinzipien« statt wie bisher in »Thesen«.
Ullrich Bauer & Klaus Hurrelmann
I.
Sozialisation ist ein facettenreicher, spannungsgeladener Begriff. Sozialisation heißt, sozialisiert zu werden und in gewisser Hinsicht auch, sich selbst zu sozialisieren. Sozialisation ist ein Prozess, der von »außen« auf das Individuum einwirkt und der »innen« vom Individuum selbst gesteuert wird.
Das, was die große Spannung des Sozialisationsbegriffs ausmacht, ist also auch ein Stolperstein. Es scheint, als müsse man sich entscheiden für die Frage der Sozialisation von außen oder von innen. Tatsächlich aber ist es anders herum. So verschieden die Perspektiven auf Sozialisation auch sind, sie gehören zusammen und zeigen das Doppelgesicht der Sozialisation. Das wissenschaftliche Fachverständnis ist hier vom Alltagsverständnis nicht weit entfernt. Es bedarf kontinuierlich einer Öffnung unserer Perspektiven, um die Vielgestaltigkeit von Sozialisationsprozessen begreifen zu können.
Was ist also gemeint, wenn wir von »Sozialisation« sprechen?
Der Begriff Sozialisation ist einer der wissenschaftlichen Begriffe, die uns nicht nur in verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen, sondern auch im Sprachgebrauch des Alltags begegnen. Redewendungen wie »Dieses Kind ist gut sozialisiert« oder »Da merkt man deine Herkunft« weisen darauf hin, worauf der Begriff in erster Linie abzielt: auf die Übernahme gesellschaftlicher Werte und Normen, auf die Anpassung an die soziale Umwelt, auf das »So-werden-wie-mein-Umfeld-es-von-mir-erwartet« oder sogar auf die Vorstellung der Prägung des Individuums durch den sozialen Kontext, also den Prozess des Gesellschaftlich-werdens. Die Alltagssprache weiß aber auch, dass ein Kind »seine Sozialisation hinter sich lassen« und jeder Mensch »aus dem Schatten seiner Herkunft heraustreten« kann, womit ausgedrückt wird, dass in das Sozial-werden immer auch eine eigenständige Persönlichkeit, ein Individuum-werden einfließt, das sich Umwelteinflüssen in einem gewissen Ausmaß entzieht und sogar aktiv auf die Entwicklung der Umwelt Einfluss nimmt.
Das Alltags- und das wissenschaftliche Verständnis von Sozialisation
Das Alltagsverständnis changiert damit zwischen zwei Polen. Wie in der Fachdebatte existiert häufig eine Vorentschiedenheit. Zuerst hatte auch die Soziologie die Umweltabhängigkeit der Persönlichkeitsentwicklung herausgearbeitet, danach zeigten aber immer mehr Studien aus der Psychologie, in den letzten Jahren besonders auch aus der Neurobiologie, dass sich die Vorstellung einer reinen Umweltabhängigkeit der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen nicht halten lässt. Seitdem besteht Konsens darüber, dass Sozialisation auf keinen Fall nur als Prägung des Individuums durch sein gesellschaftliches Umfeld verstanden werden kann. Vielmehr ist die Variation der menschlichen Verhaltensweisen – die Fähigkeit, auch anders als von außen genormt auf gesellschaftliche Erwartungen und Zwänge zu reagieren – ein Grundmerkmal der Persönlichkeitsentwicklung.
Unser Alltagsverständnis ist reich an Erfahrungen mit dem Doppelgesicht der Sozialisation. Hierzu gehören Erfahrungen und Erlebnisse, die wir Menschen selbst machen.
Dazu eine historische Illustration: Während in den proletarisch geprägten Milieus der körperlichen Arbeit noch bis in die 1960er Jahre hinein zahlreiche, über die Zeit hinweg stabile Mentalitätsähnlichkeiten (»Arbeiterkultur«) erkannt werden konnten, sind diese heute fast ganz verschwunden. Die wissenschaftliche Perspektive schließt an dieses intuitive Verständnis, das wir alle als Beobachter unserer Umwelt mitbringen, an. Mit den Veränderungen der Wohnumfelder, dem Wandel der Arbeitsbedingungen und des Erwerbsbereiches (weg von der manuellen Produktion hin zur Dienstleistung), dem wachsenden Einfluss der Bildung (dem Einbezug immer mehr Angehöriger der früheren Arbeiterkultur in die verlängerten Ausbildungs- und Bildungswege) sowie der medialen und digitalen Durchdringung des gesamten Lebens kommt es zur Herausbildung vielfältiger sozialer Milieus. Hieraus entstehen neuartige Mentalitäten und Verhaltensmuster. Während noch in den 1960er Jahren die Milieus der manuellen Arbeit ihre Lebensziele ganz selbstverständlich auf Erwerbsarbeit ausrichteten und Bildung kaum bedeutsam für die Lebenswege war, hat sich diese Mentalität bis heute radikal verändert. Eine starke Bildungsorientierung ist inzwischen zu einem alle Milieus vereinheitlichenden Modus geworden – unabhängig davon, ob alle auch die gleichen Möglichkeiten haben, eine starke Bildungsorientierung in die Realität umzusetzen.
Unterschiedliche Mentalitäten sind demnach einem historischen Wandel unterworfen und reagieren auf unterschiedliche gesellschaftliche Ausgangsbedingungen. Mentalitäten variieren, können sich aber auch ähneln oder ganze gesellschaftliche Gruppen beschreiben (in solchen Fällen sprechen wir von sozialen Milieus). Intuitiv weiß jeder Mensch, wie ein bestimmter äußerer Einfluss wirkt. Zum Beispiel die konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit nach der Weltwirtschaftskrise 2007/2008. Sie hängt nicht nur von den äußeren Bedingungen ab, sondern auch von den persönlichen Eigenschaften und Ausgangsbedingungen des davon betroffenen Menschen. Bei vielen Menschen führt der Verlust der Arbeit zu Hilflosigkeit und Depression, bei anderen weckt er Widerstand und Überlebenskräfte. Die einen sind ausgezeichnet ausgebildet und vielfältig orientiert. Die anderen sind auf ein Berufsbild festgelegt und können auf Veränderungen nicht flexibel reagieren. Der Prozess des Einwirkens von Umweltereignissen ist also keineswegs eine Einbahnstraße.
Auch wenn die Einflüsse der sozialen Umwelt, also des jeweiligen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Milieus, groß sind, auch wenn sie langanhaltend wirken und nachhaltige Spuren hinterlassen – dies allein reicht nicht aus, um eine Persönlichkeitsentwicklung vollständig zu vorherzubestimmen. Die Homologie, wenn also soziale Bedingungen und die Eigenschaften eines Menschen eng aneinander gekoppelt sind, stellt keineswegs eine unumstößliche Regel dar. Vielmehr vollziehen Lebensbereiche im historischen Verlauf eine permanente Wandlung. Neue Einflüsse treten hinzu, andere verschwinden. Somit ist auch ein einmal erlerntes Verhalten mitnichten für alle nachfolgenden Handlungssituationen gültig. Dazu ist der Aufwand für die Anpassung zu groß, wenn neu hinzukommende oder veränderte Herausforderungen bewältigt werden müssen. Sozialisation umfasst dieses Wechselspiel. Der analytische Fokus beinhaltet den Blick auf gesellschaftliche Ausgangsbedingungen, wahrscheinliche Mentalitäten und die permanente Veränderung auf individueller Ebene. Der Wandel eines Menschen mit seiner ganzen Persönlichkeit ist also nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Bedeutsam ist nur, wie viel Wandel für eine Person möglich ist, wo also die Trägheit einer einmal ausgebildeten Mentalität wirkt und wie intensiv sich Wandlungsmöglichkeiten ausbilden.
Sozialisation als Beziehungsverhältnis von Person und Umwelt
Von Sozialisation wird hiernach als einem offenen Beziehungsverhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umgebung gesprochen. Alle Bedingungen der Umgebung werden wissenschaftlich einfach als »Umwelt« bezeichnet. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Umweltbegriff nicht immer ganz trennscharf ist und mitunter auch Missverständnisse produziert. Sein Vorteil ist aber, dass er zunächst einen einfachen Gegenpol bildet, um all das abzugrenzen, was nicht in den engeren Kontext der Person gehört. »Person« und »Umwelt« sind demnach unterschiedliche Einheiten, wobei ihre Beziehungen untereinander natürlich wechselseitig und interaktiv sind. Dies ist dann so etwas wie der Kern der Sozialisationsperspektive. Hier geht es darum, wie das Verhältnis zwischen einer Person und der umgebenden Umwelt beschaffen ist.
Die Frage, wie ein bestimmter Umwelteinfluss wirkt, ist immer nur mit Blick auf die individuellen Ausgangsbedingungen zu beantworten. Ein Beispiel aus dem Alltag hierzu:
Ein 17-jähriger Jugendlicher wartet um 22.30 Uhr im U-Bahnhof im Zentrum einer Großstadt auf seinen Anschluss. Jemand tippt ihm von hinten auf die Schulter. Wie reagiert er darauf? Seine Reaktion wird von seiner biografischen Erfahrung und von seiner Wahrnehmung der Situation abhängen. Situativ: Er kann schlechte Laune (nach langer Arbeit und einer missratenden Prüfung am Vormittag) oder gute Laune (nach einem gemeinsamen Shopping mit Freunden) haben und entsprechend offen oder nicht-offen sein für die Frage, die das Tippen auf der Schulter signalisiert. Biografisch: Er kann aus einem Umfeld stammen, in dem er viel Aggression erlebt, das ihn deshalb disponiert, auf eine Bewegung von hinten, die direkt seinen Körper adressiert, sofort zu reagieren, herumzuschnellen und eine Abwehr- oder Angriffsgeste einzusetzen. Er kann aber auch schlechte Erfahrungen mit dieser Reaktion gemacht haben und sich deshalb entscheiden, keine Gewalt einzusetzen. Er kann die Erwartung haben, eine aggressive Handlung könne folgen, er hat sich aber vorher selbst entschlossen, dieser Dynamik zu widerstehen. Im Gedankenexperiment können wir uns den 17-jährigen Jugendlichen auch als jungen Violinisten vorstellen, der gerade von Ensemble-Proben kommt und die manifeste Idee der Gewalt oder Gegengewalt gar nicht in seinem Handlungsvorrat hat und völlig defensiv reagiert. Oder ein überzeugter Gläubiger ist, der aufgrund einer intensiven religiösen Bindung jegliche Gewalt von sich weist.
Mit den situativen und biografischen Hintergründen sind in diesem Beispiel zwei der Einflüsse benannt, die zum Bedingungsgefüge gehören, das die Reaktionsmöglichkeiten eines Menschen in einer bestimmten Situation festlegt. Auch die Geschlechts- und die Religionszugehörigkeit bezeichnen Faktoren, die auf unterschiedliche Weise auf gemeinsame Einstellungen verweisen. Wie das Beispiel deutlich macht, hängt die Reaktion des 17-jährigen Jugendlichen auf das Fingertippen von hinten von diesen Einflüssen ab. Sie entscheiden über die Hinwendung zu bestimmen Handlungen und können dabei mehr oder weniger unbewusst und unreflektiert sein, also Bestandteil von fest »einsozialisierten« Reaktionsmustern.
Ein weiterer Aspekt, der über die Reaktion des 17-jährigen Jugendlichen entscheidet, betrifft die sozial-räumlichen Bedingungen. Mit diesen sind in unserem U-Bahn-Beispiel kontextuelle und kompositorische Einflüsse verbunden. Kontextuelle Faktoren betreffen die Ausstattung des Raumes, so die Lage des Bahnhofes im Stadtviertel und die Menge der Menschen, die in der Handlungssituation anwesend sind. Kompositorische Faktoren bezeichnen die Zusammensetzung der Gruppe der Menschen, die mit dem 17-Jährigen an einem Bahngleis steht. Die Reaktion des Jugendlichen wird entscheidend dadurch beeinflusst, ob er mit einer Freundesgruppe auf die U-Bahn wartet, mit der er eng vertraut ist und die ihm im Falle eines Konfliktes den Rücken stärken kann, oder ob er allein ist und der Fingertipper zu einer großen Gruppe unbekannter Jugendlicher gehört. Oder ob der Finger, der auf die Schulter tippt, einer älteren Dame gehört, die sich verlaufen hat, umherirrt und nicht mehr weiß, wie sie nach Hause kommt.
Wie das Beispiel zeigt, kommen in einer solchen nur Bruchteile von Sekunden dauernden Situation biografische, gruppenbezogene und sozial-räumliche Faktoren zusammen. Es interagieren die persönlichen Bedingungsfaktoren des Individuums mit der gesamten räumlichen und sozialen Umwelt. Dazu gehört die Person des Fingertippers, aber auch das gesamte Umfeld als Rahmenbedingungen der Handlungssituation. Der 17-jährige Jugendliche nimmt blitzschnell die Realität auf, verarbeitet sie und reagiert auf sie. Das Gleiche tut aber auch der Fingertipper. Beide interagieren miteinander und antworten auf die Reaktionen des anderen. Dabei rufen beide einen Wissens- und Handlungsvorrat ab, der ihnen aus ihrem bisherigen Leben vertraut ist. Der 17-jährige Jugendliche zeigt vielleicht ein verärgertes Gesicht und spricht laut, wenn er einen aggressiven Unbekannten vor sich sieht, er lacht freundlich und spricht langsam und fürsorglich, wenn er die alte Dame sieht. Dies alles gehört zu dem Ausschnitt einer Sozialisationsperspektive. Sozialisation findet nicht allein im Individuum statt und ist auch nicht allein abhängig von den Bedingungen, in denen wir handeln oder von denen wir vorgeprägt sind. In der Interaktion aktualisiert sich unser Handlungswissen, wir greifen auf Sprache, Erfahrungen im Umgang mit älteren Menschen und die ihnen zustehende Fürsorglichkeit zurück, und wir bestätigen damit die Anwendbarkeit bestimmter Verhaltensweisen. Und gleichzeitig ziehen wir Lehren aus jeder neuen Situation und bereiten uns darauf vor, besser zu reagieren, wenn wir noch einmal in eine ähnliche Lage kommen.
Wenn im Alltag von »Sozialisation« gesprochen wird, sind alle diese Aspekte der Doppelgesichtigkeit von Sozialisationsprozessen natürlich nicht bewusst, aber die grundsätzliche Erfahrung von der Wechselbeziehung zwischen Person und Umwelt ist vorhanden. Wir wissen, dass wir tagtäglich in Situationen handeln, in denen Wissen und Erfahrungen zum Verständnis der Gegebenheiten eingesetzt werden und dass sich unser persönliches Wissens- und Handlungsrepertoire dadurch immer gleichzeitig bestätigt, revidiert oder erweitert. Wir wissen auch, dass sich unsere Persönlichkeit stetig weiterentwickelt und einerseits von den uns umgebenden materiellen und sozialen Strukturen beeinflusst wird, andererseits aber auch auf diese einwirkt.
Die wissenschaftliche Sozialisationstheorie, die in diesem Buch vorgestellt wird, geht von einer dynamischen Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit aus. Umweltstrukturen sind nie so einheitlich und zwingend prägend, dass sie immer nur auf eine Art und Weise wirken können – nicht einmal in »totalen« Organisationen wie einem Gefängnis. Die Interaktionsstrukturen zwischen einer sich ständig entwickelnden Persönlichkeit und den umgebenden sozialen Strukturen lassen es allenfalls zu, dass die Entwicklung einer bestimmten individuellen »Disposition« (als typischer und stabiler Eigenschaft einer Person) mehr oder weniger wahrscheinlich angenommen werden kann, also in einem statistisch bestimmbaren Ausmaß mit einer bestimmten Häufigkeit auftritt.
Solche probabilistischen (also wahrscheinlichkeitsorientierten) Aussagen sind aber wohlgemerkt keine eindeutigen Festlegungen. Hiergegen sprechen die prinzipielle Entwicklungsoffenheit und damit ein spezifisch menschlicher Faktor der Persönlichkeitsentwicklung. Denn: Schon kleine Unterschiede in den Lebensbedingungen einer Person können einen Reflexionsvorgang in Gang setzen, die die Person von den Selbstverständlichkeiten ihrer Lebensführung »entfremdet«. Sozialisation hat viel mit diesen Prozessen zu tun, in denen Lebensbedingungen nicht nur eine bestimmte Prägewirkung auf die Person ausüben, sondern mitunter auch einen Stimulus aussenden, sich von diesen Lebensbedingungen zu befreien.
In seinem biografischen Rückblick zeigt der Soziologe Didier Eribon (2016), wie selbstverständlich er sich als Sohn einer Arbeiterfamilie in ein proletarisches Milieu der 1960er und 70er Jahre hinein sozialisierte. Dazu gehörte ein bestimmter Männlichkeitskult, ein proletarisches Bewusstsein, die Abwehr von Migration etc. Erst mit der Wahrnehmung und später der Stigmatisierung seiner Homosexualität beginnt für Eribon ein Prozess der Entfremdung, der auch als Emanzipation wahrgenommen werden kann. Eribon entfernt sich von seiner Herkunft (sowohl räumlich als auch sozial) und beginnt das Selbstverständliche in Frage zu stellen. Zweifellos ist dieser Vorgang keinesfalls schmerzfrei, im Gegenteil. Die wahrgenommene Krise, die von dem Ausschluss seiner Person aus dem Herkunftsmilieu ausgeht, ist aber der Ausgangspunkt für eine Revision des Erlernten und »Althergebrachten« der Persönlichkeit. Eribon stellt die eigenen Dispositionen in Frage und die erlebte Krise – ein Grundbegriff in den meisten Sozialisationstheorien – beginnt, neue Dynamiken des Lernens und der Realitätsaneignung zu stimulieren.
Mit Sozialisation verwandte Begriffe
Es gibt eine Reihe von wissenschaftlichen Begriffen, die einen ähnlichen konzeptionellen Zugang beinhalten, ohne aber die gleiche Reichweite wie der Begriff der Sozialisation zu haben. Stattdessen beziehen sie sich auf bestimmte Teilbereiche der Sozialisation, weshalb sie als Unterbegriffe zum umfassenden Begriff der Sozialisation betrachtet werden.
Der prominenteste ist der Begriff »Bildung«. Das Konzept der Bildung hat eine lange geisteswissenschaftliche Tradition und ist seit über zwei Jahrhunderten ein Kernbestandteil der Pädagogik. In älteren pädagogischen Definitionen wird unter dem Prozess der Bildung die Kultivierung der verschiedenen Facetten von Menschlichkeit verstanden, um an den in einer Gesellschaft üblichen Lebensformen teilhaben zu können. In den philosophisch-pädagogischen Traditionen d©es Idealismus und Neuhumanismus wurde diesem Aspekt eine besondere Bedeutung zugeschrieben, sodass unter Bildung vor allem die Herausformung innerer Werte und die Vervollkommnung der subjektiven Erlebnistiefe in Einsamkeit und Freiheit verstanden wurde. Als wichtigstes Ergebnis der Bildung werden heutzutage die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung eines Menschen verstanden, die durch die intensive sinnliche Aneignung und gedankliche Auseinandersetzung mit der ökonomischen, kulturellen und sozialen Lebenswelt entstehen (Adorno 1971, S. 44). Selbstbestimmung setzt den Aufbau von Fähigkeiten der Selbststeuerung voraus, wozu der Erwerb von Wissen und Kompetenzen gehört, die ein eigenständiges Handeln in der sozialen Umwelt erlauben.
Bildung ermöglicht ein reflektiertes Verhältnis des Menschen zu sich selbst, sie schützt ihn dadurch gegen soziale und kulturelle Funktionalisierung und sichert somit seine Individualität. Bildung im Sinne von »gebildet sein« beschreibt in diesem Verständnis eine normative (also gewollte) Zielsetzung des Sozialisationsprozesses. Ein Fehler kündigt sich aber an, wenn man den Begriff Bildung so versteht, wie er in der heutigen Debatte über den schulischen Kompetenzerwerb dominiert. Hiernach ist Bildung die reine Anhäufung von Wissensbeständen, die entweder theoretisch oder anwendungsorientiert ausgerichtet sind und nicht immer die Eigenständigkeit des Individuums fördern sollen, sondern seine optimale Einpassung. In dieser Hinsicht ist der neuere Bildungsbegriff eher funktionalistisch ausgerichtet, Bildung ist nicht Selbstzweck, sondern Bestandteil und Funktion des reibungslosen Integrierens in gesellschaftliche Formen der Leistungs- und Arbeitsorientierung.
Der Pädagoge Armin Bernhard (2018) zeigt anschaulich, wie die Herausformung des Bildungsbegriffs historisch eingebettet ist: Zuerst ist er in Renaissance und Humanismus (14. und 15. Jahrhundert) ein Kampfbegriff gegen religiöse Mystik, dann Bestandteil der bürgerlichen Befreiungsbewegungen gegen den Feudalismus. Erst in jüngerer Zeit wird Bildung immer mehr als Bestandteil von Prozessen der Ausbildung für die praktische Berufstätigkeit verstanden, wogegen emanzipative Bildungstheorien gegen die Gleichmachung des Individuums in gesellschaftlichen Zwangsstrukturen (etwa in Autokratien oder in einem entfesselten Kapitalismus), also für die Autonomie des Individuums, eintreten.
Ein zweiter Begriff, der in einer engen Beziehung zur »Sozialisation« steht, ist »Erziehung«. Dieser Begriff bezeichnet alle gezielten und bewussten Einflüsse auf den Bildungsprozess (Oelkers 2001, S. 24). Als Erziehung werden diejenigen Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, auf die Persönlichkeitsentwicklung anderer Menschen Einfluss zu nehmen. Ebenso wie Bildung ist »Erziehung« damit ein Unterbegriff von Sozialisation. Sozialisation umfasst alle Impulse auf die Persönlichkeitsentwicklung, unabhängig davon, ob sie geplant und beabsichtigt sind, und auch unabhängig davon, welche Dimension der Persönlichkeitsentwicklung (Wissen, Motive, Gefühle, Bedürfnisse, Handlungskompetenzen) beeinflusst wird. Erziehung hingegen konzentriert sich auf einen Ausschnitt davon, nämlich auf die absichtsvollen Impulse, die meist von Eltern oder Pädagogen in Familie, Kindergarten, Schule und Hochschule ausgehen.
Für die Bezeichnung eines gelungenen Prozesses der Sozialisation wird häufig der Begriff »Reifung« verwendet. In psychologischer und pädagogischer Denkweise wird unter der Reife ein Entwicklungsstand der Persönlichkeit gefasst, bei dem ein optimales Maß von Verhaltenssicherheit und sozialer Orientierung erreicht ist, sodass ein Mensch in bestmöglichem Einklang mit seinen persönlichen Ressourcen den Anforderungen der Umwelt gerecht werden kann und zu einer vollen Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben in der Lage ist. Der Begriff »Reifezeugnis« weist darauf hin, dass in diesem Verständnis der Begriff der Reifung eine Nähe zum Begriff der (geglückten) Bildung, also eine normative Zielsetzung für die Sozialisation vornimmt. Gleichzeitig hat sich der Reifungsbegriff in der biologischen Lesart zu einem Leitbegriff für die von äußerlichen Faktoren unabhängige Entwicklung von Fähigkeiten aller Lebewesen (also auch des Menschen) herausgebildet. Gerade in Verbindung mit einer humangenetischen Lesart in den Entwicklungstheorien bildet dieses Hintergrundverständnis so etwas wie ein Konkurrenz- oder Gegenkonzept zu dem heutigen Sozialisationsverständnis.
Die Begriffe »Enkulturation« und »Akkulturation« sind heute nur selten gebräuchlich. Sie lassen sich als Unterbegriffe von Sozialisation verstehen und bezeichnen im besonderen Sinne jene Prozesse, die Menschen zu Mitgliedern einer Kultur machen. Dieser Schwerpunktsetzung, die mit dem Begriff der Kultur verbunden ist, hat folgenden Hintergrund: Jede Kultur stellt über die Gestaltung ihrer sozialen Institutionen und sozialen Umwelten und in Form von sozialen Mustern und Normen »Mitgliedschaftsentwürfe« bereit (Zick 2010). Diese legen fest, welche Vorstellungen, Wünsche, Erwartungen und Merkmale für eine aktive Teilnahme an der Gesellschaft als erforderlich erachtet werden. Weil das Gelingen dieser Form der Teilnahme von der Bereitschaft und Fähigkeit des Individuums abhängt, die eigenen oder mitgebrachten Präferenzen mit denen dominanten Kultur in Übereinstimmung zu bringen, sind Enkulturation und Akkulturation eher die Fachbegriffe, die die Entwicklung des Individuums durch den äußerlichen Druck der gesellschaftlichen Strukturen beschreiben.
Schließlich findet sich ein ganzes Bündel an Begriffen, die die individuelle Verfasstheit eines Menschen beschreiben. Hier stehen Seite an Seite die Begriffe »Person«, »Persönlichkeit« und »Individuum«, aber auch »Identität«, »Selbst«, »Akteur« und »Subjekt«. Man kann jeden dieser Begriffe wiederfinden in Abhandlungen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit dem Thema Sozialisation oder Entwicklung befassen. In ihnen spiegeln sich sehr unterschiedliche wissenschaftliche Traditionen. Manche dieser Begriffe sind eher nüchtern, wenn sie uns Menschen mit ihren Eigenschaften beschreiben (z. B. »Person«), andere sind technisch (»Selbst«, »Akteur«) und einige emphatisch (»Individuum«, »Identität«), wenn sie die Besonderheiten des Menschen beschreiben. In einer modernen sozialisationstheoretischen Perspektive verwischen jedoch viele dieser Unterschiede. Man kann kaum noch genau sagen, ob mit einem dieser Begriffe wirklich Unterschiede in der Beschreibung angenommen werden oder einfach synonyme Bezeichnungen werden, um nicht ständig den gleichen Begriff zu wiederholen.
Die meisten Theorien verfahren auf diese Weise mit der Synonymverwendung. Wahrscheinlich ist dies auch ein »abgesicherter« Modus, damit sie nicht Gefahr laufen, sich mit einer begrifflichen Festlegung aus einer Zuordnung zu etwa der philosophischen oder entwicklungspsychologischen Tradition nicht mehr befreien zu können. So paradox es ist, diese Verfahrensweise des begrifflichen Durcheinanders hat eine gewissen Rationalität. Heute noch mit starken Unterschieden arbeiten zu wollen, die die Perspektive auf uns als menschliche Wesen mit nur einem Begriff anzeigen wollen, ist kaum möglich. Zu sehr sind die Perspektiven miteinander verbunden und zu wenig sind die mit den Begriffen angezeigten Unterschiede überhaupt noch präsent. Der sozialisationstheoretische Fokus auf das Subjekt verträgt diese »Multioptionalität«. Auch in dieser Einführung wird sie praktiziert und nur wenn eine bestimmte Perspektive auf das Subjekt mit einem Begriff erörtert werden soll, wird das in der Beschreibung auch ausdrücklich so angezeigt.
Erste Zugänge zum Sozialisationsthema
Im Zentrum der meisten Zugänge im Sozialisationskontext steht das Beziehungsverhältnis zwischen einem sich entwickelnden Menschen, mit seiner genetischen Ausstattung an Trieben und Bedürfnissen, seinen angeborenen Temperaments- und erworbenen Persönlichkeitsmerkmalen, und den umgebenden gesellschaftlichen Umweltfaktoren. Dieses Beziehungsverhältnis wird als lebenslang und als interaktiv beschrieben, wobei es in diesem Prozess der lebenslangen Interaktion das Subjekt schafft, die Anforderungen an die individuelle Integration in ein soziales Gefüge zu bewältigen und gleichzeitig immer mehr Lern- und Erfahrungswissen auszubilden, das die Individualität fördert. Weil der Sozialisationsprozess damit immer zwei Perspektiven beinhaltet, die des Individuums und die der Gesellschaft, haben die meisten Definitionen von Sozialisation typischerweise einen engen Bezug zu entweder eher soziologischen oder eher psychologischen Basistheorien, ohne die der Sozialisationsbegriff heute nicht seine typischen Konturen hätte.
Die psychologischen Ansätze beschäftigen sich in erster Linie mit der Auseinandersetzung des Individuums mit seiner inneren Realität im Prozess des Lernens, der Problembewältigung oder Entwicklung. Sie analysieren, in welchen Stufen und Phasen sich die menschliche Persönlichkeit ausbildet, wie die Fähigkeiten zum Wahrnehmen, Denken und Handeln entstehen und wie sie sich bei Übergängen von einem Lebensabschnitt zum nächsten sowie in Krisen- und Spannungssituationen verändern. Sie werden in den letzten Jahren zunehmend durch neurobiologische und manchmal auch humangenetische Ansätze ergänzt.
Die soziologischen Zugänge konzentrieren sich hingegen auf die äußere Realität. Sie analysieren die Strukturen der menschlichen Persönlichkeit, die in der Auseinandersetzung mit den Anforderungen der Gesellschaft entstehen, etwa die Fähigkeit, die vorherrschenden Werte, Normen und Verhaltensmuster zu übernehmen und sich sozialen Gruppen und Organisationen anzuschließen. Der soziologische Zugang ist also auch auf das Individuum gerichtet, er betont aber deutlicher den Anforderungscharakter der sozialen Strukturen, in denen sich ein Mensch entwickelt und seine Bedürfnisse ausbildet.
Der soziologische Sozialisationsbegriff ist älter als sein psychologisches Pendant. Der Grund hierfür ist, dass die soziologischen Ansätze früh an Diskussionsstränge der Sozialphilosophie anschließen, die im 19. Jahrhundert noch die Debatte über das Soziale beherrschten. Wie Dieter Geulen (1991, S. 21) in seinem Überblick über die Geschichte der Sozialisationstheorie herausgearbeitet hat, wird der Begriff »Sozialisation« zwar in enzyklopädischen Werken schon seit dem frühen 19. Jahrhundert benutzt, in einer wissenschaftlichen Abhandlung aber erstmalig im Jahr 1896, und zwar vom amerikanischen Sozialphilosophen Edward A. Ross.
Der deutsche Sozialphilosoph Georg Simmel (1858–1918) und der französische Soziologe Emile Durkheim (1858–1917) haben kurz darauf erste, durchaus ähnliche Definitionen des Sozialisationsbegriffs vorgenommen. Bei seiner Untersuchung des Übergangs von einfachen zu arbeitsteilig organisierten Industriegesellschaften stellte sich Durkheim die Frage, wie in komplexen Strukturen soziale Integration hergestellt werden kann. Seine Antwort: Nur wenn alle Gesellschaftsmitglieder die Normen und Zwangsmechanismen verinnerlichen, wenn die Gesellschaft gewissermaßen in sie eindringt und ihre Persönlichkeit von innen her organisiert. Das menschliche Individuum ist nach dieser Vorstellung triebhaft, egoistisch und asozial und wird erst durch den Prozess der Sozialisation gesellschaftsfähig. Diesen Prozess der »Vergesellschaftung der menschlichen Natur« nennt er »Sozialisation« (Durkheim 1972).
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen diese beiden Ansätze für einen Aufbruch der soziologischen Theorie in Richtung einer Persönlichkeits- und Erziehungstheorie und gaben wichtige Impulse für die interdisziplinäre Forschung. Durch Simmel und Durkheim teilweise mit angestoßen, teilweise unabhängig von ihrem Werk, sind in verschiedenen Theorien der Psychologie und der Soziologie Konzepte der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen in einer sich verändernden gesellschaftlichen Umwelt entfaltet worden. Diese werden in den Kapiteln zur soziologischen und psychologischen Propädeutik (im Großabschnitt II.) vorgestellt.
Die Weiterentwicklung des Sozialisationsbegriffs
Die Definition von Sozialisation als »Vermittlung der Gesellschaftsstruktur in das Innere des Individuums« reflektierte die Etablierung der arbeitsteiligen Industriegesellschaften (Baumgart 1997, S. 32). Diese Sichtweise des Zusammenhangs von Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung war durch die damalige historische Konstellation beeinflusst (Fend 1969; Goslin 1969; Münch 1988).
Heutige hoch entwickelte Gesellschaften sind keine Industriegesellschaften mehr. Sie sind zu komplexen Dienstleistungsgesellschaften geworden, die durch eine große Vielfalt von sozialen und kulturellen Lebensformen und durch ein komplexes Zusammenspiel von eigenständigen Organisationen und Systemen gekennzeichnet und weltweit miteinander verbunden sind. Eine soziale Integration, die im Sinne Durkheims den Gesellschaftsmitgliedern durch psychisch fest implantierte Wert- und Symbolsysteme quasi aufgezwungen wird, ist nicht mehr funktional, zumal nationale Gesellschaften durch ihre internationale Verflechtung nur noch zum Teil staatlich organisierte und überschaubare Kulturgemeinschaften sind. Die sozialen und kulturellen Bindungskräfte, die noch zu Zeiten Durkheims für die soziale Integration in die Gesellschaft des Nationalstaates sorgten, schwächen sich demnach der Tendenz nach ab, wenn auch neue Zwänge berücksichtigt werden müssen, die zu Zeiten Durkheims nicht absehbar waren.
Der von Simmel und Durkheim zugrunde gelegte Begriff von Sozialisation als »Vergesellschaftung der menschlichen Natur« muss entsprechend weiterentwickelt werden, da moderne Gesellschaften nur mit selbstständigen Persönlichkeiten funktionieren können. Entsprechend wird von jedem Gesellschaftsmitglied nicht die mechanische und »außengeleitete« Internalisierung von sozialen Regeln verlangt, sondern eine flexible, sensibel auf soziale Bedingungen Rücksicht nehmende, »innengeleitete« Selbstorganisation der eigenen Wertvorstellungen und Handlungen (Faulstich-Wieland 2000, S. 34; Veith 1996, 2008 Zimmermann 2011).
Auf diese Veränderung haben heutige soziologische und psychologische Theorien reagiert und neue Konzepte für das Verständnis des Zusammenhangs von menschlicher Persönlichkeitsentwicklung (Ontogenese) und Gesellschaftsentwicklung (Phylo- oder Soziogenese) vorgelegt. Trotz erheblicher Unterschiede zwischen den einzelnen Theorien besteht dabei die weitgehende Übereinstimmung darüber, dass Sozialisation nicht mehr in erster Linie über das Erlernen sozialer Rollenmuster und die Verinnerlichung gesellschaftlicher Normen erfolgt, sondern als selbsttätige und selbstorganisierte Aneignung von kulturell und sozial vermittelten Umweltangeboten. Dennoch ist eine Kernidee des Konzeptes »Sozialisation«, wie sie von Simmel und Durkheim ursprünglich formuliert wurde, erhalten geblieben: Sozialisation ist Persönlichkeitsentwicklung im sozialen und kulturellen Kontext und eine Form der stets spannungsreichen Konstruktion der Biografie und der Behauptung der Identität in der Umwelt im teilweisen Widerspruch zur »ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft« (Dahrendorf 1977).
Die Diskussion über die notwendige Neufassung des Sozialisationsbegriffs setzte mit vollem Schwung in den 1960er Jahren ein, damals verbunden mit der gesellschaftspolitischen These, dass Sozialisation und Erziehung das erhebliche Ausmaß an Verteilungsungleichheiten bedingen: Es kam zu scharfen wissenschaftlichen und öffentlichen Kontroversen über das Verhältnis von erzwungener Vergesellschaftung und freier Individualisierung. Während der Studierendenunruhen von 1968 wurden die theoretischen Positionen immer weiter zugespitzt, denn mehr und mehr wuchs das Bedürfnis, nicht nur ein Modell für die erfolgreiche Anpassung des Individuums, sondern vor allem für seine autonome Entwicklung zu erhalten (Geulen 1973, 1991, S. 39; Mühlbauer 1980; Walter 1973).
Sozialisation als Interaktion