Prolog
Der Sommer beginnt, als Henry Becker feststellt …
… weg, einfach weg ist sie, verschollen, verschwunden, komplett von dannen, Knall auf Fall.
Er steht da am Küchenfenster, ein Ochs vorm Berge, und kann es nicht begreifen. Geht er einer optischen Täuschung auf den Leim? Hat er ein medizinisches Problem, das für umgekehrte Halluzinationen sorgt, bei denen man nicht etwas sieht, was nicht da ist, sondern etwas, das da sein muss, nicht mehr erkennt? Da ist Henry heimgekommen, um sich mit einem gut gekühlten Pils auf den Balkon zu setzen, ein bisschen vor sich hin picheln. Mal wieder etwas aus dem Kopf bekommen, denn glücklich ist, wer vergisst. Jeden Tag gibt es etwas, das Henry schnell vergessen möchte. Heute den Anruf seines Bankberaters, mein lieber Schwan, was für einen Oberleutnantston der Bramsch von der »Vereinigten Bank« plötzlich am Leib gehabt hatte. Henry hatte förmlich sehen können, wie die Adern am Bramschen Hals anschwollen und das Blut ins butterige Pennälergesicht pumpten. Auf keinen Fall dürfe er den nächsten Termin versäumen, das sei kein Rat, sondern ein klarer Bescheid. Am Ende hatte Herr Bramsch geschrien getreu dem Motto, dass, wer schreit, Recht hat.
Aber das, was diesen ätzenden Geldgeier zur Weißglut gebracht hatte, das ist jetzt ausnahmsweise nicht Henrys Not. Zumindest nicht hier, nicht jetzt. Er stellt die Bierflasche auf die Spüle, macht die Tür auf, die von der Küche zum Balkon führt, und tritt hinaus. Die Hände gestemmt aufs Blech der aufgeheizten Balkonbrüstung schaut er und schaut vergebens.
»Was ist das denn für eine verdammte Scheiße?«
Sein Fluch rollt und poltert durch den Innenhof. Die Antwort: Brodelnder Husten und eine weiße Dampfwolke vom Balkon schräg rechts. Weil Herr Szép schon mit Ende fünfzig eine üble Atemwegserkrankung hat, von COPD hat er neulich gesprochen, dampft er jetzt »elektro«. Weil er nicht groß ist, kann Henry hinter einer Phalanx aus rosa Geranien im Wesentlichen nur den Kopf sehen. Eine Nase ragt hervor, ein blauroter Vorsprung unter getönter Pilotenbrille.
Henry kann nicht viel anfangen mit dem Mann, mit dem er gefühlt ewig auf einer Etage wohnt. Aber um eines beneidet er ihn: den Trainingsanzug. Dunkelblau, leuchtend weiß die drei Streifen, das Dreiblatt-Logo auf der Brust und auch der Reißverschluss. Dazu die Steghose, alles mindestens 80er, vielleicht älter. Festgewachsen an Herrn Szép. Als Junge hatte Henry genauso einen Anzug gehabt.
»Wenn sie ihren Briefkasten mal leeren würden, wüssten sie’s.«
Bei seiner Gemütslage kann Henry eines nicht gebrauchen: Oberlehrer können ihn gerade mal kreuzweise.
»Hab’ den Schlüssel verloren.«
»Hatte ich auch schon. Nehmen sie eine kleine Nagelfeile. Geht.«
Würde ihn in den nächsten Minuten der Schlag treffen, eines will Henry dann doch nicht: dumm sterben.
»Lassen Sie mich nicht dumm sterben. Was ist los?«
»Die Verwaltung von den neuen Besitzern, die haben uns geschrieben. Hab’ erst gedacht, aha, jetzt wollen die Schweizer Heuschrecken mal schön die Miete erhöhen. War aber wegen der Renovierung.«
Henry atmet tief ein und sehr langsam wieder aus.
»Welcher Renovierung?«
Herr Szép wird zum bellenden Seehund, hustet sich aus und dampft wieder »elektro«. Henry sieht seidenweiße Wölkchen verwehen. Ein Hauch von Vanille schwingt mit.
»Na, der ganzen Fassadenrenovierung. Neuer Anstrich, pipapo, auch die Balkone kommen dran, neuer Boden, alles vom feinsten. Da wollen’se dann demnächst ein Gerüst für aufbauen. Deshalb musste der Baum weg. War anscheinend im Weg. Hab’ das jedenfalls so verstanden. Hier ist ja Privatgrundstück, und soviel ich weiß, da gilt die Baumschutzverordnung nicht. Oder andernfalls …«
Erst Dampf, dann Husten.
»… na ja und überhaupt, wenn Sie mich fragen, ich sach’ mal, die ...«
Aber Henry hat auch etwas zu sagen und brüllt es heraus:
»Das können die doch nicht einfach machen!«
Der Nachbar wartet, bis im Innenhof wieder sommerlich laue Klangwelt herrscht. Das Geräusch eines Fensters, das gekippt wird, gedämpfte Radiomusik, eine gurrende Taube auf dem Balkon links.
»Können’se aber. Sehen’se doch. Mensch, war das ’ne Aktion. Wollte gerade Mittagsschläfchen machen. Aber die Jungs hatten was drauf. Ratzfatz ging das. Ist ja gar nicht so einfach hier im Hof. Ich hab’ vom Fenster ein bisschen zugeguckt, weil Schlafen war ja nich’. Wie die da zu Werke gegangen sind, Donnerlüttchen, so arbeiten Profis. Und dieses Sägen, das geht einem durch Mark und Bein. Aber ganz schlimm ist dieses Ding, diese Fräse, na Sie wissen schon …«
»Häcksler heißt das.«
»Jau, genau den meine ich. Das glauben’se nich’, das war ein Geräusch, wie als …«
Henry will nicht wissen, wie sich der Lärm angehört hat, mit dem die Männer in die Sägeschlacht gezogen sind. Aber dann sieht er doch alles vor sich in seinen grausamen Einzelheiten, die grünen Overalls, die gelben Helme, die frisch geölten Geräte, mit denen die Typen losgelegt hatten, um Kleinholz zu machen, aufgepumpte Naturburschen, die abends noch als Stripper auftreten. Unten im Hof erkennt Henry noch den hellen Stumpf und ein paar Späne.
Herr Szép hat sich warm geredet.
»Na ja, es hat auch was Gutes. Mehr Licht für meine Geranien. Weniger Ungeziefer und …«.
»Ist … mir … scheiß … egal.«
Die Taube hebt sicherheitshalber ab. Kein Husten. Kein Dampf. Ein Moment grimmiger Ruhe. Aber Herr Szép ist und bleibt Herr Szép.
»Mannomann, kommen’se mal wieder runter. Wat wech is’, is’ wech, da machen’se nix. Wissen’se doch, was die ollen Römer gesagt haben. Alles fließt und nix ist für die Ewigkeit. In diesem Sinne Glück auf!«
›Die alten Griechen, das mit dem Fluss waren die alten Griechen‹, will Henry herüberschreien, aber Brille, Nase, Dampf sind verschwunden.
Allein steht er auf seinem Balkon, Henry Becker im milden Abendlicht. Ein zarter Luftzug streift ihn, ein Murmeln von hier und da, Spuren von Stimmen und flinken Geräuschen, gemacht für das Finale eines schönen Tages im Juni, könnten ihn besänftigen. Aber für Henry ist das kein schöner Tag mehr. So sehr hatte er sich darauf gefreut, mal wieder ein bisschen zu quatschen mit seiner Freundin der Lärche, die so still sein konnte, aber stets weise war. Zum Greifen nah hatte sie sich vor seinem Balkon gereckt. Henry – muss er denn jetzt schon in der Vergangenheitsform sprechen? – liebt sie, hatte sie geliebt mit ihren dünnen, melancholisch hängenden Ästen und den weichen Nadeln, die sich in Bündeln sammelten. Im Sommer hatte sie Schatten gespendet und diese Seite der Wohnung kühl gehalten. Darum war genau das sein Plan gewesen: Wohnungstür auf, durch die kleine Diele marschieren, rechts in die Küche abbiegen, gleich links aus dem Kühlschrank eine Flasche »Stauder« angeln, geradeaus weiter, raus auf den Balkon. Nichts anderes hatte er gewollt als sich dort hinzusetzen. Sich zu vertiefen in Grün und Braun, das auf den ersten Blick verwirrende Dickicht der Äste, Nadeln und Zapfen und der auf den zweiten Blick immer abstrakter werdenden Struktur. Die äußerlich graubraune Borke am Stamm wollte er betrachten, um sich zu verlieren in den rotbraunen Furchen zwischen den Schuppen. Sitzen und betrachten, bis jener Zustand eintrat, als habe man drei Pillen zu viel von einem rezeptpflichtigen Schmerzmittel geschluckt. Sitzen, bis er zu glauben vermag, dass die Lärche auch in ihn hineinschaut.
Henry Becker hat keinen Plan B. Warum auch? Warum hätte er damit rechnen sollen? So steht er da. Kann nur schauen und schauen und schauen. Aber je länger er da querfeldein schaut, desto mehr wird aus Schemen, Konturen, Farbflecken und Lichtreflexen etwas. Ein Panorama tut sich auf. Das macht ihn neugierig. Er richtet sich auf, hebt die flache Hand mit stramm gestreckten Fingern auf Brauenhöhe an die Stirn, den Daumen presst er an die rechte Schläfe, die Geste des Seefahrers im Krähennest, der Blick gegen die untergehende Sonne geschirmt. Erste Einzelheiten kann Henry Becker nun ins Auge fassen, so unvermutet aufgetaucht, so vorerst fremd und deshalb verlockend. Luftholen nicht vergessen, er ist jetzt geradezu angespitzt. So schlicht, so ergreifend sieht er die Hinterhoffassaden der Häuserzeile gegenüber. Ein Blick in eine unbekannte Galaxie. Wäre er ein geübter Golfspieler, er könnte die Entfernung abschätzen. Aber den Kurs, den er begonnen hatte, um irgendwann gewinnbringende geschäftliche Kontakte anzubahnen, hat er nicht fortgesetzt. Dem Rasen konnte man es nicht antun, und auch nicht dem eigenen Rücken, in dem es zu oft geknackt hatte beim dynamischen Durchschwingen. Also muss Henry raten. Über vielleicht hundertfünfzig, vielleicht auch zweihundert Meter, mehr kann es doch nicht sein, kann er ungehindert schauen.
Rechts, auf halber Strecke, hinter der Ziegelmauer, die den ersten Hof abschließt, ragt eine dunkle Pyramide hervor. Gelbgrüne Flecken und Flatschen auf rötlichen Schindeln. Moos und Flechten auf dem Dach des Backhauses, das im Hof liegt wie ein erratischer Block. So nennen das die Experten, ein gemauerter Findling, erzählend von röschen Brötchen, französischem Stangenweißbrot, aber auch feinem deutschen Speckbrot, gebacken nach geheimen Rezepten. Daneben der amtlich hoch gemauerte Schornstein.
Aber da raucht nichts mehr, alles ist längst bröckelnde kalte Vergangenheit. Aus der Ofenasche wird keine neue Glut entstehen, wer weiß schon noch, was ›rösch‹ meint. Jedenfalls wird hier nie wieder jemand rösche Brötchen backen oder französisches Stangenweißbrot, dessen Namen Henry als Kind immer falsch betont hatte: Lang auf der ersten Silbe, als ekelte er sich ein wenig vor dem »Baah-gett«. Dabei hatte er es von Anfang an gemocht, ohne Butter aber dick mit Erdbeermarmelade, hatte es liebend gerne in großen Mengen abgeholt mit dem Einkaufsroller bei der »Bäckerei Dinsing«, der ersten Adresse im Essener Südviertel.
»Na, da ist ja wieder der Zwiebelmercedes-Chauffeur. Hast’e denn schon einen Führerschein?«, hatte die Verkäuferin jedes Mal gefragt. Henry hatte geantwortet:
»Brauch’ ich doch gar nicht. Ich fahr’ nur auffem Gehweg.«
Auf diese Tour durfte er immer dann gehen, wenn Mama eine exklusive Einladung gab für engste Geschäftsfreunde und beste Kunden von »Assekuranz Becker – zuverlässig seit 1965«.
Vor dem Rückmarsch hatte die so blonde wie breite Verkäuferin Henry Bruchkeks in die Hand gegeben. Den hatte er erst in Ruhe geknabbert, um dann wieder loszutigern zur Schinkelstraße. Nur ein paar hundert Meter weiter weg stand die Villa, wo der Bundespräsident wohnte. Manchmal wählte Henry seinen Rückweg so, dass er dort vorbeikam. Dann blieb er stehen vor dem Haus und starrte. Denn der Bundespräsident, das war der oberste Mann im Staat, hatte man ihm erklärt. Henry versuchte jedes Mal vergeblich, hinter den Fenstern zu erkennen, ob der Mann, der im Fernsehen mit seiner Brille, den Falten und grauen Haaren wie ein lieber Großvater aussah, daheim war. Aber nie hat er ihn leibhaftig zu Gesicht bekommen.
Wann die »Bäckerei Dinsing« geschlossen hatte, daran kann er sich nicht mehr erinnern. Geblieben sind das Backhaus im Hof und der Verkaufsraum zur Straße. Im Fenster stehen und liegen jetzt Farbtafeln, ein Ständer ist zu sehen mit Mustern verschiedener Laminat-Dekors, dahinter das chaotische Büro des Malerfachbetriebs.
Aber Henry will loskommen von den Erinnerungen, verlockend wie von Mama angesetzte Limonade, heillos sauer, himmlisch süß aus einer Vorwelt, magnetisch, wie das Lachen des Nachbarmädchens Anna, wenn es im Garten ein Rad geschlagen hat, einer Vergangenheit, die besser war, weil alles aus Holz war und jedes Stangenweißbrot Kunsthandwerk.
Henry ist wieder voll in der Gegenwart, seine Netzhäute wandeln Licht zu Nervenimpulsen, aus denen das Gehirn präzise jenes so überraschende Bild macht: Da drüben, die Balkone, die Balkontüren und vor allem Fensteröffnungen, wie klein die wirken von hier aus, so unscharf aber mit einem Glanz, der ist unwiderstehlich, verheißungsvoll und einfach schön. Wie Schaukästen in einem Museum, in die Wand eingelassen, darin in gedämpft gelbem Licht ein archäologisches Fundstück, eine Münze, eine Scherbe, ein Relikt, zwei Jahrtausende alt oder älter, übrig geblieben aus dem Leben einer rätselhaften Zivilisation. Aber hier: lebendige Gegenwart, pulsierend und sprechend und schnaufend hinter den Scheiben.
Henry will genauer sehen. Er dreht sich auf dem Absatz herum, geht durch die Küche und biegt rechts ab in sein zweites Wohnzimmer. Er stürmt zu auf die schwarz-weiße Schrankwand, so in die Jahre gekommen, dass sie wieder angesagt ist.
In irgendeinem Fach, einer Schublade muss es liegen, das »Zeiss«-Jagdfernglas. Ein Erbstück von Onkel Paul, hochgradiges Ski-Ass und noch dazu Eisstockmeister. Henry, der Ergriffene, der so vieles nun sehen will, öffnet Türen, zieht Schubladen auf, ignoriert, was sich häuft und drängt und überlagert, Habseligkeiten, hinüber gerettet aus mutmaßlich paradiesischen Zeiten, in denen er gerade noch unterwegs gewesen war. Seine großen Hände wühlen und folgen schließlich einer Eingebung. Das Barfach. Weil er keine harten Sachen trinkt, wenigstens bis jetzt noch nicht, hat Henry Fotoalben, Briefbündel, Schulhefte, in denen er versucht hatte, als Teenager Tagebuch zu führen, mit Reisesouvenirs und geliebtem Krimskrams in das Fach gequetscht. Und da ist es dann auch, das Fernglas, groß, schwer und sauteuer, dafür lichtstark auch in der Dämmerung und mit achtfacher Vergrößerung. Als zähle jede Sekunde, um nicht den Blick auf sagenhaft scheues Wild zu verpassen, reißt Henry den Lederköcher hervor, merkt dabei aber nicht, wie er dem blau-weiß-roten Wurfsegler aus Styropor einen Flügel abbricht. Greta hatte ihn damals mitgebracht von ihrer Amerikareise. Die drei Wochen hatten erst nur einen feinen Riss bedeutet in ihrem gemeinsamen Raum-Zeit-Kontinuum. Daraus war bald ein Wurmloch geworden, das alle Gefühle aufgesaugt hatte, um sie verschwinden zu lassen im Nirgendwo. Aber auch damit hält Henry sich nicht auf, er läuft zurück auf den Balkon, setzt das Glas an, justiert die Schärfe und beginnt mit der Planmäßigkeit eines Naturbeobachters wie auch hoffnungsfrohen Spanners das Terrain zu erkunden: zu lang nicht gewaschene Gardinen, im Stile des Herrn Szép weitere mit Geranien bepflanzte Balkonkästen aus terrakottafarbenem Plastik, wie kleine Stoffwimpel wedeln WickenbBlüten in einer verirrten Brise, auf der Fensterbank da innen drin, im Obergeschoss, ganz klar, eine Orchidee. Aber ob echt oder gefakt, das kann Henry nicht entscheiden. Etage für Etage sucht er ab, schwenkt zurück, wenn etwas unklar zu bleiben droht. Das muss wieder ein Badezimmer sein, Undurchsichtigkeit erwünscht, also weißes Ornamentglas für den Sichtschutz. Bei Glas und vor allem Glasbruch kennt Henry sich aus. Weiter, daneben, eine Küche? Kein Basilikum auf der Fensterbank. Dafür ein Schattenriss wie aus einem Scherenschnittspiel, das allein für Henry aufgeführt wird. Eine Frau, sie hat einen Pferdeschwanz, sie hält etwas auf dem Arm, das sich bewegt. Das kann nur ein Kind sein, ein kleines, ein Baby, dem sie noch das Köpfchen halten muss. Und als wüsste die Sonne, dass es einen Zuschauer gibt, holt sie aus der Trickkiste einen spektakulären Effekt, projiziert ihn auf die Fensterscheibe. Eine goldene Aura legt sie rund ums Profil Mutter mit Kind, das jetzt leicht zittert in der Optik des Zeiss-Jagdfernglases. Vielleicht sieht Henry auch nur, was er sehen will, nun doch eine klassische Halluzination, etwas Erfreuliches, das alle Übel dieses gebrauchten Tages lindert.
Aber dann geht auf einmal allen Farben die Kraft aus, unter die Dachkante drüben ist die Sonne geraten, kein Rand mehr, der Schein wirft. Henry nimmt das Fernglas herunter. Sehr viel Kühles umzingelt ihn plötzlich. Aus dem Seefahrer im Ausguck ist der Kapitän geworden, der als letzter an Bord geblieben ist und »S. O. S.« funkt.
Die Lärche, die da seit Jahr und Tag vor seinem Balkon gestanden hat, ist weg. Ist verschwunden in der »Niemaligkeit«, wie Henry es nennen will, ist für immer und ewig abgeholzt. So oft hat er vom Fenster aus die Eichhörnchen beobachtet, wie sie schwerelos durch die Äste geturnt sind. Im Winter hat er Nüsse und Obststücke für sie ausgelegt auf der Balkonbrüstung. Müssen sich die Klettermaxe also eine neue Heimat suchen. Vielleicht taugt der Baum einen Hof weiter beim Backhaus. Dürftig sieht er aus und nicht wirklich würdig. Nicht wie seine Lärche. Die, das fällt Henry auf, gar keinen Geruch hinterlassen hat. Von unten herauf müsste man doch noch frisch gesägtes Holz riechen.
Er will sich damit nicht abfinden, er muss etwas tun, eine Zeremonie für die skrupellos umgelegte Freundin, die an ihrem Platz wahrscheinlich länger gestanden hat, als es einen Henry Becker gibt. Etwas tun, ein Zeichen setzen. Er marschiert los, greift sich sein Feierabendbier und findet schnell, was er gesucht hat. Die schlanke grüne Schachtel mit den Räucherstäbchen, Zedernholz, immerhin. Dazu das marokkanische Silbertablett mit den fein ziselierten Blumenornamenten, ein Geburtstagsgeschenk von Greta. Henry richtet es auf der großen Tischplatte aus. Genau in die Mitte des Tabletts kommt die kleine Kachel für das Räucherstäbchen. Henry nimmt einen großen Schluck warmes Bier, wartet einen Moment, reißt das Streichholz an, hält es an die Spitze des Stäbchens, bis sie entflammt. Dann pustet er leicht dagegen, rot glüht es, und schon steigt der Rauch auf, gerade auf den ersten Zentimetern, konzentriert und ungerührt, aber dann, auf einmal, treiben die Partikel auseinander, Wirbel bilden sich, anmutige Verschlingungen sterben dahin in losen Fetzen.
Henry sitzt reglos, schaut und sieht auf sein Leben. Hinter dünnen Wänden bellt ein Seehund. Dann fällt ein Aschewürmchen aufs Tablett.