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Dorothee Döring
Scham

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Wegen stilistischer Klarheit und leichterer Lesbarkeit wurde im Text auf die sprachliche Verwendung weiblicher Formen verzichtet. Ausdrücklich sei hier festgehalten, dass die Verwendung der männlichen Form inhaltlich für alle Geschlechter gilt und keinesfalls einen sexistischen Sprachgebrauch darstellt.

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Lektorat: Katharina Schindl, Wien
Typografie und Satz: Florian Spielauer, Wien
Druck: Finidr, Tschechien
ISBN 978-3-99002-132-3 (print)
ISBN 978-3-99111-386-7 (epub)

Inhalt

Einführung

1 Was ist Scham?

Der Unterschied zwischen Peinlichkeit, Scham, Beschämung, Schuld und Schande

Die unterschiedlichen Facetten der Scham

Analyse und Bewertung der Scham

Die gute Seite der Scham: der unsichtbare Selbstschutz

Die schlechte Seite der Scham: die Beschädigung von Selbstbild und Selbstwertgefühl

Die Ambivalenz von Scham und Stolz

Angst, die Schwester der Scham

2 Ursachen und Auswirkungen der Scham

Prägung und Erziehung

Die Prägung

Die Erziehung

Scham durch Vergleiche

Ursachen und Auswirkungen von Körper- und Intimscham

Scham aufgrund von Stigmatisierung

Der Name

Herkunft und Sprache

Analphabetismus

Sexuelle Orientierung

Eine abgelehnte Bewerbung

Quereinstieg, Leiharbeit und Arbeitslosigkeit

Armut

Krankheit und Behinderung

Stigmatisierung der Familie aufgrund von Kriminalität

Ursachen und Auswirkungen von Fremdscham

Das Fernsehen

Touristen im Ausland

Die Kirche

Die nationale Vergangenheit

Scham nach Tabubruch

Verlassen eines kranken Lebenspartners

Freigabe eines Kindes zur Adoption

Verbotene Liebe

Häusliche Gewalt

Sexueller Missbrauch

Suizid

3 Die emotionalen Begleiterscheinungen der Scham

Sich abgelehnt und wertlos fühlen

Sich hilflos fühlen

Sich schuldig fühlen

Sich verunsichert fühlen

Sich vernichtet fühlen

Neurologische Erkenntnisse über Scham

4 Der problematische Umgang mit Scham

Bestreiten

Rückzug

Vermeidung und Verdrängung

Schweigen

Lebenslüge

Kompensation

Aggression

Aggression gegenüber anderen

Aggression gegen sich selbst

5 Der konstruktive Umgang mit Scham – wie es möglich ist, sich weniger zu schämen

Sich dem schmerzhaften Gefühl der Scham stellen

Ursachenforschung

Kritische Selbstanalyse

Selbstakzeptanz

Selbstachtung

Selbstwertschätzung

Selbstliebe

Der Weg zu einem realistischen Selbstbild, zu gesundem Selbstbewusstsein und Authentizität

Entwickeln eines realistischen Selbstbildes

Gesundes Selbstbewusstsein und Mut zur Authentizität

Selbstverantwortung und Selbstfürsorge

Innere Freiheit gewinnen

Selbstbestimmung

Humor

Gelassenheit

Stärkung der seelischen Widerstandskraft

Abschied von Perfektionismus und Optimierungszwang

Schambewältigung durch Mentaltraining

Abschließende Bemerkungen

Quellen

Eigene Publikationen

Stichwortverzeichnis

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Einführung

Kein Gefühl ist so quälend wie das der Scham, und es gibt vieles, für das man sich schämen kann: den eigenen Körper, die Herkunft, den Dialekt, die sexuelle Orientierung, eine aufgeflogene Lüge, Langzeitarbeitslosigkeit, ein nicht bestandenes Examen oder eine psychische Erkrankung.

Scham ist ein zutiefst menschliches, aber sehr unangenehmes Gefühl, das sich auch verselbstständigen und zu einer sozialen Phobie (einer krankhaften Angst) auswachsen kann. Am Ende schämt man sich dann dafür, dass man sich schämt – ein Teufelskreis.

Scham muss sich aber nicht auf die eigene Person beschränken, sie kann auch andere Menschen und sogar Gruppen betreffen. Kaum ein anderes Gefühl ist so stark mit existenziellen Ängsten verbunden.

Scham begegnet uns auf Schritt und Tritt als soziale Kontrolle, fragt ständig nach der Richtigkeit unseres Verhaltens und findet sich in allen Gesellschaftsformen und Kulturen als wichtiges Korrektiv1 . Was man in einer Gesellschaft tun darf und was nicht, wird zwar von Schuld- und Strafsystemen geregelt, aber auch von der Scham, die eine Art „seelischer Oberaufseher“ ist. Ihr Werkzeug ist die Angst, von der Norm abzuweichen, sich lächerlich zu machen, ausgegrenzt zu werden, nicht mehr dazuzugehören. Einen stärkeren Garanten für gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung gibt es nicht.

Weil Scham zum Menschsein gehört, in zwischenmenschlichen Beziehungen auftreten und uns klein machen kann, ist es wichtig, sie zu erkennen und zu verstehen.

Dieser Ratgeber thematisiert die destruktive, aber auch die nützliche Seite der Scham. Er geht ihren Ursachen und Auswirkungen nach und zeigt, wie es möglich ist, konstruktiv mit diesem oft unangenehmen Gefühl umzugehen.

Hier ein Überblick über den Inhalt dieses Buches:

In Kapitel 1 wird untersucht, worum es sich bei dem peinigenden Gefühl der Scham genau handelt,

in Kapitel 2 werden Ursachen und Auswirkungen der Scham erklärt, in Kapitel 3 geht es darum, wie wir Scham erleben,

in Kapitel 4 wird gezeigt, wie man nicht mit Scham umgehen sollte,

und in Kapitel 5 werden Auswege aus der „Schamfalle“ aufgezeigt, mit dem Ziel, kompetent mit Scham umgehen zu können.

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Scham wirkt wie ein soziales Barometer, eine Emotion, die sich meldet, wenn man gegen anerkannte Regeln verstößt. Scham ist nicht bloß das pubertäre Erröten in peinlichen Situationen, sondern beinhaltet die gesamte Palette unerwünschter Minderwertigkeitsgefühle, die aus der Verletzung von Normen entstehen, die wir eigentlich anerkennen. Diese Normen haben wir durch unsere Erziehung verinnerlicht.

Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit, das sowohl durch Verletzung der Intimsphäre entstehen als auch auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben. Dieses Gefühl führt oft zur Schlussfolgerung, dass wir etwas falsch gemacht haben – und vor allem, dass dieses vermeintliche oder tatsächliche Versagen bekannt werden könnte.

Scham ist ein peinigendes Gefühl, weil sie isoliert: denn wer sich schämt, zieht sich zurück, igelt sich ein, möchte im Erdboden versinken.

Auch die Körpersprache zeigt, dass der Mensch im Zustand der Scham ganz um sich selbst kreist. Sich zu schämen zählt zu den schmerzhaftesten Gefühlen, die in unserem Leben vorkommen. Es ist so unangenehm, dass kaum jemand über seine Scham sprechen mag.

Scham ist ein Gefühl, das sich auf die ganze Person bezieht. Sich Schämende haben den Eindruck, so, wie sie sind, nicht in Ordnung zu sein. Scham kann so unerträglich werden, dass manche Betroffenen regelrechten Selbsthass entwickeln.

Scham soll verdecken und verhüllen. Geht der verhüllende Teil verloren, ist das, was eigentlich verhüllt werden sollte, schamlos und allen Blicken preisgegeben. Jemand wird zur Schau gestellt, was einer psychischen Vernichtung gleichkommt.

Sich zu schämen hat auch etwas mit den Sitten und Vorstellungen zu tun, die in einer Gesellschaft gelten. Diese verändern sich, und damit ändern sich auch die Gründe, weshalb wir uns schämen.

Um Scham zu empfinden, muss man ein Gewissen und Werte haben. In einer Scham-orientierten Kultur gilt nicht ein ruhiges Gewissen, sondern die öffentliche Wertschätzung als höchstes Gut. Demzufolge wird alles, was man selbst für peinlich hält und wofür man sich schämt, geheim gehalten.

Die biblische Geschichte vom Sündenfall und vom Ursprung der Scham ist uns allen bekannt. Adam und Eva haben vom „Baum der Erkenntnis“ gegessen. Nach dem Sündenfall erkannten sie, dass sie nackt waren, und bedeckten sich mit Feigenblättern. Offenbar schämten sie sich.

Scham kann von unterschiedlicher Dauer sein: Sie kann ein flüchtiger Affekt sein oder chronisch werden und sich zu einer dauerhaften Charaktereigenschaft entwickeln. Sie kann auch von verschiedener Intensität sein: Von leichter Peinlichkeit bis hin zu abgrundtiefen Selbstzweifeln ist alles möglich.

Der Unterschied zwischen Peinlichkeit, Scham, Beschämung, Schuld und Schande

Sie haben den Namen Ihres Gegenübers vergessen? Sie erscheinen zu einem Firmenjubiläum in Jeans? Sie machen einen unpassenden Witz? Sie verhaspeln sich bei einem wichtigen Vortrag? Solche Situationen werden ohne Zweifel als peinlich empfunden. Beim Lügen ertappt zu werden ist wohl die schlimmste Peinlichkeit, die einem passieren kann. Immer, wenn wir glauben, versagt oder uns blamiert zu haben, empfinden wir – je nach Schweregrad – Peinlichkeit oder Scham.

Wir beobachten, dass das, was wir selbst als peinlich empfinden, längst nicht von jedem so empfunden wird, und stellen fest, dass es Menschen gibt, die mit peinlichen Missgeschicken souverän umgehen. Die meisten Situationen, die uns peinlich erscheinen, haben nicht viel mit unseren eigenen Einstellungen und Prinzipien zu tun, sondern mit Normen, die wir durch Prägung und Erziehung übernommen haben.

Kleine Kinder sind noch völlig unbefangen, ihnen ist nichts peinlich. Sie halten sich selbst für den Mittelpunkt der Welt und gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass alle so fühlen wie sie. Sie haben noch nicht die Fähigkeit, sich mit den Augen der anderen zu sehen. Als Erwachsene sind uns Situationen, die sozial unerwünscht sind, unangenehm, ja sogar peinlich.

Der Unterschied zwischen Peinlichkeit und Scham ist, dass Scham nachhaltiger wirkt als Peinlichkeit. Wenn ihnen ein Fauxpas passiert, empfinden das die meisten Menschen als Peinlichkeit. Ein Fauxpas ist ein Verstoß gegen gesellschaftliche Umgangsformen. Er geschieht meist unabsichtlich oder aus Unwissenheit und gilt als Taktlosigkeit, die mit dem Gefühl des Schämens verbunden ist.

Beispiele für einen Fauxpas sind:

images Themen anschneiden, über die andere nicht reden wollen,

images unangemessene Witze zum Besten geben,

images fehlende Tischmanieren bei festlichen Anlässen,

images zu lautes Sprechen,

images nach zu viel Alkoholkonsum den Gastgeber duzen,

images über jemanden lästern, der das zufällig mitbekommt,

images eine vertrauliche E-Mail versehentlich an den falschen Empfänger schicken,

images im Gespräch große Lücken im Allgemeinwissen offenbaren.

Im Gegensatz zu einem Fauxpas, den man vielleicht überspielen kann, ist Scham ein Gefühl, das tiefer geht und nachhaltiger wirkt. Scham bedeutet in ihrer negativen Ausprägung ein Attentat auf das Selbstbild (s. Kap. „Die schlechte Seite der Scham: die Beschädigung von Selbstbild und Selbstwertgefühl“, S. 25) und kann sogar zum sozialen Rückzug führen.

Grundsätzlich ist Scham ein Gefühl mit unterschiedlichen Schweregraden. Die Schwelle dafür, was als schambehaftet empfunden wird, liegt bei jedem Menschen woanders.

Auch zwischen Männern und Frauen gibt es deutliche Unterschiede: Generell werden Männer weniger häufig von Scham geplagt als Frauen. Frauen schämen sich für ihr Gewicht, für Alterserscheinungen, für gescheiterte Beziehungen oder dafür, Job und Familie nicht unter einen Hut zu bekommen wie die in der Werbung vorgeführten „Superfrauen“.

Experten unterscheiden außerdem zwischen Scham und Beschämung. Durch Beschämung erreichen z. B. religiöse Fanatiker, dass Frauen sich nicht unverhüllt aus dem Haus trauen.

Scham führt hingegen dazu, dass wir uns selbst reflektieren, und warnt uns, wenn wir Normen missachten. Scham mahnt uns, damit wir richtig handeln, und ist auch ein Schutz von eigenen und fremden Intimitätsgrenzen, der sich in Taktgefühl und Respekt äußert. Im Gegensatz zur Beschämung ist Scham ein gesundes, nützliches, sogar notwendiges Gefühl, ein Warnsignal, das sich meldet, wenn jemand Grenzen überschreitet, die eigenen, die anderer oder die der Gesellschaft.

Aber auch kleine verbale Spitzen und Gemeinheiten können jemanden beschämen und schwer verunsichern: Der Freund macht Witze über angebliche Fettpölsterchen oder der Mitarbeiter eine süffisante Bemerkung über den tiefen Ausschnitt seiner Kollegin.

Ein Beispiel:

Nora, eine Büroangestellte, sah, dass der Kopierer gerade von einer Kollegin benutzt wurde. Also wartete sie ab, bis diese fertig war. Doch als sie am Kopierer stand, blaffte ihre Kollegin sie an: „Was bilden Sie sich ein, sich vorzudrängen, ich war noch nicht fertig!“ Nora entschuldigte sich: „Tut mir leid. Da Sie auf Ihren Platz zurückgekehrt waren, sah es für mich so aus, als seien Sie fertig gewesen.“ Doch Noras Kollegin zeigte sich von der Entschuldigung unbeeindruckt und schimpfte in einer Tour weiter. Nora war an einem guten Arbeitsklima interessiert und überlegte, wie sie diese Missstimmung wieder beseitigen könnte. Sie besorgte eine Packung Pralinen, schnitt ein rosa Herz aus Papier aus, schrieb „Entschuldigung“ darauf und befestigte es mit pinkfarbenem Kräuselband an der Schachtel. Am nächsten Morgen vor Arbeitsbeginn legte sie ihrer Kollegin das Päckchen auf den Schreibtisch. Als diese zur Arbeit erschien, kam sie zu Noras Arbeitsplatz und sagte kleinlaut: „Sie haben mich beschämt!“

Was zeigt dieses Beispiel? Nora hätte sich nach diesem Vorfall auch dazu entscheiden können, der übellaunigen Kollegin aus dem Weg zu gehen. Das würden unter derartigen Umständen wohl die meisten tun. Aber Nora reagiert trotz der Verbalattacke ihrer Kollegin nicht beleidigt und mit Rückzug, sondern geht auf diese zu, weil sie an einer guten Arbeitsbeziehung interessiert ist. Damit zeigt sie Stärke und beschämt ihre Kollegin, die sich eigentlich für ihren Kontrollverlust schämen müsste.

Was aber unterscheidet Scham von Schuld? Während sich Schuld auf eine Handlung bezieht, richtet sich Scham auf die eigene Person. So fühlt sich z. B. jemand, der ein Gewissen hat, für sein Verhalten schuldig, wenn er jemanden übervorteilt. Gleichzeitig schämt er sich dafür vor sich selbst. Schuld können wir bereuen und wiedergutmachen, Scham müssen wir so lange aushalten, bis dieses peinigende Gefühl wieder verschwindet.

Weil das Eingestehen von Scham in unserer Erfolgsgesellschaft verpönt ist, wird sie unterdrückt und zeigt sich dann oft in Ausweichreaktionen wie Zorn, Wut, Gewalttätigkeit, Alkoholismus, Depressionen oder sogar Suizid.

Adolf Merckle, ein schwäbischer Pharmamilliardär, beging 2009 Selbstmord, nachdem er sich an der Börse „verzockt“ und damit die Kontrolle über seine Unternehmen verloren hatte. Er muss sich vernichtet gefühlt haben, als er vom hoch angesehenen und überall willkommenen Helden zum gejagten Schuldner wurde. Ihn haben offensichtlich Schuld, Scham und Schande so sehr belastet, dass sie ihn am Ende in den Selbstmord trieben.

Und was ist eine Schande? Im Gegensatz zu Peinlichkeit und Scham ist Schande etwas, wodurch jemand sein Ansehen, seine Ehre verliert.

In früheren Zeiten war es eine Schande, ein uneheliches Kind zu haben. Heute gilt es für muslimische Familien als Schande, wenn ihre Tochter mit Traditionen bricht und nach westlichem Lebensstil lebt. Sogenannte Ehrenmorde dienen im schlimmsten Fall dazu, diese Schande zu tilgen und die verletzte Ehre der Familie wiederherzustellen. Auch Migranten, die in ihre Heimat zurückgeschickt werden, sind für ihre Familie oft Versager, eine große Enttäuschung und eine Schande. Wer mit leeren Händen zurückkehrt, wird stigmatisiert und ausgegrenzt. Mancher traut sich nach der Rückkehr in sein Heimatland nicht, wieder Kontakt mit seiner Familie aufzunehmen.

Ein Mann, der in früheren Zeiten in eine Offiziersdynastie hineingeboren wurde, hatte die Erwartung zu erfüllen, die Familientradition fortzusetzen. Wenn er es wagte, dagegen aufzubegehren, zu desertieren oder unehrenhaft aus dem Militärdienst entlassen zu werden, galt er als ehrlos, beschädigte die Familienehre und brachte Schande über seine Verwandten.

Im Roman „Effi Briest“ beschreibt Theodor Fontane, inspiriert von einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 1886, das Duell von Baron von Instetten mit Major von Crampas, dem Liebhaber seiner Frau, der so erfolgreich seine Ehre verteidigt. Zu dieser Zeit hatten Duelle in Europa Hochkonjunktur. Für Adelige, Offiziere und Studenten, später auch für standesbewusste Bürgerliche, wurde das Duell zum Männlichkeitsbeweis.

Während sich das Schamgefühl unabhängig vom eigenen Willen und zudem auch bei völlig nichtigen Anlässen einstellt, haben Schuld und Schande ein spezifisches Gewicht, das man in den meisten Fällen auch wieder loswerden kann – sei es durch Strafe und Sühne oder durch Reue und Verzeihen.

In fast allen Familien existieren Familiengeheimnisse und Tabus, die als Schande empfunden werden. Ob Adoption, Abtreibung oder Alkoholismus, sexueller Missbrauch, Ehebruch, stigmatisierte Krankheiten oder auch die dunkle politische Vergangenheit eines Familienmitglieds – als Tabu prägt Unausgesprochenes, mitunter über Generationen, die Beziehungen zwischen Ehepartnern, Vätern und Müttern und ihren Nachkommen.

Die Schande, die jemand über seine Familie gebracht hat, muss zum Schutz von deren Ansehen vertuscht und zugedeckt werden, was Energie kostet, Spontaneität und Selbstwertgefühl zerstört und die emotionale Entwicklung behindert.

Die unterschiedlichen Facetten der Scham

Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks unterscheidet in seinem Buch „Scham – die tabuisierte Emotion“2 verschiedene Grundformen der Scham, die mit vier Grundbedürfnissen des Menschen verknüpft sind: Zugehörigkeit, Anerkennung, Schutz und Sicherheit.

Auf folgende Facetten der Scham soll in diesem Kapitel eingegangen werden: Anpassungsscham, Gruppenscham, Gewissensscham, Körper- und Intimscham, empathische Scham sowie Fremdscham.

Die Anpassungsscham bezieht sich auf die eigene Person und orientiert sich an den Bewertungen durch das soziale Umfeld. Man schämt sich beispielsweise, wenn man durch unpassende Kleidung, Parkettunsicherheit oder Unkenntnis der Tischsitten unangenehm auffällt, also wenn man sich peinlich verhalten hat oder etwas getan hat, das den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen widerspricht – mit der Konsequenz, ausgegrenzt oder gemieden zu werden.

Die gesellschaftlichen Erwartungen und Normen hängen natürlich stark von der jeweiligen Kultur ab. Zum Beispiel gilt in Deutschland Schwäche traditionell als schambesetzt. Daher schämen sich viele Menschen für Krankheit, Armut, Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit, Scheitern, Fehler, mangelnde Bildung, geringen beruflichen Status oder auch für ihren Dialekt.

Anpassungsscham kann sich auch auf den eigenen Körper beziehen, z. B. wenn man nicht dem gesellschaftlichen Schönheitsideal entspricht. Das kann die Zahnspange bei Jugendlichen sein, oder auch, sich zu dick oder zu dünn zu fühlen. Abweichende Eigenschaften können zur Ausgrenzung führen, weil man den Erwartungen der gesellschaftlichen Gruppe, der man angehört, nicht gerecht wird.

Gruppenscham kann durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Ethnie oder Nation ausgelöst werden. Viele Deutsche schämen sich der Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg, selbst dann, wenn sie zu der Zeit noch nicht einmal geboren waren.

Wer sich mit einer Gruppe identifiziert, weil er Mitglied ist (z. B. bei einer Wandergruppe oder einem Sportverein), fühlt sich zwangsläufig für das Benehmen der Gruppe verantwortlich und schämt sich, wenn sich andere Gruppenmitglieder schlecht benehmen.

Ein Beispiel:

„Einige aus unserer Wandergruppe haben durch lautes Sprechen und Gelächter im Restaurant des Hotels für den Unmut anderer Gäste gesorgt. Als jemand vom Nachbartisch unüberhörbare Bemerkungen machte, habe ich mich dafür geschämt, Teil dieser Gruppe zu sein.“

Gewissensscham kann durch den Verstoß gegen geltende Normen oder Gesetze, gegen das eigene Gewissen oder das eigene Ich-Ideal entstehen. Gewissensscham kann daher eine Folge von schuldhaftem Verhalten sein. In diesem Fall ist es möglich, sich bei der anderen Person zu entschuldigen. Damit kann die Scham wieder von einem abfallen.

Ein Beispiel:

Sie haben ein Geheimnis ausgeplaudert, das Ihre Freundin Ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut hat. Damit haben Sie ihr Vertrauen missbraucht. Verständlich, dass Sie Ihrer Freundin nicht mehr in die Augen schauen können, weil Sie sich schämen. Sie spüren, dass Sie einen Übergriff begangen haben, indem Sie die Intimität Ihrer Freundin verletzt haben.

Ihre Gewissensscham ist eine Lektion, diesen Fehler künftig nicht zu wiederholen und Vertrauliches immer vertraulich zu behandeln. Gewissensscham ist ein eindeutiger Hinweis darauf, dass man etwas gutzumachen hat. Sie sollten sich bei Ihrer Freundin entschuldigen und Ihr Fehlverhalten eingestehen: „Ich schäme mich, bitte verzeih mir.“

Körperscham ist ein großes Thema in unserer Gesellschaft: Menschen, die glauben, nicht der Norm zu entsprechen, sich als zu dick, zu groß oder zu dünn empfinden, leiden unter dieser Art von Scham.

Im Gegensatz zur Körperscham geht es bei der Intimscham um den Schutz der Intim- und Privatsphäre. Sie schützt die körperlichen und seelischen Grenzen sowie die eigene Integrität.

Intimitätsscham entsteht, wenn unsere intimen Grenzen überschritten werden, z. B. durch sexuelle Übergriffe, aber auch durch sexistische Bemerkungen und schlüpfrige Witze.

Intimscham entsteht, indem etwas, das sehr persönlich oder uns wichtig ist, öffentlich wird, wie z. B. Visionen, Fantasien oder Gefühle.

Empathische Scham ist eine weitere Facette der Scham und bedeutet, dass man indirekt oder stellvertretend Scham empfindet, wenn eine andere Person beschämt wird.

Ein Beispiel:

Sie bekommen mit, dass jemand in einem Abfalleimer nach Essbarem sucht. Es befällt Sie ein eigenartiges Gefühl, weil ein Mensch in unserem reichen Land im Müll wühlen muss, um sich etwas Essbares zu beschaffen. Während andere Menschen achtlos an ihm vorbeihasten, empfinden Sie Erniedrigung, blicken beschämt zu Boden oder geben der Person etwas Geld, damit sie sich etwas zu essen kaufen kann. So zeigen Sie Ihre Empathie auf einfache Art und Weise: „Du bist ein Mensch und mir nicht gleichgültig.“

Empathische Scham bewirkt, dass wir uns in andere hineinversetzen – wir erleben deren Scham mit. Sie bekämpft Gleichgültigkeit, schafft Solidarität und stärkt unser Mitgefühl und unsere Menschlichkeit.

Fremdschämen bedeutet, sich nicht seiner selbst, sondern für eine nahestehende Person zu schämen, die etwas tut oder unterlässt, wofür sie sich eigentlich schämen müsste. Diese Facette der Scham ist jedem Menschen bekannt.

Ein paar Beispiele:

images Ihre alte, schwerhörige Mutter redet in einem vornehmen Restaurant so laut, dass alle anderen Anwesenden das Gespräch mithören können.

images Ihr Ehepartner fällt bei einer Trauerfeier unangenehm auf, weil sein Mobiltelefon nicht ausgeschaltet ist.

images Ihr Partner präsentiert sich bei einer Feier in angeheitertem Zustand als Komiker, indem er sexistische Witze zum Besten gibt.

In allen genannten Beispielen berührt jene Menschen, die sich fremdschämen, die Schamlosigkeit derjenigen, die Grenzen – auch die des guten Geschmacks – missachten.

Der Grad des Fremdschämens hängt davon ab, wie nahe einem die Person steht, denn je näher sie einem ist, desto intensiver fühlt man mit ihr. Wir schämen uns also eher für die beste Freundin, den Partner oder die Eltern als für das schamlose Benehmen Fremder. Aber auch der Anblick ehrloser Mitbürger kann Scham in uns auslösen. Mit beschämtem Blick hasten wir „Normalbürger“ an Bettlern, Alkoholikern und Drogenabhängigen vor Bahnhöfen und in Fußgängerzonen vorbei, allenfalls spenden wir hier und da ein Almosen.

Analyse und Bewertung der Scham

Die gute Seite der Scham: der unsichtbare Selbstschutz

Schamgefühle gehören zu den stärksten, unangenehmsten und intimsten menschlichen Regungen, denn wer sich schämt, ist im Kern getroffen und möchte am liebsten im Erdboden versinken. Doch wofür soll dieses unangenehme Gefühl gut sein?

Ein Mensch, der Scham empfindet, nimmt einen Teil von sich wahr, den er lieber vor anderen verbergen würde, der nicht in der Öffentlichkeit gezeigt werden soll. Scham ist insofern Selbstschutz: Sie schützt unsere Würde.

In Deutschland wird die Intimsphäre sogar durch das Grundgesetz geschützt! Der Text des Art. 2 Abs. 1 lautet: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“

Scham ist auch insofern positiv, als sie dafür sorgt, dass in Gruppen geltende Normen eingehalten werden. Dies sichert den Zusammenhalt, und damit ist Scham der soziale Kitt, der eine Gemeinschaft zusammenhält.

Scham regelt aber nicht nur das Zusammenleben in Gruppen und Gemeinschaften, sondern ist auch für jedes Gruppenmitglied ein Selbstschutz: Um Scham zu vermeiden, verhält sich das Mitglied gruppenkonform.

Scham ist ein peinigendes Gefühl. Um das Gefühl der Scham vor anderen zu verbergen, bedient man sich verschiedener „Masken“. Es sind Abwehrmechanismen und Tarnungen zum Schutz vor Gesichtsverlust und Selbstwertbeschädigung.

Ein klassisches Beispiel:

Die Angst, nicht zu genügen, wird häufig durch die Maske des Perfektionismus verdeckt. Wer glaubt, perfekt sein zu müssen, will es vermeiden, Angriffsflächen zu bieten.

Mit dieser Denkungsart sind aber zwei Probleme verbunden:

1. Perfektionisten sind ihre eigenen Angreifer, die mit ihren überzogenen Ansprüchen immer etwas finden, das sie nicht akzeptieren können.

2. Kein Mensch ist perfekt oder wird es je sein können. Deshalb werden Perfektionisten immer wieder an ihrem idealisierten Selbstanspruch scheitern. Gefangen in einem Hamsterrad der Selbstoptimierung versuchen sie, sich an einem Ideal zu orientieren, um Scham durch Versagen zu vermeiden.

Die schlechte Seite der Scham: die Beschädigung von Selbstbild und Selbstwertgefühl

Wie im vorigen Kapitel beschrieben, ist gesunde Scham mit dem Verhalten verbunden, sich selbst abzugrenzen und die Grenzen anderer anzuerkennen und zu respektieren. Im Gegensatz dazu handelt es sich um destruktive Scham, wenn man sich seiner selbst schämt.

Selbstbild nicht zu beschädigen