Impressum

© Telescope Verlag 2021

www.telescope-verlag.de

Lektorat: Vanessa-Marie Starker

Cover Illustration: by Givaga | Fotolia 93707449

Kapitel 7

An diesem Morgen erwachte ich für meine Begriffe viel zu früh. Während ich unter normalen Umständen das Morgenritual erst um sieben Uhr vollzog, war ich heute gezwungen, bereits um halb sechs aus meinem Bau zu kriechen. Das Zelt hatte sich wenige Minuten nach Sonnenaufgang derart aufgeheizt, dass schon bald Rekordtemperaturen in dessen Inneren geherrscht hatten.

Notgedrungen war ich an den einzigen Ort geflohen, der mir Trost versprach – an den Frühstückstisch. Doch als ich das Frühstück in den Händen der Kollegen erblickte, war jede romantische Vorstellung eines genussvollen morgendlichen Mahls dahin. Heißer Tee! Schon allein der Gedanke an dieses Gebräu jagte mir ein Schaudern über den Rücken. Wie konnte man bei dieser Hitze heißen Tee trinken?

Ernüchtert nahm ich das harte Fladenbrot entgegen, welches mir von einem äußerst schweigsamen Justin gereicht wurde. Seine mürrische Teilnahmslosigkeit ging auch auf mich über, so dass ich wie meine Kollegen stumm mampfend vor dem kleinen Feuer saß, welches die Aufgabe innehatte, das Teewasser heiß zu halten.

Irgendwann wurde mir das erdrückende Schweigen zu blöd. Auf einer Beerdigung konnte man mehr Spaß haben als bei dieser Mahlzeit. Beinahe kämpferisch tat ich meine Verwunderung über das Ausbleiben der Hilfskräfte kund. Justin strafte mich mit einem leicht verächtlichen Blick, während der Professor daran erinnerte, dass heute Sonntag war. Grollend aß ich das Fladenbrot auf und versuchte, Justin ebenso zu ignorieren, wie er es mit mir tat. Leider war meine Neugier erheblich größer als die seine. Über den Rand des Bechers hinweg, schielte ich immer wieder zu ihm.

Justin saß gelassen vor dem Lagerfeuer und stierte in die bereits zusammenfallende Glut. Sein auffallendes Gesicht, seine unrasierten Wangen, welche die harten Kanten nicht zu verbergen vermochten, sein dichtes Haar, aber vor allem seine halb geschlossenen Augen erinnerten mich an einen Panther, der zwar döste, jedoch keinesfalls unachtsam war. Bestärkt wurde mein Eindruck, indem er ohne jede Vorwarnung seine Augen aufriss und mich offen anstarrte. Grüngelbe Blitze schossen herüber, welche mir das Gefühl eine minderwertige Kreatur zu sein, vermittelten. Ohne es zu wollen, zuckte ich unter seinem Blick zusammen, so dass ich mich von ihm losriss. Beinahe verzweifelt versuchte ich, das Leuchten seiner Augen mit irgendetwas zu übertünchen, indem ich einen erheblichen Kontrast ausfindig zu machen versuchte. Dafür kam nur eine Person in Frage, Aleandro!

Seine Augen wurden von der dunklen Farbenwelt beherrscht. Bei einer Mischung aus dunkelbraun und schwarz verkörperte er in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von dem, was Justin ausstrahlte. Aleandro saß mir gegenüber am Feuer. Verstohlen musterte ich ihn. Seine Stimmung war auch nicht besser als die meine.

Rein zufällig verirrten sich seine Augen zu mir. Ein zerstreuter Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht, was schon bald zu einem verlegenem Lächeln wurde. Er räusperte sich und richtete sich auf, so dass er mich über das kleine Feuer hinweg besser in Augenschein nehmen konnte. „Hast du gut geschlafen?“

Scheu senkte ich den Blick in die Glut. „Wie sich herausgestellt hat, habe ich mein Zelt gefährlich nahe an deinem und Justins aufgestellt. Ich hoffe, es stört dich nicht.“

„Nein. Ganz und gar nicht. Im Gegensatz zu Justin fühle ich mich sogar geehrt.“ Aleandros Blick glitt überraschend streitsüchtig zu seinem Zeltnachbarn. Dieser machte sich nicht die Mühe dem herausforderndem Blick des Brasilianers zu begegnen.

„Legt heute jeder einen Ruhetag ein?“, fragte ich in die Runde. Mit einem unguten Gefühl versuchte ich, das Thema zu wechseln.

Joseph zuckte seine Schultern, dabei schwappte ein Schluck Tee auf seine Hose.

Der Professor blies in seine Tasse, ehe er behutsam einen Schluck nahm. „Wer Lust verspürt diesen Tag mit Arbeit zu vertrödeln, wird nicht von seinem Eifer abgehalten. Es wird aber auch niemand gescholten, wenn er den Tag verschläft.“

Wieso waren alle so miesepetrig drauf? Ich beschloss mich nicht weiter von dieser Stimmung beeinflussen zu lassen. Heute war mein erster offizieller Tag als Archäologin. „Dann ist es in Ordnung, wenn ich mir die Inschriften im Grab ansehe?“

„Sie sollten wissen, dass ich voraussetze, dass unter der Woche hart und unerlässlich gearbeitet wird. Ich dulde weder Faulheit noch Trägheit. Ich erwarte von jedem sein ganzes Ausmaß an Leistung.“ Ohne sein gewohntes Lächeln musterte er mich kurz, ehe er wieder in seine Tasse hineinstarrte. Sein vorher etwas harter Tonfall wurde ausdruckslos. „Daher sollten Sie gegebenenfalls in Erwägung ziehen, die Sonntage gelassen anzugehen.“

Unwillkürlich fasste ich seine Worte als Befehl auf. Dennoch sträubte sich alles in mir, auch nur eine Sekunde mit Zurückhaltung zu vertrödeln. „Ich habe bisher immer mein Bestes gegeben, Professor. Und da ich erst vorgestern in Ägypten eingetroffen bin und bis jetzt keine Stunde gearbeitet habe, glaube ich sehr wohl, dass ich in der Lage sein werde heute etwas Zeit mit den Hieroglyphen zu verbringen. Ich garantiere Ihnen, dass ich mich nicht übernehmen werde, dazu besteht keine Veranlassung.“ Aus irgendeinem Grunde begegnete ich Bachmanns Worten herausfordernd, so dass mein letzter Satz schärfer als beabsichtigt geklungen hatte.

Der Professor grunzte etwas ungehalten, sagte jedoch nichts weiter dazu. Langsam keimte in mir die Gewissheit, dass Bachmann ein strenger Arbeitgeber war. Ich hegte berechtigte Zweifel, ob es klug gewesen war hierher zu kommen. Aus meinen Augenwinkeln heraus bemerkte ich, wie sich Aleandro von einer Sekunde auf die andere versteifte. Verblüfft horchte ich auf. Ich schien etwas verpasst zu haben, denn der Brasilianer funkelte Justin mit unerklärlicher Aggression an. „Ich habe gehört, dass du gestern wie vom Erdboden verschwunden warst. Wo bist du gewesen?“

Der Journalist blickte mit halbgeschlossenen Augen ins Feuer. „Ich glaube nicht, dass ich dir eine Erklärung schulde, Aleandro. Noch bezahlst nicht du mein Honorar.“

„Ganz recht. Während mein Vater das Team finanziert, bist du von uns nur geduldet. Also? Wo warst du?“

Justin hob langsam seinen Kopf an. Die Glut des Feuers erlosch unbemerkt unter der kolossalen Wucht der Männer, als deren Feindschaft aufeinanderprallte. „Ich lege weder vor dir noch vor einem anderen Teammitglied Rechenschaft ab.“

„Aber vor mir werden Sie es tun!“ Der Professor fuhr sichtlich erregt dazwischen. „Adam sagte, dass Sie zum Kloster gegangen wären.“

Justin starrte Aleandro unbeirrt an und stellte damit klar, dass seine Kapitulation nicht ihm, sondern dem Professor galt. „Und?“

„Was um alles in der Welt haben Sie sich dabei gedacht? Die Mönche heißen unsere Ausgrabungen nicht gut. Sie ...“

„... ich habe die Schriftrolle gefunden, welche uns vor zwei Wochen gestohlen wurde.“

Ich konnte hören, wie Joseph einen unterdrückten Fluch ausstieß, während Adam erschrocken die Luft einsog. Der Professor versteifte sich und Aleandro schoss zornig hoch. Seine heftige Reaktion veranlasste Justin sich lauernd zu erheben.

Verblüfft über die angespannte Stimmung stand ich ebenfalls auf. „Gestohlen?“

Mein Wispern setzte mich Justins Schroffheit aus.

„Ich habe die Schriftrolle gesehen. Der Bischof hat daraufhin zugegeben, dass dieses Schriftstück nicht dem Kloster gehört.“

Aleandros Gesicht lief rot an. „Du bist bei ihnen eingebrochen!“

Der glühende Blick von Justin stand im seltsamen Kontrast zu seiner ruhigen beinahe belehrenden Stimme. Ich kannte ihn nicht lange. Aber meine Nackenhaare richteten sich langsam auf, so wusste ich doch, dass er gerade in diesem Moment alles in seiner Machtstehende tat, um nicht vor rasendem Zorn zu explodieren. Mühsam beherrscht fuhr er in seinen Erklärungen fort: „Vor etwa einer Woche suchte ein Mann das Kloster auf. Er hat die Mönche gebeten eine Kopie von der Schriftrolle anzufertigen. Er gab sich als Archäologe aus und sollte nächste Woche die Abschrift, sowie das Original abholen.“ Langsam wandte Justin seinen betont ausdruckslosen Blick von mir ab und fixierte den erzürnten Aleandro. Seine Stimme wurde eine Spur leiser. „Laut den Klosterbrüdern war dieser Mann weder ein Deutscher noch ein Ägypter.“

Der Brasilianer verengte seine Augen. Der mühselige Versuch sich zu beherrschen, ließ seine Halsschlagader anschwellen. „Du beschuldigst mich dieses Schriftstück gestohlen zu haben?“

„Im Gegensatz zu dir klage ich niemanden an!“ Justins Erwiderung hätte Steine schneiden können. Langsam begann seine beherrschte Fassade zu bröckeln, sein Zorn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Eine bedrohliche Stille legte sich über das Lager. Dicke Wolken brauten sich über uns zusammen und es war nur noch eine Frage von Sekunden, ehe der Sturm losbrechen würde.

Ich spürte, wie ein gefährliches Kribbeln in meine Fingerspitzen kroch. Langsam schlich es an den Armen nach oben. Wenn es die Schultern erreichen würde ... Meine Kehle schnürte sich zu. „Aleandro!“ Er hörte nicht. All seine Sinne waren auf den Journalisten gerichtet. Mit klopfendem Herzen näherte ich mich dem Brasilianer. Keine Ahnung, woher ich die Ruhe in meiner Stimme nahm, wo doch die Angst immer heftiger an der Oberfläche kratzte. „Niemand beschuldigt dich. Wie schon der Professor sagte, es gibt keinen Verräter in diesem Team.“ Behutsam legte ich ihm meine kribbelnde Hand auf den Arm. Mit einer beängstigenden Leichtigkeit schleuderte er mich zur Seite, wie es eine winzige Bewegung mit einer lästigen Fliege getan hätte. Joseph sprang auf und bewahrte mich in letzter Sekunde vor der glühenden Holzkohle des Lagerfeuers, in die ich zu straucheln drohte. Aleandro und Justin taten einen Schritt aufeinander zu. „So tut doch etwas!“

Mein panischer Schrei riss Adam aus seiner Starre. Er sprang auf und stellte sich den beiden Streitenden in den Weg, indem er Justin an den Schultern packte. „Justin! Nagib wurde entführt!“, rief er und versuchte, mit dieser Neuigkeit dessen Aufmerksamkeit von seinem Gegenüber abzulenken. Es dauerte eine Weile bis der Sinn der Worte den Journalisten erreichte. Verwirrung trat in sein Gesicht, dann wurde es von blankem Entsetzen abgelöst. Adam versuchte, Justins Blick einzufangen. „Die Polizei wird uns noch heute einen Besuch abstatten. Wenn wir die Ausgrabung nicht gefährden wollen, müssen wir einen kompetenten und friedlichen Eindruck erwecken.“

Justin starrte für ein paar Minuten schweigsam auf den etwas zu kleingeratenen Polen. Schließlich wanderte sein Blick zu mir. Gebannt von der geladenen Spannung hing ich noch immer in Josephs Armen. „Geht es dir gut?“

Ich blinzelte aus dem Konzept gebracht. Eben hatten seine Augen noch vor Zorn geglüht, nun lag ehrliche Besorgnis darin. Anhand der rasanten Veränderung starrte ich ihn einfach nur an. Erst als ich langsam nickte, drehte er sich um und verschwand.

Mit eingezogenem Kopf trat ich von Joseph zurück und lächelte ihn peinlich berührt an. Dieser wirkte ebenso verlegen, wie ich mich fühlte. Schließlich befreite er sich aus der blamablen Situation, indem er Justins Beispiel folgte. Nach wenigen Minuten machte sich auch Adam aus dem Staub.

Verunsichert schielte ich zu Aleandro. Dieser stierte noch immer auf die Stelle, wo zuvor sein Feind gestanden hatte, doch seine Wut war gänzlich von ihm gewichen. Seine Körperhaltung, war in sich zusammengefallen, während seine Gesichtszüge unendlich müde wirkten.

Unvermittelt wurde er vom Professor am Oberarm gepackt. „Justin wusste nichts von Nagibs Entführung. Besser du behältst deine Anschuldigungen für dich. Du bist ein netter Kerl und ich würde es bedauern, dich zurückschicken zu müssen.“

Ich stockte. Hatte der Professor den Brasilianer soeben geduzt? Seit ich den Archäologen kennen gelernt hatte, hatte er noch nie jemanden so persönlich angesprochen. Aleandro zuckte unter den scharfen Worten seines Teamchefs zusammen.

Schlagartig tat mir der Gescholtene leid, so dass ich ihn zu verteidigen versuchte. „Justin hat ihn absichtlich provoziert, indem er ihn des Diebstahls beschuldigte!“

Der strafende Blick des Professors schweifte zu mir. „Justin hat Gleiches mit Gleichem vergolten. Aleandro hat mit den Beschuldigungen angefangen.“ Er atmete einmal tief durch und fixierte wieder sein ungestümes Sorgenkind. „Damit ist nun endgültig Schluss. Ich dulde nicht, dass sich mein Team in zwei Hälften spaltet. Wenn so etwas noch einmal vorkommt, wird jemand rausfliegen! Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Aleandro?“ Der junge Brasilianer senkte seinen Blick. Der Professor faste es als ein stummes Zugeständnis auf. Scheinbar widerwillig ließ er ihn los. „Ich werde mit Justin reden, gleichzeitig verlange ich von Ihnen, dass Sie künftig den Mund halten. Die Polizei kann jeden Moment hier eintreffen. Ich werde bezüglich der Diebstähle Anzeige erstatten und ich werde Justins Behauptung in Hinblick der Schriftrolle nachgehen. Bis dahin verhalten Sie sich ruhig.“

Da war sie wieder, die distanzierte Anrede. Ich beschloss, dem nicht so viel Bedeutung beizumessen, da auch der Professor sich in einer prekären Lage befand. Immerhin schienen zwei seiner Leute auf unversöhnlichem Kriegsfuß zu stehen. Hinzu kamen die unerklärlichen Vorfälle, welche nach Klärung verlangten. Aleandro nickte geknickt. „Dann ist es hiermit beendet. Genießen Sie den Sonntag, mein Junge. Morgen haben wir viel zu tun.“ Der Professor signalisierte mit einem kurzen Wink, dass dieses Thema für ihn erledigt war und ließ uns stehen.

Mitleidig versuchte ich, Aleandro zu trösten, aber er schüttelte abwehrend seinen Kopf und verschwand.

Mit einer seltsamen Leere im Bauch verschanzte ich mich über Mittag in der Vorkammer der Grabanlage und verdrängte den Brasilianer aus meinem Gedächtnis, indem ich mich der Herrlichkeit der Inschriften widmete. Bestürzt musste ich feststellen, dass ich ohne Bücher nicht weit kommen würde. In meiner Studienzeit hatte ich mich zwar mit der altägyptischen Schreibweise befasst, aber die einzigen Hieroglyphen, die sich unwiderruflich in meinem Kopf eingenistet hatten, betrafen Hatschepsuts Schriftweisen aus ihren wenigen persönlich abgefassten Werken und ihren erbauten Tempelanlagen.

Ich glaubte des Öfteren, ihre Handschrift in den Mauerwerken erkennen zu können, aber absolut sicher sein konnte ich mir nicht. Was ich brauchte, war entsprechende Lektüre, ansonsten würde ich nicht weiter vorankommen. Eine Mischung aus Verärgerung und Angst, dass die Karriere als Archäologin schneller enden konnte als sie angefangen hatte, ließ meine Hände beben. Ungewohnt schroff stopfte ich den Block in eine Tasche und warf die Stifte oben auf. Danach widmete ich mich, am ganzen Körper zitternd, der Suche nach meinem Pinsel, mit dem ich die Meißelarbeiten abgestaubt hatte und den ich irgendwo in der Kammer deponiert haben musste. Mit gerunzelter Stirn und dem Drang das Lager endlich nach passender Lektüre zu durchforsten, leuchtete ich den Boden an der Wand entlang ab und zuckte erschrocken zusammen, als der Lichtkegel ein Paar Füße erfasste. Ein erstickter Laut drang aus meiner Kehle.

Justin nahm mir die Taschenlampe ab, schwenkte den Lichtstrahl in die Mitte der Kammer und offenbarte mir den Verbleib meines Pinsels.

Hastig hob ich ihn vom Boden auf. „Woher wussten Sie, dass der Pinsel dort liegt?“ Unwirsch fuhr ich ihn an, was mir beinahe im selben Augenblick leid tat.

„Du bist zweimal im Kreis gelaufen, dabei hast du mit der Taschenlampe den Boden entlang der Mauern abgekämmt. Ich kam zu dem Entschluss, dass du etwas suchen würdest und dass dieses Etwas außerhalb des abgesuchten Terrains liegen müsste - also in der Mitte.“

Verdattert starrte ich auf die Fundstelle. Ich wäre noch fünfmal im Kreis gerannt, ehe ich den Entschluss gefasst hätte, ohne meinen Pinsel ins Lager zurückzukehren. Daher bemühte ich mich um ein ehrliches Dankeschön.

Justin nahm die gemurmelte Dankesbekundung nicht weiter zur Kenntnis. Sein Blick suchte ausdruckslos den meinen. Sofort ertappte ich mich dabei, wie ich von einem Bein auf das andere trat, ganz bemüht seinem anziehenden Blick auszuweichen. Irgendwann konnte ich die nervenzerreißende Stille nicht mehr ertragen. Ruppig fuhr ich ihn an. „Was ist?“

„Was hättest du getan, wenn Adam nicht dazwischen gegangen wäre?“

„Sie meinen, Sie nicht zur Vernunft gebracht hätte.“

„Nein, dazwischen gegangen wäre.“

„Keine Ahnung, vielleicht hätte ich mich in Aleandros Arme geworfen. Warum?“

„Weil ich gerade ein Bild von dir zu zeichnen versuche. Leider kann ich mich nicht entscheiden, welche Stärke ich für deine Konturen auswählen soll. Einen halben Millimeter, einen Millimeter? Drei?“

„Nun, ich würde sagen, das ist Ihr Problem. Ich kenne mich mit Zeichnungen nicht aus.“

„Hat dich der Professor nicht eigens wegen dieser Begabung angeheuert?“ Ich spürte das gefährliche Zupfen des Zornes unter meiner Haut. Tapfer lächelnd unterdrückte ich den Impuls Justin zur Seite zu stoßen und aus der Grabanlage zu flüchten. „Angst?“

„Vor wem? Vor Ihnen?“

„Immerhin beschuldigt mich Aleandro, Nagib entführt zu haben.“

„Ich kann nur beten, dass der Grund für die Streitigkeiten in diesem Lager nicht mein Hiersein darstellt. Sollte sich zeigen, dass dem so ist, dann werde ich den nächsten Flieger nehmen. In meinem Leben herrscht bereits genügend Aufruhr. Ich werde nicht zulassen, dass die Probleme Anderer zu den meinigen werden.“

„Wer spricht jetzt aus dir? Das Mädchen, welches von seiner Mutter zum Selbstmordversuch getrieben wurde oder die Frau, deren Seifenblase mit ihrer Traumhochzeit geplatzt ist?“

Geschockt starrte ich Justin an. Die Hitze in meinem Körper wurde durch einen Eissturm vertrieben. Frierend schlang ich die Arme um meine Körpermitte. „Woher wissen Sie davon?“

„Ich bin Journalist. Außerdem habe ich dich bereits in einem meiner zahllosen Artikel erwähnt. Es ist nur natürlich, dass ich jene Genannten durchleuchte, vor allem dann, wenn mir mit dieser Person gedroht wird.“

„Ich bin keine Bedrohung, weder für Sie noch für sonst jemanden. Ich bin hier, weil ich die Hieroglyphen entziffern soll.“

„Und auf Geheiß des Professors!“ Es lag so viel beißende Verachtung in seiner Stimme, dass der Damm meiner Tränen zu bröckeln begann.

Verstohlen stahl sich eine einzelne Träne über die Wange. Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass sie leise knirschten. „Ich hatte keine Ahnung, dass der Professor Sie mit mir in Schach zu halten versucht. Ich verlange nicht, dass Sie mir das glauben. Sie werden es ohnehin nicht tun. Aber ich fordere, dass Sie mich in Ruhe lassen.“

Justin legte seinen Kopf schief. War das Belustigung? Allerdings lag sein Gesicht im Schattentanz der Kammer, so dass ich mich auch geirrt haben konnte. „Leider bleibt mir keine andere Wahl als diesen Wunsch zu ignorieren. Der Professor bat mich, all deine Erkenntnisse und erklärenden Zeichnungen abzulichten. Ich denke nicht daran seinem Befehl Missachtung entgegenzubringen und dadurch zu riskieren, dass er mir einen Strick daraus dreht, wenn du deine Nervenbahnen nicht mehr unter Kontrolle halten kannst.“

Mein Atem stockte. Hatte er eben auf die Krankheit angespielt? Wusste er davon? Ich versuchte, in seinem Gesicht eine Antwort darauf zu finden. Bei diesem Versuch kam ich ihm gefährlich nahe. Außer Kühle konnte ich darin nichts entdecken. „Sie demonstrieren wohl gerne Ihre Überlegenheit. Doch es gehört mehr dazu, als nur hinterhältig herumzuschnüffeln und sich gewählt auszudrücken. Sie mögen die Archäologie verachten, aber es gibt weitaus verachtungswürdigere Berufe. Soll ich Ihnen ein Beispiel nennen? Journalist zum Beispiel.“

Ehe ich mich versah, hatte Justin mich an der Bluse gepackt und zornig zu sich herangezogen. Sein Blick huschte über mein Gesicht. Schlagartig packte mich die Angst. „Ich habe nicht vor Ihnen in den Rücken zu fallen, Justin, das müssen Sie mir glauben! Ich bin hier, um meine Arbeit zu machen, so wie Sie.“ Ich versuchte, mich gegen seinen Griff zu wehren. Als dies nicht gelang, schlug ich ihm auf die Brust, was ebenso wirkungslos blieb.

Stattdessen knurrte er mich an. „Du kannst Gift darauf nehmen, dass ich meine Arbeit erledigen werde. Und sei dir gewiss, dass ich es auf meine Art tun werde.“

Alarmiert kniff ich die Augen zusammen. „Soll das eine Drohung sein?“

„Ja!“

Nun war es an mir ihn knurrend anzufahren. „Lassen Sie mich augenblicklich los!“

„Warum?“

„Sie tun mir weh!“

Unglaube blitzte in seinen Augen auf, was von einem spöttischem Lachen abgelöst wurde.

„Körperlich oder seelisch?“

„Verdammt, was soll das nun wieder? Warum tun Sie das? Ich ...“

„... ich weiß von deinem Krankheitsbild, Franziska.“

Also doch! Ich hatte es gewusst. Die Wut kehrte schlagartig zurück. Wie kam es, dass er es immer wieder schaffte, so viel Gereiztheit in mir auszulösen? Lag es daran, dass er anhand meiner Vergangenheit kein Blatt vor den Mund nahm? Er war der erste Mensch, der mich damit schonungslos konfrontierte. Bisher hatten die Mitmenschen es stets überspielt oder ihr Mitleid bekundet. Einerseits war ich froh darüber gewesen, anderseits hatte ich deren Bedauern gehasst und mir gewünscht, dass man mich normal behandeln würde. Justin tat das. Er behandelte mich ganz in Manier seines Wesens. Was aber auch wieder nicht richtig zu sein schien, da es auf unerklärliche Weise meine Wut anfachte.

Justins Griff lockerte sich etwas. „Ich versuche zu ergründen, inwieweit du den Aufregungen standhalten wirst.“

Ich hob meinen Blick und sah ihm unumwunden in die Augen. „Sie sind der Einzige hier, der mich aufregt. Und jetzt lassen Sie mich gefälligst los, oder ...“

„Oder was? Rennst du dann zum Professor oder startest einen weiteren Selbstmordversuch?“

Ein gefährliches Kribbeln breitete sich in meinen Fingern aus und bahnte sich langsam einen Weg in die Oberarme. Panisch versuchte ich, mich zu befreien.

Wenn sich das Kribbeln erst einmal bis in die Schultern ausgebreitet haben würde, würde es meinen Verstand so lange in den Wahn treiben, bis es für mein Körper nur noch einen Ausweg gäbe – seine Glieder in die Bewegungslosigkeit zu bannen. Wie Müll würde ich zu Boden sinken, unfähig meine Glieder zu bewegen. Wie lange die Lähmung andauern würde, wäre nicht absehbar. Das letzte Mal hatte ich den grausamen Fängen erst entkommen können, als ich mich - nach endlosen Tränen, Selbstmitleid, Wut und Hass – dem Schicksal demütig unterworfen hatte.

Unbeschreibliche Angst erfüllte mein Bewusstsein und jagte ein kaum merkliches Schaudern über meinen Körper. Wie von Sinnen rammte ich Justin ein Knie zwischen die Beine. Die Taschenlampe krachte unter dessen schmerzvollem Stöhnen zu Boden und zersplitterte. Finsternis! Die Hysterie packte mich mit aller Gewalt. Wie von der Tarantel gestochen raste ich aus der Kammer hinaus, in die Richtung, in welcher sich die Treppe laut meiner Erinnerung befinden musste. Wie durch ein Wunder fand ich diese auf Anhieb und stürmte mit ausgebreiteten Armen die Stufen hinab – immer der Finsternis nach. Alles, was ich wollte war hier raus – raus aus dem Grab, raus aus dem Berg und raus aus der sich anbahnenden Lähmung, welche mit eisigen Klauen an mir zupfte.

Als die Treppe von einer Stufe zur anderen wieder anstieg, stolperte ich unversehens. Unsanft knallte ich auf das kalte Gestein. Ein scharfer Schmerz schoss durch mein Handgelenk und trieb mir ein Schluchzen über die Lippen. Hastig rappelte ich mich wieder auf. Der Sturz hatte die Hysterie nicht bremsen können. Im Gegenteil. Er schürte meine Panik weiter an. Wie toll stolperte ich mehr voran, als dass ich rannte. Stunden schienen zu vergehen, ehe die Finsternis gemächlich an Kraft verlor. Schemenhaft gewannen die Stufen und Wände an Konturen und irgendwann erkannte ich Tageslicht, welches durch den Grabeingang hereinflutete. Wie eine Motte flog ich der Erdoberfläche entgegen. Dort angekommen, taumelte ich geblendet durch die grelle Sonne zu Boden.

Erschrockene Rufe wurden laut und schon bald fühlte ich mich von mehreren Händen gepackt. In letzter Minute erinnerte ich mich daran, wo ich war. Ich schüttelte die helfenden Hände ab, versicherte, dass alles gut sei, und bahnte mir mühsam beherrscht einen Weg durch die besorgten Kollegen hindurch. Kaum war ich ihren fassungslosen Blicken entronnen, rannte ich in mein Zelt.

Ungeachtet der aufgestauten Hitze rollte ich mich in der hintersten Ecke zusammen und wartete. Eine Ewigkeit wie es schien! Das Kribbeln in den Armen wurde schwächer, die aufsteigende Lähmung wich langsam zurück. Zwanghaft versuchte ich, die geröteten Augen zu schließen. Nur widerwillig beugten sie sich meinem Willen. Heiße Dankbarkeit flutete in mir hoch. Mein Körper hatte mich verschont. Unsägliche Müdigkeit breitete sich in mir aus. Doch ich gab dem Drängen des Schlafes erst nach, nachdem ich mir erfolgreich eingeredet hatte, dass das Schlimmste überstanden sei. Es konnte nicht mehr haarsträubender werden, davon war ich überzeugt. Doch wie sagt man so schön? Irren ist menschlich.

Kapitel 8

Kaum hatte ich mich am nächsten Morgen überwunden, den Schutz meines Zeltes zu verlassen, da fühlte sich das Desaster von mir magisch angezogen.

Zunächst äußerte es sich darin, dass Aleandro, kaum dass er mich erspäht hatte, die Flucht ergriff und Joseph mir bitterböse Blicke zuwarf, sobald ich seine Wege kreuzte. Warum der Brasilianer meine Nähe mied, konnte ich mir nicht erklären. Des Kolumbianers Unwillen schon eher. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich für zusätzlichen Ärger sorgte. Trotz seiner anfänglichen Freundlichkeit mir gegenüber, schien er von Frauen allgemein nicht viel zu halten, was er mehrmals murmelnd zum Ausdruck brachte. In seinen Augen hatte eine Frau auf einer Ausgrabungsstätte nichts verloren. Hätte ich mich im Mittelalter auf hoher See unter Seeleuten befunden, hätte ich es ja noch nachvollziehen können. Aber in der heutigen Zeit? Schimpfend stapfte ich durch das Lager und provozierte aus irgendeinem Grunde Rashid das Kamel, welches mich prompt mit Wasser bespuckte. Der Professor versuchte, meine Laune aufzubessern, doch als er erfuhr, dass ich ohne Fachlektüre nicht weiterkommen würde, entfernte er sich vor sich hinschimpfend. Wortfetzen wie Frauenzimmer… woher soll ich… Zeitschinden und was habe ich denn getan, begleiteten seinen mürrischen Abgang. Zu guter Letzt brachen Justin und ich in einen heftigen Streit aus. Angefangen hatte es damit, dass ich mir seine Aufnahmen aus der Grabkammer hatte ansehen wollen. Ich hatte mich erdreistet, Anmerkungen zu Licht und Einstellungen der Kamera zu machen. Und so gab ein Wort das andere, bis hin zu Themen, die nichts mehr mit Archäologie zu tun hatten. Erbost über meine verbockte Sturheit, griff er nach allen möglichen Mitteln, um mich vor den Kopf zu stoßen. Mit verschnupftem Stolz kämpfte ich verbal um jeden Zoll Boden, bis er mir tatsächlich eine Antwort schuldig blieb. Allerdings dauerte mein Triumph keine zwei Minuten an und er hatte den Sieg zurückerobert. Damit herrschte endgültig Krieg zwischen uns, zumal wir von einem wildgestikulierendem Araber unterbrochen wurden. Dabei warf er fremde panisch klingende Worte um sich, als wolle er einen schrecklichen Fluch über die gesamte Ausgrabungsstätte verhängen. In einem Kauderwelsch aus Englisch und Deutsch gefangen, versuchte ich ihm begreiflich zu machen, dass ich ihn nicht verstehen konnte, bis ich kurz davorstand, in Verzweiflungstränen auszubrechen. Justins überhebliches Eingreifen versetzte mich in tiefe Verbitterung.

Während der Araber nun sein vernichtendes Bombardement an Worteinschlägen auf den Journalisten abfeuerte, entpuppte sich dieser als ein ebenbürtiger Gegner und schoss ab und an eine Salve protestierender Akzente dazwischen.

Völlig aus der Luft gegriffen packte Justin meinen Arm und zerrte mich ohne ein erklärendes Wort auf die Vordersitze eines Jeeps. Mein ausdrucksstarker Protest verstummte erst, als sich der fremde Araber neben mich schob. Dem Entsetzen völlig ausgeliefert, bemerkte ich nicht, wie ich immer dichter an Justin heranrückte, während dieser den Jeep aufheulen lies und mit durchdrehenden Rädern lospreschte.

Schließlich kam es fast so weit, dass ich Gefahr lief, ihn vom Fahrersitz zu drängen. Er legte mir anzüglich seine Hand auf meinen Schenkel und forderte mich grinsend auf, auf seinem Schoß Platz zu nehmen. Augenblicklich kam ich zur Besinnung. Mit spitzen Fingern schob ich seine Hand fort, rückte von ihm ab und lehnte mich trotzig zurück. In angriffslustiger Haltung verharrte ich stillschweigend in meinen mordlustigen Gedanken. Der rote Schleier über mir verflüchtigte sich erst, als Justin unnötig stark auf die Bremse trat. In letzter Sekunde konnte ich die Hände ausstrecken und verhindern, dass ich gegen die Windschutzscheibe knallte. Ein scharfer Schmerz in meinem eh schon gebeutelten Handgelenk, erinnerte mich unnötiger Weise an die gestrige Flucht aus der Grabanlage. Mit einem bitterbösen Blick starrte ich meinen unerwünschten Chauffeur an. Lapidar stellte dieser fest: „Wir sind da!“

„So was aber auch!“ Meine überaus geschärfte Stimme hätte tödlich sein müssen, doch Justin machte keinerlei Anstalten, tot umzufallen.

Stattdessen sprang er geschmeidig aus dem Wagen. Fluchend schob ich mich über den Fahrersitz zur Türe hinaus, geradewegs in Justins Arme. Überrumpelt starrte ich ihn an.

„Das ist ein Kloster, Franziska. Fluchen kannst du im Lager.“

Augenblicklich vergas ich alles um mich herum und ließ meinen Blick schweifen. Hohe Steinmauern türmten sich zu einer heroischen Burg aus längst vergangener Zeit auf, als gälte es das in sich bergende griechisch-orthodoxe Kloster, welches der Herrschaft des sunnitischen Islams trotzte, für immer zu schützen. Inmitten der sandfarbenen Steine ragten Zypressen- und Aprikosenbäume empor und schufen in Eintracht mit Kirche, Kapelle und verwinkelten Häusern, verworrene Gassen. Es war, als könnte ich die Macht der Allgegenwärtigkeit spüren. Sie war in jedem Winkel zu Hause, sogar in Justins Armen.

„Der Mönch wartet.“

Ich zuckte zusammen. Aus dem Ort der Herrlichkeit wurde ein einfaches, 1.441 Jahre altes Gemäuer. Viel zu spät fragte ich mich, was wir hier eigentlich zu tun hatten. Kälte schoss durch meinen Körper, als mir bewusst wurde, dass ich mich von Justin hatte geradewegs mitschleifen lassen. Noch kälter wurde mir, als mir klar wurde, dass niemand im Lager wusste, wo ich war. Was wenn Justin mich entführen wollte? Oder dieser fremde Araber? Was wenn sie gefährlich waren?

Ich konnte fühlen, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. Ein leises amüsiertes Lachen durchbrach meine um sich schlagenden Gedanken. Justin schien unter die Wahrsager gegangen zu sein. „Ernsthaft? Glaubst du jetzt wirklich, ich wäre ein Entführer? Komm schon, Franziska. Ich bin vieles, aber ein Kidnapper?“

Ertappt tat ich so, als hätte ich daran keinen Gedanken verschwendet, sondern flüchtete mich in die uns vertraute Aggression. „Du lässt einfach nicht locker, oder?“

„Ich habe keine Ahnung, worauf du hinaus möchtest, Franziska.“

Ich schubste Justin von mir. Dieser blickte mich fragend an. Der Araber entkam meiner ausladenden ungeduldigen Handgeste nur, indem er hastig einen Schritt zurückwich. „Ich meine alles. Seit ich dich getroffen habe, verdirbst du mir unablässig den Ägyptenaufenthalt!“

„Verderben? Darf ich höflichst daran erinnern, dass du ohne mich gar nicht hier wärst? Schließlich war es mein Artikel, der den Professor auf dich aufmerksam werden ließ.“ Wütend schnappte ich nach Luft, doch Justin kam mir zuvor. „Du kannst so viel schimpfen, wie du willst, aber ich vermute, dass du mich immer mehr leiden kannst.“ Meine Kinnlade krachte herunter. Justin grinste schulterzuckend. „Immerhin duzt du mich jetzt. Wenn das kein Beweis ist?“

Meine Erwiderung blieb mir in der Kehle stecken. Wann hatte ich angefangen ihn zu duzen? Verärgert über mich selbst, verschränkte ich meine Arme. „Bilde dir ja nichts darauf ein. Mit einem Du lässt es sich einfacher streiten!“

„Wie Sie belieben.“

Aus einem Impuls heraus, stampfte ich wie ein kleines Mädchen mit dem Fuß auf. Ich holte zu einer scharfen Erwiderung aus, als mir plötzlich eine fremde akzentreiche Stimme ins Wort fiel.

„Da sind Sie ja endlich. Bruder Claudius hat Sie angekündigt.“

Aus dem Konzept gebracht blickte ich mich um.

Ein alter ehrwürdiger Mann, gekleidet in eine schwarze Robe und mit passendem Filzhut auf dem Haupt, trippelte eilig die Treppe herab, während sein wehendes Gewand seine schmächtige Figur umspielte. „Ich bin Bruder Vinzenz. Ich habe die Order, Sie in den Krankenflügel zu geleiten. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

„Krankenflügel? Justin!“

Justin legte mir beschwichtigend eine Hand auf den Arm und zerrte mich hinter dem Mönch her. Unser Araber war verschwunden, so schloss ich daraus, dass er Bruder Claudius gewesen war. „Was soll das bedeuten?“ Warum ich nur ein Flüstern zustande brachte, wusste ich nicht. Aber es schien mir angebracht.

Justin passte seine Lautstärke der meinen an. „Sie haben heute einen schwerverletzten Mann vor ihren Toren gefunden. Ich glaube, dass dieser Mann Nagib ist.“

„Nagib? Wie kommst du darauf? Und warum hat man dir und nicht dem Professor Bescheid gegeben?“ Die Überraschung ließ meine Stimme anheben. „Wir sollten zurückfahren, um ihn zu informieren.“

„Nicht so laut.“, zischte er. Er hielt kurz inne und packte mich an den Schultern. „Du weißt, dass ich kürzlich in eben diesem Kloster war.“ Ich nickte benommen. Schließlich hatte dies für Ärger im Team gesorgt. „Die Mönche sind bei weitem aufgeschlossener, als der Professor uns glauben machen möchte. Als Adam mir erzählte, dass Nagib entführt wurde, bat ich die Mönche, sich umzuhören. Auch wenn es etwas befremdlich klingt, so verfügen sie über ein gutes Netzwerk. Sie haben einen Mann mit vielen Verletzungen aufgegabelt. Und dieser hat meinen Namen gemurmelt. Können wir jetzt also da rein gehen, damit ich die Vermutung überprüfen kann?“

Ohne meine Antwort abzuwarten, wirbelte er mich herum und schob mich hastig dem Mönch hinterher, welcher nicht gewartet hatte. Kaum dass wir aufgeschlossen hatten, blieb dieser unvermutet stehen, so dass ich gegen ihn gekracht wäre, hätte Justin mich nicht am Arm zurückgerissen.

„Er ist in einem bedauernswertem Zustand. Ich fürchte, dass er diese Nacht nicht überleben wird.“ Der Ordensträger öffnete eine Türe und führte uns in ein kühles dämmriges Zimmer.

Ein Geruch aus Blut und Erbrochenem schlug mir entgegen. Schlagartig fühlte ich mich, als wäre ich in einem falschem Film. Mein Magen drehte sich abrupt um. Würgend schlug ich mir die Hand vor Mund und Nase, um ein Malheur zu verhindern. Justins Blick schoss herüber und gebot mir Selbstbeherrschung. Bruder Vinzenz schob mich vor das Krankenbett.

Ein dunkelhäutiger Mann mit zerschlagenem und leicht bläulich verfärbtem Gesicht lag inmitten der gestärkten Leinen. Seine Lippen waren aufgeplatzt, die Nase gebrochen und seine blutergussumringten Augen zugeschwollen. Ein dicker Verband schlang sich um seine Stirn, welcher von durchgesickertem Blut fleckig geworden war.

Mir entschlüpfte ein entsetztes Keuchen. Ich versuchte, meinen Blick abzuwenden, doch er wurde wie magisch angezogen, als Justin die Bettdecke zurückschlug. Mein Magen zog sich augenblicklich zusammen. Die gesamte Brust des Mannes war mit tiefen Schnittwunden übersät. Eine hässliche blaurote Schwellung prangte am Hals, eine Zweite schillerte am linken Oberarm und eine Dritte, die sich beinahe schwarz verfärbt hatte, quoll aus einer provisorischen Armschiene hervor. Justin ging zum Fußende und lüftete auch dort die Decke. Am Fußknöchel war eine blauschwarze Wölbung, die nur schwer zu erkennen war, da der Knöchel rotblau angelaufen war und seltsam verrenkt da lag.

„Ist dies der Mann, den Ihr sucht?“ Bruder Vinzenz Stimme hatte ruhig geklungen. Justin nickte. Die Gefühle in mir tobten. Um nicht laut zu schreien, biss ich mir auf die Lippen. Immer und immer wieder schüttelte ich meinen Kopf. Der Mönch legte mir tröstend eine Hand auf die Schulter. „Sind Sie sicher?“ Der Ordensbruder schien Sichergehen zu wollen.

Justin blickte auf. „Nagib wurde von vier Schlangen gebissen. Am Hals, in den Oberarm, in den Handrücken und in den Fuß. Er ist es.“

Unwillkürlich bekreuzigte ich mich. Ich war nie ein sehr religiöser Mensch gewesen, doch diese Geste entschlüpfte mir, ohne dass ich dessen wirklich gewahr wurde.

„Ich werde unseren ehrwürdigen Ordinarius darüber in Kenntnis setzen.“

Am liebsten hätte ich den Mönch angeschrien, mich nicht allein zu lassen, aber mein Protest glich kaum einem Wimmern.

„Geht es dir gut?“ Justin klang ehrlich besorgt.

Hysterisch hob sich meine Stimme um eine Oktave. „Nein! Nein, mir geht es ganz und gar nicht gut!“

„Wenn du möchtest, dann kannst du draußen beim Wagen warten, bis ich die Fotos gemacht habe.“

„Fotos? Welche Fotos!“ Augenblicklich war die Panik dahin.

Justin zauberte aus seinem Windstopper eine flache Digitalkamera hervor. Meine Kinnlade klappte herunter. Im ersten Moment war ich tatsächlich sprachlos. Stumm sah ich zu, wie er Nagibs Gesicht fotografierte.

„Sag mal, was soll denn das?“

Ungerührt visierte er den Schlangenbiss am Hals an. Augenblicklich stand ich neben ihm und entriss ihm die Kamera. Fluchend widmete er mir seine volle Aufmerksamkeit. „Gib mir den Fotoapparat zurück!“

Mit zitternden Fingern versteckte ich die Kamera hinter meinem Rücken. „Weißt du, was dein Problem ist? Du hast vor nichts und niemandem Respekt!

„Ich werde die Bilder nicht veröffentlichen, darauf hast du mein Wort.“

„Wofür brauchst du sie dann?“

„Für meinen Artikel. Ich werde Nagib erwähnen und seinen Zustand. Ich benötige die Bilder, um nicht zu vergessen.“

„Wie kannst du auch nur eine Sekunde daran glauben, diese Bilder vergessen zu können?“

Justin warf aufgebracht die Hände in die Luft. Hastig wich ich einen Schritt zurück. „Ich wurde trainiert, Dinge zu sehen, die du nicht einmal ansatzweise wahrnehmen würdest, daher ist es wichtig, dass ich nicht zu viel nebensächliches Material im Kopf abspeichere.“

„Nebensächlich?“ Meine Stimme drohte sich zu überschlagen. „Wie kannst du das hier als nebensächlich bezeichnen?“

Justin widerstand sichtlich dem Drang sich ungeduldig durchs Haar zu fahren. „Franziska! Das, was ich fotografiere, brauche ich mir nicht mehr zu merken, dadurch bleibt mein Kopf frei für kleine Details, die sich nicht auf Bildern festhalten lassen. Ich knipse alles, was sich ablichten lässt, datiere, versiegle und hinterlege es, damit diese Arbeiten im Falle meines Todes fortgesetzt werden können.“

„Im Falle deines Todes?“ Panik schlich sich in meine Stimme, als ich bemerkte, dass Justin sich bei seinen Worten am liebsten umgebracht hätte.

„Franziska! Ich bin kein Zeitungsfritze einer Klatschzeitung, ich bin kein Reiseberichterstatter, noch viel weniger bin ich ein Schreiberling, der skandalöse Storys verkauft. Mein Gebiet ist die Recherche auf Abruf. Ein Verleger kontaktiert mich, gibt ein Thema durch, bezahlt im Voraus und ich recherchiere. Damit der Auftraggeber kein Risiko eingeht, bin ich verpflichtet, das Material meiner Recherchen so zu sichern, dass ihn diese Nachforschungen im Falle meines Todes erreichen können. So einfach ist das. Und jetzt gib mir die Kamera zurück.“

Seine Hand schoss an mir vorbei, so dass ich meinen Arm zurückriss, damit er den Fotoapparat nicht in die Finger bekam. „Im Falle deines Todes?“

„Autounfall, Schlaganfall, Flugzeugabsturz, Schlangenbisse ... Franziska, die Liste ist lang!“

„Welcher Auftraggeber verlangt Bilder von einem sterbendem Mann?“

„Gefoltertem Mann! Franziska, dieser Mann wurde entführt und anschließend torquiert.“

„Was redest du denn da?“

Justin drehte sich zu Nagib um und zog ihm mit einem Ruck das Laken fort. An den Füßen prangten faustgroße Brandwunden. Sofort packte mich heftige Übelkeit. Behutsam bog Justin meinen Arm nach vorne und entnahm den willenlosen Fingern die Kamera. Alles Leben schien aus mir gewichen zu sein. Ausdruckslos starrte ich in das Gesicht des Leidenden. Plötzlich verfärbte es sich weiß, während ein Zucken durch den Körper lief. Ich schrie auf. Justin warf sich auf Nagibs Brustkorb. Keine Sekunde zu früh, denn der halbtote Mann begann wild um sich zu schlagen und unkontrolliert zu beben. Mein Begleiter schrie mich an, die Füße festzuhalten, doch ich war zu keiner Regung fähig. Mit stillem Entsetzen starrte ich in das kalkweiße Gesicht. Von einer Sekunde auf die andere wurde es puterrot. Justin rollte sich herunter, packte den plötzlich starr gewordenen Körper und warf ihn zu Boden. Ein rasselndes Stöhnen drang aus Nagibs Mund. Der Journalist drehte ihn auf den Bauch und hob den Kopf leicht an. In diesem Moment erbrach sich der Ägypter. Dünnes Blut ergoss sich auf den Boden. Der starre Körper fiel lasch in sich zusammen, verkrampfte sich von einer Sekunde auf die andere erneut und schlug mit dem Kopf hart auf dem Boden auf. Sein Helfer begann lautstark zu fluchen und wuchtete den Körper des Ägypters auf den Rücken. Der Kopf rollte nach. Das Gesicht war tiefblau. Nagib erstickte! Seine Todesqual fand erst ein Ende, als sein Körper in sich zusammenfiel. Justin saß gebeugt über dem Leichnam. Sein Atem ging schwer, während seine Gesichtszüge verkrampft zuckten. Zitternd wie Espenlaub, wich ich zurück. In diesem Moment betrat Bruder Vinzenz das Zimmer. Er stieß einen lauten Ruf aus und machte auf dem Absatz kehrt. Als er in Begleitung mehrerer Mönche wieder auftauchte, erhob sich Justin. Seine Bewegungen wirkten fahrig und müde. Seine Stimme klang monoton. „Nagib El-Rashid hat eine Familie in Port Said. Jemand muss ihnen Bescheid geben.“

„Wir werden die Angehörigen benachrichtigen, sobald wir die Folterspuren abgemildert haben. Kehrt beruhigt zur Ausgrabungsstätte zurück. Berichtet den Brüdern und trauert in gutem Glauben um den verstorbenen Mitchristen. Er war ein guter Mensch.“

Meine unruhigen Augen durchdrangen den Mann, der Trost zu spenden versuchte. In seinem ruhigem Gebaren lag etwas väterliches. Doch im Moment war ich nicht bereit mich beruhigen zu lassen, erst recht nicht als der Mönch sich dem Toten zuwandte und ich Justin dabei ertappte, wie er ein heimliches Foto von dem Leichnam machte. Ich erstickte beinahe, als ich mir die Hand auf meinen Mund presste, dann floh ich aus dem Zimmer, den Korridor entlang hinaus ins Freie.

Tränen der Verzweiflung rannen über mein Gesicht. Ich lief, bis ich keine Luft mehr bekam und die Kraft mich endgültig verließ. Lautlos weinend sackte ich auf die Knie und starrte in den grellen Himmel. Schließlich grub ich mein Gesicht in meine Hände und begann hemmungslos zu weinen. Ein sanfter Druck auf die Schulter drängte mich, aufzublicken.

Justin sah mir bekümmert in die Augen. „Ich wollte nicht, dass du das siehst.“

Schwankend stand ich auf, dann schnellte meine Hand nach vorne und versetzte dem abgebrühten Halunken eine harte Ohrfeige. Mein Arm zitterte als ich mir die Tränen fortwischte. Sein Gesicht verhärtete sich, doch er machte keine Anstalten seine wunde Stelle zu berühren. Schlagartig tat es mir leid, dass ich ihn geschlagen hatte. Verbissen kämpfte ich meine Schuldgefühle nieder. Er hatte bestimmt keine! Seine Stimme drang monoton zu mir durch.

„Ich fahre jetzt zurück. Wenn du möchtest, kannst du mitfahren, ansonsten musst du laufen.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte er sich ins Auto. Vollkommen erstarrt versuchte ich, mich zu bewegen, aber es gelang mir nicht.

„Ein Leben zu verlieren ist für einen Menschen immer schwer. Doch wir dürfen unseren Brüdern und Schwestern das Sterben nicht verwehren, denn durch den Tod erlangen wir das ewige Leben und erfahren Gottes Güte. Trockne deine Tränen und gedenke dem Toten in gutem Glauben.“

querida

Mit einem leisen Seufzen ließ ich zu, dass die Anspannung nachließ. Ich sank erschöpft in seine Arme und schloss die Augen. Sanft spielte Aleandro mit einer Strähne meines Haares und murmelte mir beruhigende fremde Worte ins Ohr. Über den melodischen Klang seiner Stimme hinweg schlief ich ein.

In dieser Nacht träumte ich von Justin, wie er blutüberströmt über meiner Leiche kniete. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und während er sich seine blutigen Hände vor die Augen hielt, murmelte er monoton vor sich hin: Das alles habe ich nicht gewollt ... das alles habe ich nicht gewollt!