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Bernhard Schmutz

Schweizer Wasser

Kriminalroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © MauMyHaTa / photocase.de

ISBN 978-3-8392-6944-2

 

 

März (1)

Die Lautsprecher dröhnen überfordert von einem Stern – der einen Namen trägt. Verantwortlich dafür ist nicht der intellektuelle Tiefgang des Songtextes, sondern die Lautstärke und zu viel Bass. Das scheppernde Röcheln der Boxen scheint die schunkelnde Meute nicht zu stören. Die Menschen schreien sich an und hören doch nicht, was das Gegenüber sagt. Bei diesem Szenario kaum ein Nachteil. Denkt man sich den Ton weg, sieht es aus, wie wenn eine politische Fernsehdebatte für Hörbehinderte übersetzt würde. Ein penetranter Geruchscocktail aus Schweiß, Deo, Bier, Jägertee und anderen süßlich riechenden Alkoholika rundet das Ganze ab.

Mit schweren Schritten kämpft sich Wim Richtung »für kleine Jungs«. Hätte er den Helm noch auf, würde er glatt als Astronaut durchgehen. Nur mit der Schwerelosigkeit hapert es. Mit beiden Händen klammert er sich am Handlauf fest und steigt sachte Tritt für Tritt die steile Treppe ins Untergeschoss. Einem Entfesselungskünstler gleich, Houdini hätte Augen gemacht, entledigt er sich seiner Rüstung. Nachdem er so sorgfältig wie möglich die Klobrille mit WC-Papier bedeckt hat, lässt er sich mit einem hörbaren Seufzer fallen. »Du musst wirklich unzurechnungsfähig gewesen sein, als du Ja zu dieser Tortur gesagt hast!«, flucht er über sich selbst.

Am Vorabend hatte er zum ersten Mal seit sehr langer Zeit wieder an einem Klassentreffen teilgenommen. Gleichzeitig sollten sich alle Ehemaligen am Tag danach als Volontärin oder Volontär zur Verfügung stellen: Das letzte Rennen der alpinen Skimeisterschaften stand auf dem Programm. Überredet hatte ihn Luke Mischler einige Wochen zuvor bei einer zufälligen Begegnung im Hotel Kirche.

»Ich fass es nicht. Du hier?«, war er in seinen Geschäftstermin mit dem Küchenchef geplatzt. Breites Lächeln, fester Händedruck, die linke Hand auf Wims Schulter, sprudelte es wie die Lütschine während der Schneeschmelze aus ihm heraus. »Für die schnellen Disziplinen mussten wir auf die Lauberhornstrecke bei den Wengener-Freunden ausweichen. Den Abschluss wollen wir aber unbedingt näher bei unserem Dorf haben. Keinen Aufwand werden wir scheuen und eine Superpiste präparieren. Verbunden wird das Ganze mit der Velogemel Weltmeisterschaft. Ein Riesengaudi!«, schloss er nach fünf Minuten mit einem Klaps auf Wims Schultern. Gespräche mit Luke waren seit jeher Monologe. Wim war der Zuhörer. Schon zur Schulzeit. Um sein Kundengespräch fortsetzen zu können, hatte er eingewilligt, ohne die Konsequenzen abzuschätzen.

Die Ellbogen auf die Oberschenkel und den Kopf in beide Hände gestützt, darauf gefasst, jeden Moment den Kopf in die WC-Schüssel stecken zu müssen, sitzt er da. Sobald er die Augen schließt, dreht sich alles um ihn herum noch schneller. Wie konnte er nur? Außerdem ist er mindestens seit zehn Jahren nicht mehr Ski gefahren.

»Als Torwart reicht das allemal«, hatte Luke ihm versichert.

»Ich war schon früher kein guter Goalie, auch wenn ich immer das Tor hüten musste.«

Luke hatte seine ironische Bemerkung überhört. Oder er verstand sie nicht. Oder beides. Auch das hat sich nicht geändert. Immerhin stellte ihm Luke als Besitzer des lokalen Sportgeschäfts gratis die Skiausrüstung zur Verfügung. Der letzte Schrei, was den Skianzug betraf, und selbstverständlich das neueste Material an den Füßen. Völlig übertrieben und unpassend für Wims Fähigkeiten. Er hatte sich in Grund und Boden geschämt.

Ein energisches Rütteln an der Tür reißt ihn aus seinen Gedanken. Oder war er weggedöst?

»Was machst du Lüstling denn hier?« Knallrote Botoxlippen und ein giftiges, schwarz umrandetes Augenpaar empfangen ihn beim Verlassen seines intimen Rückzugsortes.

»Tut mir wirklich leid! Ich habe nicht …« Peng! Die zugeknallte Tür zwei Zentimeter vor seiner Nase beendet den Erklärungsversuch. Nicht zum ersten Mal hatte er das Geschlechtersymbol verwechselt. Der Kreis mit dem nach unten angehängten Pluszeichen steht also nicht für »männlich«? Mit der letzten Energiereserve schafft er es in den Korridor, wo sein Magen ein weiteres Mal rebelliert, bevor er kapituliert und das Waschbecken mit seiner halb verdauten Nahrung der vergangenen 24 Stunden vollkotzt. Nach dem letzten Würgen muss Wim erst einmal den Stöpsel entfernen, damit der säuerlich riechende Mageninhalt abfließen kann. Dann spült er seinen Mund, trinkt ein paar Schlucke, schaufelt sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht und wagt einen Blick in den Spiegel.

Wer bist du? Das einzig Farbige an dir sind die geröteten Augen. Und die Sonne trägt kaum die alleinige Schuld dafür. Na ja. Gestern ist es spät geworden. Luke war beim Schlummertrunk im Preso, dem In-Lokal schlechthin, großzügig gewesen und hatte ihm sogar die Übernachtung im Hotel bezahlt. Da brauchte es nach der Torwartarbeit nur wenig, um den Kater vom Vorabend in der schneefreien Schneebar aufzuwärmen. Wim kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so abgestürzt ist.

Leicht fröstelnd und voll konzentriert nimmt er den Aufstieg in Angriff. Nur noch nach Hause! Den Blick starr auf seine bepanzerten Füße gerichtet, schleicht er sich unbeachtet davon. Nichts und niemand hält ihn mehr zurück. Auch Helene nicht, die ihm atemlos hinterherträllert.

Der Zielraum ist nach wie vor gut gefüllt, als Luke, der OK-Präsident des Skirennens, zum Mikrofon greift. »Liebe Bewohnerinnen und Bewohner von Grindelwald. Herzlichen Dank für euren grandiosen Einsatz! Nur dank euch ist es gelungen, einen so großartigen Anlass ohne nennenswerte Zwischenfälle durchzuführen. Von allen Seiten habe ich nur positive Feedbacks erhalten. Das ist in erster Linie euer Verdienst! Ich bin stolz auf euch und das ganze Dorf.«

Luke Mischler – getauft auf Lukas Samuel, Namen, die er nur in offiziellen Dokumenten verwendet – war früher ein ganz passabler Skirennfahrer gewesen. Er gehörte zu den Nachwuchshoffnungen. Für ein Jahr sogar zum erweiterten A-Kader der Nationalmannschaft. In einer Weltcup-Abfahrt wurde er überraschend Zweiter. Dass es ein Neuschneerennen war, musste man ja nicht an die große Glocke hängen. Mit 24 beendete er seine Skikarriere viel zu früh. Angeblich wegen Knieproblemen und weil sein Vater unerwartet verstarb – als einziger Nachkomme war es an ihm, das Sportgeschäft der Familie Mischler weiterzuführen. Hinter vorgehaltener Hand wurde darüber spekuliert, ob es Luke mit seinem Lebensstil wirklich geschafft hätte, langfristig im Skizirkus Fuß zu fassen. Wobei Zirkus ganz gut zu ihm passte. Auch heute noch.

Tatsache ist, dass er den Zuschlag für die Durchführung der Meisterschaften dank seiner früheren Beziehungen erhalten hatte. Seit Jahren setzt er sich umtriebig an vorderster Front für die Zukunft seiner Tourismusregion ein. Insgeheim liebäugelt er schon lange mit einer Festanstellung bei Grindelwald Tourismus. Bisher reichte es leider nur zu temporären Einsätzen wie heute. Aber das soll sich bald ändern, ist er überzeugt.

Nach der offiziellen Preisverleihung darf ein Werbespot für die Abstimmung über das Honeymoon-Projekt nicht fehlen. Zumal das Regionalfernsehen, ein schöner Teil der Steuerzahlenden und alle lokal einflussreichen Personen anwesend sind. Unbescheiden wird das Bild mit rosigen Zukunftsaussichten gemalt. Noch mehr Beachtung als Tourismusdestination. Ein echter Mehrwert für Gäste, die mehr erwarten als den Ausflug aufs Jungfraujoch. Noch mehr zahlungskräftige Touristen. Mehr, mehr, mehr.

»Honeymoon wird Grindelwald noch einzigartiger machen. Ein echter USP! Arbeitsplätze erhalten. Aufträge für das regionale Gewerbe generieren. Wer Ja zu Grindelwald sagt, muss Ja zu Honeymoon sagen!«, beendet Luke seine Brandrede.

April (2)

In der Dämmerung sind die raren Straßenschilder für ihn mittlerweile unlesbar. Die Kurzsichtigkeit stellt ein zusätzliches Handicap dar. Wobei, natürlich nur in Bezug auf die Sehschärfe. So zumindest seine Selbsteinschätzung. Viel zu erkennen gibt es ohnehin nicht entlang der abgelegenen, schmalen Asphaltstreifen. Oder dessen, was davon übrig ist. Die Schlaglöcher kompensiert sein anthrazitfarbener SUV problemlos. In diesem Auto könnte er sogar Paris–Dakar mit einem Bandscheibenvorfall bestreiten. Er ist dankbar für die Sicherheit, die ihm sein blecherner Freund bietet. In der einbrechenden Dunkelheit und bei dem typischen Aprilwetter wirken die Weiler zwischen den Reben verlassen, gespenstisch, bedrohlich. Ein völlig anderes Szenario als während des lebendigen Erntemonats im Herbst. Die anonymen Jahreszeiten sind ihm allerdings lieber.

Auch mit einer Karte im Maßstab 1:10.000 könnte nur eine geübte OL-Läuferin erfolgreich durch dieses Labyrinth navigieren. Sogar das GPS hat sich schon verirrt. Den Fahrer kümmert das nicht. Er kennt den Weg mittlerweile auswendig. Mit schlafwandlerischer Sicherheit lenkt er den Wagen auf die letzten 150 Meter der aristokratisch wirkenden Allee.

Bevor er aussteigt, kontrolliert er den Inhalt der akribisch vorbereiteten ledernen Aktentasche zum fünften Mal. Der gestylte Seitenscheitel im Rückspiegel sitzt perfekt. Graue Schläfen oder Gesichtsfalten? Fehlanzeige. Schon gar keine Lachfalten. Seine nicht übertrieben muskulöse, schlanke Statur lässt auf einen seriösen Lebenswandel schließen. Einzig die unterdurchschnittliche Körpergröße sorgt dafür, dass er nicht als Model für ein Hochglanzmagazin durchgeht. Mit knapp über 40 wirkt er eher wie 30. Er hat schon immer zehn Jahre jünger ausgesehen. Bis 25 litt er darunter.

Nach ein paar tiefen Atemzügen und einem Blick zum rund fünf Kilometer entfernten Lac Démon endet sein Vorbereitungsritual. Das Steinhaus aus dem vorletzten Jahrhundert mit seinen imposanten Mauern und den zwei Turmzimmern wirkt verlassen. Lediglich im Erdgeschoss, hinter einem der wenigen Fenster, flackert spärliches Licht. Wie immer ist er einer der Ersten, die eintreffen. Zusammenkünfte können nur die notwendige Wirkung erzielen und erfolgreich sein, wenn sie detailliert vorbesprochen und straff geführt sind. Das ist Aufgabe des Kernteams. Kontrollverlust hasst er. 90 Minuten nach seiner Ankunft eröffnet er auf die Minute genau das offizielle Treffen. Wer zu spät kommt, muss sich wieder auf den Heimweg machen. Eigentlich könnte man auch früher beginnen, weil alle Teilnehmenden stets spätestens zehn Minuten vor Beginn auf ihren Plätzen sitzen. Eine Agenda ist da, um eingehalten zu werden. Damit werden wichtige Werte wie Konsequenz und Verlässlichkeit zelebriert. Das gibt den Menschen Sicherheit. Sie sollen wissen, was sie erwartet und was von ihnen erwartet wird. Nur klare Strukturen geben Orientierung und führen zum Ziel. Davon ist Ivo überzeugt, seit er vor über 20 Jahren die Offiziersschule absolvierte.

Es herrscht eine konzentrierte Stimmung. Die gespenstischen Laute des Waldkauzes im Park dringen durch die leicht geöffneten Fenster und übertönen die murmelnden Gespräche zwischen den Sitznachbarn. 18 Männer und zwei Frauen haben sich im ehemaligen Bankettsaal um den überdimensionalen Tisch aus massivem Eichenholz versammelt. Mit ernsten Mienen nehmen sie die heutigen Schwerpunktthemen zur Kenntnis. Überschwängliche Willkommensworte erlaubt der Fahrplan nicht. Schließlich sind sie nicht zum Vergnügen hier. Ihre Mission ist nichts weniger, als das Wohlergehen der Menschen in diesem Land langfristig zu sichern. Wirtschaftlich und gesellschaftlich. Das heißt, Projekten zum Durchbruch zu verhelfen, die im Idealfall beides unterstützen. Priorität bei den Sitzungen genießen jene Vorhaben, die in der Öffentlichkeit auf Widerstand stoßen. Schuld daran sind aus ihrer Sicht Linke, Umweltschützer, Ungläubige oder Sozialschmarotzer, die auf dem Buckel der anständigen, arbeitswilligen Bevölkerung ein lockeres Leben führen. Sie alle erschweren ihre Mission und müssen deshalb bekämpft werden. Ziel der Treffen ist es, schlagkräftige Strategien zu finden, um damit die aktuell heißen Eisen zu bearbeiten. Verantwortlich für Veränderungen in Natur und Umwelt sind aus ihrer Sicht nicht die Menschen. Für die einen in der Gruppe sind es die Schöpfung und Gottes Wille. Für die anderen ist es das Universum. Der Wandel gehört für sie zum Lauf der Zeit. Auch der klimatische. Diese Botschaft zu vermitteln, gehört zu ihren Hauptaufgaben. Aufgenommen wird nur, wer von einem bestehenden Mitglied empfohlen wurde und die Überzeugung der Gruppe glaubhaft vertritt. Er oder sie muss in seinem oder ihrem privaten und beruflichen Umfeld einflussreich sein, einen guten Ruf genießen, im besten Fall sogar beliebt sein. Diskretion und absolute Verschwiegenheit sind ebenfalls Teil ihrer Charta. Wer diese Hürden meistert, wird an einem neutralen Ort vom fünfköpfigen Kernteam auf Herz und Nieren geprüft. Nur wer dieses intensive Casting übersteht, wird der ganzen Gruppe vorgeschlagen und muss einstimmig gewählt werden. All das erklärt, weshalb die Interessengemeinschaft drei Jahre nach ihrer Gründung noch überschaubar ist. Lieber klein, kompromisslos und mit Überzeugung bestechen – was immer das auch heißen mag –, als groß und angreifbar zu sein.

Nach exakt 120 Minuten endet die offizielle Zusammenkunft. Die darauffolgende gespielte Ungezwungenheit beim informellen Austausch unter den Mitgliedern ist Ivo zuwider. Small Talk ist nicht sein Ding. Aber bei diesem Punkt hatte ihn das Kernteam überstimmt. Deshalb gönnt man sich neuerdings im Anschluss einen lokalen Wein. Jedoch nie mehr als zwei Gläser. Weil die Groupe Lac Démon sich unmittelbar nach jeder Sitzung wieder auflöst und alle ihrer Wege gehen. Bis zum nächsten Meeting existiert sie nicht.

Mai (3)

Mit First Cliff Walk, First Flieger und Glider bekommen auch bewegungsfaule Gäste ihr Felserlebnis oder den Adrenalinkick. Unermüdlich wird mit der Flucht nach vorne an der Attraktivität der Tourismusdestination Grindelwald gezimmert. Über allem steht die neue V-Bahn. Kapazität 2.200 Personen pro Stunde. 47 Minuten schneller auf dem Jungfraujoch als bisher. Superlative, mit denen das aktuelle Projekt nicht punkten kann. Von dem großen Andrang sind deshalb sogar die enthusiastischen Organisatoren überrascht. Vielleicht liegt es an dem erotischen Klang des Projektnamens, dass neben der regionalen Polit- und Wirtschaftsprominenz überregionale Medien, Vertreterinnen von »Schweiz Tourismus« und neugierige Mitbewerber aus Gstaad, St. Moritz und Zermatt angereist sind. Sie alle belegen wesentlich mehr Plätze, als in den vorderen Reihen für sie reserviert wurden. Von den Einheimischen konnten längst nicht alle einen Sitzplatz ergattern. Der Rest steht ringsum, Schulter an Schulter, wie an herrlichen Wintertagen in der Gondel. Viele halten sich schon über eine Stunde im Congress Center auf. Im Nebenraum konnten die Baupläne studiert und ein dreidimensionales Modell über das Zukunftsprojekt bestaunt werden. Dazu wurde bereits vor der offiziellen Infoveranstaltung ein Apéro ausgeschenkt. Die Taktik des Befürworter-Komitees scheint aufzugehen. Trotz Sardinenbüchsen-Feeling ist die Stimmung fröhlich, machen Wortspiele mit dem Projektnamen die Runde. Nicht wenige davon nahe an oder knapp unter der Gürtellinie. Der Infoabend mit anschließender öffentlicher Pressekonferenz und Fragerunde für die Bevölkerung soll ein Meilenstein sein. Die Abstimmung im Spätherbst in die richtigen Bahnen lenken. Das letzte Wort hat das Volk. Es muss dem Kredit für den Ausbau der Zufahrtsstraße und der damit verbundenen Lockerung der Sperre für den Privatverkehr zustimmen. Vorgesehen ist ebenfalls, dass sich die Gemeinde in bescheidenem Rahmen am Projekt beteiligt. Der Zeitpunkt der Veranstaltung wurde bewusst früh gewählt. Das Volksfest Ende März mit den alpinen Skimeisterschaften und der Weltmeisterschaft für Frau und Mann auf dem hölzernen Veloschlitten auf zwei Kufen sind noch in bester Erinnerung. Von dieser positiven Stimmung im Dorf will man profitieren. Mögliche Gegner sollen früh überzeugt werden und verstummen. Auf keinen Fall dürfen sie Aufwind spüren, sondern müssen erkennen, dass sie in der Minderheit sind, Widerstand zwecklos ist.

»So! Dann lasst uns mal die Bude rocken!« High Five und los geht’s! Angeführt von Luke Mischler betreten die drei Honeymoon-Initianten die Bühne. Neben Luke ist das Heinz Grob, Eigentümer eines für Grindelwald-Verhältnisse stattlichen Landwirtschaftsbetriebs in der Talmulde, Präsident der Bergschaft Bussalp und Besitzer des gleichnamigen Bergrestaurants. Beim Zukunftsprojekt spielt er die zentrale Rolle. Gleichzeitig ist er im Gemeinderat für das Ressort Tiefbau, Wasser und Entsorgung verantwortlich. Begleitet werden die beiden Herren von der Finanzverwalterin der Gemeinde, Claudia Spiess.

Ein kurzer Trailer informiert und bewirbt in 60 Sekunden das Honeymoon-Projekt. Aus der urchigen Bergbeiz wird »Honeymoon-Alp«. Der aktuelle Teil wird sanft renoviert. Daneben entsteht ein imposanter Anbau. Außen heimeliger Chalet-Stil. Innen ein Wellness-Tempel, mit allem Schnickschnack ausgestattet, wie der Film verrät. Sechs romantische Suiten mit Himmelwasserbett und Whirlpool. Weitere exklusive Zimmer für 40 Gäste. Ein luxuriöser Spa-Bereich, der keine Wünsche offen lässt. Feinschmeckerrestaurant als Alternative zur Nullachtfünfzehn-Bergbeiz-Verpflegung. Romantische Spezialangebote für Frischvermählte oder Hals-über-Kopf-Verliebte. Zum Beispiel in der benachbarten Alpkäserei unter Anleitung selbstständig herz- oder kleeblattförmige Minikäse herstellen.

Erst jetzt greift Luke zum Mikrofon. Betont locker, schwarze Jeans, weißes Hemd mit bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Ärmeln. Es bildet den perfekten Kontrast zum von der Frühlingssonne braun gebrannten Gesicht. Vor Menschen zu sprechen, bereitet ihm wenig Mühe. Seine gewinnende Art ist ihm bewusst. Wobei heute, bei so viel Publikum in einer so wichtigen Angelegenheit, seine Handflächen unüblich feucht sind. Der Hemdfarbe sei Dank, ist seine Achselnässe nicht sichtbar. Die ersten Sätze hat er auswendig gelernt. Das zahlt sich jetzt aus. Nach dem gelungenen, sicheren Einstieg ist seine Nervosität wie weggeblasen, er in seinem Element. Mit wenigen kurzen, verständlichen Sätzen beschreibt er den Segen, den dieses Projekt Grindelwald und der ganzen Region bringen wird.

»›Honeymoon‹ ist in seiner Art einzigartig. Ein echter USP, also ein sogenanntes Alleinstellungsmerkmal«, ergänzt er nach einem kurzen Blick auf seinen Spickzettel. »Mit ›Honeymoon-Alp‹, meine Damen und Herren, liebe Grindelwalderinnen, liebe Grindelwalder« – das L mit seinem Oberländer Singsang-Dialekt noch markanter betonend als sonst – »diversifizieren wir unseren Tourismus weiter. Die Winter werden kürzer, die Sommer länger. Schlittel- und Trottinettplausch in Ehren, aber das genügt längst nicht mehr. Wir brauchen zahlungskräftige Gäste, die mehrere Tage bleiben. »›Honeymoon-Alp‹ ist ein weiterer Meilenstein im Tourismus von Morgen.« Sehr gut, Junge. Sprich weiter, als ob das Projekt schon realisiert wäre. Das wirkt suggestiv überzeugend, pusht er sich selbst während einer Kunstpause, die seine Worte wirken lassen soll. »Profitieren wird die ganze Region. Nicht nur während der Bauphase. Wellness-Tempel gibt es viele. Ein Paradies wie ›Honeymoon-Alp‹ existiert so nicht.« Sehr schön, Luke, den Namen möglichst oft erwähnen. »Schon gar nicht auf einer Alp auf 1.800 Meter über Meer. Wer seine Flitterwochen auf ›Honeymoon-Alp‹ erlebt, wird wiederkommen, um wunderbare Erinnerungen aufzufrischen.« Oder seinen nächsten Lebensabschnittspartner einzuweihen, beendet er in seiner Euphorie beinahe den Satz, wie er es beim Üben seiner Rede häufig getan hatte. »Feiern und Flittern am gleichen Ort. Rauschende Feste, romantische Nächte, verbunden mit dem atemberaubenden Ausblick auf die drei Natur-Trauzeugen Eiger, Mönch und Jungfrau. Grindelwald statt Malediven. Wir sind überzeugt, dass Hochzeitspartys auf ›Honeymoon-Alp‹ auch viele der Hochzeitsgäste für einen Aufenthalt animieren, um neue Liebe auszuleben, alte wach zu küssen oder sich ganz einfach verwöhnen zu lassen. Und wissen Sie was? Zwei Partnervermittlungsinstitute haben bereits ihr Interesse an einer Zusammenarbeit angemeldet. Passt also auf, wo ihr euch in Zukunft registriert«, ergänzt er schalkhaft und genießt das Gelächter der Menge. »Ihr seht, unserer Kreativabteilung werden die Ideen nicht ausgehen. Wir wollen den Bogen aber nicht überspannen und unsere Pläne Schritt für Schritt realisieren. Keine finanziellen Risiken eingehen. Der Aufmarsch hier und heute beweist aber, dass unser Projekt ernst genommen wird. Deshalb lasst uns gemeinsam den ersten Schritt in eine rosarote Zukunft tun, so rosarot wie der Zuckerguss auf der Hochzeitstorte. Lasst uns die letzte Hürde nehmen. Meine Initianten und ich zählen auf euer Ja!«

Nach nur 20 Minuten beginnt die Fragerunde der Medienschar. Viele Fragen beantwortet bereits die von der Finanzvorsteherin sorgfältig zusammengestellte Pressemappe. Die wenigen kritischen Bedenken werden souverän entkräftet. Zum Beispiel, ob man denn nicht befürchte, bisherige Stammkunden abzuschrecken, wenn neben der Bergbeiz ein Schickimicki-Tempel entstehe.

»Ich würde eher von einem hochstehenden Qualitätsangebot als von ›Schickimicki-Tempel‹ reden. Abschrecken wollen und werden wir niemanden. Wie bereits erwähnt, heißt das Motto ›diversifizieren‹. Also die heutigen Tagesgäste behalten und eine zusätzliche Zielgruppe gewinnen. Mittelfristig sind wir darauf angewiesen, die Aufenthaltsdauer und damit den durchschnittlichen Umsatz pro Gast zu steigern. Genau dazu trägt ›Honeymoon-Alp‹ bei. Außerdem wird das aktuelle Restaurant nur leicht modernisiert, inklusive der wunderbaren Terrasse. Dort sind alle willkommen. Und vergessen wir nicht: Heimelige Gaststuben gibt es in unserer schönen Umgebung noch einige«, beantwortet Luke die Frage. Mit seiner Hansi-Hinterseer-Ausstrahlung hat er viele Sympathien auf seiner Seite. Erstaunlicherweise nicht nur von der weiblichen Publikumshälfte. Da verzeiht oder überhört man auch nicht lupenreine Sätze wie »dort sind alle willkommen«. Aha. Und im geplanten Neubau?

»Wir müssen mit den Bürgerinnen und Bürgern arbeiten, die bereit sind, sich im Nebenamt für Grindelwald zu engagieren. Wie Sie alle wissen, stehen bei uns die Freiwilligen dafür nicht Schlange. Zudem treten Kommissionsmitglieder falls nötig in den Ausstand. An der internen Abstimmung, welches Projekt wir umsetzen und Ihnen heute präsentieren wollen, hat sich Heinz Grob nicht beteiligt«, verteidigt für einmal Finanzverwalterin Claudia Spiess die Frage nach möglichen Interessenskonflikten.

Mit einem knappen, kaum wahrnehmbaren Nicken bedanken sich Luke und Heinz bei ihrer Mitinitiantin für die schlagfertige Antwort. Bisher verläuft der Abend exakt nach Drehbuch.

»Wenn Sie, liebe Medienleute und Gäste, keine Fragen mehr haben, geben wir jetzt gerne noch der Bevölkerung das Wort.« Langsam lässt er seinen Blick von links nach rechts über die hintere Saalhälfte schweifen. »Vor so vielen Menschen eine Frage in ein Mikrofon zu formulieren, braucht Mut. Bitte keine unnötige Scheu. Der beste Zeitpunkt, Fragezeichen aufzulösen, ist jetzt.« Nach weiteren langen Sekunden fasst sich einer ein Herz.

»Wer hat den Werbespot und das 3-D-Modell finanziert? Beides gefällt mir gut. Aber das hat doch bestimmt eine Stange Geld gekostet?«

»Gut, dass Sie das fragen. Vielen Dank. Trailer und Animation wurden von einem Gönner finanziert, der unser Projekt bestechend findet. Er oder sie möchte anonym bleiben. Das respektieren wir natürlich. Weitere Fragen? … wenn das nicht der Fall ist …«

In der zweithintersten Reihe schießt zielstrebig eine Hand in die Höhe.

»Ja?«

»Von Herrn Grob möchte ich gerne Folgendes wissen: Der Energiebedarf auf der Bussalp wird mit diesem Turteltaubenprojekt bestimmt viel größer sein als jetzt mit der Beiz. Wie werden Sie diesen decken?«

Reden in der Öffentlichkeit ist nicht sein Ding. Bei den Kommissionssitzungen geht das. Aber vor einer solchen Menschenmenge, unter ihnen sogar Unbekannte, ist seine Nervosität ungleich höher. Mit aufgesetztem Lächeln greift er zum Mikrofon … und prompt ist in den ersten drei Sekunden nur ein unangenehmer Pfeifton hörbar. »Ich spreche häufiger zu meinen Viechern im Stall als vor so vielen Leuten. Und die verstehen mich ohne Stimmverstärker«, versucht Heinz, die Panne mit Witz zu überspielen. Und tatsächlich sind einige Lacher zu hören.

»Das glaube ich gerne. Ihren Tieren können Sie auch erzählen, was Sie wollen«, kontert seine Herausforderin im Publikum.

Die Bemerkung ignorierend nimmt er einen Schluck Wasser, tippt prüfend mit dem Zeigfinger auf das Mikrofon, auch um Zeit zu gewinnen und den Puls zu beruhigen, bevor er seine Antwort formuliert. »Das Thema Energiebedarf haben wir von Experten abklären lassen. Wir werden hauptsächlich auf erneuerbare Energie setzen. Insbesondere Fotovoltaik. Heutige Solarpanels sind extrem effizient. Wir gehen davon aus, dass der Großteil des Strombedarfs damit abgedeckt werden kann. Steht übrigens so im Projektbeschrieb, sofern man sich die Zeit nimmt, genau zu lesen. Für den kleinen Rest sollte die vorhandene Energiezufuhr reichen. Und wer weiß, vielleicht können wir eines Tages die Windenergie nutzen. Sie sehen, wir sind bestrebt, in ökologische Energieversorgung zu investieren. Hier sucht das Projekt ebenfalls seinesgleichen.« Für einen, der nicht gerne vor Publikum redet, sehr souverän, meint er, aus Lukes und Claudias motivierendem Kopfnicken herauszulesen.

»Im Leitbild der Gemeinde heißt es: ›Der Tourismus steht im Einklang mit Natur, Umwelt und Landschaft.‹ Wie schaffen Sie diesen Spagat, wenn plötzlich Privatverkehr zugelassen ist? Abgesehen davon ist das Ganze doch reine Wasserverschwendung. In den letzten zehn Jahren hatten wir in der Schweiz mindestens vier zu trockene Sommer. Von Wasserknappheit können auch Alpgebiete betroffen sein.«

Wegen der anfänglichen Anspannung und weil er seine Lesebrille schon länger durch ein Modell mit Gleitsicht-Gläsern ersetzen sollte, erkennt er erst jetzt, wer ihn mit diesen Fragen herausfordert. Dass ausgerechnet Lisa ihn damit schikaniert, überrascht nicht, ärgert ihn trotzdem. Mit seiner demonstrativen Gelassenheit kann die leicht gereizte Stimme nicht ganz mithalten.

»Laut Ihrer Statistik heißt das, sechs von den letzten zehn Sommern waren regenreich genug. Teilweise hatten wir sogar zu viel Niederschlag. Der Lauf der Natur ist nun mal nicht vorhersehbar. Zum Glück. Denn sonst meinen die Menschen plötzlich, sie müssten sich auch ins Klima einmischen, bestimmen wollen, wann die Sonne scheint und wann es regnet. Wo kämen wir da hin?« Für dieses Votum erhält er spontanen Szenenapplaus. »Zum Privatverkehr: Vorgesehen ist nur der Zubringer für Gäste, die mehrere Tage auf ›Honeymoon-Alp‹ verbringen.«

»Und für die paar Nasen wird die Straße verbreitert? Man muss schon ziemlich naiv sein, diese Salamitaktik nicht zu durchschauen«, lässt Lisa nicht locker.

»Ich sage immer, wer lesen kann, ist im Vorteil. In der Ausschreibung steht schwarz auf weiß, wer Zufahrt haben wird. Auswärtige werden zudem dafür bezahlen müssen«, kontert er einigermaßen gekonnt, greift in die Hosentasche und wischt sich mit dem Nastuch über die Stirn.

Lisa kennt kein Erbarmen. »Und was ist mit dem Wörtchen ›vorerst‹ in der Ausschreibung? Lassen Sie mich raten …«

»Gerne können Sie das beim anschließenden Umtrunk noch bilateral diskutieren, wenn es wichtig ist für Sie«, erhebt sich Luke, während seine Hand auf Heinz’ Schulter ihn sanft auffordert, sich zu setzen.

»Ja, liebe Gäste. Sie haben richtig gehört. Der Apéro geht gleich in die zweite Runde. Bevor der Weißwein warm wird, setzen wir hier einen Schlusspunkt. Herzlichen Dank nochmals für Ihr Interesse. Schön, wenn Sie noch mit uns auf ›Honeymoon-Alp‹ anstoßen!«

Noch so gerne würde Lisa sich auf Kosten der Initianten ein paar Gläser gönnen. Den Ärger ertränken. Aber morgen ist sie für das Frühstücksbuffet eingeteilt. Einer ihrer Aushilfsjobs. Ausgerechnet im Hotel Kirche, dessen Direktor ein Busenfreund von Heinz Grob ist.

Mai (4)

Wie masochistisch muss man sein, sich so was anzutun? Oder ist es reine Verzweiflung? Voyeurismus, weil man sich so schön vorstellen kann, wie es wäre, wenn sich diese Lackaffen bis auf die Knochen blamieren würden, wenn man hemmungslos Schadenfreude empfinden könnte? Natürlich erfüllen sich solche Szenarien nur im Traum. Okay, dann träum weiter. Aber das ist nur eines von Lisas Problemen. Seit längerer Zeit schläft sie kaum. Und wenn, dann unruhig. Es ist lange her, dass sie mehr als drei Stunden am Stück ins Reich der Träume entfliehen konnte. Und als wäre das nicht genug, waren nicht wenige davon Albträume. Vielleicht ist ihr Alkoholkonsum schuld. Bestimmt nicht nur, ist sie überzeugt.

In ungesunder Haltung, mehr liegend als sitzend auf dem Kunstledersofa aus dem Brockenhaus, die nackten Füße auf dem alten Salontischchen, in der linken Hand ein Glas billigen Rioja, rechts die TV-Fernbedienung, lässt sie ihrer Opferrolle freien Lauf. Körperlich und mental fühlt sie sich, als hätte sie einen 16-Stunden-Tag hinter sich. In Tat und Wahrheit waren es nur sechs. Nach dem Einsatz beim Frühstück durfte sie noch drei Stunden Zimmer putzen. Aus Sicht der Gouvernante war es ein Dürfen. Aus ihrer ein Müssen. Aber sie braucht jeden Cent, um über die Runden zu kommen. Und da sind drei Stunden zum Mindestlohn eben wichtig. Anstrengender als die körperliche Arbeit war allerdings die Angst davor, Heinz Grob zu begegnen, der im Hotel Kirche ein und aus geht, als wäre es sein Betrieb. Wann immer jemand den Frühstücksraum oder einen Korridor betrat, schnellte ihr Puls in die Höhe. Nur für ein paar Sekunden. Trotzdem so ermüdend wie ein Intervalltraining. Heute ist sie ihm nicht begegnet. Wobei das früher oder später nicht zu vermeiden sein würde. Wahrscheinlich eher früher. Schließlich ist sie auf Abruf auch direkt für Heinz Grob tätig.

Die wenigen kritischen Fragen nach der Veranstaltung haben im Beitrag des Regionalsenders keinen Platz. Vielmehr wird der große Aufmarsch betont und dass sogar Tourismusorte mit noch größerer internationaler Ausstrahlung sich plötzlich für Grindelwald interessieren. Journalistisch wenig ausgewogen. Die Abstimmung scheint nur noch Formsache zu sein. Ein voller Erfolg für Luke und seine Crew, muss Lisa neidlos eingestehen. Darauf hebt sie sarkastisch ihr Glas und trinkt einen großen Schluck.

Wie nonchalant und herablassend ihre ernsthaften Fragen beantwortet wurden, macht sie immer noch wütend. Ihr einfach das Wort abschneiden und die Fragerunde beenden, der Gipfel der Frechheit. Und das Verhalten der übrigen Einheimischen? Schlicht trostlos. Kein Schwein wagte, etwas zu sagen, ihr Hinterfragen zu unterstützen. Stattdessen musste sie mitleidige, genervte Seitenblicke aushalten. In ihrem Innern brodelt es wie in einem Vulkan, kurz bevor er mit voller Wucht ausbricht. Plötzlich macht sich auch noch Angst breit. Was, wenn sie diesmal zu weit gegangen war, indem sie versucht hatte, Heinz Grob in der Öffentlichkeit anzugreifen? Wobei, es waren ja nur zwei, maximal drei Fragen gewesen. Wird er ihr das Leben noch schwerer machen? Sie endgültig fallen lassen? Nach außen wirkt er umgänglich, hilfsbereit, gar väterlich. Tatsächlich nutzt er ihre Abhängigkeit schamlos aus.

Bis vor zwei Jahren waren Lisa und ihr Partner 15 Jahre lang Pächter auf dem Hof von Heinz Grob gewesen. Ein schöner Betrieb im Talboden zwischen der Talstation Pfingstegg und Landi. Die ersten zehn Jahre ließ man sie mehr oder weniger in Ruhe. Dann wurde im großen Stil umgebaut. Für Lisa und ihren Partner völlig überdimensioniert. Zu viele Tiere und zu wenig Land, um nur annähernd für genügend eigenes Futter zu sorgen. Statt sich, wie von ihnen vorgeschlagen, Richtung Bio zu entwickeln, wurde der entgegengesetzte Weg gewählt. Widerstand war zwecklos. Vogel friss oder stirb, die unmissverständliche Taktik des Hofbesitzers.

»Wir sind kein Freilichtmuseum, das ›Ueli der Knecht‹-oder ›Geissenpeter‹-Zeiten nachtrauert. Nur wer rentabel wirtschaftet, kann mittelfristig überleben«, so seine Lieblingsargumente gegen ihren Einwand, dass Größe allein doch keine Strategie sei und Erfolg sich nicht nur monetär messen lasse. Drei Jahre hatte ihr Partner die Kraft gehabt, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Dann starb er viel zu jung an einem Herzinfarkt. Für Lisa besteht kein Zweifel daran, wer oder was dafür verantwortlich ist. Ein paar Monate nach seinem Tod musste sie kapitulieren. Den Betrieb mit oft wechselnden, billigen Aushilfen zu führen, war nicht mehr möglich. Dazu kam, dass sie bei einzelnen Tieren erste Symptome der Blauzungenkrankheit nicht sofort erkannt hatte. Obwohl die Krankheit für Menschen ungefährlich und die Übertragung auf andere Tiere äußerst selten ist, spielte dieses Ereignis in Heinz Grobs Karten. Seither führt er den Betrieb mit einer fest angestellten, gut bezahlten Fachkraft wieder selbst.

Einzig das Angebot »Schlafen im Stroh« darf sie noch betreuen. Eine ihrer Ideen in all den Jahren, die ausnahmsweise vom Besitzer nicht abgeschmettert wurde. Vermutlich, weil der Erfolg sich rasch einstellte und nach wie vor anhält. Für sie erstaunlich, weil mit dem Umbau ein Teil des heimeligen Charmes des Bauernhofs verloren ging. Insbesondere von Mitte Mai bis Ende September sind regelmäßig Schulklassen und Familien zu Gast, die sie auf Wunsch bekocht. Zusammen mit temporären Teilzeit-Einsätzen im Hotel Kirche und der Bergbeiz auf der Bussalp kommt sie finanziell mehr schlecht als recht über die Runden.

Was, wenn er sich rächt, mich von der Liste für Aushilfen streicht? Dann kann ich mich gleich bei der Sozialhilfe melden. Nun beruhig dich mal. Du hast ihn ja nicht beleidigt. Am liebsten würde ich ganz Grindelwald den Stinkefinger zeigen und einfach abhauen! Aber wohin? Und wer gibt mir mit 57 noch einen Job?

Der Kampf der beiden Stimmen in ihr wogt nicht zum ersten Mal. In letzter Zeit gewinnt meist die negative. Auch diesmal?

Mittlerweile hat Sonnyboy Luke seinen Auftritt im TV-Beitrag. Jovial platziert er einmal mehr seine Lobrede auf das Zukunftsprojekt.

Hat deine Platte einen Kratzer oder leidest du an Alzheimer, dass du dich immer wiederholst? Mit dieser Honeymoon-Spinnerei wollt ihr euch doch nur ein Denkmal setzen, ihr narzisstischen Wichtigtuer! Wer nicht eure Meinung teilt, wird mitleidig belächelt, ignoriert oder irgendwann entsorgt.

So, jetzt aber mal halblang, Lisa! Im Moment hast du deine Jobs noch. Vielleicht solltest du etwas weniger tri…

Halt die Klappe! Fakt ist, dass nichts und niemand sie aufhalten wird. Schon gar nicht eine wehrlose alte Schachtel mit Kummerfalten und einer grau melierten Mähne. Das Einzige, was diese scheinheiligen Opportunisten interessiert, sind ihr Profit, Schulterklopfen und Applaus!

Für eine alte Schachtel finde ich dich ziemlich attraktiv. Wenn du nüchtern bist, insistiert ihre innere Stimme.

Pahpahpah! Verarschen kann ich mich selbst. Weißt du, wann ich zuletzt Sex hatte?

Klar! Ich war ja dabei.

Dann hör verdammt noch mal mit deinem Zweckoptimismus auf. Mein Leben befindet sich im Sturzflug, ohne Aussicht auf Thermik. Sterbe ich hier und jetzt, wird man meine Leiche erst finden, wenn’s im Treppenhaus zu stinken beginnt. So sieht es aus!

Dann ist es so weit. Das angestaute explosive Gemisch detoniert. Ein ohrenbetäubender Knall. Stille. Glühende Tränen kullern über ihr Gesicht, auf die schwer atmende Brust.

Apathisch, mit glasigem Blick und rot gefärbtem Speichel in den Mundwinkeln starrt Lisa auf den mit Wein getauften und Glassplittern dekorierten Röhrenbildschirm.

Mai (5)

Endlich. Im fünften Anlauf erbarmt er sich mit einem jammernden Wehklagen seines Meisters. Wobei nicht klar ist, wer hier die Macht über wen hat. In letzter Zeit musste Wim mehr als einmal mit ein paar kräftigen Schlägen auf den Anlasser die Hierarchie wiederherstellen. Mit jedem Jahr wird seine uralte Occasion widerspenstiger und eigensinniger. Fast schon beängstigende Parallelen zu den Menschen, geht es ihm durch den Kopf. Wobei er bei ihnen natürlich nie Gewalt anwenden würde. Nicht einmal verbal. Auf einen neuen fahrbaren Untersatz verzichtet er nicht aus nostalgischen Gründen. Ihm fehlen schlicht die flüssigen Mittel. Das war nicht immer so. Bis vor drei Jahren hatte er als regionaler Verkaufsleiter ein regelmäßiges, ganz akzeptables Einkommen inklusive Firmenwagen. Der Titel suggerierte allerdings mehr Verantwortung, als der Job wirklich verlangte. Von ihm aus hätte auf der Visitenkarte einfach »Verkauf« stehen können. Parallel zum Ausbau des Onlinehandels wurden Stellen abgebaut. Für die wenigen verbliebenen Jobs im Verkaufsaußendienst kamen jüngere, dynamischere und billigere Kolleginnen und Kollegen zum Handkuss. Diesen Entscheid konnte Wim sogar nachvollziehen. Die paar Menschen, die ihn etwas besser kannten, staunten immer, dass ausgerechnet er im Verkauf gelandet war. Dem in vielen Köpfen noch vorhandenen typischen Verkäuferbild hatte er nie entsprochen. Seine introvertierten, leicht depressiven Züge erinnern ihn an seinen Vater. Bestimmt nicht an seine holländische Mutter, die meist nach dem Motto kommunizierte: »Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?« Noch so gerne hätte er einen Teil ihres heiteren Gemüts geerbt. So wie sie im Moment leben, Emotionen und Gefühle zeigen konnte, ohne sich zu fragen, was andere darüber dachten. Gegensätze ziehen sich an, sagt man. Trotzdem hatte Wim nie verstanden, weshalb seine Eltern überhaupt zueinandergefunden hatten. Noch weniger, wieso sie heirateten. Und am allerwenigsten, dass sie sich nicht scheiden ließen. Nachdem er mit 20 definitiv von zu Hause ausgezogen war, hätten doch beide einen Neuanfang wagen können. Stattdessen lebten sie getrennt in der gleichen Wohnung. So eine Art WG mit Trauschein. Er hat sie nie danach gefragt. Wie auch. Bei einem, maximal zwei Besuchen im Jahr spricht man nicht über so persönliche Dinge. Leider. Und jetzt ist es seit sechs Monaten zu spät. Innerhalb weniger Wochen starben beide. Ein Hinweis, dass sie sich trotzdem gebraucht hatten. Immerhin konnten sie auf die Art und Weise gehen, wie es sich viele Menschen wünschen. Einschlafen und nicht mehr aufwachen. Die spärlichen Erinnerungen an seine Eltern begleiten ihn seither oft auf den Fahrten zu seinen Kunden. Wieso interessieren wir uns erst dann für andere, wenn es zu spät ist? Und Eltern sind doch nicht einfach andere. Bin ich wirklich so oberflächlich und empathielos? Liegt es daran, dass ich nie nur in die Nähe davon kam, eine eigene Familie zu gründen?

Ein lautes Hupkonzert reißt ihn abrupt aus seinem Tagtraum. Keine Ahnung, wie lange die Ampel schon grün leuchtet. Bestimmt keine zwei Sekunden. Die Gesellschaft wird ja nicht geduldiger. Trotzdem will er natürlich kein Verkehrshindernis sein, gibt Vollgas und lässt die Kupplung etwas zu schnell los. Sein bescheidenes vierrädriges Blechhaus macht einen känguruähnlichen Sprung, röchelt ein letztes Mal und bleibt in seiner ganzen Pracht mitten auf der Kreuzung stehen. Zwei misslungene Startversuche später ist der Fall klar. Er muss seinem unzuverlässigen Begleiter den Meister zeigen. Schon wieder. Du hast es so gewollt. Denk bloß nicht, ich könnte Mitleid für dich empfinden! Auch auf dein Alter kann ich keine Rücksicht nehmen.

Wäre alles nicht passiert, wenn du deine Gedanken bei der Straße gehabt hättest. Und du weißt ganz genau, dass meine Kupplung sehr sensibel ist. Jammere nicht und sorg dafür, dass wir hier fortkommen. Die Huperei ist unerträglich!

Für dieses Szenario hat Wim bereits eine Routine entwickelt. Wenn auch der Ort noch nie so exponiert war. Trotz Déjà-vu-Erlebnis sind Schweißperlen und Schamröte unvermeidbar, als er wie ferngesteuert aussteigt, seinen Anlasser-Knüppel aus dem Kofferraum holt, die Motorhaube öffnet, dreimal gezielt zuschlägt, den Blechdeckel schließt, das Holzwerkzeug wieder verstaut, einsteigt, kuppelt, den Zündschlüssel dreht und davonfährt. Was, wenn jemand dieses Schauspiel, das es durchaus mit einem Sketch von Mr. Bean aufnehmen könnte, mit der Handykamera gefilmt hat und in den sozialen Medien verbreitet? Who cares! Tausende Klicks wären mir sicher. Wim Peter – YouTube-Star! Ein kleines, kaum sichtbares Schmunzeln kann er sich nicht verkneifen, während er vor einem Lebensmittelladen parkt. Dem nächsten potenziellen Kunden auf seiner Akquisitionsliste.

»Nein, danke. Wir brauchen nichts und sind zufrieden mit unseren Lieferanten«, lautet die Standardreaktion der Ladenbesitzerin.

»Freut mich, dass Sie wunschlos glücklich sind. Wie breit ist Ihr Gewürzsortiment? Führen Sie zum Beispiel Mischungen für die indische und asiatische Küche?«, versucht er, die Aufmerksamkeit auf eine Angebotslücke zu richten.

»Da haben wir in der Tat gar keine Auswahl. Aber solange die Konsumentinnen und Konsumenten uns nur berücksichtigen, wenn sie irgendetwas im Einkaufszentrum vergessen haben, kann ich mein Sortiment nicht beliebig vergrößern.«

»Auch nicht mit exotischen Gewürzmischungen in Bio-Qualität?«, startet Wim eine letzte Offensive.