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Thomas Kastura (Hrsg.)

Mord in der Buchhandlung

14 Todesfälle zwischen den Zeilen

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Zum Buch

Morde auf Abholung Buchhandlungen: Orte der Sehnsucht, der Fantasie und der Inspiration, begehbare Schatzkammern, Knotenpunkte des Miteinanders, kulturelle Grundversorger, Wissensspeicher, oft Espresso- und Weinquellen, immer aber Räume für Entdeckungen – und Ermittlungen. Denn manch unscheinbares »Schmöker-Eck« wird unversehens zu einem Schauplatz des Verbrechens. In dieser Kurzkrimisammlung haben sich 16 Autor*innen zusammengetan, um sich vorzustellen, wie sich ein Leseparadies mithilfe von Poesie, Nostalgie und Mordlust in einen Tatort verwandeln könnte. Von Ostfriesland bis Niederbayern, von Köln über die Schweiz bis nach Wien – im Namen der Literatur ist (fast) jede Straftat denkbar – und erzählbar.

Mit Beiträgen von: Gitta Edelmann, Heike & Peter Gerdes, Brigitte Glaser, Ule Hansen, Thomas Kastura, Tessa Korber, Sabina Naber, Günter Neuwirth, Barbara Saladin, Ulrike Schäfer, Regina Schleheck, Tanja Steinlechner, Ingrid Werner, Fenna Williams

Thomas Kastura, geboren 1966 in Bamberg, studierte Germanistik und Geschichte und arbeitet seit 1996 als Autor für den Bayerischen Rundfunk. Er hat zahlreiche Erzählungen, Jugendbücher, Kriminalromane und Thriller geschrieben. Im Jahr 2017 wurde er mit dem Glauser-Preis ausgezeichnet. Im Gmeiner-Verlag ist bereits seine Anthologie »Mörderischer Gardasee. 11 Krimis und 136 Freizeittipps« erschienen. Buchhandlungen sind seine zweite Heimat.

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Heike und Peter Gerdes

Heißes Pflaster

Brigitte Glaser

Die Kündigung

Gitta Edelmann

Die seltsame Geschichte von Jackie und Heidi

Günter Neuwirth

Die hinterlistige Stromfalle

Regina Schleheck

Ich lese, also spinn ich

Ulrike Schäfer

Alte Geschichten

Tessa Korber

Lange Nacht am Wörtersee

Ingrid Werner

Die Stunde der Wahrheit

Sabina Naber

Im Himmel

Ule Hansen

Die nette Frau Michels

Tanja Steinlechner

Der Käfig

Barbara Saladin

Mordkomplott mit Rattenschwanz

Fenna Williams

Heines Hexenhaufen

Thomas Kastura

Paradiesisch

Viten

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Heike und Peter Gerdes

Heißes Pflaster

»Er hat es schon wieder getan!« Empört blickt Herbert Hanser durch das Schaufenster seiner Buchhandlung auf den Imbiss an der gegenüberliegenden Straßenecke. »Heißes Pflaster« heißt das Ding und hat sich mit frisch gemachten Pommes einen ganz brauchbaren Ruf erworben. Das allein jedoch scheint dem Besitzer nicht zu reichen.

»Echt jetzt?« Hilde Hanser stellt sich neben ihrem Mann auf die Zehenspitzen, um die Werbetafel besser lesen zu können. »Das ist doch ein Scherz, oder? Wieso bietet eine Pommesbude auf einmal Pfannkuchen an?«

»Weil wir es auch tun«, erwidert Herbert Hanser grimmig. Zur gemeinsamen Buchhandlung gehört nämlich ein Café, in dem neben Kuchen und Getränken auch kleine herzhafte Speisen angeboten werden. Um die Aufenthaltsqualität zu verbessern – so haben sie es in ihrem Wirtschaftskonzept für die kreditgebende Bank formuliert. Hanser formuliert es gerne schlichter: »Gib den Leuten etwas zu essen und zu trinken, dann bleiben sie länger und kaufen mehr Bücher!« Das klappt ganz gut, ist aber manchem ein Dorn im Auge.

Zum Beispiel Bernd Boelsen, dem Pommes-Schmied von gegenüber. »Pass auf, demnächst verkaufe ich bei mir auch Bücher!«, hatte er angedroht. Das war noch als Scherz durchgegangen; Bücher in dieser fetttriefenden Räuchertonne von einem Imbiss, was für ein Gedanke! Aber Boelsen hat seine Drohung auf andere Art wahrgemacht. Seit einigen Wochen bietet er jedes Gericht, das die Hansers sich für ihr Café ausgedacht haben, binnen weniger Tage selbst an – und zwar einen Euro billiger.

»Ach, was soll’s!«, winkt Hilde Hanser ab. »Soll er doch billige Pfannkuchen verkaufen. Am besten backt er sie gleich in seinem Frittenfett!« Sie lacht. »Aber unsere tolle Terrasse, die kann er nicht kopieren!«

Die Sonnenterrasse des Cafés gleich hinter der Buchhandlung ist die Trumpfkarte von »Hansers Platz«, wie Herbert und Hilde ihren Laden getauft haben. Im Sommer sowieso, aber gerade im Frühling und Herbst kann man hier die ersten und die letzten Sonnenstunden des Jahres wind- und sichtgeschützt genießen, bei Kaffee oder Tee, Landbier oder Rotwein, Kuchen oder einem herzhaften Happen aus Hildes Küche. Besonders gut gehen Matjes, Chili con Carne und Labskaus. Und natürlich Pfannkuchen.

Auf diese Terrasse ist Boelsen offenbar besonders neidisch. So etwas hat er nicht, er kann seinen Kunden nur Stehtische an der Straßenecke anbieten. Vielleicht lässt er deswegen keine Gelegenheit aus, die Hansers und ihr Geschäft madigzumachen. »So ne alte Bruchbude, da wird doch alles nur mit Hansaplast zusammengehalten!«, hat er schon öfter getönt. Hinter ihrem Rücken nennt er ihr Geschäft sowieso ständig »Hansaplast«. Hilde und Herbert wissen das, denn sie sind mit einigen Kaufleuten in der Altstadt befreundet. Längst nicht mit allen; hier ist nicht jeder kollegial, viele kämpfen mit harten Bandagen um ihr täglich Brot. Die Altstadt ist wirklich ein heißes Pflaster.

Auch die Hansers würden gerne mehr in ihr Geschäft investieren. Aber das geht nicht. Auch wenn sie es nicht gerne zugeben: In der Altstadt kann man nicht reich werden. Klar, es kaufen Stammkunden und in den Ferien auch Touristen ein, vor allem im Sommer. Aber was die in die Kasse bringen, reicht gerade, um über die Runden zu kommen. Da muss oft improvisiert werden; ganz falsch ist der Hansaplast-Spruch also gar nicht. Ohne die Einnahmen durch die Sonnenterrasse müssten sie zumachen.

Apropos. »Hat sich Reinhard gemeldet?«, fragt Herbert seine Frau. Reinhard ist Stammkunde und Freund, außerdem handwerklich versiert und öfter mal knapp bei Kasse. Kein Problem, Reinhard repariert hin und wieder etwas an Haus und Mobiliar, dafür lassen die Hansers dann seinen Bierdeckel verschwinden. Aktuell ist sein Deckel wieder einmal voll, und das Pflaster beim hinteren Terrassentor, dort, wo es auf den Rathausplatz geht, müsste dringend neu verlegt werden. Ein Baum, der auf städtischem Boden wächst, hat mit seinen Wurzeln die Pflastersteine hochgedrückt. Ein paar Gäste sind dort schon gestolpert, vor allem in der Abenddämmerung, und die Hansers möchten nicht, dass etwas passiert.

»Ja, hat er«, bestätigt Hilde und verzieht das Gesicht: »Bandscheibenvorfall. Er fällt die nächsten Wochen komplett aus.«

Das ist blöd, denkt Herbert. Er würde die Pflasterei ja selbst machen, auch wenn das wirklich nicht sein Ding ist. Aber er weiß nicht, wie er verhindern soll, dass die Baumwurzeln gleich alle Arbeit wieder zunichtemachen. Klar, man könnte die Wurzeln kappen, aber Herbert hatte dummerweise die Baumschutzkommission der Stadt um Rat gefragt und die hat das kategorisch verboten. Der Baum sei schützenswert und gekappte Wurzeln könnten seine Standfestigkeit beeinträchtigen. Toll, denkt Herbert, soll ich das mit den Stolperfallen jetzt selbst regeln? Von dem ganzen Laub und der ständigen Vogelkacke auf der Terrasse ganz zu schweigen.

»Ruf doch mal im Rathaus an, ob die nicht einen Bautrupp schicken können«, bittet er Hilde.

Doch die hebt bedauernd die Arme. »Würde ich ja machen, aber unser Telefon ist tot. Den ganzen Morgen schon. Hoffentlich bleibt das nicht so, sonst weiß ich nicht, wie ich heute Abend den Kassenabschluss machen soll. Und vorher die neue Ware einbuchen. Läuft ja alles online.« Sie verschwindet in den Tiefen des Ladens.

»Auch das noch!« Telefonchaos können die Hansers gar nicht gebrauchen. Laden und Café müssen erreichbar sein. Ständig rufen Leute an, reservieren Tische oder bestellen Bücher. Wer will schon zweimal laufen für ein einziges Buch? Die noch Bequemeren bestellen sowieso alles online.

Hanser zückt gerade sein Handy, als er Schritte auf der Terrasse hört. »Das Café ist noch nicht geöffnet«, ruft er dem Ankömmling zu, so freundlich, wie es ihm unter diesen Umständen möglich ist. »Aber wenn Sie ein Buch kaufen möchten, dann können Sie …«

Der Mann schüttelt seinen sauber gescheitelten Kopf. »Freesemann, Ordnungsamt«, stellt er sich vor. »Uns liegt eine Beschwerde vor.« Er deutet auf die unebenen Pflastersteine beim Tor. »Wie ich sehe, wurde der Sachverhalt korrekt geschildert. Der Zustand der Pflasterung beim Eingang zu Ihrer Terrasse stellt eine Gefährdung dar. Unter diesen Umständen ist eine kommerzielle Nutzung dieses Areals leider nicht zulässig.«

Herbert Hanser blinzelt in die Frühsommersonne, lauscht für einen Moment den jubilierenden Vögeln und den summenden Bienen. »Wie jetzt?«, sagt er dann. »Die Ursache ist aber doch ein städtischer Baum, der uns die Steine hochgedrückt hat!«

Freesemann schüttelt den Kopf. »Es ist Ihre Terrasse und nur deren Zustand habe ich zu beurteilen. Rufen Sie uns an, wenn der Schaden behoben ist. Dann machen wir gerne einen Termin für eine Ortsbesichtigung zur Prüfung einer eventuellen Neuerteilung Ihrer Bewirtschaftungslizenz. Aber denken Sie daran, bald beginnt die Urlaubszeit, da wird es schwierig mit Terminen.« Er lächelt freundlich. »Dafür haben Sie doch bestimmt Verständnis.«

»Verständnis?« Herbert Hanser spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt. »Hier geht es doch nicht um Verständnis, hier geht es ums wirtschaftliche Überleben! Die Urlaubszeit hat begonnen, das Wetter ist gut, da wollen unsere Gäste auf der Terrasse sitzen! Wenn sie das nicht dürfen, gehen sie woandershin. Und Bücher kaufen sie auch nicht bei uns. Ohne die Umsätze, die uns dann wegbrechen, kommen wir einfach nicht klar!«

»Bedaure.« Herr Freesemann gibt sich verbindlich, aber unnachgiebig. »Man könnte ja über Fristen reden, wenn es nicht schon diese Anzeige gäbe. Dadurch sind mir leider die Hände gebunden. Hiermit ist die Terrasse vom ›Hansaplast‹, äh, ich meine natürlich von ›Hansers Platz‹ offiziell geschlossen.«

Herbert Hanser schäumt. »Anzeige! So eine Schweinerei, es hat sich doch keiner verletzt, das wüsste ich! Wer hat uns denn angezeigt? Kann man mit dem vielleicht reden?«

»Der Name unterliegt der absoluten Vertraulichkeit. Nicht, dass Sie den Mann noch unter Druck setzen.« Der Beamte verbeugt sich steif und verlässt das Gelände. Auf dem unebenen Pflaster am Tor kommt er kurz ins Straucheln. Herbert Hanser findet das echt provokant.

Als er zurück in den Buchladen will, kommt seine Frau ihm entgegen, ihr Handy in der Hand und völlig aufgelöst. »Herbert, stell dir vor, die Telefonfirma behauptet, wir hätten unseren Anschluss selbst abgemeldet! Vielmehr du hättest das gemacht! Herbert Hanser vom ›Hansaplast‹! Ist das zu fassen? Sag mal …« Hilde fixiert ihn misstrauisch. »Kann das sein? Du reagierst ja manchmal so impulsiv.«

»Was, ich? Wie käme ich denn dazu?«, empört sich Herbert.

»Na ja, die Rechnung neulich war schon ziemlich hoch.« Hilde stemmt die Fäuste in die Seiten: »Wirklich nicht?«

»Jetzt geht’s aber los!« Herbert kratzt sich im Nacken. Ein Haarschnitt wäre auch mal wieder fällig, aber kann er sich den überhaupt noch leisten? »Sag mir lieber, was wir jetzt tun sollen«, fordert er Hilde auf. »Ohne Festnetzanschluss kommen wir doch gar nicht klar.«

»Hab schon einen neuen Anschluss beantragt.« Hilde Hanser seufzt. »Dauert natürlich vier Wochen, bis der freigeschaltet ist. Muss erst beim Anbieter durch alle möglichen Abteilungen. Von wegen, man redet mal selbst mit dem Techniker! Kannst du vergessen. Läuft alles über Callcenter, total anonym, und wenn du irgendwas auszusetzen hast, wird der Auftrag gleich gecancelt, dann geht alles von vorne los.« Sie schüttelt den Kopf. »Jedenfalls sagen die, wir sollen uns die nächsten Wochen mit meinem alten Handy behelfen. Ist total umständlich, vor allem bei Kassenabschlüssen und Wareneingängen, macht die doppelte Arbeit. Ist aber die einzige Möglichkeit.«

Als Herbert sieht, dass Hilde den Tränen nahe ist, schließt er sie tröstend in die Arme. Von der Terrassensperrung erzähle ich ihr lieber erst einmal nichts, denkt er bei sich. Obwohl, wie soll er das vor ihr verbergen, wenn die Kunden nicht mehr auf die Terrasse dürfen? Also bringt er es ihr schonend bei.

»Herr und Frau Hanser, nehme ich an? Fisser, Steuerfahndung. Guten Tag.« Ein junger Mann in legerem Sportsakko und mit einer sündhaft teuer aussehenden Uhr am Handgelenk kommt federnden Schrittes durchs Café auf die Terrasse. Hagelweiße Zähne erstrahlen in seinem gleichmäßig gebräunten Gesicht. »Das örtliche Finanzamt hat Hinweise bekommen, denen ich leider nachgehen muss. ›Leider‹ aus Ihrer Sicht natürlich. Für mich gibt es hier kein Leider, ich verdiene damit mein Geld.« Er schenkt seiner Armbanduhr einen verliebten Blick.

»Hinweise? Ausgeschlossen.« Herbert Hanser wirft sich in die Brust. »Wenn es hier jemand genau nimmt mit den Steuervorschriften, dann sind wir das! Bei uns geht jede Postkarte durch die Kasse, jeder Kaffee und jedes Bier! Egal, wer uns da angeschwärzt hat – der spinnt. Schauen Sie sich ruhig alles an, Sie werden nichts finden!«

Der Steuer-Mann lächelt herablassend. »Ach, das höre ich oft! Aber ich finde immer etwas. Und bei Ihnen, da bin ich mir sicher, gibt es jede Menge zu holen! Ich weiß nämlich schon genau, wonach ich suchen muss.«

Herbert Hansers Selbstsicherheit bekommt Risse. Seine Frau Hilde hat schon wieder Tränen in den Augen. »Um Himmels willen, was meinen Sie denn?«, stößt sie hervor.

»Sie veranstalten doch literarisch-kulinarische Events, stimmt’s?«, fragt Fisser.

»Stimmt«, erwidert Herbert Hanser. »Ist nur logisch, schließlich betreiben wir eine Küche, da liegt es nahe, verschiedene Genüsse zu kombinieren.«

»Schön gesagt.« Fissers Lächeln wechselt ins Maliziöse, als er eine Liste aus der Tasche zieht. »Im Einzelnen veranstalten Sie literarische Weinproben, kulturelle Bustouren, Krimi-Dinners, musikalische Whiskyproben, mörderische Menüs … und so weiter. Sehr einfallsreich, muss ich zugeben. Und die Einnahmen versteuern Sie alle ordnungsgemäß, ja?«

»Aber sicher!« Hilde Hanser wird laut. »Jeden einzelnen Euro! Was wollen Sie uns denn unterstellen?«

»Und welchen Steuersatz setzen Sie für diese Einnahmen an?«, erkundigt sich Fisser lauernd.

»Ach, darauf wollen Sie hinaus!« Herbert Hansers Lachen klingt gequält. »Das unterteilen wir natürlich exakt! Sieben Prozent auf den kulturellen Teil, 19 Prozent auf den kulinarischen. Das halten wir genau auseinander.«

»Ich erkenne Ihr Bemühen.« Der Steuer-Mann fächelt sich mit seiner Liste geziert Luft zu. Inzwischen liegt die Terrasse im schönsten Vormittagslicht, doch die Sonnenschirme sind noch nicht aufgespannt. »Leider sind Sie nicht auf der Höhe der gesetzlichen Regelungen. Fakt ist folgender: Wenn die verschiedenen Bestandteile einer kombinierten Veranstaltung unterschiedlichen Steuersätzen unterliegen, so findet grundsätzlich der höhere Satz auf die Gesamtveranstaltung Anwendung. Sie verstehen? Das, was steuerlich zusammengehört, das soll der Steuerpflichtige nicht teilen! Sie aber haben das getan. Hat Ihnen eine Menge Geld gespart, aber jetzt kommt das böse Erwachen. Sagen Sie, wie lange machen Sie solche Veranstaltungen denn schon in Ihrem, äh, ›Hansaplast‹?«

»Etwa zehn Jahre«, haucht Hilde Hanser.

»Oh, oh, oh«, höhnt Fisser. »Das wird teuer!«

Noch am selben Tag macht sich Herbert Hanser daran, das Terrassentor abzusperren und das schadhafte Pflaster herauszustemmen. Die ungewohnte Arbeit fällt ihm schwer. Sein Rücken schmerzt, an den Händen bekommt er Blasen, der Schweiß brennt in seinen Augen. Trotzdem schafft er es, unter dem Torbogen eine flache Grube auszuheben und die Baumwurzeln, die ihm dieses Ungemach eingebrockt haben, freizulegen. Aber was jetzt? Kappen darf er sie nicht, und so ein Baum lässt sich nicht vorschreiben, in welche Richtung seine Wurzeln zu wachsen haben.

Hilde Hanser hat derweil gerechnet. »Setz dich lieber«, rät sie und reicht ihm ein Glas Weißwein. Dann legt sie ihm die Zahlen vor. Die Steuernachzahlung wird fünfstellig ausfallen, so viel ist klar. Die entgangenen Einnahmen durch den stillgelegten Telefonanschluss sind schwerer zu kalkulieren, aber sicher auch erheblich. Und die gesperrte Terrasse ist die Krönung. »Von diesen Einnahmen zehren wir sonst das ganze Jahr über«, seufzt Hilde. »Wer hat uns das alles angetan? Und wie sollen wir das überstehen? Unsere Rücklagen haben wir doch schon während der Corona-Krise aufgebraucht!«

Beim Gedanken an die überstandene Pandemie läuft es Herbert Hanser kalt den Rücken runter. Die wochenlange Ladenschließung, der mühsame Aufbau eines Bestell- und Lieferservices, die Kurzarbeit für alle Angestellten, die komplizierten Anträge auf Überbrückungshilfe, das nervenzehrende Warten auf Bescheide, schließlich das wenige Fördergeld, kaum genug zum wirtschaftlichen Überleben! Genau das haben sie damals geschafft. Aber ob ihnen das ein zweites Mal gelingen würde? Herbert Hanser fürchtet, dass sein Improvisationstalent dafür nicht ausreichen wird. »Von wegen ›Hansaplast‹«, murmelt er vor sich hin.

Hilde hebt den Kopf. »Ja, merkwürdig«, stimmt sie zu. »Wie kamen die nur alle darauf?«

»Wer jetzt?« Herbert hat gedankenverloren seinem frisch gefüllten Weißweinglas beim Beschlagen zugeschaut und dabei überlegt, wie lange er sich den guten Pinot Grigio noch würde leisten können. »Wie kam wer auf was?«

»Na, der Typ vom Ordnungsamt hat unseren Laden ›Hansaplast‹ genannt. Ebenso wie der Kerl von der Steuer. Ist doch eigenartig.«

Herbert Hanser nimmt einen weiteren großen Schluck, dann zuckt er die Achseln. »Haben die bestimmt irgendwo aufgeschnappt. Gibt ja ein paar Stinkstiefel hier, die uns so nennen.«

»Aber der Mann von der Telefongesellschaft!«, trumpft Hilde auf. »Der aus dem Callcenter! Der ist doch überhaupt nicht von hier. Woher kann der diesen fiesen Spitznamen denn kennen?«

Herbert stellt sein Glas ab und richtet sich auf. »Von dem, der uns angeschwärzt hat«, murmelt er. »Von dem Denunzianten! Da gab’s ja einige zu Corona-Zeiten. Aber wer jetzt dahintersteckt, das weiß ich genau.« Er steht von seinem Terrassenstuhl auf.

»Herbert!«, ruft Hilde erschrocken. »Tu nichts Unüberlegtes! Du hast getrunken!«

»Ganz genau«, murmelt Herbert und marschiert los.

Der Imbiss hat schon geschlossen, aber Bernd Boelsen ist noch da. Er steht in seinem Laden vor den schmierigen Fritteusen, aber anstatt sie zu reinigen, telefoniert er. Mit gedämpfter Stimme und dem Rücken zur Tür, aber da die einen Spaltbreit geöffnet ist, versteht Herbert Hanser jedes Wort.

»Ich weiß, dass wir ein größeres Haus als Basis brauchen«, sagt Boelsen gerade. »Kriegen wir auch! Ideales Objekt, mit großem Keller. Super Lage, das Gelände hat guten Sichtschutz.« Der Imbisswirt schweigt und lauscht. »Nein, noch ist es nicht meins, aber bald! Hab die Leute schon weichgeklopft. Als Nächstes schick ich denen das Gesundheitsamt auf den Hals.« Boelsen bückt sich und holt aus einem Unterschrank eine halbtransparente Anglerbox hervor, in der es heftig wimmelt. »Dauert nicht mehr lange, dann verkaufen die mir den Schuppen zum Vorzugspreis und küssen mir noch die Hände dafür. Wenn Bares lacht, können die bestimmt nicht widerstehen. Nicht nach ihrem Erlebnis mit der Steuerfahndung!« Er öffnet eine Gefriertruhe, wirft einen Blick hinein. »Nächste Woche wie immer? Okay, alles klar.« Boelsen verabschiedet sich mit »Tot ziens!« und legt auf.

Herbert Hanser beobachtet, wie Boelsen einen flachen Pappkarton aus der Truhe holt und ihn inspiziert. »Frikandel«, steht drauf, aha, eine niederländische Spezialität. Seit wann bietet der Imbiss denn die an? Aber in dem Karton sind gar keine wurstähnlichen Bratröllchen, sondern Geldscheine. Viele, viele Bündel. Und als Boelsen den Karton zurück in die Truhe stellt, sieht es so aus, als seien dort noch mehr von der Sorte drin.

Eilig macht Herbert sich davon, huscht am Antiquitätenladen vorbei und verdrückt sich in die kleine Seitengasse dahinter. Von dort kann er beobachten, wie Boelsen in Richtung »Hansers Platz« spaziert, die Anglerbox am schlenkernden Arm, dabei unauffällig nach allen Seiten sichernd. Es ist schon weit nach Ladenschluss, die Altstadt liegt da wie ausgestorben.

Hanser widersteht der Versuchung, hinter Boelsen herzulaufen und auf ihn einzuschlagen, so wie er vorhin der Versuchung widerstanden hat, ihn in seinem eigenen Frittenfett zu ersäufen. Stattdessen wartet er ab, bis der Imbisswirt in der engen Gasse, die am Buchladen vorbei zur Terrasse führt, verschwunden ist. Dann rennt er los, schließt die Vordertür seines Ladens auf und hastet durch die Verkaufsräume nach hinten. Gleichzeitig mit Boelsen kommt er an der hinteren Tür zum Café an, die verschlossen ist, aber noch nicht verriegelt. Kein Problem, die beiden Flügel mit einem Ruck nach außen aufzuziehen. Offensichtlich weiß Boelsen das.

Hanser erwartet ihn, in den Händen ein Telefonkabel. Er schlingt es Boelsen von hinten über den Kopf und zieht mit aller Kraft zu. Der Imbisswirt röchelt und zappelt, ist aber zu überrascht, um seine Finger noch unter das Kabel zu bekommen. Schon erlahmt sein Widerstand.

»Herbert!«, schreit Hilde Hanser, die in diesem Moment aus der Caféküche tritt. »Herbert, um Gottes willen, was machst du denn da?« Im nächsten Moment bemerkt sie die Anglerbox, die Boelsen aus der Hand gefallen ist, und registriert deren Inhalt. »Igitt! Wo wollte der denn damit hin?«

»In unsere Küche«, knurrt Herbert, während er weiter an beiden Enden des Kabels zerrt. Die nutzlose Station der stillgelegten Telefonanlage klappert auf den Fliesen, weil Boelsen sich immer noch wehrt.

Hilde tritt ganz dicht an Herbert heran. Sie legt ihm ihre Hand auf den Arm. »Lass los, Herbert«, bittet sie sanft. »Lass mal das eine Ende los. Das nehme ich. Und jetzt kräftig ziehen, wir beide zusammen!«

»Na, das hat sich aber mal gelohnt!« Die Bürgermeisterin schnappt sich ein Glas Crémant und schwenkt es auffordernd in die Runde. »Auf unsere Gastgeber! Mögen sie lange und erfolgreich ihre Kunden und Gäste in ihrem wundervoll renovierten Haus und auf dieser prachtvoll hergerichteten Terrasse empfangen und bewirten! Frau Hanser, Herr Hanser, ich bin überwältigt, was für einen überzeugenden Neustart Sie nach all den Krisen hingelegt haben! Respekt, vor allem, weil das alles auch seine Zeit gedauert hat. Der Sommer ist fast darüber hingegangen.« Sie blinzelt in die Septembersonne, die sich an diesem Tag nicht lumpen lässt.

»Auf die Hansers!« Gläser klirren beim Anstoßen, Glückwünsche werden gerufen, dann geht alles in einer Woge angeregter Unterhaltung unter. Wer in der Kulturszene der kleinen Stadt etwas gilt, ist erschienen und drängt sich nun in der herausgeputzten Buchhandlung, dem rundum renovierten Café und vor allem auf der komplett neu möblierten und gepflasterten Terrasse. Selbst Herr Fisser vom Finanzamt ist da und guckt zufrieden wie eine satte Katze. Alle sind des Lobes voll.

Die Bürgermeisterin inspiziert die Pflasterung am hinteren Tor, Seite an Seite mit dem sauber gescheitelten Herrn Freesemann vom Ordnungsamt, umringt von Mitgliedern der städtischen Baumkommission. »Sehr elegant gelöst«, lobt deren Vorsitzender. »Eine doppelseitige Rampe zur Überbrückung des Wurzelwerks! Hervorragende Idee. Aber wie verhindern Sie, dass die neuen Steine womöglich auf die Wurzeln drücken? Das könnte den Baum schädigen!«

»Das haben wir bedacht«, beteuert Herbert Hanser und tritt auf den Scheitelpunkt der beiden Rampen direkt unter dem metallenen Torbogen. »Hier, genau unter mir, verläuft eine Betonschwelle, die den gesamten Druck auffängt. Sie reicht von hier bis hier« – er schreitet gute zwei Meter ab – »und in der Breite von da bis dort, also gut einen Meter.« Mit beiden Füßen trampelt er auf die Pflastersteine, stampft mit seinem ganzen Gewicht. »Sehen Sie? Da rührt sich nichts! Die Baumwurzeln können sich frei entfalten.«

Die Baumkommissare applaudieren, dann zerstreuen sie sich, um ihre Gläser auffüllen zu lassen. Dafür erscheint ein großer, breiter Mann mit weißblondem, stoppelkurzem Haar. »Hauptkommissar Stahnke, Kriminalpolizei«, stellt er sich vor. »Respekt für Ihre Arbeit! Ihr Laden wertet die Altstadt deutlich auf. Zusammen mit einigen anderen Faktoren.«

»Wie meinen Sie das?«, fragt Herbert Hanser unsicher.

»Na ja«, sagt Stahnke. »Ein weiterer Faktor ist, dass diese schmierige Pommesbude, die früher an der Ecke gegenüber war, seit einiger Zeit geschlossen ist. Der neue Käseladen zieht doch eine viel angenehmere Klientel an! Sehr positiv ist auch, dass sich die Dealerszene aus der Altstadt zurückgezogen hat. Früher war das ja ein ganz heißes Pflaster. Hier irgendwo müssen die Niederländer ihre Basis gehabt haben, aber die haben sie wohl verloren.«

»Was Sie nicht sagen«, kommentiert Herbert Hanser mit unbewegter Miene.

»Tja, so kommt eins zum anderen.« Stahnke klopft ihm anerkennend auf die Schulter. »Ich finde es bemerkenswert, dass Sie genügend Kapital aufgetrieben haben, um all das hier realisieren zu können. Mögen diese Mäuse bald Junge kriegen!« Damit verabschiedet er sich.

Herbert Hanser schaut dem breiten Rücken des Hauptkommissars nach, bis er im Getümmel verschwunden ist. Dann verdrückt er sich hinters Haus, dorthin, wo der große Papiercontainer steht, und vergewissert sich, dass auch wirklich kein einziges Stück Pappkarton mehr herumliegt. Vor allem keins mit der Aufschrift »Frikandel«.

Brigitte Glaser

Die Kündigung

Ottos Mops kotzt. Nein, ich übe keine Jandlschen Zungenbrecher, Ottos Mops kotzt wirklich. Gestern aufs Sofa, heute Nacht auf den Flokati im Wohnzimmer. Eklig. Ottos Mops ist eine Plage. Da ist es auch kein Trost, dass ich mit Ottos Mops immer nach draußen darf, wenn er muss. Mit Hunden dürfen selbst Italiener raus, und die haben deutlich strengere Ausgehverbote als wir. In Italien gieren die Nachbarn von Hundebesitzern sogar danach, mal mit dem Wauwau an die frische Luft zu dürfen. Das ist bei uns leider nicht der Fall. Keiner will mir Ottos Mops abnehmen. Dabei gehört er mir gar nicht, er gehört Otto König. Wir haben ihn entführt, und das war – wie sich danach herausstellte – ein bisschen übereilt.

Ja, wenn ich Doro eingeweiht hätte … Aber erstens gab es wenig Grund, anzunehmen, dass wir erfolgreich sein würden, und zweitens wollte ich bei Doro nicht die Hoffnung wecken, wir könnten ihren Buchladen retten. Vor einer Woche rief sie mich völlig erschüttert an und erzählte, dass der König ihr von jetzt auf gleich das Ladenlokal gekündigt hätte. Mich traf fast der Schlag. Schließlich ging es um den Laden, in dem ich in Studienzeiten auf Camus’ »Die Pest« stieß, den Laden, in dem ich von dem ersten Gehalt mein erstes Hardcover »Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez kaufte, den Laden, in dem ich ein paar Jahre später Harry Rowohlt aus Flann O’Briens »Trost und Rat« lesen hörte, den Laden, in dem ich unzählige Stunden beim Schmökern verbracht habe, den Laden, in dem ich – auch dank Doro und ihrer Kollegen – wahre Schätze entdecke, den Laden, wo ich jedes Buch, und sei es noch so speziell, innerhalb kürzester Zeit bekomme. Es ging um den schönsten, besten, großartigsten Buchladen weit und breit. Und den sollte es bald nicht mehr geben?

Das kann nicht sein, das darf nicht sein, sagte ich mir und überlegte, wie ich den Buchladen retten könnte. Deshalb habe ich die anderen angerufen und zu MäcDo bestellt. Das war kurz vor Beginn der Corona-Ausgangssperre. Noch hatten Kneipen und Restaurants geöffnet, noch gab es ein Fünkchen Hoffnung, dass es uns nicht so hart treffen würde. Wir wählten den Tisch am Fenster, Ralle, Valery, der Hirt und ich, und wir fielen auf. Erstens, weil wir zu viert am Tisch saßen – das war zu diesem Zeitpunkt schon eine Seltenheit –, und zweitens, weil wir nicht wie normale MäcDo-Besucher aussahen, mit Ausnahme von Ralle vielleicht. Der mampfte seinen BigMäc, als würde er dies öfter tun. Valery dagegen knusperte eher lustlos an einer Apfeltasche und der Hirt hatte, weil er halt irgendwas bestellen musste, ein Mineralwasser vor sich stehen. Damit das klar ist: Ich habe MäcDo nur als Treffpunkt gewählt, weil er nun mal direkt gegenüber von Doros Buchladen liegt.

»Sie hat wieder wunderschön dekoriert.« Valery legte die Apfeltasche ab und wies mit dem Kopf auf Doros Schaufenster. »Nur Bücher in Zartgrün, Rosa und Mauve. Ein echter Hingucker. Schaut doch nur, wie viele Leute stehen bleiben.« Wie stets war sie adrett in Pink und Grasgrün gekleidet. Aus dem pinken Mohairpulli lugte ein weißes Krägelchen.

Der Hirt nahm einen Schluck Wasser, das ihm nicht schmeckte, Ralle biss in seinen BigMäc, ich nickte halbherzig. Natürlich wussten wir alle, dass unter den Büchern in Zartgrün Valerys neuester Landhauskrimi lag, aber keine unserer Neuerscheinungen.

»Bist du sicher, dass der König ihr gekündigt hat?« Ralle wischte Remoulade aus seinem gewaltigen Bart. Ich weiß, dass er ihn regelmäßig bei dem türkischen Barbershop neben dem »Centrale« am Markt stutzen lässt, weil er davon jedes Mal Fotos auf Facebook postet. Die Barbershop-Fotos nutzt er, um für seine Krimis zu werben, denn neben dem Bart sind darauf immer seine T-Shirts zu sehen, die er stets mit dem Cover seines neuesten Buchs bedruckt. Diese T-Shirts trägt er dauernd, der Mann ist seine eigene Litfaßsäule.

»Ende Juni muss sie raus«, erklärte ich. »Nicht mal eine Fristverlängerung hat er ihr gewährt.«

Otto König gehören drei Spielhallen im Viertel, die größte nur zwei Häuser von Doros Laden entfernt. Die zwei Häuser hat er im letzten Jahr gekauft und sich nun auch noch das Haus mit dem Buchladen unter den Nagel gerissen.

»Der König will sein Imperium vergrößern. Als ob unser Viertel noch einen Spielsalon braucht«, ätzte der Hirt und rückte die schicke rahmenlose Brille zurecht. Teuer, aber mit Understatement, so kleidet er sich gerne. Perlgrauer Anzug, weißes Hemd mit offenem Kragen und so weiter.

»Doros Laden ist das Herz des Viertels! Für jeden hat sie ein offenes Ohr!« Valery erneuerte den Knoten in dem grasgrünen Tüchlein über dem weißen Krägelchen. Immer trägt sie so ein Tüchlein, wahrscheinlich wegen der Falten. Nirgendwo sind sie so verräterisch wie am Hals. »Der Laden ist eine Wohlfühloase zwischen Spielhallen, Ein-Euro-Läden und Handyshops«, ereiferte sie sich weiter. »Ein Ruhepol nach hektischen Einkäufen, die letzte Rettung, wenn man schnell ein Geschenk braucht. Zum Beispiel einen Landhauskrimi und dazu die Gartenhandschuhe in passendem …«

»Entscheidend ist, dass in ihrer gut sortierten Belletristik-Abteilung Klassiker genauso zu finden sind wie aktuelle Neuerscheinungen«, fuhr ihr der Hirt in die Parade.

»Wirklich entscheidend ist, dass sie auch Krimis von Selfpublishern vertreibt und nicht nur Bestseller in den Regalen stehen.« Ralle funkelte den Hirt an und knüllte seine Papierserviette zusammen. »Und dass man bei ihr stundenlang schmökern darf«, fügte er hinzu.

Der Hirt scherte sich nicht um das Funkeln. »Genug Gemeinplätze getauscht«, bestimmte er und schaute mich an. »Sag endlich, warum wir hier sind! Ich habe nicht unbegrenzt Zeit.«

Noch vor einer Stunde fand ich meine Idee genial, die Krimizunft des Viertels zusammenzutrommeln, um gemeinsam einen Plan zur Rettung von Doros Laden zu schmieden. Wer weiß besser, wie man einen windigen Spielhallenbetreiber und aufstrebenden Immobilienhai in seine Schranken weist als die Experten für Mord und Totschlag, Kidnapping und Erpressung, Intrigen und Fallgruben? Ja, wir alle schreiben Krimis. Verbrechen sind unser täglich Brot. Allerdings können sich nicht alle die Butter aufs Brot leisten, denn die Schriftstellerei ist ein schwieriges Geschäft. Auf der Erfolgsleiter stehen wir auf verschiedenen Stufen: ganz oben Oskar Hirt mit seinen literarischen Krimis – immer mit gesellschaftlich relevanten Themen, alles Bestseller, mehrfach preisgekrönt, immer Hardcover. Es folgt Valery Kohler, Erfinderin der pausbäckigen Hobbyermittlerin Frau Wuttke, die ganz ordentlich von ihren Landhauskrimis leben kann. Ein paar Stufen tiefer ich. Meine Regiokrimis um das Ermittlerduo Listig und Schlau werfen schon was ab, doch ohne meine Halbtagsstelle im Wasserwirtschaftsamt komme ich nicht über die Runden. Ganz unten dann Ralle Rankowski, Verfasser düsterer Survival- und Endzeit-Krimis, bei denen selten mehr als einer überlebt. Er verlegt seine Bücher selbst, Kennzeichen: schwarzes Cover mit roter Dracula-Schrift. Wovon Ralle lebt, weiß keiner so genau, aber immerhin reicht sein Geld für regelmäßige Besuche im Barbershop.

Wir kennen uns, weil Doro uns im Herbst immer zu ihrer Lesereihe »Wenn die Blätter fallen« einlädt und wir als Local Heroes den Krimiabend bestreiten. Immer in derselben Reihenfolge: Ralle macht mit seinem Hang zu blutrünstigen Szenen und Apokalypsen den Anfang, dann beruhigt Valery die Gemüter mit eleganten Verbrechen in beschaulichem Landhausflair, ich folge mit meinem witzigen Ermittlerduo Listig und Schlau und der letzte Part gehört stets dem Hirt, Spannung pur bei höchster literarischer Qualität. Am Ende alle noch mal nach vorne, donnernder Applaus. Ich halte mich dabei gerne im Hintergrund, ich hasse es, im Rampenlicht zu stehen oder mich in den Vordergrund zu drängen – im Gegensatz zu den anderen. Von denen ist jeder davon überzeugt, der Beste zu sein, aber der Hirt lässt sie am Ende des Abends gern spüren, dass er in einer ganz anderen Liga spielt. Was immer für ein bisschen schlechte Laune sorgt.

Natürlich hat Doro unsere Bücher, und nicht nur die Neuerscheinungen, immer vorrätig. Bei Ralle allerdings nur die aus dem laufenden Jahr, denn er haut alle drei Monate einen neuen Krimi raus. Und natürlich liegen unsere Bücher auch in ihrem Schaufenster, falls die Farbe stimmt. Nur der Hirt bekommt immer ein Schaufenster für sich allein, wenn er eine Neuerscheinung hat, da spielt die Farbe dann keine Rolle. Bei all ihrer Fürsorglichkeit und ihrem Gerechtigkeitssinn ist Doro auch Geschäftsfrau und der Hirt zieht halt Publikum, da rollt der Rubel. Ralle bringt das in Rage, Valery stichelt darüber und ich leide stumm. Uns verbindet also keineswegs das Motto der Drei Musketiere: »Einer für alle, alle für einen«.

Deshalb fragte ich mich im MäcDo, ob es wirklich eine gute Idee war, bei der Rettung von Doros Laden auf die Krimizunft zu bauen. Damals machte ich fünf Kreuze, weil ich Doro nichts von diesem Treffen erzählt hatte. Hätte ich doch nur … Aber hinterher ist man immer schlauer.

»Ist doch klar, weshalb wir hier sind«, dröhnte Ralle. »Doros Laden muss bleiben, wo er ist. Bei den Immobilienpreisen kann sie sich hier im Viertel kein anderes Geschäft leisten.«

»Da hält sie sich wacker und ideenreich gegen den Online-Handel mit dem großen A, und jetzt zwingt sie ein Spielhöllenbesitzer in die Knie. Das ist bitter!«, seufzte der Hirt. »Ich setze gerne eine Unterschriftenliste auf, unterschreibe als Erster und lasse die Aktion über meine Online-Kanäle laufen«, erklärte er großzügig. »Was haltet ihr von einer Demo? Bring ich auf den Weg und laufe vorneweg. Wenn wir nicht für den lokalen, unabhängigen Buchhandel kämpfen, wer dann?«

»Glaubst du im Ernst, der König lässt sich von einer Online-Aktion oder einer Demo beeindrucken, selbst wenn du vorneweg läufst?«, blaffte Ralle.

»Ist der König eigentlich immer noch mit der blonden Susi aus dem Nagelstudio zusammen?«, erkundigte sich Valery. »Da lass ich immer meine Nägel machen. Ich könnte mal ein Wörtchen …«

»Ein Wörtchen!« Ralle imitierte Valerys hohe Stimme. »Ein Wörtchen von Frau zu Frau … Noch nie davon gehört, dass hinter einem gierigen Mann eine noch gierigere Frau steht?«

»Worte sind unsere Waffen. Auch wenn du nicht so gut damit umgehen kannst wie wir«, giftete Valery zurück.

»Meine Rede«, stimmte der Hirt ihr zu.

»Der König hat sich noch nie für Wörter interessiert«, warf ich ein. »Den beeindrucken nur Zahlen und Tatsachen.«

»Schaffen wir Tatsachen und kidnappen ihn«, schlug Ralle vor. »Wir schleppen ihn zu der einsamen Eifelhütte, wo mein letztes Survival-Training gestartet ist. Ohne Guide braucht er mindestens einen, eher drei Tage, bis er auf bewohntes Gebiet vorstößt. Der Mann sitzt tagein, tagaus in seinen Spielhallen oder dem »Centrale«, der kennt Natur nur aus dem Fernsehen. Glaubt mir, der wird schnell mürbe. Dann tauche ich auf, inkognito, Sturmhaube und so weiter, verspreche, ihn heim ins Himmelreich zu führen, wenn er die Kündigung für Doros Laden zurücknimmt. Natürlich schriftlich mit allem Pipapo. Fertig ist die Laube!«

»Du denkst die Dinge nicht zu Ende, Ralle«, tadelte ihn der Hirt und straffte seinen Oberkörper unter dem weißen Hemd. »Selbst wenn der König in der Situation die Kündigung zurücknimmt, sowie er wieder in der Stadt ist, wird sein Anwalt den Vorgang für null und nichtig erklären. Sein Mandant habe nur unter Druck, nach Kidnapping, zugestimmt und so weiter. Zudem wird er Doro verdächtigen, hinter der Sache zu stehen. Und du willst doch nicht im Ernst, dass sie deine Schwachsinnsaktion ausbaden muss?«

»Hast du einen besseren Vorschlag?«, bellte Ralle ihn beleidigt an.