Paul Ott / Barbara Saladin (Hrsg.)
MordsSchweiz
Krimis zum Schweizer Krimifestival
25 Verbrechen 25 Autorinnen und Autoren aus allen Regionen der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz sind in „MordsSchweiz“ mit ihrem neusten Kurzkrimi versammelt. Die Kurzgeschichten führen auf eine Reise durch die facettenreiche Bandbreite des aktuellen Schweizer Krimischaffens, vom Cosy Crime über Detektivgeschichten, den historischen Krimi oder den Rachekrimi bis hin zum Agenten- und Psychothriller.
Die Mörderinnen und Mörder auf dem Papier sind: Nicole Bachmann, Daniel Badraun, Peter Beck, Christine Bonvin, Wolfgang Bortlik, Christine Brand, Andrea Fazioli, Regine Frei, Christof Gasser, Silvia Götschi, Stefan Haenni, Ina Haller, Petra Ivanov, Thomas Kowa, Paul Lascaux, Sunil Mann, Monika Mansour, Isabel Morf, Irène Mürner, Stephan Pörtner, Marcus Richmann, Sandra Rutschi, Barbara Saladin, Roland Voggenauer, Raphael Zehnder.
Paul Lascaux ist das Pseudonym des Schweizer Autors Paul Ott. Der 1955 geborene Germanist und Kunsthistoriker ist am Bodensee aufgewachsen und lebt in Bern. In den letzten 40 Jahren hat er vor allem Kriminalromane und kriminelle Geschichten veröffentlicht. Als Herausgeber von Krimi-Anthologien und Initiator des Schweizer Krimifestivals »Mordstage« hat er sich einen Namen gemacht.
Barbara Saladin wurde an einem Freitag, dem 13. geboren und lebt als freie Journalistin, Autorin und Texterin in einem kleinen Dorf im Oberbaselbiet. Sie schreibt Kriminalromane und Kurzgeschichten, Reiseführer und Theaterstücke, Sach- und Kinderbücher, Artikel und Reportagen, sie textet, fotografiert, recherchiert, lektoriert, moderiert und organisiert. 2017 erhielt sie den Kantonalbankpreis Kultur. www.barbarasaladin.ch
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © nazif / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6958-9
Zum Buch
Impressum
Inhalt
Vorwort
Eine schreckliche Familie (Bern)
Christine Brand
Erinnerungen einer Auftragskillerin an einem goldenen Herbsttag am Lago Maggiore
Peter Beck
Quitt (Zürich)
Isabel Morf
Der Fall Markovic oder: In Stein am Rhein macht eine Leiche noch kein Verbrechen
Daniel Badraun
Die betagten Schwestern von Hergiswil
Silvia Götschi
Dinner for Two – Liebe geht durch den Magen (Grenchen, Kanton Solothurn)
Christof Gasser
Schneewittchen und der böse Wolf von Spiez
Irène Mürner
Damaszenerstahl (Bern)
Paul Lascaux
Der Gartenzaun (köniz-liebefeld)
Nicole Bachmann
Auge um Auge (Bern)
Marcus Richmann
Die Rotte (Oberbaselbiet)
Barbara Saladin
Der Rhein in Basel
Wolfgang Bortlik
Helvetisches Fondue (Moosalp, Kanton Wallis)
Christine Bonvin
Matterhörnli
Thomas Kowa
Mit Scharf (Dübendorf)
Petra Ivanov
SWIMMINGPOOL (Zürich)
Sunil Mann
Ex Libris am Thunersee
Regine Frei
Die Glocken von Sils Maria
Roland Voggenauer
Das System – Anarchie in Zürich
Monika Mansour
Züribieter Wandervögel
Stephan Pörtner
Der rätselhafte Tod einer Berner Koryphäe
Sandra Rutschi
Der Schöne aus Boskoop (Thun)
Stefan Haenni
Aarauer Mordsnachbarn
Ina Haller
Bei Ankunft ein Toter in Zürich-West
Raphael Zehnder
Nachhilfestunden (Lugano-Paradiso)
Andrea Fazioli Übersetzung: Franziska Kristen
Viten
Lesen Sie weiter …
Hat es Sie schon immer interessiert, wie man einen Auftragsmord begeht, ob ein Urteil gerecht sein kann oder weshalb ein Pfarrer im Glockenstuhl hängt? Oder wollten Sie wissen, wie ein gealterter Punk beim Wandern stirbt, warum sich Wildschweine in finsterer Absicht zusammenrotten und ob ein Bankräuber seine Beute genießen darf? Soll man eine Leiche über die Kantonsgrenze hinweg entsorgen? Oder müsste man sich seine Verwandtschaft besser aussuchen, wenn man ein ängstlicher Mensch ist?
Sie wissen ja: Gestorben wird immer und überall, nur nicht im heimischen Bett.
Kommen Sie mit auf eine Reise durch die facettenreiche Bandbreite des aktuellen Schweizer Krimischaffens, vom Cosy Crime über die Detektivgeschichte, den historischen Krimi oder den Rachekrimi bis hin zum Agenten- und Psychothriller. Vom fingierten Tod über das Mordkomplott bis zum einsamen Henker lernen wir die dunklen Seiten der Schweiz in einer Tour de Suisse kennen, die vom Wallis ins Berner Oberland und über die Region Basel, das Mittelland und das Engadin bis ins Tessin führt.
Möglicherweise vermisst der eine Leser oder die andere Leserin die ganz großen Probleme, die die Welt beschäftigen. Das ist der Kürze der Texte geschuldet, denn nicht alles lässt sich auf wenigen Seiten abhandeln. Dafür empfehlen wir die Romane der beteiligten Autorinnen und Autoren, deren jüngste Veröffentlichungen Sie den Kurzbiografien im Anhang entnehmen können. Gerne weisen wir auch auf die Werke der hier nicht vertretenen Schreibenden hin, insbesondere auch auf die schnell wachsende Szene der Autorinnen und Autoren aus der französischsprachigen Schweiz, die wir in dieser Anthologie leider nicht berücksichtigen konnten.
Die vorliegende Sammlung von Kurzkrimis markiert einen Neustart der Schweizer Krimiszene. Das Buch erscheint zur Eröffnung des Schweizer Krimiarchivs und zum Krimifestival Grenchen im September 2021.
Der Kriminalroman hat in unserem Land bereits eine lange Geschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Mit Friedrich Glauser und Friedrich Dürrenmatt weist die Eidgenossenschaft im 20. Jahrhundert zwei stilbildende Schriftsteller auf, die auch eine internationale Ausstrahlung haben. Dasselbe gilt für einige Autorinnen und Autoren aus der »neuen Welle« ab den 1980er-Jahren: Peter Zeindler, Sam Jaun, Alexander Heimann oder Milena Moser, Hansjörg Schneider und Martin Suter, um nur die bekanntesten zu nennen, die das Genre bis in unser Jahrhundert geprägt haben. Wer sich für die Geschichte des Schweizer Kriminalromans im Detail interessiert, sei auf das Buch von Paul Ott: »Mord im Alpenglühen« (Chronos Verlag, 2020) verwiesen.
Nun also formiert sich eine weitere Generation von Krimischreibenden, die ihre Leidenschaft in spannende Texte umsetzt. Die Szene ist jünger geworden und wird von deutlich mehr Frauen geprägt. Diese Entwicklungen widerspiegelt unsere Anthologie. Und am »Schweizer Krimifestival Grenchen« (krimifestival.ch) vom 17. und 18. September 2021 wird die erfreuliche Bandbreite der neuen Schweizer Krimiszene der Öffentlichkeit präsentiert.
Gleichzeitig feiert das Schweizer Krimiarchiv Grenchen seine Eröffnung. In dieser Präsenzbibliothek findet sich die bedeutende Sammlung zum Kriminalroman, wie er sich in den letzten zweihundert Jahren entwickelt hat. Originaltexte stehen neben Sekundärliteratur und Sammelstücken: eine Inspiration für Literaturforschende und Krimibegeisterte. Das aus verschiedenen Quellen zusammengestellte Archiv ist deswegen so wichtig, weil man schon heute kaum mehr Bücher findet, die vor 1950 erschienen sind, gar nicht zu reden von verschollenen Autorennachlässen oder Verlagsarchiven. Wenn Sie also die eingangs gestellten Fragen für sich beantwortet haben, sind Sie herzlich zu einem Rundgang eingeladen.
https://krimiarchiv-schweiz.ch
Paul Ott und Barbara Saladin
Rudolf Wohlgemuth, Richter
Mein Wecker blökt. Er klingt nicht nur wie ein Schaf, er sieht auch aus wie eines. Ein Geschenk meiner Tochter, was will man machen, sie wäre beleidigt, wenn ich ihn nicht benutzen würde. Ich muss gar nicht erst auf die Leuchtziffern blicken, ich weiß auch so, dass es sechs Uhr früh ist, wie jeden Morgen, wenn er blökt. Heute hätte er getrost schweigen können, ich bin schon seit Stunden wach.
Der Fall, den ich heute zu beurteilen habe, raubte mir den Schlaf. Eigenartig, dass mir das noch immer passiert, nach all den Jahren am Gericht. Nach all den Morden und Verbrechen. Nach all den Abgründen, in die ich geblickt habe. Es kommt nicht mehr oft vor, aber dieser Fall … der kostet mich den letzten Nerv, schon bevor die Hauptverhandlung begonnen hat. Dabei geht es nicht einmal um einen Toten.
Es gibt eine Angeklagte, die zugleich als Opfer auftritt. Und ein Opfer, das zugleich angeklagt ist. Es geht um Vergewaltigung und Mordversuch, respektive um zwei Mordversuche, denn als der erste nicht gelang, kam es zu einem zweiten, der ebenfalls missglückte.
Klingt kompliziert, ich weiß. Ist es auch. Zwei Verfahren in einem, und natürlich erzählt jede und jeder eine andere Geschichte. Und ich bin mal wieder derjenige, der entscheiden muss, welche davon die wahre ist. Ich sollte nicht unerwähnt lassen, dass Opfer und Beschuldigte und Beschuldigter und Opfer miteinander verheiratet sind, seit vielen Jahren schon, das macht das Ganze nicht einfacher, im Gegenteil. Was wieder einmal zeigt: Wo die Liebe endet, steht oft jemand wie ich, ein Richter. Die Kinder sind die Zeugen und wahrscheinlich die Lebensretter. Wie gesagt, ein komplexer Fall. Eine schreckliche Familie. Würde ich an einen Gott glauben, würde ich dafür beten, dass ich dieses Verfahren ohne Probleme hinter mich bringe und mir ein gerechtes Urteil gelingt. Aber seien wir ehrlich: Welches Urteil ist schon gerecht?
*
Vor Gericht.
Befragung von Robert Büttikofer durch Richter Wohlgemuth
»Ich befrage Sie zunächst als Geschädigten. Darum weise ich Sie darauf hin, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie falsche Anschuldigungen aussprechen, die Rechtspflege irreführen oder jemanden begünstigen. Haben Sie das verstanden?«
»Ja, das habe ich verstanden.«
»Am 1. März sind Sie zu Hause ausgezogen, ist das richtig?«
»Ja.«
»Was war der Grund dafür?«
»Meine Frau und ich haben uns oft gestritten, ich wollte schon früher ausziehen. Aber ich wartete, bis unsere jüngste Tochter achtzehn wurde. Ich dachte, bis dahin gedulde ich mich, die meiste Zeit hielt ich mich sowieso bloß in meinem Zimmer auf.«
»Sind Sie zu diesem Zeitpunkt wirklich ausgezogen oder schliefen Sie noch immer hin und wieder im alten Zuhause?«
»Ich war bereits ausgezogen, bevor ich die neue Wohnung am 1. März bezog, ich lebte eine Zeit lang im Hotel. Zu Hause schlief ich schon lange nicht mehr.«
»Ihre Frau gab aber zu Protokoll, Sie hätten weiterhin jede Nacht bei ihr in der Wohnung verbracht.«
»Nein, das ist nicht so. Fragen Sie im Hotel nach, es liegt in der Wankdorfstrasse in Bern.«
»Wenn Sie schon ausgezogen waren – warum haben Sie sich dann in der Nacht auf den 11. April in der Wohnung Ihrer Frau aufgehalten?«
»Ich arbeite wie sie als Pflegeassistent und hatte Spätdienst. Nach der Schicht rief mich meine Frau an, sie habe eine Tasche mit den letzten Dingen gefüllt, die mir gehören. Sie drohte mir, wenn ich die Sachen nicht sofort abhole, würde sie sie wegschmeißen.«
»Was passierte, als Sie bei Ihrer Frau eintrafen?«
»Sie sagte, ich sähe müde und abgekämpft aus, sie habe mir mein Lieblingsgetränk zubereitet.«
»Und das haben Sie getrunken?«
»Ja, ex, in einem Zug.«
»Wollten Sie danach wieder nach Hause?«
»Ja.«
»Aber Sie blieben.«
»Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich nach etwa zehn Minuten die Orientierung verloren. Meine Frau hat mich am Arm gepackt und nach oben gebracht, ich sollte mich in meinem Zimmer hinlegen. Sie sagte, ich sähe nicht gut aus.«
»Sie hatten also doch noch ein Bett in der alten Wohnung.«
»Nur die alte Matratze. Ich hatte mir eine neue gekauft.«
»Und dann?«
»Danach erinnere ich mich an nichts mehr.«
»Können Sie sich erinnern, was passierte, als Sie am Morgen aufgewacht sind?«
»Ich spürte einen Druck am Hals, aber ich kann nicht sagen, warum und woher dieser rührte. Mir wurde schwarz vor Augen, ich kriegte keine Luft mehr. Ich dachte, ich müsste sterben. Da hörte ich Stimmen, Schreie, ich weiß nicht, von wem sie stammten.«
»Ihre Frau war aber mit im Zimmer?«
»Ich habe keine Ahnung, wer sich alles im Raum befand und ob es meine Töchter waren, die geschrien haben.«
»Aber da konnten Sie wieder atmen.«
»Ja, der Druck ließ nach, ich musste sehr stark husten.«
»Geht es Ihnen heute wieder gut?«
»Nein, es geht mir nicht gut. Ich verschlucke mich noch immer dauernd, zudem habe ich Schlafstörungen und heftige Albträume. Ich habe zwar überlebt – aber mein Leben ist nicht mehr dasselbe.«
*
Befragung von Miranda Büttikofer durch Richter Wohlgemuth
»Ich befrage Sie zunächst als Beschuldigte. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern – wenn Sie Aussagen machen, können die als Beweismittel gegen Sie verwendet werden. Sie sind des versuchten Mordes angeklagt. Konkret werden Sie beschuldigt, Ihrem Mann seinen Lieblingsdrink mit Traubensaft und Honig angerührt und mit einer nicht bekannten Anzahl Tabletten Risperidal und Temesta versehen zu haben, in der Absicht, ihn zu töten. Haben Sie verstanden, was Ihnen vorgeworfen wird?«
»Ich habe verstanden, was Sie sagen. Aber so war es nicht! Gut, ich gebe zu, dass ich ihm die Medikamente in den Drink getan habe, das habe ich, das kann ich nicht leugnen, aber es war trotzdem ganz anders, als Sie sagen. Ich wollte ihn nicht töten – ich wollte nur meine Ruhe vor ihm haben! Damit ich in der Nacht ruhig schlafen konnte.«
»Wie viele Tabletten haben Sie ihm verabreicht?«
»Ich kann mich nicht erinnern, wie viele es waren. Aber es waren einige. Sie müssen wissen, ich war in panischer Angst und wusste nicht, was ich tat. Ich wollte doch nur meine Ruhe haben.«
»Warum hatten Sie Angst?«
»Weil er mich immer wieder belästigt hat. Weil er mich über Jahre vergewaltigt hat. Brutal vergewaltigt hat. Immer wieder hat er Pornofilme mit nach Hause gebracht und mich gezwungen, alles nachzuspielen. Er benutzte dafür eine Schlagrute und Zangen. Jahrelang musste ich unter ihm leiden. Er hat mich drangsaliert.«
»Darum haben Sie versucht, ihn umzubringen? Aus Rache?«
»Nein, ich wollte ihn nicht töten! Ich wollte doch bloß, dass er einschläft und mich in Ruhe lässt.«
»Sie sagen, Ihr Mann habe Sie jahrelang vergewaltigt. Wann begann das?«
»Schon früh, wenige Jahre nach unserer Hochzeit. Ich war 24, als ich ihn heiratete, das war 1993. Ich erinnere mich nicht, wann es genau begann. Aber die letzten zwanzig Jahre waren die Hölle.«
»Trotzdem sind Sie geblieben. Sie haben gemeinsam vier Kinder gezeugt.«
»Was hätte ich tun sollen? Er hat mir mit dem Tod gedroht, wenn ich mich weigerte. Er würde mich umbringen, wenn ich ihn verlasse.«
»Jetzt aber wollten Sie sich doch endlich trennen.«
»Ja. Er hat eine neue Freundin. Auf einmal wollte er von selbst gehen.«
»Ist es richtig, dass Ihr Mann bereits einen Monat vor der Tat eine eigene Wohnung gemietet hat?«
»Ja, aber er war immer noch ständig bei uns.«
»Ihr Mann sagt etwas anderes, er erzählte uns, er sei in jener Nacht nur zu Ihnen gekommen, weil Sie ihn aufforderten, die letzten Sachen abzuholen.«
»Nein, er kam, um zu Hause zu schlafen.«
»Wo hatte er seine Kleidung?«
»In der neuen Wohnung.«
»Also trug er immer dasselbe?«
»Unterhosen brachte er jeweils mit.«
»Warum haben Sie ihn nicht einfach nach Hause geschickt, statt zu versuchen, ihn umzubringen, wenn Sie Ihre Ruhe haben wollten?«
»Er hätte nicht auf mich gehört. Er sagte, er werde mir den Schlüssel nie zurückgeben.«
»Sie hätten das Schloss auswechseln können.«
»Das hätte 500 Franken gekostet! Herr Gerichtsvorsitzender, was ich sage, ist die Wahrheit, er hat jeden Tag bei uns geschlafen und gegessen, und er wollte mich weiter belästigen und vergewaltigen. Er ließ sein Messer und seine Schlagrute in unserer Wohnung, und eine Matratze in seinem Zimmer.«
»Auf dieser Matratze ist er nach dem Medikamenten-Cocktail eingeschlafen.«
»Ja.«
»Am Morgen danach haben Sie nachgesehen, ob er wirklich tot ist.«
»Nein! Ich habe nachgesehen, ob er noch schläft.«
»Unter Punkt zwei wirft Ihnen die Staatsanwaltschaft Folgendes vor: Als Sie festgestellt haben, dass Ihr Mann noch lebte, haben Sie versucht, ihn mit einem Stromkabel zu erdrosseln. Was sagen Sie dazu?«
»Es war nie meine Absicht, ihm etwas anzutun.«
»Wenn Ihre Töchter, aufgeschreckt durch den Lärm, nicht ins Zimmer gestürzt wären, wäre Ihr Mann jetzt tot. Warum wollten Sie ihn erdrosseln?«
»Ich wollte mich vor ihm schützen. Er hat mich angegriffen und gewürgt. Ich tastete nach etwas, fand das Kabel auf dem Boden und habe danach gegriffen.«
»Sie wollen also Notwehr geltend machen.«
»Ich war in Todesangst und musste mich wehren.«
»Obwohl er noch halb im Delirium gewesen sein muss nach dem Medikamenten-Cocktail, behaupten Sie, er sei gleich auf Sie losgegangen?«
»Er war wach. Wahrscheinlich wollte er sich rächen, weil ich ihn betäubt hatte.«
»Ihr Sohn sagte, das Kabel – ein Ladekabel – habe immer im Wohnzimmer gelegen, wo sich auch das Gerät befindet, das damit geladen wird. Haben Sie das Kabel mit ins Zimmer raufgenommen, als Sie nachschauen gingen, ob Ihr Mann noch lebte?«
»Nein, das Kabel war schon da.«
»Laut dem medizinischen Bericht wies Ihr Mann eine Strangulationsmarke am Hals und Punktblutungen im Kopfbereich auf. Frau Büttikofer, er wurde von hinten gewürgt. Das ist schwer mit Ihrer Schilderung in Einklang zu bringen, dass er Sie angegriffen hatte. Sie wollten ihn erwürgen.«
»Nein! Nein, so war das nicht. Ich wollte ihn nicht töten, ich musste mich verteidigen. Ich hatte Angst, dass er mich umbringen würde. Das war Notwehr.«
*
Befragung von Robert Büttikofer durch Richter Wohlgemuth
»Ich befrage Sie nun als Beschuldigter in diesem Verfahren. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern – wenn Sie Aussagen machen, können die als Beweismittel gegen Sie verwendet werden. Sie sind der mehrfachen Vergewaltigung und der mehrfachen sexuellen Nötigung angeklagt. Haben Sie das verstanden?«
»Ja, das habe ich verstanden.«
»Was sagen Sie zu den Vorwürfen?«
»Die Anschuldigungen stimmen nicht. Ich wollte nichts mehr von meiner Frau. Sie wusste, dass ich mich scheiden lassen würde, dass ich eine neue Freundin habe, ich habe ihr das offen gesagt. Sie war es, die es immer wieder bei mir versuchte, die mir schmeichelte und mir sagte, ich sei ihr Herz und ihre Seele. Ich habe nur mit ihr geschlafen, wenn sie es wollte.«
»Ihre Frau erzählt etwas ganz anderes. Sie sagt, Sie hätten sie jahrelang vergewaltigt. Sie hätten sie gezwungen, Gewalt-Pornofilme nachzuspielen. Sie hätten sie gewürgt, mit der Rute geschlagen, obwohl Sie gewusst hätten, dass sie keinen Sex mit Ihnen haben wollte.«
»Das ist gelogen. Warum hat sie mich denn nie angezeigt? Warum ist sie bei mir geblieben? Warum ist sie nie ins Frauenhaus gezogen?«
»Ihre Frau sagt, Sie hätten ihr gedroht, sie umzubringen, wenn sie Sie verlasse.«
»Das stimmt nicht. Es war gerade umgekehrt. Sie war diejenige, die Gewalt ausgeübt hat. Einmal hat sie mir mehrfach mit der Fernbedienung des TVs auf meinen Kopf geschlagen und die gesamte Einrichtung des Wohnzimmers zerstört. Ich musste die Polizei rufen und habe sie angezeigt. Meine Frau wurde daraufhin für zehn Tage mit einem Kontaktverbot belegt und durfte nicht nach Hause kommen. Das finden Sie in den Akten.«
»Wenn ich Sie ansehe, muss ich sagen, dass ich das kaum glauben kann. Sie sind Ihrer Frau körperlich überlegen. Wie soll sie Sie misshandelt haben?«
»Sie kennen sie nicht. Ich bin nicht stärker als sie. Sie hat mit Gegenständen auf mich eingeschlagen, und ich habe mich nicht gewehrt, weil ich Gewalt ablehne, ich könnte nie eine Frau schlagen.«
»Ihre Frau kann die Vergewaltigungen sehr genau beschreiben, die Gewalt, die Sie ihr angetan haben sollen.«
»Ich habe nie etwas getan, was sie nicht wollte.«
»Wir haben auch mit Ihren Kindern gesprochen. Haben Sie noch Kontakt zu ihnen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Das hat sich verloren.«
»Ihre Kinder haben sich hinter Ihre Frau und gegen Sie gestellt. Ihre jüngste Tochter hat sogar bestätigt, dass Sie Ihre Frau vergewaltigt haben sollen.«
»Hören Sie, ich liebe meine Kinder, die drei älteren sind gute Kinder. Aber meiner jüngsten Tochter dürfen Sie nicht glauben. Sie ist kriminell. Man hat sie mehrmals beim Stehlen erwischt, und sie lügt, wenn sie solche Dinge erzählt.«
»Warum sollte sie das tun?«
»Meine Frau hat sie dazu angestiftet. Ich hatte schon früher Angst, dass sie mich töten wollten. Zweimal fühlte ich mich seltsam, nachdem ich bei meiner Frau Tee getrunken hatte. Und dann war da noch die Sache mit dem Honig.«
»Mit dem Honig?«
»Meine jüngste Tochter brachte mir zehn Gläser Honig, teurer Honig, sie wollte ihn mir schenken, es war klar, dass sie ihn gestohlen hatte. Mir fiel auf, dass drei Gläser schon mal geöffnet worden waren, darum habe ich sie alle gewogen. Die drei Gläser hatten ein anderes Gewicht. Ich glaube, dass sie mich bereits da vergiften wollten.«
»Das höre ich zum ersten Mal. Warum haben Sie das bei der Polizei nicht ausgesagt?«
»Es ist mir gerade jetzt erst wieder in den Sinn gekommen.«
»Falls Sie, wie Sie behaupten, Ihre Frau nicht vergewaltigt haben – warum sollte Ihre Frau Sie umbringen wollen? Was wäre ihr Motiv?«
»Das Geld. Sie hat herausgefunden, dass ich zwei Liegenschaften besitze, von denen sie zuvor nichts wusste. Sie fürchtete, dass ich mein Geld und meinen Besitz mit meiner neuen Freundin teilen werde und sie durch die Scheidung alles verliert.«
*
Befragung Miranda Büttikofer durch Richter Wohlgemuth
»Frau Büttikofer, wussten Sie, dass Ihr Mann über zwei größere Liegenschaften und demnach über ein ziemliches Vermögen verfügt?«
»Ja, das ist mir bekannt.«
»Seit wann?«
»Seit sechs Monaten.«
»Ihr Mann hat Ihnen das verheimlicht?«
»Ja, er hat mir nichts davon gesagt.«
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Ich habe seine Unterlagen durchstöbert, bevor er ausgezogen ist.«
»Der Staatsanwalt geht davon aus, dass Sie Ihren Mann noch vor der Scheidung umbringen wollten, um sich das Vermögen zu sichern.«
»Hören Sie: Ich bin hierhergekommen, um die Wahrheit zu sagen. Mein Mann hat all die Jahre mit mir gespielt, er hat mich angelogen, er hat mich vergewaltigt, er hat mich fälschlicherweise bei der Polizei angezeigt. Das, was Sie hier behaupten, stimmt nicht. Es ging nicht ums Vermögen, die Liegenschaften würden sowieso an unsere Kinder gehen. Auch bezweifle ich, dass sie viel wert sind, sie sind in keinem guten Zustand. Doch das hat alles nichts mit diesem Fall zu tun. Ich habe meinen Mann angegriffen, weil ich mich verteidigen musste.«
»Nachdem Sie ihn zuvor beinahe mit einer Überdosis Tabletten umgebracht hatten.«
»Ruhiggestellt, damit er mich in Frieden ließ, damit ich endlich einmal schlafen konnte, damit er mich nicht wieder vergewaltigte.«
»Sie sagten, Sie erinnerten sich nicht, wie viele Tabletten Sie ihm verabreicht haben.«
»Nein.«
»Sie haben zwei Tage zuvor 20 Tabletten Risperidal und 14 Temesta gekauft. Gefunden hat die Polizei noch drei Temesta-Tabletten. 31 Tabletten sind verschwunden.«
»Ich weiß wirklich nicht mehr, wie viele es waren. Ich habe das ganz schnell gemacht, und ich bereue, dass ich es getan habe.«
»Wer wusste alles von den Medikamenten?«
»Nur ich!«
»Auf einer leeren Tabletten-Verpackung haben wir nicht nur Ihre, sondern auch die DNA Ihrer Tochter Samira gefunden. Können Sie uns das erklären?«
»Meine Töchter haben aufgeräumt, ich hatte die leeren Packungen im Kühlschrank gelassen.«
»Wann war das?«
»Am nächsten Morgen.«
»Nachdem die Töchter ihren Vater gerettet hatten? Was haben Sie getan, als die Töchter hereingestürzt sind?«
»Das war ein ganz schrecklicher Moment, es war, als wäre ich aus einem üblen Traum erwacht. Ich sagte ihnen, sie müssten sofort den Notruf wählen.«
»Ihre Tochter Samira sagte aus, sie hätten Sie regelrecht von Ihrem Mann wegzerren müssen.«
»Ich war nicht ich selbst. Sie musste mich ohrfeigen, damit ich zur Besinnung kam. Erst da realisierte ich, was geschehen war.«
»Was wäre passiert, wenn Ihre Töchter nicht hereingestürmt wären?«
»Ich hoffe, dass nichts Schlimmes passiert wäre. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen. Ich sehe ein, dass das nicht gut war. Aber ich stand unter einer enormen seelischen Belastung. Ich wollte ihn nicht töten. Ich bin unschuldig. Das hier ist ein einziger, riesiger Irrtum.«
*
Rudolf Wohlgemuth, Richter
Ich habe es ja geahnt. Zwei Parteien, zwei verschiedene Wahrheiten, und ich musste es wieder einmal richten. Jeder hat ein Urteil zu seinen Gunsten erwartet, und keiner wird am Schluss zufrieden sein.
Miranda Büttikofer ist eine kleine, energische Frau. Rundes Gesicht, schwarze zähe Locken, ihr Pferdeschwanz gleicht einem Reisigbesen. Ihre Augen sind lauernd und anklagend, kleine, dunkle Stecknadeln. Sie ist etwas stämmig, untersetzt, sie wirkt vorlaut, spricht so, als würde sie der ganzen Welt einen Vorwurf machen für alles, was in ihrem Leben schiefgelaufen ist. Nur sie selbst trägt keine Schuld. Mehrmals ist sie mir ins Wort gefallen, es half kein Zurechtweisen.
Robert Büttikofer ist einen Kopf größer als sie, gräuliches Haar, der Hals zu kurz geraten, als würde er pausenlos die Schultern hochziehen. Seine Mimik ist grimmig, die Augen wirken leblos, als wäre ihm alle Freude verloren gegangen, falls sie überhaupt jemals in seinem Leben existiert hat. Er sieht aus, als könnte er jede gute Laune im Bruchteil einer Sekunde vertreiben.
Nicht, dass ich damit sagen will, dass ich mich von dem Äußeren und der Art der beiden habe beeinflussen lassen, bewahre. Ich will damit nur deutlich machen: Sie wirkt nicht wie eine hilflose, zerbrechliche Person, die sich nicht wehren kann. Er wirkt nicht wie ein naiver, verschupfter Ehemann, der vor seiner Frau kuscht.
Um es kurz zu machen: Ich glaube ihr nicht. Das mag jetzt hart klingen, es ist aber so. Ich nehme ihr nicht ab, dass sie ihren Mann nicht töten wollte. Nur zwei Tage vor der Tat hat sie sich von ihrer Ärztin die Tabletten verschreiben lassen. Ich bin gegen Zufälle. Die Dosis war massiv, damit will man niemanden zum Schlafen bringen, damit will man jemanden um die Ecke bringen. Ihr Mann muss am nächsten Morgen völlig belämmert gewesen sein. Undenkbar, dass er sie in diesem Zustand angegriffen hat. Und selbst wenn: Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand in Notwehr von hinten erwürgt worden ist. Darum glaube ich ihr nicht.
Nun, auch ihm glaube ich nicht. Zumindest nicht alles. Aber die Vergewaltigungen können ihm nicht nachgewiesen werden. In diesem Anklagepunkt gibt es einzig die Anschuldigungen seiner Frau und die etwas krude Aussage der gemeinsamen Tochter. Andere Indizien sprechen dagegen. Für einen Schuldspruch genügt das nicht. Zu dünn.
Also habe ich Miranda Büttikofer zu einer Freiheitsstrafe von achteinhalb Jahren verurteilt. Sie hat versucht, ihren untreuen Mann erst zu vergiften und dann zu erdrosseln, weil sie eifersüchtig auf ihre Nebenbuhlerin war und das Vermögen der Familie sichern wollte. Ihren Mann Robert Büttikofer habe ich im Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« vom Vorwurf der Vergewaltigung und sexueller Nötigung freigesprochen. Was aber nicht heißt, dass ich ausschließe, dass er es getan hat.
Miranda Büttikofer ist nach dem Verdikt zusammengebrochen, wir mussten die Ambulanz aufbieten. Die jüngste Tochter Samira, die mit ihren Geschwistern den Prozess mitverfolgt hatte, hat laut aufgeschrien und wollte auf mich losgehen. Wir mussten den Sicherheitsdienst alarmieren. Das hat mich alles nicht beeindruckt. So habe ich geurteilt und begründet. Dies ist im Sinne des Gesetzes das beste und gerechteste Urteil, zu dem ich in diesem Fall kommen konnte. Ich ziehe den Schlussstrich und gehe mit einem guten Gewissen ins Bett.
Mein Wecker blökt. Es ist sechs Uhr früh, wie jeden Morgen, wenn er blökt. Auch heute hätte er getrost schweigen können, denn ich liege schon seit Stunden wach. Dieser Fall … Erneut hat er mir den Schlaf geraubt. Das mit dem Schlussstrich hat nicht funktioniert. Die Sache rumort noch immer in meinem Kopf herum, etwas stört mich, aber ich komme einfach nicht darauf, was es ist.
Ich muss das zur Seite legen, muss mich auf den neuen Fall konzentrieren, der heute auf mich wartet; ein Mann wird von seiner Exfrau beschuldigt, sich an ihrer Deutschen Dogge sexuell vergangen zu haben. Das wird wieder ein Theater geben.
Aufstehen, frühstücken, rasieren, noch einmal die Anklageschrift durchgehen, schon bin ich wieder unterwegs zum Gericht. Ich gehe immer zu Fuß. Mein Arbeitsweg ist ein Spaziergang durch Berns Lauben, während die Altstadt erwacht. Dieser Moment der Ruhe tut mir gut, bevor sich neue menschliche Abgründe vor mir auftun.
Beim großen Brunnen in der Gerechtigkeitsgasse wechsle ich die Straßenseite, über mir auf dem Sockel steht die Statue der Justitia, die Augen verbunden, die Waage in der einen Hand. »Guten Morgen«, sage ich laut zu ihr, auch das ein Ritual. Sie antwortet mir nie.
So war das zumindest bis heute.
»Sie Arschloch!«, brüllt mir in dem Moment eine Frauenstimme entgegen.
Mein Herz setzt ein paar Schläge aus. Ich fahre zusammen und blicke erschrocken zu Justitia hoch.
»Sie haben die falsche Person verurteilt!«
Erst jetzt realisiere ich, dass nicht Justitia schreit, sondern eine junge Frau, die hinter dem Brunnentrog hervorspringt. Sie kommt mir bekannt vor.
»Mein Vater war ein Scheusal, er hat uns jahrelang gequält. Nicht meine Mutter, mein Vater sollte hinter Gittern sitzen.«
Samira. Die jüngste Tochter. Die gestern im Gerichtssaal auf mich losgehen wollte. Ich schaue mich um, ob ich jemanden zu Hilfe rufen kann. Doch da ist niemand, und auf Justitia kann ich nicht zählen.
»Beruhigen Sie sich«, sage ich zu der Frau, die fast noch ein Mädchen ist. Sie steht jetzt direkt vor mir und kommt mir zu nah, ich weiche zurück, stolpere um ein Haar.
»Und wenn, dann nicht meine Mutter, sondern ich! Ich habe ihm die Tabletten in den Drink getan, ich wollte ihn erwürgen! Und ich hätte es zu Ende gebracht, wenn meine Schwester und meine Mutter mich nicht zurückgehalten hätten.«
Sie will mich schubsen. Ich weiche aus. Mein Instinkt befiehlt mir, wegzurennen, doch etwas hält mich zurück. Was, wenn sie die Wahrheit spricht?
»Warum sagen Sie das erst jetzt, erst hier, wieso haben Sie das nicht früher gestanden?«
»Ich musste meiner Mutter versprechen, es niemandem zu sagen. Sie will die Strafe für mich tragen, damit mein Leben nicht zerstört ist. Das hier ist kein Geständnis, das werden Sie nie kriegen. Ich will nur, dass Sie eins wissen: Sie haben falsch geurteilt. Sie sind ein schlechter Richter.«
Sie speit mir die Worte ins Gesicht, stößt mich mit beiden Händen gegen die Brust, ich rudere mit den Armen, verliere das Gleichgewicht, stürze, bin am Boden, reiße die Hände vors Gesicht, doch der Schlag folgt nicht, sie dreht sich um und rennt davon, ist so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht ist.
Verblüfft bleibe ich zurück. Ich stehe auf und klopfe meinen Anzug ab, blicke zu Justitia hoch und kann mir ein Ächzen nicht verkneifen. Die Glocken der Nydeggkirche schlagen die Viertelstunde. Ich muss weiter. Die nächste Verhandlung beginnt gleich. Wieder muss ich ein Urteil finden.
Doch welches Urteil ist schon gerecht?
Der Lago Maggiore flimmerte und glitzerte wie die Diamanten auf dem samtenen Tuch in meinem Luganeser Banktresor. Auf der anderen Seite des Sees leuchtete der Monte Gambarogno in seinem Herbstkleid. Nach den heftigen Niederschlägen der letzten Tage war der Himmel heute wolkenlos, die Sicht klar. Hier war der Indian Summer auszuhalten.
Wobei Indian Summer viel besser klang als Altweibersommer, vor allem wenn man nicht mehr die Jüngste war. Aber die Gelenke schmerzten hier im Tessin deutlich weniger als am Zürichsee. Es war eine gute Idee gewesen, von der Goldküste nach Ronco sopra Ascona in die Residenz zu dislozieren. Residenza. Tönte auch besser als Altersheim, gerade auf Italienisch.
Doch insgesamt war es ein gepflegtes Haus, mit Gourmetküche, Wellness-Spa, Schwimmbad, einem weitläufigen Park und angegliederter Arztpraxis, die, im Gegensatz zu den Heimen für Krethi und Plethi, rund um die Uhr besetzt war und auch Botox und so anbot. Nicht ganz billig, aber das letzte Hemd hatte ja keine Taschen. Und für die wöchentliche Pediküre musste man hier nicht mehr in ein Taxi mit klebrigen Plastiksitzen steigen. Das Sonnenlicht flutete das Appartement und wärmte die nackten Füße mit den frisch lackierten Nägeln. Dior Nagellack-Rouge Pandore mit Gel-Effekt.
Sie wackelte mit den Zehen und rekelte sich in der Chaiselongue.
Leider fanden hier nicht alle Möbel Platz, nur eine Handvoll Antiquitäten, einige Perserteppiche und die Ölbilder aus dem Schlafzimmer. Die Leichen lagen noch immer unter dem Weinkeller in der Villa. Niemand würde sie je finden. Sie schaute auf ihre Hände, mit denen sie diese noch eigenhändig einbetoniert hatte. Mittlerweile war die fast durchsichtige Haut voller Altersflecken. Sie berührte die edelsteinbesetzten Ringe an den von Gicht geplagten Fingern. Das Alter war ein Graus, aber wenigstens konnte man sich ab und zu etwas gönnen.
Ein Klopfen holte sie in die Gegenwart zurück. »Ja, bitte?«
Die Tür öffnete sich, und eine unbekannte Pflegerin im türkisfarbenen Kittel der Residenz schob einen Trolley herein. »Guten Tag, Frau Neidhart. Ich vertrete heute Doktor Mancini, der leider unpässlich ist. Mein Name ist Alessia Werffeli.«
Keine Pflegerin und ein bisschen jung für eine Ärztin, aber heute wirkten ja auch Vierzig-, Fünfzigjährige jung. Ab einem gewissen Alter konnte man sich allerdings nicht mehr einreden, man sei nur so alt, wie man sich fühle. »Guten Tag, Frau Doktor.«
Die Ärztin streifte sich blaue Plastikhandschuhe über. »Ich komme wegen Ihrer monatlichen Vitalzeichenkontrolle.«
Leichtes Kopfschütteln. Der September war wieder einmal nur so verflogen. Schon wieder Vitalzeichenkontrolle. Vitalzeichenkontrolle. Auch so ein Wort! Früher hatte es genügt, mit den Fingerspitzen den Puls zu nehmen, und man wusste, ob einer hinüber war oder ob man noch einmal abdrücken musste.
»Wie geht es uns heute denn so?«
Alessia hatte diesen forciert munteren Ton, der offenbar Voraussetzung war, um in der Residenz angestellt zu werden. Immerhin sprach die Ärztin Schweizerdeutsch, nicht so wie die Pflegerinnen aus der Lombardei, welche jeden Tag bei Brissago über die Grenze kamen, oder die Spanierinnen, die kein Wort Deutsch sprachen. Immerhin konnte man mit denen seine Sprachkenntnisse auffrischen. Sich in verschiedenen Idiomen zurechtzufinden, war eine wichtige Voraussetzung für die Erledigung der Auslandsaufträge gewesen. »Ich kann nicht klagen.«
»Wunderbar. Das ist gut zu wissen. Darf ich Ihren Blutdruck messen?« Alessia legte die kühle Manschette an und begann zu pumpen, studierte die Anzeige und ließ dann den Druck wieder ab. »Was haben Sie denn früher gemacht, Frau Neidhart?«
»Ich war Reiseleiterin.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Doch, doch.«
»Ich reise auch gerne.«
»Ja, ja. Reisen bildet.«
Während Alessia das Blutdruckmessgerät verstaute, schaute sie sich um und wunderte sich wahrscheinlich, wie sich eine Reiseleiterin diese Residenz leisten konnte. Sie fragte schließlich. »Und wie sind Sie dazu gekommen? Ich meine, gibt es da eine Ausbildung oder so?«
Ein Lächeln huschte ihr übers Gesicht. Gute Frage. Die Erinnerungen an den ersten Auftrag mit dem stillen Tommaso vor über sechzig Jahren waren ungetrübt. Vieles andere war im Laufe der Jahre verschwommen, aber Tommasos verträumte Augen blieben unvergesslich. Er war extra mit dem Zug aus Kalabrien in die Schweiz gereist und hatte einen sexy Lockvogel gebraucht, um die Zielperson zu isolieren, einen Geschäftsmann, der bei jemandem in Ungnade gefallen war. Der Auftrag hatte gelautet, ihn zu erledigen und bei dieser Gelegenheit ein Exempel zu statuieren, zur Abschreckung. Leider waren sie nur halb erfolgreich gewesen, denn das Dolder Grand hatte es damals irgendwie geschafft, das Ganze unter den Teppich zu kehren. Jedenfalls waren in den Zeitungen keine Berichte aufgetaucht. Dabei hatte Tommaso die abgezwackten Finger des Geschäftsmannes doch extra überall in der Luxussuite verstreut. »Ach, da bin ich vor langer Zeit hineingerutscht. Einer meiner Cousins war auch Reiseleiter und hat mich gefragt, ob ich aushelfen würde.«
Alessia nahm das Handgelenk, fühlte den Puls und erkundigte sich nach einer Weile: »Und dann? Haben Sie im Geschäft Ihres Cousins gearbeitet?«
»Nein, nein. Wir haben nur einige Reisen zusammen arrangiert. Das war, als ich noch ein ganz junges Ding war. Aber damals waren die Zeiten ganz andere. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Die Männer waren noch anständig angezogen, haben Hut und Krawatte getragen und einem in den Mantel geholfen. Aber was sage ich da. Als mein Cousin zurück nach Italien ging, habe ich mich selbstständig gemacht. Wissen Sie, das Schöne an diesem Beruf ist ja, dass man selbst bestimmen kann, wie viel man arbeitet.«
»Selbstständig zu sein. Das könnte ich mir auch vorstellen.« Alessia notierte den Puls.
»Ja, wenn man einen guten Ruf hat, kann man sich die Kundschaft aussuchen. Meine Spezialität waren maßgeschneiderte Reisen für die gehobene Kundschaft.«
»In welches Land sind Sie denn am liebsten gereist, wenn ich fragen darf?«
»In den Jemen …«, ins Jenseits, »und die Indianergebiete«, in die ewigen Jagdgründe, »aber Indianer darf man heute ja nicht mehr sagen, heute heißt es Native Americans, nicht wahr?«
»Im Jemen war ich noch nie.«
»Sie sind ja noch jung.«
»Das muss aber aufregend gewesen sein.«
»Meist war es höllisch heiß.«
Alessia zeigte besorgt auf die Beine. »Was haben wir denn da? Sie haben an Ihrem Schienbein einen ziemlichen Bluterguss.«
Die Beine waren auf der Chaiselongue übereinandergeschlagen, das obere der Ärztin zugewandt, Körpersprache beeinflusste das Unterbewusstsein. Die Prellung war unschön, aber schließlich war niemand perfekt. Schulterzucken. »Ach, das ist nicht schlimm. Da habe ich mich wohl am Bett gestoßen.«
Die Finger von Alessia fuhren vorsichtig über das Schienbein. »Tut das weh?«
»Nein, nein. Das geht von allein vorbei.«
»Haben Sie schon von Herrn Rohde gehört?«
Desinteressiertes und unschuldiges Kopfschütteln. Lügen war simpel, wenn man es einmal gelernt hatte. »Nein, heute noch nicht.«
»Ihr Nachbar hatte einen Unfall …«
Die Augen weiten, die Lippen zu einem stummen O formen, die Stirn in Falten legen und die Augenbrauen zusammenziehen. Wahrscheinlich wäre auch eine Karriere als Schauspielerin in der Cinecittà möglich gewesen. Ein Leopard des Filmfestivals Locarno hätte sich auf der Anrichte gut gemacht. Sean Connery, Claudia Cardinale und … Wie hieß diese Schweizer Schauspielerin mit dem Bikini schon wieder, die Tierfreundin mit Schoßhündchen? Andrea? … Ursula Andress. Ja, so hieß sie!
Alessia sagte: »Herr Rohde hat uns leider verlassen.«
»Sie meinen, mit den Füßen voran?«
Schräger Seitenblick. »Leider ja.«
»Wie schrecklich.«
Die Ärztin nickte nachdenklich.
Die Frau Doktor war noch jung. Trotz ihrer Ausbildung an der Universität hatte sie sich offenbar noch nicht an den Tod gewöhnt, aber das würde schon noch kommen. »Früher oder später müssen wir alle gehen.«
Alessia murmelte zustimmend. »Mhm.«
»Was ist denn passiert?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich habe nur gehört, dass er heute Morgen nicht in seinem Zimmer war. Ein Pfleger, der nach dem Frühstück jemanden in den Park begleitete, hat ihn gefunden. Herr Rohde lag im Seerosenteich, samt Rollstuhl.«
Der Deutsche hatte vom ersten Tag an mit seiner lauten Musik genervt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit hatte der alte Nazi irgendwelche Arien und Symphonien gehört, wegen seines schlechten Gehörs immer in voller Lautstärke. Ein bisschen Mozart, eine Entführung aus dem Serail, war ja nicht zu verachten, aber stundenlang Wagners Donnergrollen war unerträglich, vor allem bei offenem Fenster. Fort mit Schaden. Hoffentlich war der Nachmieter von Rohde erträglicher. »Was Sie nicht sagen.«
»Ja, wahrscheinlich ist er mit dem Rollstuhl in den Teich gekippt und hat sich unglücklich den Kopf gestoßen. Dummerweise ist der Teich nicht gesichert. Er ist ja auch nicht tief, aber das ist wie mit Kleinkindern im Planschbecken. Die sollte man auch nie unbeaufsichtigt darin spielen lassen.«
Rohde war eines dieser traurigen Gewohnheitstiere gewesen. Der Langweiler rollte jeden Morgen zum Seerosenteich und gaffte mit triefendem Maul in den Sonnenaufgang, sodass man die Uhr nach ihm stellen konnte. Ein knackiger Schlag mit der Krücke von hinten an den Hals hatte genügt, dann den Rollstuhl noch mit einem kleinen Schubs in den Teich befördern, fertig war der Unfall. Alles locker, noch vor dem Frühstück. Niemand hatte etwas gesehen. Wahrscheinlich hatte Mancini den Totenschein im Halbschlaf unterschrieben. Todesursache: Ertrinken. Manchmal war es wirklich fast zu einfach. Nur das Schienbein, das vom umkippenden Rollstuhl getroffen wurde, hatte für einen Moment höllisch geschmerzt. »Tragische Sache.«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein. Passen Sie auf, wenn Sie dort spazieren gehen. Wir wollen ja nicht, dass Sie sich etwas brechen. So ein Unfall ist schnell passiert, nicht wahr, Frau Neidhart?«
Nicken. Da konnte man nur beipflichten, denn Unfälle waren meine Spezialität. Es war erstaunlich, mit was man davonkam, wenn man es geschickt anstellte, gerade in der Schweiz. Herzinfarkt? Normal. Fehltritt im steilen Gelände? Pech gehabt. Autounfall mit Alkohol am Steuer? Kann passieren. Niemand schaute genau hin. Die Notärzte unterschrieben alles. Die waren überarbeitet und machten meist nur widerwillig Pikett. Manchen fehlte auch die Fantasie oder die Erfahrung, schließlich war die Schweiz nicht Mexiko mit seinen Drogenkriegen, wo die Leichen an Straßenlampen hingen, oder Südafrika, wo man für ein paar Rand erstochen wurde. Hier konnte man am Kiosk einen Hunderter wechseln, ohne dass man schräg angeschaut wurde. »Sie sind neu hier, nicht wahr, Frau Doktor?«
»Ja, ich habe erst gerade angefangen. Wenn es Ihnen recht ist, nehme ich noch Blut fürs Labor. Ich habe gesehen, dass Sie es ein wenig mit den Nieren haben. Es ist wichtig, dass wir Ihr Kalium, Natrium und Kreatin im Auge behalten.« Sie nahm das Handgelenk, drehte den Unterarm zurecht und desinfizierte diesen mit einem Wegwerftupfer. »Machen Sie bitte die Faust.«
»Woher kommen Sie denn?«
»Aus Zürich.« Alessia stöberte im Trolley, zog eine Plastiktüte hervor, riss diese auf und nahm eine Einwegnadel mit Kanüle und Konnektor heraus. Sie suchte die Vene und setzte an. »Ich habe dort studiert und konnte dann auch am Kispi assistieren. Jetzt gibt es gleich einen kleinen Stich. Falls Ihnen das unangenehm ist, schauen Sie einfach einen Moment aus dem Fenster. Das Wetter ist heute ja wunderbar, vor allem nach dem vielen Regen, nicht wahr?«
Es pikte. Das Blut floss. Professionell gemacht. »Aber Sie sprechen keinen reinen Zürcher Dialekt, oder täusche ich mich da?«
»Nein, da haben Sie recht. Als ich sechs war, ist meine Mutter mit mir und meiner Schwester nach Zürich gezogen. Geboren wurde ich im Engadin.« Alessia stoppte mit dem Daumen kurz das Blut, drehte das erste Röhrchen fürs Labor heraus und ersetzte es mit einem zweiten.
»Ah, das Engadin! Da bin ich auch immer gern hingefahren, vor allem im Winter. Die Berge dort haben es mir angetan.« Vor etwa dreißig Jahren ließ sich dort einmal das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Die Zielperson war jeweils am Morgen in seinem Baugeschäft, am Nachmittag auf den Skipisten des Piz Corvatsch und am Abend zu Hause gewesen, wo er den treu sorgenden Familienvater gemimt hatte. Trotz seines Ranzens hatte er immer diesen grässlichen, orangen Skidress von Bogner getragen, die damals der letzte Schrei gewesen waren. Aber Skifahren hatte er gekonnt, das musste man ihm lassen.
Der Auftrag selbst hatte sich nach ein paar Tagen Beschattung fast von alleine erledigt. Er hatte sich nachmittags immer im gleichen Restaurant ein Bier gegönnt und dazu zwei gekochte Eier verdrückt, wahrscheinlich, weil er glaubte, das Protein sei gut für seine Muskeln. Die bunten Eier standen auf allen Tischen herum, zu viert, in einem dieser Eisengestelle mit Gewürzen. Da er jedes Mal nach der Bestellung auf der Toilette verschwand, war es ein Kinderspiel gewesen, das Aromat auszutauschen. Das Gift im gelbroten Gewürzstreuer war so dosiert gewesen, dass er eine halbe Stunde später in der Gondelbahn einen Herzinfarkt erlitten hatte. Aromat sei Dank!
Dummerweise hatte sich der Auftraggeber, ein Baulöwe aus St. Moritz, der seinen Konkurrenten hatte entsorgen lassen, als Idiot entpuppt. Der war nicht nur ein Angeber, sondern auch ein notorischer Schürzenjäger. Er hatte sich schon während des Begräbnisses an die junge Witwe herangemacht, die ihm daraufhin vor versammelter Trauergemeinde eine Ohrfeige verpasst hatte. Danach war ein kleines Tête-à-Tête nötig geworden, das ihn schnell zur Vernunft gebracht hatte. Wie hatte der nur schon wieder geheißen? Das Namensgedächtnis verkalkte immer mehr, aber man sollte ja sowieso nur die schönen Erinnerungen behalten.
Vor dem Panoramafenster der Residenz flogen Krähen vorbei. Es klickte, als Alessia das dritte Röhrchen mit dem Konnektor verband. »Gleich haben wir’s.«
Bei den Brissago-Inseln legte das Kursschiff ab. Halb elf und schon wieder müde, aber es war ein ziemlich ereignisreicher Morgen gewesen. Rohde entsorgt. Nägel lackiert. Monatliche Vitalkontrolle. Ein kleines Schläfchen bis zum Mittagessen würde guttun. Die Ärztin hatte mittlerweile das Stethoskop hervorgekramt und angesetzt. Sie horchte konzentriert.
Das Herz schlug laut und klopfte wild. Eine der sporadischen Panikattacken? Ein Herzinfarkt? Nicht doch! Es war ein sonniger Tag und viel zu früh, um abzutreten. Und die Ärztin war da. Im Korridor hing ein Defibrillator. Die Residenz hatte eine Arztpraxis. Einfach tief einatmen und es würde schon wieder werden. Der Blick fiel auf die Spritze, die groß und leer war, immer noch im Konnektor steckte und deren Kolben ganz am Anschlag war. »Was haben Sie da gemacht?«
Alessia ließ das Stethoskop baumeln und erklärte lächelnd: »Luft injiziert. Einen Deziliter. Die Luftblase ist jetzt in Ihrem Herz. Dort bringt sie das Blut zum Schäumen, wie in einem Whirlpool, deshalb das Herzklopfen. Das Blut gelangt nicht mehr in genügender Menge in Ihre Lunge, und als Folge davon bekommen Sie nicht mehr genug Sauerstoff, aber das wissen Sie ja selbst.« Die Ärztin drückte die behandschuhte Hand auf Neidharts Mund. »Schschsch. Nicht schreien. Sie werden jetzt müder und müder. Es dauert nicht mehr lange.«
Neidhart strampelte etwas, dann war sie still, ihre Lippen schimmerten bereits blau, die verwunderten Augen wurden glasig.
»With love from St. Moritz.« Alessia prüfte mit dem Stethoskop das Herz. Vitalzeichen? Keine. Sie räumte auf und schob den Trolley aus dem Zimmer. Nachdem der alte Bauunternehmer aus St. Moritz auf dem Totenbett reines Gewissen gemacht hatte, hatte das Schicksal nun endlich auch die Auftragskillerin eingeholt. Lieber spät als nie. Zeit für eine Pause, Zeit für zwei gekochte Eier mit Aromat. Papa wäre stolz auf seine Tochter.
Meinen Entschluss, kriminell zu werden, nahm ich nicht auf die leichte Schulter. Es war für mich ein äußerst ehrgeiziges Vorhaben, und ich hegte anfangs auch Zweifel an meinem Talent. Denn ich gehörte nie zu jenen Menschen, denen im Leben alles in den Schoß fiel. Auch war ich mit einem eher geringen Selbstvertrauen ausgestattet. Dennoch hatte ich Wünsche, entwarf Luftschlösser, stellte mir vor, was ich aus meinem Leben gern gemacht hätte.