Marc Späni
Zünftig
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Christine Braun
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ISBN 978-3-8392-7016-5
Das Adjektiv »zünftig« geht auf die spätmittelalterlichen Handwerks-Zünfte zurück und bedeutete ursprünglich »fachgemäß«, nämlich »so, wie es die Zünfter machen«, nach strengen Regeln. Es ist verwandt mit dem Verb »ziemen«; »zünftig« ist also auch, was sich ziemt.
Heute wird das Wort in der Bedeutung von »bodenständig«, »währschaft« oder »deftig« verwendet. So kann man etwa »zünftig feiern«, und das auch, wenn man nicht Mitglied in einer der 26 Zürcher Zünfte ist.
Wahre Zünfter würden übrigens niemals »zünftig« oder »Zunft« sagen. Von gewöhnlichen Zürcherinnen und Zürchern heben sie sich unter anderem durch die altzürcherische Aussprache »Zouft« und »zöiftig« ab.
»Einmal nahm mich Jo mit nach Zürich. Ich erinnere mich an ein mächtiges, düsteres Gebäude mit vielen Balkonen, Türmchen und farbigen Glasfenstern, das in seltsamem Kontrast stand zu dem hellen Park, in dem es sich befand. Man ließ mich natürlich nicht an dem Gespräch teilnehmen. Ich wartete, zuerst auf der Terrasse, wo mir Bedienstete etwas zu trinken brachten, dann im Garten. Als wir gingen, war Jo außer sich. Die ganze Rückfahrt über sagte er immer wieder, der Mann, den wir besucht hätten, sei ein Teufel, ein Dämon, vielleicht sogar der Satan selber. Ein paar Monate später geschahen die Morde.«
*
Zuerst sah es nach einem gewöhnlichen Brand aus, als die Feuerwehr in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1994 in die Freiburger Gemeinde Cheiry ausrückte. Doch dann machten die Männer in den Kellerräumen des scheinbar menschenleeren Gebäudes eine furchtbare Entdeckung. In einer Art Sanktuarium lagen, sternförmig angeordnet, 21 Leichen, zwei weitere Tote fand man in anderen Räumen des Hauses: zwölf Frauen, zehn Männer und ein Kind. Wie man bald herausfand, gehörten sie alle dem »Ordre du Temple Solaire« an, dem »Orden des Sonnentempels«, kurz OTS, einer Sekte, die seit den 80er-Jahren in der Westschweiz, in Frankreich und in Kanada aktiv war. 20 der Toten waren durch Pistolenschüsse getötet worden, einige trugen Plastiksäcke über dem Kopf.
Während Feuerwehrleute und Polizeibeamte noch sprachlos vor dem grausigen Fund standen, stießen Rettungskräfte in drei ebenfalls durch einen Brand zerstörten Chalets im Walliser Bergdorf Granges-sur-Salvan, weniger als 100 Kilometer von Cheiry entfernt, auf die verkohlten Körper von weiteren 25 Menschen. Sie waren gleich angeordnet wie diejenigen in Cheiry, auf dieselbe Art umgekommen.
48 Sektenmitglieder hatten in dieser Oktobernacht den Tod gefunden, darunter fünf Kinder. Es war das schlimmste Verbrechen, das die Schweiz je erlebt hatte.
Dokumente, die den Behörden zugespielt wurden oder die den Brand unbeschadet überstanden hatten, gaben Einblick in die verworrene Ideologie, mit der die Sonnentempler ihre Tat rechtfertigten: ein Gemisch unterschiedlicher esoterischer Lehren, die auf die fatale Überzeugung hinausliefen, dass der körperliche Tod die Voraussetzung für eine spirituelle Reise, den »Transit«, zum Stern Sirius sei. Im Tod sollten die Auserwählten einer drohenden Apokalypse entkommen.
Die monatelangen Untersuchungen ergaben aber, dass höchstens 15 dieser Personen freiwillig in den Tod gegangen waren. Andere waren mit Betäubungsmitteln willig gemacht, sieben sogar explizit als Verräter hingerichtet worden. Man hatte die Mitglieder über Monate auf den »Transit« vorbereitet und Gesinnungstests unterzogen. Unwillige hatte man in der Nacht des Übergangs skrupellos in die Todesfalle gelockt.
Zwischen 1994 und 1997 kamen in Frankreich und Kanada weitere 25 Sonnentempler ums Leben. Unter den 73 Todesopfern waren neun Kinder.
Nach den Massenmorden in der Westschweiz befassten sich auch die kantonalen Vormundschaftsbehörden mit den Sonnentemplern. Es ging um die Frage, ob der Staat das Recht habe, überlebenden Sektenmitgliedern das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen, um diese vor weiteren Gewalttaten zu schützen.
Am zweiten Tag seines Aufenthalts in Freiburg fuhr der Zürcher Kommissar Pascal Felber nach Cheiry, eine gute Stunde mit S-Bahn und Postauto von der Kantonshauptstadt entfernt. Er wusste, dass nichts mehr zu sehen war. Das Haus war abgerissen, das Grundstück überwachsen. Auf der Webseite der Gemeinde hatte er nur einen einzigen Hinweis auf die traurigen Ereignisse gefunden, im historischen Abriss. Zwischen einem alten Artikel über die örtliche Blaskapelle und einem Beitrag über die Eröffnung einer Hauswirtschaftsschule stand die kurze Meldung über den geplanten Abriss des Sonnentempler-Hauses drei Jahre nach dem Drama. Man wolle nicht, hatte der damalige Präfekt des Kantons Freiburg erklärt, dass der Ort zu einer Pilgerstätte werde.
Trotzdem fuhr Pascal Felber hin, an einen der Orte, die auch mit seinem Schicksal verbunden waren. Sein Vater hatte für die Freiburger Behörden die Fälle betreut, bei denen es um die Entziehung des Sorgerechts für die Kinder der überlebenden Sonnentempler ging.
Auf der Wiese, wo das Haus gestanden hatte, grasten Schafe, weiter hinten schwarz-weiß gefleckte Freiburger Kühe. Einheimische traf er an diesen Nachmittag im 400-Seelen-Dorf keine an.
*
Zwei Tage später saß Felber im Intercity nach Zürich, in der 1. Klasse. Zwei Wochen hatte er sich gegeben. Zwei Wochen, um in Freiburg eine Spur des Unbekannten zu finden, der für die Entführung und den Tod seiner Frau Deborah verantwortlich war.
Schon kurz nach Olten hatte er seine Notizen und Ausdrucke in die Tasche geschoben, sich ins Polster zurückgelehnt und ließ seither die Landschaft an sich vorbeiziehen. Dabei versuchte er, das Geschnatter einer Seniorenreisegruppe zwei Abteile weiter hinten auszublenden. Die Aare war gespickt mit Gummibooten und Luftmatratzen. An den Ufern wimmelten Sonnenhungrige, was sich seltsam ausnahm aus dem Intercity-Zug, der so stark herunterklimatisiert war, dass man das Gefühl hatte, in einem Kühlschrank durch das Schweizer Mittelland zu fahren.
Jahrelang hatte Felber geglaubt, den Entführer und Mörder seiner Frau im Umfeld seiner ehemaligen Klienten suchen zu müssen, unter den Leuten, die von seiner Ermittlungseinheit überführt und danach zu teils langen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Während der vier Jahre von Deborahs Verschwinden bis zu ihrer Ermordung hatte Felber in regelmäßigen Abständen seltsame Todesdrohungen in Form von Trauerzirkularen erhalten. Vor wenigen Wochen war er in der Wohnung seiner Mutter versehentlich auf eine identische Todesdrohung gestoßen, die nicht Deborah, sondern seinem Vater gegolten hatte und von 1999 datierte. Zuerst hatte er sie für ein gewöhnliches Trauerzirkular gehalten, doch dann war ihm der falsche Todestag aufgefallen. Sein Vater war einen knappen Monat zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen, also vor dem Zeitpunkt, der ihm in der Todesanzeige bestimmt worden war.
Hatte der wahnsinnige Täter mit der Entführung und Tötung von Deborah ein Vorhaben zu Ende gebracht, das durch den unerwarteten Tod von Felbers Vater unmöglich geworden war? Hatte er Pascal Felber stellvertretend für seinen Vater quälen, sich an ihm rächen wollen?
Felber wusste, wie absurd das alles klang. Sein Freund, der Polizeipsychologe Peter Hofmann, hatte es ihm mehr als einmal gesagt. Aber es war die einzige Spur, und wenn er dieser nicht nachging, würde er weiterhin keine Nacht ruhig schlafen können.
Auf der Höhe des Schlosshügels von Lenzburg rief er seine Freundin Sara an und teilte ihr mit, dass er auf dem Rückweg sei. Sie war in der kleinen Kunstgalerie im Zürcher Niederdorf, die sie zusammen mit einer Künstlerfreundin betrieb. Ob er etwas gefunden habe, wollte sie wissen.
»Ein paar Hinweise, viele Erinnerungen«, sagte Felber unbestimmt.
Was er mit nach Hause brachte, war tatsächlich ernüchternd wenig. Viele Fakten, viel Papier, dennoch nur ein paar vage Hinweise, nicht mehr. Mithilfe der lokalen Polizei und des Archivs der Vormundschaftsbehörde hatte Felber die fünf Kinder aus Sonnentempler-Familien eruiert, die unter seinem Vater fremdplatziert worden waren. Er hatte ihre Lebensläufe nachgezeichnet, ihre Wohnorte zum Zeitpunkt der Entführung Deborahs und des Mordes an ihr, mögliche Beziehungen zur Aargauer Gemeinde Wettingen, wo man Deborahs Leiche gefunden hatte, Verbindungen zum Spital, wo sie bis zu ihrer Entführung gearbeitet hatte – nichts.
Einer war gestorben, zwei waren nachweislich zum Entführungszeitpunkt im Ausland gewesen. Eine war Musikerin geworden und würde morgen in Zürich ein Konzert geben, für das sich Felber von Freiburg aus eine Karte besorgt hatte. Der fünfte war 1997 in Kanada verschollen. Felber hatte mit den Pflegeeltern ein Treffen vereinbart, für weitere Auskünfte würden ihm aber die Kollegen weiterhelfen müssen. Das war allerdings etwas schwierig, weil er zurzeit dispensiert war und die Auflage hatte, sich einer Burn-out-Therapie zu unterziehen und sich regelmäßig mit dem Polizeipsychologen zu treffen. Stattdessen war er sofort, nachdem er seine Auszeit eingefädelt hatte, nach Freiburg gefahren.
Wie er sich so durch die Landschaft fahren ließ, fragte er sich – einmal mehr –, ob er sich nicht in etwas verrannte. Ob er vielleicht doch der falschen Spur nachging, was mehr als wahrscheinlich war. Die Sache glitt ihm wie Sand durch die Finger. Vermutlich musste er Hofmann recht geben, der bei ihrem letzten Gespräch auf der Beerdigung ihres Kollegen Christoph Altherr gemeint hatte, er jage einem Phantom nach und habe gute Chancen, in einer geschlossenen Anstalt zu landen. Aber irgendjemand hatte Deborah gefangen, sie getötet, irgendjemand hatte ihm ihren abgeschnittenen Ringfinger geschickt, jemand hatte ihre Leiche in einem Acker abgelegt. Und solange dieser Jemand frei herumlief, stellte er eine Bedrohung für Felber und vor allem für seine Kinder, Meret und Linus, dar.
Felber seufzte und schloss die Augen. Die Seniorengruppe war offenbar in Aarau ausgestiegen, man hörte nur noch regelmäßige Beats aus einem Kopfhörer auf der anderen Seite des Wagens.
Kurz vor halb vier traf er am Zürcher Hauptbahnhof ein. Zu Fuß ging er Richtung Rigiplatz und von dort bis zum gelb-weiß bemalten Wohnblock am Hadlaubsteig, wo er im Hochparterre mit seinem Sohn Linus wohnte.
Der hatte sich mit seinem Laptop auf der Terrasse eingerichtet, in Shorts und T-Shirt, mit Kopfhörern auf den Ohren. Er schreckte zusammen, als Felber von innen an die Scheibe klopfte.
»Alles gut bei dir?«, fragte Felber.
Linus nahm die Hörer ab und nickte. »Klar. Bei dir?«
»Alles gut. Ich geh duschen.«
»Ja, ist eine Scheißhitze.«
Später, als er im Schrank nach einem Anzug suchte, der ihm noch passte und nicht allzu zerknittert war, stand Linus plötzlich hinter ihm im Zimmer.
»Erschreck mich doch nicht so!«
»Was suchst du denn?«
»Ich brauch was Anständiges zum Anziehen. Ich geh morgen in ein Konzert.«
»Und da brauchst du was Schickes?«
»Es ist ein klassisches Konzert.«
»Du?«
»Mhm.«
»Mit Sara?«
»Nein«, brummte Felber und zog einen braunen Blazer hervor.
»Ein Fall?«
»Sozusagen.«
Linus fragte nicht weiter. Er nahm an, dass es um die Sache mit seiner Mutter ging. Deswegen war sein Vater ja auch zehn Tage in seiner alten Heimat gewesen und hatte mit irgendwelchen alten Beamten über die alten Fälle seines eigenen Vaters gesprochen, der gestorben war, als Linus vier gewesen war.
»Wenn du einen hast, der passt, kannst du ihn gleich draußen lassen. Für Meret und Jan.«
»Für die Hochzeit? – Doch nicht dieses alte Ding.«
»Hast du was Besseres?«
»Sara organisiert mir was.«
Linus pfiff anerkennend durch die Zähne und ging aus dem Zimmer.
Felber tat es ihm nach. In seinem Arbeitszimmer machte er sich Notizen zum weiteren Vorgehen. Morgen Konzert in der Tonhalle, am Dienstag Termin bei der Sektenberatung. Dann wollte er noch eine Anfrage an die Polizei von Québec schicken, um nähere Informationen über den Verschollenen zu bekommen.
Nachdem er alles aufgeschrieben hatte, nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich zu Linus auf die Terrasse. Die riesigen alten Bäume legten ihren kühlenden Schatten auf Haus und Garten. Auch bei der schlimmsten Frühsommerhitze ließ es sich am Hadlaubsteig recht angenehm leben. Aber Frieden stellt sich nicht ein, wo einmal die Angst Einzug gehalten hat.
Das Konzert trug den Titel »World of Eternal Sounds« und wurde in der Maag-Halle aufgeführt, einem topmodernen Konzertlokal in den Räumlichkeiten einer ehemaligen Zahnradfabrik, gleich neben dem Bahnhof Hardbrücke. Obwohl es schon kurz nach sieben war, lag noch immer eine drückende Schwüle über der Stadt. Nichtsdestotrotz war die Ausgangsmeile im Kreis 5 voller Leute. Sie zogen zu den vielen Eventlokalen, standen in Gruppen beisammen oder saßen vor Bars und Cafés, aus denen laute Musik drang.
Als Felber am Fuß des Prime Towers vorbeiging, erinnerte er sich an ein Treffen mit einem Kleinkriminellen vor knapp zwei Monaten. Kurz darauf war der von der Mafia erschossen worden.
Auch auf dem Gelände vor der Tonhalle waren schon viele Leute versammelt. Der Saal, eine Konstruktion aus hellem Holz, die man eigens wegen des Umbaus der Tonhalle am General-Guisan-Quai in die Fabrikhalle eingesetzt hatte, war jedoch nur zur Hälfte gefüllt. Felber fand seinen Sitzplatz in der Mitte des Saales. Er hatte ein klassisches Orchester erwartet, das mit dem quälenden Stimmen der Instrumente beginnen würde, aber auf der großen Bühne standen nur ein einsamer Konzertflügel samt Hocker und ein weiterer Stuhl mit Notenpult. Egal, Felber bereute ohnehin längst, hierhergekommen zu sein. Er hielt es lieber mit Blues und R ’n’ B, vielleicht noch mit Jazz, wenn er nicht zu abgehoben war. Mittlerweile bezweifelte er, durch das Konzert mehr über diese Carole Michelet zu erfahren, als er aus den Akten wusste, mehr als ihm ein pensionierter Kollege seines Vaters im Seniorenwohnheim von Düdingen erzählt hatte. Hatte er tatsächlich geglaubt, er würde neue Erkenntnisse gewinnen, indem er zuhörte, wie die Frau einen Abend lang auf ihrem Instrument herumgeigte?
Carole Michelet kam kurz darauf allein auf die Bühne, eine vollschlanke junge Frau, deren Gesichtszüge Felber von seinem Platz aus nicht genau ausmachen konnte. Sie richtete Instrument und Bogen aus und begann ganz allein zu spielen, laut Programmheft eine Suite von Max Reger in d-Moll.
Felber wusste natürlich, wie ein Cello klang, aber das, was die junge Frau aus ihrem Instrument herausholte, war etwas ganz anderes. In hohen, langgezogenen Melodiebögen drückte Carole Michelet Nuancen von Gefühlen aus, die Felber unmöglich benennen konnte. Gebannt lauschte er den ungewohnten Klängen, und als das Cello in tiefere Lagen drang, schien es ihm, als rühre es im Grund seiner Seele, zu dem er selber keinen Zugang hatte.
Das zweite war ein Fantasiestück, las Felber im Programm, während der Applaus noch anhielt, Opus 73 von Robert Schumann. Er glaubte sich zu erinnern, dass das ein Romantiker war. »Am Brunnen vor dem Tore« kam ihm in den Sinn, oder war das Schu-bert gewesen? Für dieses Stück betrat ein Pianist die Bühne, auch er jung und auffallend dünn. Er begann mit filigranen Klangtrauben, in die sich das Cello nach wenigen Sekunden hineinwob, ein Über- und Ineinander feinster Wellenbewegungen, das noch intensiver von Felbers Innerstem Besitz ergriff als das letzte Stück. Voller Verwunderung spürte er, wie ihn ein wohliger Schmerz durchströmte, wie er mit dem, was geschehen war, versöhnt schien, wie sich die Anspannung, die quälende Angst und die fiebrige Verzweiflung aufzulösen schienen.
Einen Moment erinnerte er sich daran, wie ihn vor wenigen Wochen ein seltsamer Heimatschützer im Zürcher Oberland in einer unterirdischen Militäranlage eingesperrt und ihm unbeabsichtigt einen Moment voller Frieden und Ruhe beschert hatte. Auch der war mittlerweile tot. Von der Mafia ermordet.
Wieder anders, aber nicht weniger gefühlsintensiv, ging es nach einer kurzen Pause weiter, während der Felber gedankenversunken sitzen geblieben war. Die Nocturne einer Lili Boulanger wurde nun wiedergegeben, von der Felber noch nie gehört hatte, aus dem frühen 20. Jahrhundert, ebenfalls mit Piano, ein Stück voller Zartheit, das Klavier zwischendurch fast schon jazzig, jedoch wie mit Samthandschuhen gespielt, das Cello leicht und schwebend.
Es folgte ein weiteres Solostück. Carole Michelets Finger zuckten nur so über das Griffbrett, der Bogen tanzte über die Saiten, da war tiefe Gefühlskraft gepaart mit unglaublicher technischer Präzision. Lächerlich, sagte Felber sich immer wieder, lächerlich und absurd der Gedanke, dass diese Frau eine Mörderin sein soll, dass ein Mensch mit so feinem Gefühl einen anderen Menschen entführt, jahrelang gefangen gehalten und am Ende kaltblütig getötet haben soll. Absolut lächerlich.
Der Schlussapplaus riss ihn aus dem traumartigen Zustand, in den ihn das letzte Stück gezogen hatte. Benommen und verwirrt folgte er dem Publikum, das sich fröhlich über die Kunstfertigkeit der beiden Musiker, die herrliche Akustik des Saales und die Stückauswahl austauschte. Er wartete, bis eine Gruppe den Durchgang zur Tür freimachte, als ihn jemand sanft am Arm packte.
»C’est bien vous, Monsieur Felber?« Sie sind doch Herr Felber?
Vor ihm stand Carole Michelet, die eben noch mit ihrem Cello Felbers Gefühlswelt auf den Kopf gestellt hatte, und musterte ihn erwartungsvoll.
»Woher wissen Sie, dass ich … wer ich bin?«, fragte er auf Französisch.
»Pierre hat es mir gesagt«, erklärte sie.
Pierre Armand, der ehemalige Arbeitskollege von Felbers Vater, hatte viel über die junge Frau erzählt. Dass der mittlerweile über 80-Jährige bis heute mit ihr in Kontakt stand, hatte er offenbar vergessen zu erwähnen.
Wenige Minuten später saßen Felber und Carole Michelet in einer Nische hinter der Bühne. Bühnentechniker gingen mit Werkzeugkoffern vorbei, wünschten eine gute Nacht.
»Ihre Musik ist fantastisch«, sagte Felber und kam sich gleich blöd vor. Er fühlte sich auf Französisch nicht immer ganz treffsicher.
»Es hat Ihnen gefallen?«
»Ich verstehe nicht viel von Musik. Ich kann es nicht beschreiben, aber es hat mich sehr bewegt.« Wieder ein mühsamer Satz, der nicht ganz das ausdrückte, was er auf Deutsch gesagt hätte.
Carole musterte ihn mit lebhaften Augen. »Pierre hat gesagt, dass Sie nach den Kindern suchen, die man damals fremdplatziert hat.«
»Was hat er Ihnen erzählt?«
»Nur das.«
Felber atmete hörbar ein und aus. »Mein Vater, Louis Felber, hat damals für die Vormundschaftsbehörde gearbeitet, Sie müssten sich an ihn erinnern.«
Die Musikerin blickte lange ins Leere. »Es kann sein«, sagte sie dann langsam und leise. »Die Erinnerungen sind diffus geworden, und das ist gut so.« Plötzlich schaute sie ihn an und fragte mit veränderter Stimme: »Sie sind auch Romand?«
»Ich bin in Fribourg aufgewachsen. Als das Ganze passierte, in Cheiry und Granges, waren wir aber schon in Zürich.«
Bei der Nennung der beiden Ortschaften zuckte sie leicht zusammen. »Was ist mit Ihrem Vater?«
»Er ist gestorben, vor 20 Jahren.«
Ihr Blick ging wieder ins Leere, zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte. »Was suchen Sie?«, fragte sie nach einer Weile. »Versöhnung? Wiedergutmachung?«
Felber schaute sie irritiert an.
»Aus Sicht der Behörden war es sicher gerechtfertigt«, fuhr sie tonlos fort, »aber als Kind … Können Sie sich vorstellen, was das für ein Kind bedeutet?«
Felber schüttelte den Kopf.
Zwei Arbeiter schoben große Kesselpauken unter Stoffbezügen vorbei, wahrscheinlich für ein größeres Konzert am nächsten Tag.
»Jemand hat meine Frau entführt«, sagte Felber nach einer Weile, »vier Jahre gefangen gehalten und dann getötet.« Dieser Satz gab dem Gespräch augenblicklich eine andere Wendung. Er spürte es daran, dass Carole zwar nach wie vor seinem Blick auswich, aber aufrechter dasaß, angespannt.
»Davon hat Pierre nichts gesagt«, murmelte sie.
Felber hatte angefangen, dann konnte er auch gleich alles erzählen, von den seltsamen Todesanzeigen mit Hinweisen auf Deborahs Tod, vier an der Zahl, die er in unregelmäßigen Abständen im Briefkasten gefunden hatte. Von dem abgetrennten Finger, den man ihm per Post an die Kantonspolizei geschickt hatte. Wie man vergangenen Frühling Deborahs Leiche auf einem Acker in der Zürcher Agglomeration gefunden hatte und wie er unter den Sachen seines Vaters auf eine ähnliche Todesanzeige gestoßen war, datiert auf einen Zeitpunkt, nicht ganz einen Monat nachdem dieser bei einem Autounfall ums Leben gekommen war.
»Mein Gott, so viel Leid«, murmelte Carole, als Felber seine Ausführungen beendet hatte.
Die Last des Gesprächs lag zentnerschwer in der Luft. Felber spürte seinen Atem, seine kalten Hände auf den Knien. Sein Blazer spannte an den Schultern.
»Entschuldigen Sie bitte«, unterbrach er nach einer Weile die Stille und räusperte sich. »Es war dumm von mir, herzukommen und Ihnen das alles zu erzählen.« Er machte Anstalten aufzustehen, aber Carole blieb sitzen und blickte ihn ruhig an.
»Sie glauben«, sagte sie ganz ohne Sarkasmus, »eines der Kinder von damals wollte sich rächen? An Ihrem Vater und dann an Ihnen?«
Felber seufzte. »Ich weiß, es klingt absurd.«
»Wie viele sind es?«
»Wie viele was?«
»Wie viele Kinder, die man damals aus ihren Familien gerissen und in Pflegefamilien untergebracht hat?«
»Es sind nur vier.« Felber war selbst überrascht gewesen. In seiner Erinnerung hatte man viel mehr »Schützlinge«, wie seine Mutter sie genannt hatte, nach den Massakern von 1994 fremdplatziert. Er zählte die Namen der anderen drei auf. »Sandrine Vernet, Serge Duverney, Joël Dalimier.«
»Sie sind gekommen, um zu sehen, ob ich als Täterin infrage komme«, konstatierte sie leise.
Felber zog entschuldigend die Schultern hoch. »Es ist meine einzige Spur. Ich muss meine Familie schützen.«
Carole schien ihm nicht übelzunehmen, dass er sie verdächtigt hatte. »Ich habe nicht mehr alle präsent«, fuhr sie fort. »Aber ich bin mir sicher, dass da noch jemand war. Patrick … Patrick Luyet.«
»Patrick Luyet, ja«, bestätigte Felber. »Er ist vor drei Jahren bei einem Tauchunfall ums Leben gekommen, in Spanien.«
»Tatsächlich«, sagte sie, und es klang mehr wie eine Feststellung. »Mit Sandrine habe ich noch ab und zu Kontakt. Sie lebt in Singapur.«
Das hatte Felber mithilfe von Linus über das Internet bereits herausgefunden. Sandrine Vernet hatte im Zeitraum von Deborahs Verschwinden bis zu ihrem Tod in Singapur gelebt, wo sie eine Art Yoga-Zentrum führte. Auch sie fiel als Täterin weg.
»Und Joël wollte nach Kanada auswandern, glaube ich.«
Felber nickte. Aber in Kanada verlor sich Joël Dalimiers Spur Ende der 90er-Jahre. Die Pflegeeltern, die Felber übernächste Woche traf, würden auch nicht viel mehr sagen können.
»Die Ordensleute glaubten, in Québec sei eine Art Schutzzone«, erklärte Carole, »ein Ort, der von der Apokalypse verschont würde. Von der Endzeit, die dann doch nicht gekommen ist … oder anders, als man sie sich vorgestellt hatte.«
Tatsächlich anders, dachte Felber bitter, in Form von Gewalt, Mord und unsäglichem Leid.
Carole knetete einen Augenblick ihre Finger, dann schaute sie auf. »Ich glaube nicht, dass eines der Kinder Ihnen das angetan hat. Und von den Erwachsenen sind die meisten mittlerweile tot, entweder in Cheiry und Granges oder im darauffolgenden Jahr bei Grenoble gestorben. Meine Mutter …« Sie stockte. »Meine Mutter hatte damals erbittert für das Sorgerecht gekämpft.«
Felber hatte in den Akten gelesen, dass Délphine Michelet noch in den 90er-Jahren Jakob Brunegg, einen schwerreichen Zürcher Industriellen, geheiratet hatte. Zusammen hatten sie alle Hebel in Bewegung gesetzt, um den Entscheid der Vormundschaftsbehörde rückgängig zu machen. Felbers Vater hatte sich allerdings erfolgreich dagegengestellt, weil Michelet im engsten Kreis der Sekte verkehrt und er die Gefahr einer weiteren Gewalttat als zu hoch eingeschätzt hatte.
»Ich war damals 13. Drei Jahre darauf, mit 16, hatte ich von Gesetzes wegen wieder die Möglichkeit, den Kontakt zu meiner Mutter zu suchen.«
»Und das haben Sie?«
Sie nickte. »Wir haben noch immer ein gutes Verhältnis. Damals, nach der Sorgerechtssache, hätte meine Mutter sicher Grund gehabt, Ihren Vater zu hassen. Aber so viele Jahre später …«
Felber war klar, dass das keinen Sinn ergab.
»Was würden Sie tun«, fragte Carole, »wenn Sie ihn finden?«
Felber zog die Brauen hoch. Er biss sich auf die Lippen, schüttelte leise den Kopf, schaute weg. Er wusste es schlicht nicht.
Carole Michelet versprach, ihre Mutter nach dem verschollenen Joël Dalimier zu fragen. Sie tauschten ihre Telefonnummern, dann verabschiedeten sie sich.
Felber ging zu Fuß durch die mittlerweile leere Eingangshalle, anschließend unter den Säulen der Hardbrücke durch und fuhr mit dem Lift hoch zur Bushaltestelle. – Ja, was würde er tun, wenn er Deborahs Mörder finden würde? Er war für ihn weit mehr als bloß ein Täter, den man der Gerichtsbarkeit zuführen musste. Er war zu seinem persönlichen Feindbild geworden, einem Gegenüber, das übermenschliche Dimensionen angenommen hatte und ihn bis in seine Angstträume hinein verfolgte. Was er wollte, war die Gewissheit, dass Meret und Linus außer Gefahr waren, außerdem wollte er wieder ruhig schlafen können, ohne diese ständige Angst. Oder war es doch mehr? Wollte er auch Rache?
Felber erinnerte sich an ein Gespräch mit Linus über ein philosophisches Gedankenexperiment zur Frage, ob man einen Menschen töten dürfe, um andere zu retten. Es ging dabei um eine Straßenbahn, deren Bremsen versagten und die man durch Umstellen einer Weiche auf ein anderes Gleis leiten konnte, wo statt fünf Arbeitern nur einer stand. Durfte man einen Menschen töten, um damit die Sicherheit von anderen zu gewährleisten? Machte es einen Unterschied, ob dieser Mensch ein Mörder war und die anderen die eigene Familie?
Der Konzertabend und die Begegnung mit der Cellistin hatten ihn aufgewühlt. Während er auf das weite Gleisfeld und die unzähligen Lichter der Stadt blickte, fiel er vollends in eine seltsame Mischung aus Melancholie und innerer Unruhe, die ihn einmal mehr nicht schlafen lassen würde. Er zog sich eine Zigarette aus der Jackentasche, zündete sie an und blies den Rauch in den samtenen Nachthimmel. Der Verkehr rauschte über die Hardbrücke, weit hinten kam ein 31er-Bus.
»Jetzt halt doch mal still!« Sara zog am Ärmel des dunklen Vestons, den Felber über das T-Shirt angezogen hatte, und markierte mit Stecknadeln die Armlänge.
»Warum müssen solche Anlässe eigentlich so steif sein?«, seufzte er.
Sie lachte und machte sich am anderen Ärmel zu schaffen. »Für deinen Sohn kann es nicht elegant genug sein.«
Auch wenn Linus für gewöhnlich mit abgewetzten Jeans und bedruckten, nicht immer ganz frischen T-Shirts daherkam, das Haar wild durcheinander, legte er für die Hochzeit seiner Schwester Wert auf piekfeine Garderobe. Schon früher hatte er manchmal die Familie erstaunt, wenn er bei einem Familienfest, das man in lockerem Rahmen abzuhalten vereinbart hatte, partout mit Hemd und Krawatte erscheinen wollte – einer Kinderkrawatte mit Gummibändchen, wie sich Felber schmunzelnd erinnerte.
»Deine Tochter heiratet ja nur einmal«, nuschelte Sara, eine Stecknadel zwischen den Lippen. »Wäre blöd, wenn du als Einziger wie eine Vogelscheuche daherkommst.«
Felber zuckte mit den Schultern. »So komme ich mir vor wie ein Pinguin, das ist auch nicht besser.«
Meret heiratete ganz traditionell, was Felber nicht erstaunte. In solchen Sachen kam sie definitiv nach Deborah, nicht nach ihm. Der ursprüngliche Hochzeitstermin war Ende März gewesen, doch dann hatte man Deborahs Leiche gefunden und das Fest verschoben. Nun schien es, als wollten Meret und Jan den Aufschub durch doppelten Pomp wettmachen: zivile Trauung im Stadthaus an der Limmat, Apéro im Kirchgemeindehaus über dem Bahnhof Enge, Nachtessen im Belvoirpark-Restaurant etwas weiter stadtauswärts über dem See. Das Etablissement wurde von der Hotelfachschule geführt und hatte einen erstklassigen Ruf. Dabei waren die Preise vernünftig, was Felber sehr recht war, hatte er sich als Brautvater doch anerboten, für das Festessen aufzukommen. Der Lohn eines Kantonsbeamten in seiner Position war zwar anständig, aber Linus’ Ausbildung hatte lange Jahre an den Ersparnissen gezehrt, zudem war die Mietwohnung am Hadlaubsteig schweineteuer – wie mittlerweile überall in der Stadt.
Immerhin konnte er für seinen zukünftigen Schwiegersohn, der mit irgendwelchen Start-ups wahrscheinlich ein Vielfaches von Felber verdiente, mit einem besonderen Geschenk aufwarten, ohne noch einmal in die Tasche greifen zu müssen: Ihm schenkte er den Chrysler, Baujahr 1976, der Felbers Vater zu Lebzeiten gefahren hatte und der seither unbenutzt in der Tiefgarage der Liegenschaft am Hadlaubsteig stand. Mit Felbers Segen hatte sich Jan letztes Jahr darangemacht, den Oldtimer aufzumöbeln. Rechtzeitig zur Hochzeit hätte er ihn so weit, dass er den Wagen aus der Garage herausfahren könnte. Wenn Felber das restliche Gerümpel weggeräumt hatte, würde er den Parkplatz endlich aufgeben können.
Er sah schon vor sich, wie ihn Meret und Jan an schönen Frühlingstagen mit zwei, drei Kindern aus dem Altersheim abholten, für ein Ausfährtli mit dem Oldtimer, und sie gemeinsam zu Onkel Linus fuhren, der irgendwo im Appenzellerland einen Bauernhof betrieb, einen digitalisierten Hightech-Bauernhof vermutlich.
»Pascal, bitte!« Sara blickte zu Linus, der eben ins Wohnzimmer trat. »Dein Vater macht mich noch verrückt.«
Felber drehte den Kopf, so gut das in dieser Position eben ging.
»Hast du dir jetzt überlegt, ob du auch eine Produktion machst?«, fragte Linus, während er kritisch Felbers Aufmachung musterte.
»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich vorne hinstelle und einen Sketch vortrage oder Kindergeburtstagsspiele anleite!«
»Es wäre noch Platz für zwei, drei Vorführungen«, warf Linus ein.
Felber verdrehte die Augen.
»Jans Vater hat eine Drehorgel für den Einzug in den Belvoirpark organisiert.«
»Toll, dann deckt er ja den Bereich Unterhaltung vollständig ab. Meret erwartet wohl nicht von mir …«
Linus winkte ab. »Nein, sie nicht, aber ich in meiner Funktion …«
»Lass dir ja nicht einfallen, mich überraschend nach vorne zu holen!«, drohte Felber, doch Linus war schon auf dem Weg in sein Zimmer.
Vom Flur aus rief er: »Übrigens, morgen ist Schifferstechen. Geht ihr auch hin?«
»Was für ein Stechen?«, fragte Felber, überrascht von Linus’ plötzlichem Themenwechsel.
»Das Schifferstechen«, übersetzte Sara.
Felber zog entschuldigend die Augenbrauen hoch.
Linus, der bis zur Tür zurückgekehrt war, schüttelte entgeistert den Kopf. »Man könnte meinen, du seist erst vor Kurzem nach Zürich gezogen. Aber vom Sechseläuten hast du schon mal gehört?«
»Sagt mir etwas.«
»Das Schifferstechen ist der zweitwichtigste Anlass der Zürcher Zünfte nach dem Sechseläuten!«, erklärte Sara.
»Eine Art Ritterturnier«, ergänzte Linus. »Mit Weidlingen auf dem Wasser.«
»Klingt faszinierend«, murrte Felber.
»Bei dem Wetter wird es Unmengen von Zuschauern haben«, gab Sara zu bedenken.
»Ein guter Grund, nicht hinzugehen«, schloss Felber das Thema ab.
Sara blinzelte Linus zu und hob entschuldigend die Schultern.
Der verschwand in seinem Zimmer.
»Du meinst doch nicht etwa, dass Linus tatsächlich vorhat…«, begann Felber.
Sara schüttelte den Kopf. »Dafür nimmt er sein Amt viel zu ernst.«
Meret hatte Linus nämlich gebeten, an ihrer Hochzeit den »Tätschmeister« zu spielen, wie man hierzulande den Zeremonienmeister nennt. Auch wenn er es nicht zugeben mochte, war er unglaublich stolz darauf. Felber war überzeugt, dass er mit Hingabe und vollem Einsatz an die Aufgabe herangehen würde. So schwierig und unnahbar er als Kind gewesen war, so seltsam und unfreundlich er auch jetzt noch oft wirkte, legte er doch immer wieder eine Fähigkeit an den Tag, besondere Momente besonders zu gestalten. Einmal hatten Deborah und Felber bemerkt, dass sie ihren Hochzeitstag vergessen hatten. Sie waren losgegangen, um im Denner einen Prosecco zu kaufen. Als sie zurückkamen, war die Wohnung abgedunkelt, Kerzen brannten auf dem Tisch, auf ausgebreiteten Servietten lagen Teller mit Gebäck, aus der Stereoanlage drang Vogelgezwitscher und Meditationsmusik.
Felber waren Anlässe mit vielen Leuten in Anzügen und Krawatten ein Graus. Natürlich freute er sich für seine Tochter, mit der Mischung aus Stolz und Schmerz, die wohl alle Väter angesichts der Hochzeit ihrer Kinder empfinden. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er zurzeit keinen Sinn für solche Dinge hatte. Zu sehr beschäftigte ihn die Frage nach Deborahs Mörder, die ewige Sorge, auch Meret und Linus könnten auf der Todesliste des Wahnsinnigen stehen. Er fragte sich, ob sich das je ändern würde, ob er je die Fragen beantworten, die Sache abschließen könnte.
Im Moment zumindest konnte er es nicht. So saß er wieder einmal abends in seinem kleinen Arbeitszimmer neben der Essnische. Auf dem Schreibtisch hatte er eine Landkarte von Kanada ausgebreitet. Er hatte für August eine Bahnreise mit dem »Ocean« geplant, nur für sich und Linus, von Halifax nach Montréal, von da weiter nach New York. Dort würden sie Sara treffen, die ihrerseits einige Wochen bei ihrer Tochter Noélia in New Jersey verbringen wollte. Die Reise war ein kleines Zugeständnis an Linus, weil Felber für Meret und ihre Hochzeit so viel Geld aufwendete, während Linus keine Anstalten machte, sich fürs Leben zu binden.
Die Karte hatte er aber in einem ganz anderen Zusammenhang aufgeschlagen: Ein pensionierter Beamter der »Sûreté du Québec« hatte sich auf seine Anfrage hin per Mail gemeldet. Alex Fortin schrieb, er habe damals, 1997, die Ermittlungen bei den Sonnentempler-Morden von Morin-Heights und Saint-Casimir geleitet und wolle Felber gern bei seinen Untersuchungen weiterhelfen. Er bat ihn, ihm präzise Fragen zukommen zu lassen, und bot ihm an, sich in einigen Tagen über Skype zu besprechen.
Während Sara bei leiser orientalischer Musik im Wohnzimmer an seinem Anzug nähte und Linus pfeifend zwischen der Küche und seinem Zimmer hin- und herging, formulierte Felber seine Fragen. Die erste war diejenige nach dem Verbleib von Joël Dalimier.
»Was machst du denn mit diesem altertümlichen Ding?« Linus war vor der Bürotür stehen geblieben. Nun trat er zum Tisch und musterte die Karte. »Unsere Strecke?«
Felber nickte.
Linus folgte der Bahnlinie mit dem Finger und nahm dann die Reiseunterlagen in die Hand, die daneben lagen. Plötzlich stockte er. »Du hast Sleeper Touring Class gebucht?«, fragte er fassungslos.
Felber nickte lachend. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, für die zweitägige Fahrt die teurere Kabine mit Zugang zum Panoramawagen zu reservieren.
»Das ist … Das ist … wow!«
Als Felber Linus kurz darauf am Kühlschrank hantieren und vor sich hin pfeifen hörte, nahm er seine Kartenstudien wieder auf. Nicht allzu weit von der Bahnstrecke entfernt lagen zwei kleine Ortschaften: Morin-Heights und Saint-Casimir, wo sich in den 90er-Jahren zwei Morde im Umfeld der Sonnentempler-Sekte ereignet hatten. Sollte sich wirklich eine Spur des verschollenen Joël Dalimier finden, dann hier. Von Montréal aus, rechnete Felber, waren es rund 100 Kilometer, in unterschiedliche Richtungen. Zwar hatten Linus und er dort einen Tag Aufenthalt geplant. Aber wie würde Linus darauf reagieren, wenn er ihn auf der gemeinsamen Reise allein ließ, um seinen eigenen Ermittlungen nachzugehen?
Von kräftigen Ruderschlägen vorangetrieben zogen zwei Weidlinge in gerader Bahn aufeinander zu. Die beiden Stecher hatten sich bereits auf das Podest im Heck gestellt, hoben nun mithilfe der vorne Sitzenden die Lanzen in Richtung des entgegenkommenden Bootes. Die Münster-, die Rathausbrücke und das Limmatufer waren voller Zuschauer, auf der Wühre, dem schmalen Fußweg auf der linken Flussseite, war kein Durchkommen mehr. Auch auf den Trottoirs des Limmatquais stand man dicht gedrängt, und von den regelmäßig durchfahrenden Trams sah man hinter Wurstbuden und Festzelten nur die Stromabnehmer hin- und herfahren.
Nur noch wenige Meter trennten die beiden Boote. Schon schien der Zusammenprall unvermeidlich, da erfolgten zwei kräftige Stöße mit den stumpfen Lanzen. Mit wenigen Zentimetern Abstand schossen die Boote aneinander vorbei. Die Stecher rangen einen Moment lang um ihr Gleichgewicht, dann stürzte einer von ihnen, es war der Vertreter der Stadtzunft, in voller Kleidung in die Limmat. Applaus und Hurra-Rufe aus den Zuschauerrängen, ein Punkt für die Zunft zum Kämbel. Die Boote wurden gewendet, der Besiegte schwamm zur Anlegestelle, wo man ihm aus dem Wasser half.