Der falsche Gruß

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Inhaltsverzeichnis

Wenn ich einmal reich und tot bin

Die Tempojahre

Land der Väter und Verräter

Harlem Holocaust

Die Tochter

Kühltransport

Deutschbuch

Esra

Bernsteintage

Moralische Geschichten

Menschen in falschen Zusammenhängen

Liebe heute

Der gebrauchte Jude

Kanalratten

Im Kopf von Bruno Schulz

Biografie

Hundert Zeilen Hass

Sechs Koffer

Literatur und Politik

Sieben Versuche zu lieben

Wer nichts glaubt, schreibt

Gustave Flaubert, Die Erziehung des Herzens

Es war eine Mischung aus Hitlergruß und dem verrutschten Armwedeln eines Betrunkenen, aber vielleicht war es auch einfach nur mein ungeschickter Versuch, den französischen Quenelle nachzumachen, das weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls stand ich eines Nachts vor fünf Jahren im Trois Minutes in der Torstraße vor dem ewigen Unruhestifter und Menschenfeind Hans Ulrich Barsilay und machte das erste Mal seit meiner Kindheit wieder meine absurde Nazigymnastik. Gleichzeitig trat ich wütend gegen den Tisch, an dem er seit zwei Stunden mit Leo Meinl, dem immer nervösen Talk-Show-Anwalt, Zanussi und Zanussis linksradikaler, französischer Exfrau Lola saß, die heute vermutlich alle von Barsilay nichts mehr wissen wollen, und zischte »So viel Blödheit muss weh tun« und »Du kleines Arschloch …« in seine Richtung. Dann senkte ich den Arm schnell wieder, wenn ich mich richtig erinnere, und starrte schweigend auf den Boden. Als ich hochschaute, saßen Meinl, Zanussi und Lola nicht mehr ganz so dicht neben Barsilay an dem langen, weißgedeckten Bistro-Tisch wie vorher, und während ich in den Augenwinkeln deutlich Barsilays erschrockenes, dummes Trotzkigesicht sah, kämpfte ich mit meiner Übelkeit und meiner Angst vor dem Skandal, der mir nach meinem Hitlergruß-Blackout drohte. Wer war ich, wer war Barsilay? Und hatte

Als ich dann eine halbe Stunde später über die schwarze, laute Torstraße nach Hause zum Teutoburger Platz lief, sah ich bereits, wie ich, ein moderner Nazi-Émigré, gleich am Morgen einen Koffer packte, mit dem Zug nach Hamburg fuhr und von dort das letzte Schiff in Richtung Amerika nahm, um für immer Deutschland zu verlassen – verjagt und ausgestoßen, bloß weil ich aus Versehen gegen eines der ungeschriebenen Gesetze der großen Umerziehung verstoßen hatte.

Ich war, glaube ich, fast schon in der Gormannstraße, als ich plötzlich wieder umdrehte und zum Rosenthaler Platz zurückging, wo gerade dieser neue riesige, helle Schnapsladen aufgemacht hatte – »Liquor store« stand darüber, als wäre ich längst auf der anderen Seite des Atlantiks angekommen –, und dort suchte ich mir den teuersten Wodka aus, den sie hatten. Er war aus Finnland, die Flasche sah aus, als hätte man sie aus einem Eisblock herausgeschlagen, und als ich beim Bezahlen zufällig die Hand der kleinen Orientalin mit dem turmartig hohen, minzgrünen Kopftuch berührte, die ein überraschend schönes, klares Deutsch sprach, dachte ich: Ihr armen, armen Leute, nach mir seid bestimmt ihr dran! Was wird man euch vorwerfen? Auschwitz wohl kaum, aber bestimmt irgendwas mit den Armeniern.

»Barsilay ist überall«, flüsterte ich der kleinen Türkin oder Araberin zum Abschied verschwörerisch zu. Sie

Das erste Mal hatte ich Barsilays seltsamen Namen gehört, noch bevor ich anfing, zu studieren. Mein Vater – manche sagen, dass ich von ihm meine ungewöhnlich schnelle Auffassungsgabe habe, aber leider auch seine fast aufreizende Verletzlichkeit und seine professorale Verträumtheit – kam an einem sonnigen Sommertag irgendwann Anfang der neunziger Jahre sehr viel früher als sonst aus der Universität nach Hause. Er hatte rote Flecken im Gesicht und auf dem Hals, er schwitzte so sehr, dass die Ansätze seiner gelbgrauen Haare nass waren und dunkel über der hohen Denkerstirn glänzten. Und weil sonst keiner da war außer mir, erzählte er mir, was ihn so aufgeregt hatte, dass er nicht weiterarbeiten konnte. Er hatte in der Mittagspause zufällig Barsilays bestürzenden FAZ-Essay über »die Affen von Rostock-Lichtenhagen« gelesen – so nannte Barsilay die Idioten, die fast ihre eigenen Häuser angezündet hätten, um ein paar arme Vietnamesen aus ihnen zu verjagen –, und jetzt stieß Papa immer nur Barsilays fremd klingenden Namen aus, zweimal, dreimal hintereinander, um danach plötzlich ganz laut ein unsichtbares Publikum zu fragen: »Wer dreht an der Uhr der Geschichte? Sind es die Ewiggestrigen oder sind es ihre Opfer?«

Barsilay behauptete in dem Artikel, den ich fast zehn Jahre später als Student für meine nie geschriebene

Als ich, wie gesagt, fast zehn Jahre später bei Sartorius in Berlin meine Arbeit über »Spätbolschewismus als Identität und Nachteil« schreiben wollte – wie dumm muss man sein, um seinem reaktionären Magistervater noch vor der ersten Zeile die eigene rosarote politische Einstellung zu verraten? –, war Barsilays Lichtenhagen-Artikel einer der ersten Texte, die ich mir besorgte. Ich saß in der Staatsbibliothek Unter den Linden im alten Lesesaal, an einem der altvertrauten, hellen Hellerau-Tische, die

Papa rauchte noch mindestens vier oder fünf Zigaretten am Fenster, während ich neugierig in der Tür stand und ihm zuhörte. Er bot mir sogar eine an, was er vorher nie gemacht hatte, und obwohl ich sie sehr gern wollte, beschloss ich, Nein zu sagen. »Dann umarm mich wenigstens, Erck, du kleiner Bandit, du großer Punker«, sagte er halb beleidigt, halb erleichtert. »Du bist jetzt groß genug, um deinem alten Vater Mut zu machen.« Das machte ich nach einem kurzen, unsicheren Hin und Her zwischen Tür und Fenster dann auch, ich dachte dabei, warum riecht er nach Apfelsinen, wir haben doch nie Apfelsinen, und wieso hält er mich so vorsichtig wie ein Baby. Hinterher gingen wir, das erste Mal seit vielen Jahren, zusammen im Rosental spazieren.

Papa ging meistens schneller als ich und warf immer wieder wie ein Dirigent seine langen, sehnigen Dessauer-Arme in die Luft, die ich natürlich auch habe, ein Erbe unserer Rostocker Werftarbeiter-Vorfahren. Er machte

Als wir dann bei dem langen, mit Schilf und wilden Sträuchern spärlich bewachsenen Graben ankamen, der das Rosental nur dürftig vom Zoo trennte, sagte er: »Siehst du? Keiner da! Sie tun so, als würden sie in ihren Gehegen und Käfigen schlafen. Aber sie verstellen sich natürlich nur. Komm, wir warten, ob bald wieder eins von den

Das alles ging mir also durch den Kopf, während ich fast ein Jahrzehnt später in Berlin in der Bibliothek saß und beim Lesen von Barsilays Lichtenhagen-Artikel überrascht merkte, dass Papa bei seiner Zusammenfassung die Hälfte weggelassen hatte. Denn natürlich beleidigte der ewige Krawallmacher und spätere Börnepreisträger darin – nach seiner grellen und ziemlich sadistischen Ossi-Attacke – auch die Westdeutschen. Er behauptete, dass sie mit uns »bolschewisierten Menschenaffen« ähnlich rücksichtslos umgegangen seien wie die Truppen des Leutnants von Trotha mit den hilflosen, mutigen Hereros. Er verglich Deutsch-Südwest mit der Ex-DDR, die Massaker in der Omaheke-Wüste mit den Treuhand-Pogromen, und er dachte laut darüber nach, ob er in einem solchen »Bürgerkriegsland« noch weiter zu Hause sein könne. »Ich werde« – diesen Satz hatte ich mir unterstrichen und für immer gemerkt, weil er so wehleidig und unhistorisch zugleich war – »ich werde trotzdem hier bleiben, denn würde ich gehen, würden alle meine Feinde zu mir sagen, ich hätte mich doch nur selbst vertrieben.«