Bei einer guten Staatsführung hat der Untergebene, der Befehlsempfänger, Glück; Bei einer schlechten Unglück. Ich hatte kein Glück.
ADOLF EICHMANN, Götzen
Warum musste er immer so ein Pech haben?
Ausgerechnet an dem Tag, an dem er nach sieben Jahren erzwungener und durchrungener Trennung seine Frau wiedersehen würde, waren in der ganzen Stadt keine Blumen aufzutreiben. Nachdem sich die Gewerkschaften der landesweiten Trauer angeschlossen hatten, gab es auch keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, keine Zeitungen, keine geregelten Sprechzeiten in den Krankenhäusern und keine Müllabfuhr. Doch die eigentliche Katastrophe war der völlige Mangel an Rosen, Veras Lieblingsblumen – und nicht mal Freesien oder Jasmin oder ein armseliger Nelkenzweig waren ersatzweise zu bekommen.
»Aber Sie verkaufen doch Blumen, und dann keine Blumen haben, warum Sie dann hier?«, ärgerte sich Ricardo Klement bei dem letzten Blumenhändler, den er noch antraf, in seinem gebrochenen Spanisch. Immerhin war er zwanzig cuadras vom Hotel aus gelaufen.
»Wir warten auf frischen Nachschub aus Chile«, antwortete der Florist, der auf beleidigende Art freudig erregt wirkte. Es passierte ihm wohl zum ersten Mal, dass seine Ware schon um zehn Uhr morgens ausverkauft war, und das an einem ganz normalen verregneten Montag im Winter, einem eigentlich besonders ungeeigneten Tag, um Blumen für jemanden zu kaufen. »Unsere Evita ist gestorben, und das Volk hat ihr zu Ehren alles weggekauft.«
»Verflixte Schlampe«, fluchte Klement auf Deutsch und trat wütend die Zigarette auf dem Boden aus.
Der Blumenhändler, der einen grünen Regenmantel trug und erdverkrustete Hände hatte, musste nicht des Deutschen mächtig sein, um zu erahnen, dass dieser Herr mit der unangenehm schrillen Stimme da gerade eine üble Beleidigung ausgestoßen hatte, doch ihm entging, dass der Fluch gegen die »Spirituelle Führerin der Nation« gerichtet war, die am vorvorigen Tag ihrem Gebärmutterhalskrebs erlegen war (obwohl sie die Gebärmutter nie benutzt hatte). Da für ihn aber ein Kunde auch dann noch als Kunde galt, wenn er vorerst nichts kaufte, setzte er wie ein Totengräber eine uneindeutige ernste Miene auf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der rostigen Schere zu, mit der er die bunten Bänder zum Verzieren der internationalen Bouquets kräuselte.
Klement hatte keine Zeit, um auf Nachschub von jenseits der Anden zu warten. Seine Frau musste bereits mit ihrem Schiff angelegt haben, und er wollte im Hotel sein, wenn sein Empfangskomitee sie zu ihm bringen würde. Am liebsten wäre er persönlich zum Hafen gegangen, hätte wieder die eindrucksvollen Docks aufgesucht, wo er selbst vor zwei Jahren mit gerade einmal 485 argentinischen Pesos in der Tasche an Land gegangen war, und hätte seinen ersten erwartungsvollen, ungläubigen Blick in dem seiner Gattin widergespiegelt gesehen. In diesem Augenblick zugegen zu sein, hätte außerdem als Signal gedient, dass sie dieses gesegnete Land unbesorgt betreten konnte. Für Männer in seiner Situation war es derartig sicher, dass Klement nur schwer davon zu überzeugen gewesen war, es könne ein Risiko darstellen, sich mit seiner Frau in der Öffentlichkeit zu zeigen. Schließlich waren sie offiziell geschieden, und es konnte gut sein, dass feindliche Agenten sie überwachten.
Nun übersetzte er seine innere Rage in die Schrittgeschwindigkeit seiner O-Beine, die Fäuste in den löchrigen Taschen seines Mantels versenkt, den Oberkörper nach vorn gebeugt und den Blick fest auf die Gehwegplatten geheftet, die auf grauenhaft unregelmäßige Art Form und Farbe wechselten. Zur Aufmunterung begann er seine Schritte zu zählen und stellte wieder einmal fest, dass es von einer Straßenecke bis zur nächsten einhundert Schritte waren, was hierzulande cuadra genannt wurde. Von diesem Konzept und dem damit verwandten Begriff manzana schienen Lage und Größe aller Dinge in der Stadt abzuhängen, daher hatten sie auch zu seinen ersten Worten in der Landessprache gehört. Dass die für ein Asphaltquadrat gewählte Metapher seiner Lieblingsfrucht entsprach (vor allem in Form des köstlichen Apfelweins), konnte nur ein gutes Omen sein, was sich bestätigte, als er zum ersten Mal einen argentinischen Apfel probierte. Deshalb hatte er nun ein paar Kilo davon aus Tucumán mitgebracht, ein Apfel sollte das Erste sein, was die Neuankömmlinge in diesem Land probierten. Warum war er bloß nicht früher darauf gekommen, auch ein paar Blumen zu besorgen? Dabei wusste er doch, dass die Provinz Tucumán als »Garten der Republik« bekannt war.
Klement wurde wieder einmal von dem altvertrauten Gefühl befallen, das ihn schon seit jüngster Jugend begleitete wie eine persönliche Ursünde: dem Scheitern. Das war unvorhersehbar!, versuchte er sich selbst zu entschuldigen. Tatsächlich hatte er allerdings schon von Evitas Tod gehört, bevor er in den Zug gestiegen war, und er lebte lange genug hier, um zu wissen, dass alles, was mit dieser Frau zu tun hatte, stets ins Maßlose übertrieben wurde. Als er am Bahnhof Retiro ausgestiegen und in Begleitung derer, die nun seine Frau zu ihm bringen würden, zum Hotel gegangen war – derselben Kameraden, die ihn seinerzeit in Empfang genommen hatten –, hatte Klement die endlose Schlange betrachten können, die nach Auffassung der Argentinier indianisch war, fila india nannten sie die nämlich und bildeten sie stets mit lächerlicher Sorgfalt, wenn mehr als drei Personen an einem Ort zusammentrafen. Cuadra um cuadra, manzana um manzana standen dort die Trauernden in einer langen Reihe, um der »Fahnenträgerin der kleinen Leute« die letzte Ehre zu erweisen, jeder Mann und jede Frau mit eigenem Blumenstrauß, und die Zeitungen, in denen sie die Nachricht immer wieder ungläubig gelesen hatten, verwendeten sie als Schutz gegen die Regenschauer. Am stärksten hatte Klement die große Zahl an Soldaten gerührt, die diese sich dahinschlängelnde Totenwache unter freiem Himmel bewachten. Ihre weiten Filzcapes und die schwarzen Reitstiefel erinnerten ihn an seine eigene Aufmachung; zumindest seine Aufmachung bis vor gar nicht allzu langer Zeit, die er sich für eine so besondere Gelegenheit wie heute liebend gern noch einmal angezogen hätte.
Besänftigt vom Fußmarsch oder durch das Zählen seiner Schritte, musste er sich eingestehen, dass sich ein Führer der Massen nichts Besseres als einen solchen Tod erträumen konnte, selbst in derart frühem Alter. Erst recht für seine Ehefrau. Wenn Klement an General Perón etwas bewunderte – abgesehen von der Begeisterung, die dieser bei den Leuten auslöste –, dann war es dessen gewandte Führerschaft, die er sich mit einer Frau teilen musste, noch dazu der eigenen. Nicht dass er, Klement, das weibliche Geschlecht etwa nicht zuhöchst schätzte, ganz im Gegenteil, aber zwischen Wertschätzung und der Entscheidung, der Frau einen so zentralen Platz im öffentlichen Leben zuzubilligen, lag doch das, was man gemeinhin Abgrund nennt. Als Mann schützte man seine Macht eifersüchtig selbst vor den nächsten Mitarbeitern; sich in Begleitung einer Frau zu zeigen, ja fast einen Schritt hinter dieser, implizierte eine weit größere Sicherheit, als eine Geheimpolizei einem je verschaffen könnte. Es war ein Zeichen echter Macht. Selbst in dem Wissen, dass die eigene Gefährtin mit dreiunddreißig Jahren sterben würde, also kaum Zeit hätte, groß genug zu werden, dass sie einen selbst wirklich in den Schatten stellen könnte, hätten ihr nur wenige Anführer erlaubt, einen derartigen Einfluss auf die eigene Anhängerschaft zu gewinnen.
Mit einem trotzigen Nachgeschmack fragte er sich, ob es nicht vielleicht das war, was dem Führer seines eigenen Volkes gefehlt hatte, dessen Ehefrau ebenfalls Eva hieß und die auch jung und kinderlos gestorben war. Diese paradoxen Ähnlichkeiten (hatte die argentinische Eva wohl auch ein zweiunddreißigstel jüdischen Bluts gehabt, wie er es über die andere herausgefunden hatte?) hoben die offenkundigen Unterschiede zwischen der blondgefärbten Schauspielerin, die zuerst den General und dann ein ganzes Land erobert hatte, und der naturblonden Köchin, die ausgesehen hatte, als wäre sie schon in dem Bunker zur Welt gekommen, in dem sie später starb, noch deutlicher hervor. Und nicht weniger unterschiedlich verhielten sich die beiden Ehegatten ihren besseren Hälften gegenüber: Der eine hatte sie bis zum Tod verheimlicht, der andere sie vom ersten Augenblick an gezeigt. Klement konnte nicht mit Sicherheit sagen, was der Führer hätte gewinnen können, wenn er diese andere Eva an seiner Seite gehabt hätte. In Anbetracht dessen, dass er später alles verloren hatte, behielt die Frage aber nach wie vor eine gewisse Gültigkeit. Vielleicht hätte sie ihn mit ihren Reizen – ganz unabsichtlich – von der idiotischen Idee abgelenkt, in Russland einzumarschieren.
Er blieb an einer Straßenecke stehen, um sich eine neue Condal anzustecken, nun bereits wieder in dem Teil der Stadt, der ihn bei seiner Ankunft in einem ähnlich feuchten Winter wie diesem so sehr an die Innenstadt von Wien oder von Berlin oder Paris erinnert hatte. Abgesehen von diesen und anderen europäischen Städten hatte er bis dahin nur ein paar wenige Ortschaften im Nahen Osten kennengelernt, die er vor dem Krieg auf seiner gescheiterten Studienreise zur zionistischen Bewegung bereist hatte. Wie vormals Moses hatten sie ihn nicht ins Gelobte Land gelassen, wo er den Großmufti von Jerusalem hatte treffen wollen; das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich fortan mit dessen Freundschaft zu brüsten. Daher hatte er von diesem fernen Westen Ähnliches erwartet, zwar ohne in wallende Gewänder gekleidete Menschen oder Moscheen mit glänzenden Kuppeln, jedoch mit denselben windschiefen Bauten am Rande von Straßen, die mehrheitlich von vielen nackten Füßen ins Erdreich getreten worden waren. Und obwohl dieses Vorurteil später, nach seinem Umzug in eine ländliche Gegend im Nordosten, reichlich erfüllt wurde, konnte er sich doch, wenn er nach Buenos Aires zurückkam, jedes Mal aufs Neue nicht daran gewöhnen, auf dieser Seite der Welt eine Stadt vor Augen zu haben, deren historischer Teil sogar auf der anderen durch seine Opulenz hervorgestochen wäre. Zweifellos, die Fassaden aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein Gutteil davon mit verblichener und teils sogar abbröckelnder Farbe, standen zwischen modernen, unförmigen Gebäuden von skrupelloser Hässlichkeit, und an den Rändern der gepflasterten Straßen sammelten sich ungewöhnliche Mengen Müll an, auf so eigenartig beständige Weise, als würden die Straßenkehrer ihn mit ihren nachlässigen Besenstrichen nicht wegschaffen, sondern produzieren. Es stimmte auch, dass die gepflegte Kleidung der Passanten, die sich fast so oft über die Bügelfalte der Hose strichen wie über den Scheitel, zu häufig so wirkte, als dauerte es nicht mehr lange, bis diese Kleidungsstücke unflickbar zerfransen würden; nichts davon entging Klement, aber trotz alledem war Buenos Aires mit seinen Kinos, Theatern und Luxusläden noch immer die europäische Stadt, als die sie ihm anfangs erschienen war. Damals hatte man ihn vom Hafen eilig in eine weit vom Stadtkern entfernte Pension gebracht, als befände er sich tatsächlich noch immer auf dem Kontinent, wo ihn niemand zu Gesicht bekommen durfte. An diesem ersten Abend hatte er beim Schlafengehen das Gefühl gehabt, einen Traum durchreist zu haben, einen Traum, der aus den Trümmern des Albtraums gemacht war, den er zurückgelassen hatte: Für jeden Stein, der auf der anderen Seite unter dem Aufprall einer alliierten Bombe eingestürzt war, waren hier andere aus dem Boden geschossen, wild wachsend wie Pilze. Am nächsten Morgen beim Aufwachen kam ihm Argentinien nicht mehr wie ein Notunterschlupf vor, der letzte Ort der Welt, an den er noch hatte fliehen können, um seine Freiheit und womöglich sein Leben zu bewahren, sondern wie ein zweites Zuhause, Fortsetzung des ersten, architektonisch vom Anfang des Debakels an dazu bestimmt, die Verlierer aufzunehmen.
Auf den wohlklingenden Namen dieses fast antarktischen Landes war er zum ersten Mal im Rahmen seiner hebräischen Studien gestoßen, als man ihm befohlen hatte, das Buch Der Judenstaat des Österreichers Theodor Herzl zu lesen und zusammenzufassen, als Einarbeitung auf seinem neuen Posten in der Abteilung für Judenangelegenheiten der brandneuen nationalsozialistischen Regierung. In dieser Bibel des Zionismus schlug der politische Vater der Bewegung Argentinien als Alternative für den Fall vor, dass eine Rückkehr nach Eretz Israel nicht durchführbar wäre, wobei er betonte, dass es eine der weltweit wohlhabendsten Nationen sei, ebenso reich an Fläche wie arm an Bevölkerung. Lange bevor die Idee aufkam, die Juden in die französische Kolonie Madagaskar zu schicken oder sie in Nisko, Polen, zu konzentrieren, hatte er dann als Untersturmführer wieder an Herzl und die Möglichkeit, jenen Traum Wirklichkeit werden zu lassen, gedacht; weniger in praktischer Hinsicht (sein Spezialgebiet waren Züge, nicht der Schiffsverkehr) als in theoretischer. Doch er erging sich derart in seiner Fantasie, dieser Beitrag werde ihm ein »Bonbon« einbringen, wie er die Abzeichen für den Aufstieg in der Rangliste der SS nannte, dass die Initiative in seinem Inneren letztlich an Schwung verlor und in Vergessenheit geriet, genau wie später die polnische und die afrikanische. Wenn er darüber nachdachte, war es amüsant, dass dieses Gelobte Ersatzland letzten Endes nicht die Lösung für das Judenproblem wurde, sondern für das Problem, das er sich selbst bei dem Versuch eingebrockt hatte, Ersteres zu lösen.
Er erreichte das Hotel Majestic auf der Avenida de Mayo, das er gewählt hatte, weil es ihn an das Hotel Majestic in Budapest erinnerte, von wo aus er den Tausch von einer Million ungarischer Juden gegen zehntausend Lkws organisiert (zu organisieren versucht) hatte. Er durchquerte die Lobby, die seit dem Vorabend von einem improvisierten Altar für die »Dame der Hoffnung« geziert wurde, als die die Verstorbene ebenfalls bekannt war, und drückte den Knopf neben der Gittertür aus schwarzem Schmiedeeisen. Während die Aufzugskabine gemächlich herabzuckelte, schoss Klement eine Idee in den Kopf. Er machte auf dem Absatz kehrt, lief ein paar Schritte zurück zu dem Tischchen mit Foto und Blumenvase, das vor einem Wandspiegel mit Goldrahmen stand, und schmiss sich davor in Pose, als wollte er sich die Krawatte und das wenige zurückweichende Haar richten, das ihm auf seinem lang gezogenen Schädel noch blieb. Er setzte den Hut wieder auf und betrachtete seinen halb ergrauten Schnurrbart, der die angeborene Asymmetrie seines hageren Gesichts verbarg, aus dem wie Implantate die lange Nase – sie bestand fast nur aus Nasenlöchern, die bis zu dem kleinen gespaltenen Kinn herabzureichen schienen – und die breiten Ohren hervorstachen, jüdische Ohren, wie seine alten Kameraden, die auch die Reichweite seines Gehörs unterschätzten, hinter seinem Rücken immer wieder gemunkelt hatten.
Der Aufzug kam auf dem Boden auf, und mit einer schnellen Bewegung und einem verstohlenen Blick zur Rezeption, wo ein junger Mann in Livree Anmeldeformulare ausfüllte, wurden aus den Blumen für Eva Blumen für Vera.
Klement ejakulierte in seiner Ehefrau, ein Erguss, der eher rückfordernd war als lustvoll, als wollte er damit die erschrockene Miene aus ihrem Gesicht löschen, ihn derart vor der Zeit gealtert zu sehen, und ging nach nebenan ins Bad, bevor sein Glied sich wieder ein- und in die Vorhaut zurückzog, was das gründliche Reinigungsprogramm erschwerte, dem er es nach dem Beisammensein mit einer Frau zu unterziehen pflegte, selbst wenn es die eigene war. Für größere Zeremonien hatten sie auch gar keine Zeit, die Kinder würden jeden Moment zurück sein, nachdem sie die hundert Pesos ausgegeben hatten, die ihnen ihr Onkel Ricardo als Willkommenstaschengeld gegeben hatte.
Sie waren dermaßen groß geworden, dass sie nicht wiederzuerkennen waren, vor allem Klaus, der Älteste, der sich dem Argwohn nach zu urteilen, mit dem er den Mann anblickte, der ihnen als Onkel vorgestellt wurde, mit seinen sechzehn Jahren zum neuen Ehemann der Mutter gemausert hatte. Selbst der großzügig bemessene Geldschein, den der Onkel ihm zusammen mit den Äpfeln zur Verwaltung während des Spaziergangs mit seinen Brüdern durch die neue Stadt anvertraute, hatte diesen Argwohn kaum zu besänftigen vermocht. Die ihm im Alter folgenden Horst und Dieter hatten dem neuen Onkel nicht einmal dieses mild feindselige Gefühl entgegengebracht, so sehr waren sie mit den Kuhknöchelchen beschäftigt gewesen, die man ihnen beim Abholen am Hafen gegeben hatte und mit denen sie auf dem Zimmerboden gespielt hatten, genau wie Klement es die eingeborenen Kinder hatte tun sehen – als gehörten die Regeln nicht zu einem bestimmten Spiel oder einer speziellen Gesellschaft, sondern zur Kindheit ganz allgemein. Zuletzt hatte er sie mit fünf und drei Jahren gesehen, weshalb man sie perfekt durch andere Kinder hätte austauschen können, wie in den Filmen, in denen, je nach Alter, verschiedene Schauspieler dieselbe Person spielen; er hätte es nicht gemerkt.
Veronika, seine geliebte Vera, hingegen sah noch genau aus wie früher: das Gesicht genauso rund, das Haar genauso schwarz und die Augen genauso blau; der Körper genauso fest, die Glieder genauso straff und der Hintern genauso prall. In den intimsten Momenten nannte Klement sie Vulpius, zu Ehren der Gattin von Johann Wolfgang von Goethe, berühmt für ihre Rundungen und ihre zwanglose Derbheit, der er der rotwangig-länglichen Schlankheit der typischen Arierin gegenüber den Vorzug gab. Für ihn war es nie ein Problem gewesen, dass seine Frau aus einer Bauernfamilie stammte, wohl aber, dass sie katholisch war und auf eine kirchliche Heirat bestand, was bei seinen Parteifreunden nicht gern gesehen war, allesamt Deisten, wie der Führer es verlangte. Später meldete er, dass auch Vera zu dieser von Hitler propagierten nationalsozialistischen Religion übergetreten sei, aber das war nur Wunschdenken gewesen. Vera hielt immer noch so hartnäckig wie am ersten Tag an ihrem Glauben fest; es ging sogar so weit, dass sie ihn, sobald sie im Hotelzimmer allein waren, als Erstes bat, niederzuknien und ein Dankgebet für ihre Wiedervereinigung zu sprechen. So – wie in jungen Jahren auf dem Teppich kniend, das Gesicht in Veras Nacken vergraben wie in einem Kissen, diesen ihr ureigenen Geruch nach Heu und gemahlenen Mandeln einsaugend – hatte Klement sie besessen, auch um klarzustellen, dass nicht Gott die Schiffspassagen bezahlt hatte, sondern er selbst mit den Ersparnissen aus diesen zwei Jahren Arbeit hier im Land.
Bereits wieder angezogen erzählte er seiner Frau durch die Badezimmertür leicht euphorisch von einem Zufall, dessen er sich gerade erst bewusst geworden war. In seinem Pass vom Roten Kreuz, den er sich für die Auswanderung nach Argentinien hatte anfertigen lassen, hatte er neben der Änderung von Namen und Herkunftsort (und Religionszugehörigkeit und Familienstand und Beruf) auch sein Geburtsdatum von 1906 auf 1913 verschoben. Man hatte ihm geraten, dass nicht eine Angabe bezüglich der neuen Identität an die erinnern sollte, die er verstecken wollte, aber ihm war nicht klar gewesen, warum er dieses und kein anderes Datum gewählt hatte. Die Differenz in Jahren entsprach fast der Zeit, die er in seinem Geburtsort Solingen verbracht hatte, bevor die Familie nach Linz gezogen war, in das Vaterland, das er Jahrzehnte später wieder zugunsten Deutschlands verlassen würde, um sich als junger Erwachsener den Heerscharen der neuen Ordnung anzuschließen. Doch wenn das ausgewählte Datum insgeheim einem Kindheitstrauma entsprungen sein sollte, dann nicht aufgrund dieser ersten Auswanderung (wenngleich sie ihm sehr wohl Probleme bereitet hatte, die ihn später daran hindern sollten, die Schule abzuschließen). Es hätte dem Alter von neun Jahren entsprechen müssen, so alt war Klement nämlich, als seine Mutter starb – ein echtes Vorher und Nachher in seiner Kindheit. Die Wahl jedenfalls war treffend gewesen, nun, da das kleine Rätsel durch sein Agens, die Zeit an sich, aufgeklärt worden war: Die sieben Jahre Differenz prophezeiten die sieben Jahre ihrer Trennung, sodass er bei der Wiederbegegnung mit seiner Frau, genau jetzt in diesem Moment, noch immer ebenso alt war wie zu dem Zeitpunkt, als er sie zuletzt geküsst hatte.
»Ist das nicht wundervoll, Schatzi?«
»Darf ich auch mal ins Bad?«
Klement steckte sich eine der Glorias an, die seine Frau ihm mitgebracht hatte, wobei ihm mit amüsierter Überraschung auffiel, dass selbst der Name seiner liebsten deutschen Zigarettenmarke ihm auf Spanisch eine Zukunft verhieß (als junger Mann hätte er geschworen, dass gloria ein angelsächsisches Wort war), und trotz der Kälte öffnete er die Fenster sperrangelweit, um jede Spur von Sexgeruch zu vertreiben. Numerische Koinzidenzen machten ihn immer ein wenig melancholisch; es war, als würde er Zeuge eines kleinen Wunders, das die umliegende Welt noch banaler machte. Auf die Fensterbank gestützt ließ er den Blick über den feuchten Asphalt streifen, der von hohen Bäumen und alten Laternen gesäumt war; ein Bild, dem nicht einmal die Hakenkreuzfahnen fehlten, um seinem Land entsprechen zu können, denn auch dort hingen diese nicht mehr.
Am Ende der Avenida, zwischen den sich lichtenden Zweigen der Platanen, war das majestätische Kongressgebäude zu sehen, wo die Trauerkränze die breiten Freitreppen am Eingang vollständig bedeckten. Ihm kam die Rede in den Sinn, die Evita am siebzehnten Oktober des Vorjahres gehalten hatte, ein Ereignis, das als erste Liveübertragung des argentinischen Fernsehens angepriesen wurde und das er unter freiem Himmel auf einem Gerät nationaler Bauart vor dem Regierungssitz in Tucumán verfolgt hatte. »Wenn dieses Volk mich um mein Leben bäte, gäbe ich es ihm singend«, hatte die Primera Dama gesagt, oder so wurde es Klement zumindest erzählt, denn sein Spanisch reichte immer noch nicht für viel mehr als für das Alltagsgeschäft. Evitas Ausspruch erinnerte ihn natürlich an seinen eigenen großen Spruch, dass er lachend in die Grube springen würde in dem Bewusstsein, dass bereits fünf Millionen Juden mit reingesprungen waren. Daher hatte Klement das Gefühl, er selbst stünde auf diesem Balkon, vor all diesen Menschen, die seinen Worten zujubelten, vor diesen inbrünstigen Massen, denen seines Landes so ähnlich und zugleich so anders: auf der einen Seite die Ordnung und auf der anderen das Chaos; auf der einen Seite die Braunhemden, auf der anderen die descamisados, die Hemdlosen.
Am siebzehnten Oktober, einem Datum, das für die Argentinier so bedeutsam schien, hatte in Berlin exakt zehn Jahre vor Evitas Rede die Deportation der Juden aus dieser Stadt begonnen. Es war die wichtigste Operation, die Klement bis zu diesem Moment befehligt hatte, denn sie spielte sich im Herzen des Reichs ab, das so bald wie möglich judenfrei werden sollte, daher haftete ihm das Datum fast wie ein Nationalfeiertag im Gedächtnis. Und genau das wäre es vielleicht auch geworden, wenn man ihn seine Arbeit hätte fertig machen lassen. So blieb das Datum im Kalender frei und konnte einfach so von einem anderen Regime am entgegengesetzten Ende der Welt beansprucht werden. Tausend Jahre hatten sie an der Macht bleiben wollen, dachte er von Bitterkeit erfüllt, und dann war es ihnen nicht einmal gelungen, sich eines einzigen Datums zu bemächtigen.
Er warf die Zigarette auf die Straße, atmete tief die in der Luft hängende Mischung aus lebendigem und verbranntem Holz ein und schloss das Fenster wieder. Er spähte auf seine goldene Armbanduhr, das einzige Schmuckstück, das er besaß (nicht zum Prahlen, sondern um es eventuell als Tauschobjekt einsetzen zu können – eine Vorsichtsmaßnahme, die er von den Juden, die durch Bestechung von Grenzwächtern illegal emigriert waren, gelernt hatte). Aber es war noch nicht Zeit fürs Mittagessen, sprich noch zu früh, um sich ein erstes Glas Wein zu erlauben. Vera kam aus dem Bad und fragte ihn, wofür diese zweite Toilettenschüssel gut sei, niedriger und mit Wasserhähnen bestückt wie ein Waschbecken, woraufhin ihr Mann ihr erklärte, das sei eine französische Erfindung, hatte er ihr nicht nach einer seiner Parisreisen davon erzählt? Viele Dinge erinnerten hier an Frankreich, von der Sprache, die die Intellektuellen sprachen, bis hin zu den Baguettes und den Croissants, die hier kleiner und fester waren und medialuna genannt wurden, Halbmond, war das nicht poetisch? Wie dem auch sei, dort, wo sie hinfahren würden, gab es solche Raffinements nicht, weder was das Essen anging und erst recht nicht beim Badmobiliar. Ohne ihr Angst machen zu wollen, musste er sie vorwarnen, dass die Lebensbedingungen in Tucumán ziemlich schlicht waren, auch wenn es ihnen an nichts fehlen würde und sie einander hätten, was die Hauptsache war.
»Gibt es eine Kirche?«
»Davor gibt es kein Entrinnen.«
Klement deutete auf die Bibel, die seine Frau auf die Exemplare von Der Weg gelegt hatte, der meistgelesenen Zeitschrift in der deutschen Gemeinde, die ihm die Kameraden ausgeliehen hatten, um sich die Wartezeit zu vertreiben. Die Bibel war der erste Gegenstand gewesen, den sie nach der Ankunft im Zimmer ausgepackt hatte und den sie beim Beten (er wusste nicht mehr, ob bei dem anderen auch) in den Händen gehalten hatte. Es war dieselbe Bibel, die ihr Ehemann bei einem Wutanfall in zwei Teile zerrissen hatte und die Vera, statt sie neu binden zu lassen, weiter in dem Zustand nutzte, ergänzt um einen schmalen Gürtel aus rotem Leder mit Silberschnalle, um das Ganze zusammenzuhalten. Es war nicht die erste Bibel, die ihr der Mann, dem sie in einer Kirche ewige Liebe geschworen hatte, kaputt gemacht hatte. Die vorherige, die sie seit ihrem Kommunionsunterricht in einer Hülle aus purpurrotem Filz aufbewahrte, hatte Klement bei einem früheren Wutanfall in mehr als zwei Stücke zerfetzt und sie dann zwischen die Kohlen in den Majolika-Kachelofen geschmissen, wo sie stundenlang Funken gesprüht hatte. Er war es satt, dass sie ihm bei jedem Streit aus diesem Buch zitierte, als wäre es das Wort des Führers, und allgemein störte er sich daran, dass jeder x-beliebige Pfaffe größeren Einfluss auf sie hatte als ihr eigener Gatte. Tage später, als Vera aus einer Depression auftauchte, deren Ausmaße noch übertriebener waren als die ihrer Frömmigkeit, war sie mit einer neuen Bibel angekommen, die in Wirklichkeit alt und nicht ihre eigene war. Es war die Bibel, die Klement mit sechzehn Jahren von seiner Stiefmutter bekommen hatte, als er auf Anordnung seines Vaters weggehen musste, um im Bergbau zu arbeiten. Das Buch der Bücher hatte er an seinen freien Tagen gelesen und darin in Rot oder Blau die Stellen angestrichen, die ihn besonders stark interessierten, ausnahmslos Kämpfe aus dem Alten Testament. Diese großen Schlachten, bei denen nicht einmal die Schafe mit dem Leben davonkamen und ganze Städte hinweggefegt wurden, feuerten seine jugendliche Vorstellungskraft an, die bereits von dem entfacht war, was er vom Ersten Weltkrieg hatte mitbekommen können. Klement hatte nicht mehr gewusst, dass er dieses Handbuch für Vernichtungsfeldzüge überhaupt noch besaß, und es wieder hervorzuholen war eine kluge Strategie seiner Frau gewesen, wenngleich letztlich auch dieses Exemplar nicht unbeschädigt bleiben sollte. Hatte er es einige Zeit später bei seinem zweiten antibiblischen Anfall nicht vollends zerstört und eingeäschert, dann deshalb, weil er seine Frau nicht ein weiteres Mal so unglücklich sehen wollte ohne ihren Talisman, und vielleicht auch wegen irgendeines Überrests an Gefühlsduselei dem Talisman selbst gegenüber. Er mochte den Gedanken, dass er dieses doppelte Buch genau zwischen dem alten und dem modernen Teil entzweit hatte, obgleich er wusste, dass es im Grunde beides Seiten desselben semitischen Monismus waren.
»Manche Dinge ändern sich nicht, wie ich sehe«, sagte Klement ohne Groll.
»Das ist meine Reiseapotheke«, antwortete Vera rätselhaft.
Sie öffnete die Schnalle, trennte beide Teile (vor und nach der Zerstörung Israels, Ezechiel 33,23, rot und blau unterstrichen) und zeigte ihm, dass sie von innen vier kleine Löcher in den Buchdeckel gebohrt hatte, zwei auf jeder Seite. Sie enthielten die vier Tabletten, die ihr ihr Mann vor seinem Untertauchen gegeben hatte mit den Worten, die würde sie nicht brauchen, wenn die Nordamerikaner oder die Franzosen oder die Briten kämen, doch wenn die Soldaten, die an die Tür klopften, sowjetische Uniformen trugen, müsse sie sofort jedem der Kinder eine geben und selbst in die letzte hineinbeißen: Der Tod durch Vergiften sei ein Segen verglichen damit, diesen roten Untieren in die Hände zu fallen. Er selbst habe auch seine Kapsel, festgenäht auf der Innenseite eines Strumpfes, für den Fall, dass er in dieselbe Situation geriete. Zum Glück war er in amerikanische Gefangenschaft geraten, und obwohl das Reich tot war und mit ihm seine Träume und sein Daseinszweck, blieb ihm doch noch seine Familie, die auch ein Recht hatte, ihn unter den Lebenden zu wissen. Nur aus diesem Grund hatte er seine Portion Gift über den Donnerbalken geworfen und sich seither dafür eingesetzt, einen Weg zu finden, wie er aus dem Lager entkommen konnte, um die Seinen wiederzutreffen.
»Die können wir jetzt ins Klo schmeißen«, ordnete er großmütig an. »Hier gibt es keine Russen und auch sonst niemanden, der uns etwas Böses tun wird.«
»Onkel Ricardo, was hast du gemacht, bevor du nach Argentinien gekommen bist?«, wollte Klaus wissen, während sie im Speisewagen des Pullman Express darauf warteten, dass ihnen das Frühstück serviert wurde.
Die Frage kam nicht aus Neugierde sondern aus purem Misstrauen. Da er auch Vera am Vortag, nachdem er seine Söhne im Nachbarabteil zum Schlafen angehalten hatte, nicht viel hatte erzählen können, erlaubte er sich, weiter auszuholen. Nicht dass er allzu viele Entschuldigungen brauchte, um über sein Lieblingsthema zu sprechen, nämlich sich selbst.
Er fing am Ende an, erzählte von dem Gefangenenlager, in dem er gelandet war, nachdem der Krieg einmal verloren war. Am besten, sagte er, hätten ihn die farbigen Amerikaner behandelt, weil sie wussten, was es hieß, Menschen zweiter Klasse zu sein, wie es nun den Nazis widerfuhr aufgrund der einfachen Tatsache, dass sie ihr Vaterland und ihre Rasse verteidigt hatten. Die weißen Amish hingegen ließen nicht einen Witz durchgehen. Einem Leutnant, der ihn nach seinem Namen gefragt und dann hinzugefügt hatte: »Geboren …?«, hatte er mit »Selbstverständlich, jawoll!« geantwortet, ohne ihm damit auch nur ein Lächeln entlocken zu können. Neben diesem Mann, erinnerte er sich, stand ein ehemaliger Offizier der SS, der dem Leutnant bei jedem neuen Befragten versicherte, das sei einer, der entschieden gegen Hitler gewesen sei. Bei Klement hatte er das ebenso gehalten, was diesen noch heute mit Scham und Ekel erfüllte.
»Dass wir verloren haben, bedeutet nicht, dass wir uns vor dem Sieger demütigen müssen«, erklärte Klement seinem Publikum, von dem die Wiedererrichtung eines eventuellen Vierten Reiches abhing. »Ich weiß noch, dass sie uns einen Film über die angeblich von uns begangenen Verbrechen vorspielen wollten, aber wir revoltierten, und sie mussten die Vorführung absagen. Warum haben sie sich nicht einen Film darüber angeschaut, was sie in Dresden gemacht haben?«
Nachdem sie ihn als »entnazifiziert« angesehen hatten, wie diese Leute die Illusion nannten, einem, der sonst gar nichts mehr hatte, auch noch die Überzeugungen wegzunehmen, ließen die Nordamerikaner ihn frei, log Klement lückenlos weiter, als würde nicht einmal er selbst den Unterschied bemerken. Er verstand auch wirklich nicht, warum er seine Familie nicht mit der Erzählung beeindrucken durfte, wie er es angestellt hatte, sich aus dem Lager zu entlassen, bevor sein Gesicht Erinnerungen bei den Juden weckte, die zu Erkennungsrunden eingeladen wurden. Nicht jeder wäre – wie er! – darauf gekommen, das Gerücht zu streuen, dass er sich auf den Weg in den Mittleren Osten machen würde, zu seinem Freund, dem Großmufti von Jerusalem. Aber davon durfte er nichts sagen. So bestrafte die Geschichte diejenigen, die ihr Leben dafür gegeben hatten, ihren Lauf zu verändern.
»Anschließend habe ich als Holzfäller gearbeitet, damit die Leute Holz für den Wiederaufbau der Häuser hatten, die durch die mörderischen Bombenangriffe der Engländer zerstört worden waren«, erklärte er, obwohl er wusste, dass dieses Holz als Brennstoff für Züge verwendet worden war – als wäre er dazu verurteilt, dass alles in seinem Leben sich immer rund um dieses Transportmittel drehte.
»Mit einer Axt?«, fragte Dieter und schaute seine dünnen Arme mit einem ziemlich ungläubigen Blick an.
»Ja, es war eine harte Arbeit, aber ich hatte gute Gefährten«, sagte der Onkel und verschwieg dabei, dass er auch eine schöne Gefährtin gehabt hatte, Nelly, die verwitwete Schwester des Kameraden, mit dem er geflohen war.
Sie hatten alle zusammen in einer Hüttensiedlung im Wald gelebt, die als »die Insel« bekannt war. An den Wochenenden fuhr Klement, oder eigentlich Otto Heninger, wie er sich damals nennen ließ, mit dem Fahrrad in die nächstgelegene Ortschaft und erfreute die Menschen, indem er auf seiner Geige Brahms und Beethoven spielte.
»Und warum bist du uns nicht besuchen gekommen?«, erkundigte sich Klaus, nachdem er mit der Zungenspitze etwas dulce de leche probiert und für zu süß befunden hatte.
Klement musste sich zurückhalten, um diesem fragewütigen Bürschchen nicht einen Rüffel zu erteilen, und erst recht, um den Stolz zu verbergen, den dessen Scharfsinn in ihm weckte. Er half sich aus der Klemme, indem er erzählte, die Holzfällerei habe Pleite gemacht und er beschlossen, mit seinem Ersparten hundert Hühner zu kaufen, um die Versorgung einer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu sichern, die durch die Arroganz und Grausamkeit der Sieger den schlimmsten Nöten unterworfen war. Da sich das Gehege unweit eines früheren Konzentrationslagers befand, habe er sich paradoxerweise auch gezwungen gesehen, mit denjenigen Handel zu treiben, die es geschafft hatten, das Lager zu überleben.
»Natürlich habe ich den Krummnasen die Eier zu Wucherpreisen verkauft«, sagte der Onkel und hielt sich, als wäre das noch nötig, einen Frühstückshalbmond mitten vors Gesicht, womit er selbst bei denen, die seine Anspielung nicht verstanden, für Heiterkeit sorgte.
Er hätte gern erzählt, dass er sich in jener Zeit, wenn er sich nicht gerade um seine Hühner kümmerte oder im Wald Blaubeeren als Futter für sie sammelte, damit befasst hatte, seine Memoiren zu schreiben. Eine nach der anderen wollte er die Gemeinheiten widerlegen, die seine alten Waffenkameraden bei diesem infamen Spektakel der Besatzungsmächte in Nürnberg über ihn erzählten. Nach einem kurzen Schweigen, das mit einem viel größeren Schweigen aufgeladen war, und während er seiner Frau mit einer Handbewegung empfahl, den Teebeutel-Mate bloß nicht anzurühren, fügte Klement hinzu:
»Es war eine glückliche Zeit. Sonntags machte ich Radtouren durch die Gegend.«
In seiner Erinnerung erschien, schallend über dieses inexistente Glück lachend, das Gesicht des Juden, der ihm mehr Eier abgekauft hatte, als er hätte essen können, so zahlreich seine Familie auch einmal gewesen sein mochte. Die Angst vor diesem speziellen Juden und ganz allgemein vor den Jagdkommandos dieser Rasse, die die Nazis hinrichteten, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ein Schnellverfahren vorzutäuschen, hatte ihn dazu bewogen, die Legehennen unter Wert zu verkaufen und von einem Tag auf den anderen zu fliehen, nicht ohne zuvor die Memoiren zu verbrennen, deren Inhalt man Wort für Wort gegen ihn verwenden konnte. Diesmal vervielfältigte er die möglichen Zielorte: Den Besitzern des Stücks Land hatte er gesagt, er wolle sein Glück in einer Fabrik in Norwegen versuchen, und seiner Freundin Nelly log er vor, dass er sich den Russen stellen wolle. Falls sie in den nächsten Wochen nichts von ihm höre, könne sie ein Kreuz neben seinen Namen malen, deklamierte er, während sie an seine Brust geschmiegt lag und ihn schon wie einen Toten beweinte.
»Ich bin euch nicht besuchen gekommen, weil überall Israeliten waren.« Das konnte er ihnen sagen, fiel ihm ein, schließlich bewies der Umstand, verfolgt zu werden, nicht seine Schuld, sondern den irren Rachedurst der anderen. »Es war schon schwer genug, Abschied von meinem Vaterland zu nehmen. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der sich von seiner Mutter losreißt, die er hat sterben sehen, ohne irgendetwas zu ihrer Rettung tun zu können.«
»Hast du das Schiff in Hamburg oder in Bremen genommen?«, wollte Vera wissen.
»In Genua, das war billiger«, log er wieder und erinnerte sich mit besonderem Groll, dass seine Kameraden nichts getan hatten, ohne im Gegenzug gutes Geld dafür zu kassieren, wohingegen die Franziskanermönche und die argentinischen Behörden nicht eine müde Mark von ihm verlangt hatten.