Das zweite Leben des Adolf Eichmann

Inhaltsverzeichnis

ADOLF EICHMANN, Götzen

Blumen Für Vera

Warum musste er immer so ein Pech haben?

Ausgerechnet an dem Tag, an dem er nach sieben Jahren erzwungener und durchrungener Trennung seine Frau wiedersehen würde, waren in der ganzen Stadt keine Blumen aufzutreiben. Nachdem sich die Gewerkschaften der landesweiten Trauer angeschlossen hatten, gab es auch keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr, keine Zeitungen, keine geregelten Sprechzeiten in den Krankenhäusern und keine Müllabfuhr. Doch die eigentliche Katastrophe war der völlige Mangel an Rosen, Veras Lieblingsblumen – und nicht mal Freesien oder Jasmin oder ein armseliger Nelkenzweig waren ersatzweise zu bekommen.

»Aber Sie verkaufen doch Blumen, und dann keine Blumen haben, warum Sie dann hier?«, ärgerte sich Ricardo Klement bei dem letzten Blumenhändler, den er noch antraf, in seinem gebrochenen Spanisch. Immerhin war er zwanzig cuadras vom Hotel aus gelaufen.

»Wir warten auf frischen Nachschub aus Chile«, antwortete der Florist, der auf beleidigende Art freudig erregt wirkte. Es passierte ihm wohl zum ersten Mal, dass seine Ware schon um zehn Uhr morgens ausverkauft war, und das an einem ganz normalen verregneten Montag im Winter, einem eigentlich besonders ungeeigneten Tag, um Blumen für jemanden zu kaufen. »Unsere Evita ist gestorben, und das Volk hat ihr zu Ehren alles weggekauft.«

Der Blumenhändler, der einen grünen Regenmantel trug und erdverkrustete Hände hatte, musste nicht des Deutschen mächtig sein, um zu erahnen, dass dieser Herr mit der unangenehm schrillen Stimme da gerade eine üble Beleidigung ausgestoßen hatte, doch ihm entging, dass der Fluch gegen die »Spirituelle Führerin der Nation« gerichtet war, die am vorvorigen Tag ihrem Gebärmutterhalskrebs erlegen war (obwohl sie die Gebärmutter nie benutzt hatte). Da für ihn aber ein Kunde auch dann noch als Kunde galt, wenn er vorerst nichts kaufte, setzte er wie ein Totengräber eine uneindeutige ernste Miene auf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der rostigen Schere zu, mit der er die bunten Bänder zum Verzieren der internationalen Bouquets kräuselte.

Klement hatte keine Zeit, um auf Nachschub von jenseits der Anden zu warten. Seine Frau musste bereits mit ihrem Schiff angelegt haben, und er wollte im Hotel sein, wenn sein Empfangskomitee sie zu ihm bringen würde. Am liebsten wäre er persönlich zum Hafen gegangen, hätte wieder die eindrucksvollen Docks aufgesucht, wo er selbst vor zwei Jahren mit gerade einmal 485 argentinischen Pesos in der Tasche an Land gegangen war, und hätte seinen ersten erwartungsvollen, ungläubigen Blick in dem seiner Gattin widergespiegelt gesehen. In diesem Augenblick zugegen zu sein, hätte außerdem als Signal gedient, dass sie dieses gesegnete Land unbesorgt betreten konnte. Für Männer in seiner Situation war es derartig sicher, dass Klement nur schwer davon zu überzeugen gewesen war, es könne ein Risiko darstellen, sich mit seiner Frau in der Öffentlichkeit zu zeigen. Schließlich waren sie

Nun übersetzte er seine innere Rage in die Schrittgeschwindigkeit seiner O-Beine, die Fäuste in den löchrigen Taschen seines Mantels versenkt, den Oberkörper nach vorn gebeugt und den Blick fest auf die Gehwegplatten geheftet, die auf grauenhaft unregelmäßige Art Form und Farbe wechselten. Zur Aufmunterung begann er seine Schritte zu zählen und stellte wieder einmal fest, dass es von einer Straßenecke bis zur nächsten einhundert Schritte waren, was hierzulande cuadra genannt wurde. Von diesem Konzept und dem damit verwandten Begriff manzana schienen Lage und Größe aller Dinge in der Stadt abzuhängen, daher hatten sie auch zu seinen ersten Worten in der Landessprache gehört. Dass die für ein Asphaltquadrat gewählte Metapher seiner Lieblingsfrucht entsprach (vor allem in Form des köstlichen Apfelweins), konnte nur ein gutes Omen sein, was sich bestätigte, als er zum ersten Mal einen argentinischen Apfel probierte. Deshalb hatte er nun ein paar Kilo davon aus Tucumán mitgebracht, ein Apfel sollte das Erste sein, was die Neuankömmlinge in diesem Land probierten. Warum war er bloß nicht früher darauf gekommen, auch ein paar Blumen zu besorgen? Dabei wusste er doch, dass die Provinz Tucumán als »Garten der Republik« bekannt war.

Klement wurde wieder einmal von dem altvertrauten Gefühl befallen, das ihn schon seit jüngster Jugend begleitete wie eine persönliche Ursünde: dem Scheitern. Das war unvorhersehbar!, versuchte er sich selbst zu entschuldigen. Tatsächlich hatte er allerdings schon von Evitas Tod gehört, bevor er in den Zug gestiegen war, und er lebte lange genug hier, um zu wissen, dass alles, was mit dieser Frau

Besänftigt vom Fußmarsch oder durch das Zählen seiner Schritte, musste er sich eingestehen, dass sich ein Führer der Massen nichts Besseres als einen solchen Tod erträumen konnte, selbst in derart frühem Alter. Erst recht für seine Ehefrau. Wenn Klement an General Perón etwas bewunderte – abgesehen von der Begeisterung, die dieser bei den Leuten auslöste –, dann war es dessen gewandte Führerschaft, die er sich mit einer Frau teilen musste, noch dazu der eigenen. Nicht dass er, Klement, das weibliche Geschlecht etwa nicht zuhöchst schätzte, ganz im

Mit einem trotzigen Nachgeschmack fragte er sich, ob es nicht vielleicht das war, was dem Führer seines eigenen Volkes gefehlt hatte, dessen Ehefrau ebenfalls Eva hieß und die auch jung und kinderlos gestorben war. Diese paradoxen Ähnlichkeiten (hatte die argentinische Eva wohl auch ein zweiunddreißigstel jüdischen Bluts gehabt, wie er es über die andere herausgefunden hatte?) hoben die offenkundigen Unterschiede zwischen der blondgefärbten Schauspielerin, die zuerst den General und dann ein ganzes Land erobert hatte, und der naturblonden Köchin, die ausgesehen hatte, als wäre sie schon in dem Bunker zur Welt gekommen, in dem sie später starb, noch deutlicher hervor. Und nicht weniger unterschiedlich verhielten sich die beiden Ehegatten ihren besseren Hälften gegenüber: Der eine hatte sie bis zum Tod verheimlicht, der andere sie vom ersten Augenblick an gezeigt. Klement konnte nicht mit Sicherheit sagen, was der Führer hätte gewinnen können, wenn er diese andere Eva an seiner Seite gehabt hätte. In

Er blieb an einer Straßenecke stehen, um sich eine neue Condal anzustecken, nun bereits wieder in dem Teil der Stadt, der ihn bei seiner Ankunft in einem ähnlich feuchten Winter wie diesem so sehr an die Innenstadt von Wien oder von Berlin oder Paris erinnert hatte. Abgesehen von diesen und anderen europäischen Städten hatte er bis dahin nur ein paar wenige Ortschaften im Nahen Osten kennengelernt, die er vor dem Krieg auf seiner gescheiterten Studienreise zur zionistischen Bewegung bereist hatte. Wie vormals Moses hatten sie ihn nicht ins Gelobte Land gelassen, wo er den Großmufti von Jerusalem hatte treffen wollen; das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich fortan mit dessen Freundschaft zu brüsten. Daher hatte er von diesem fernen Westen Ähnliches erwartet, zwar ohne in wallende Gewänder gekleidete Menschen oder Moscheen mit glänzenden Kuppeln, jedoch mit denselben windschiefen Bauten am Rande von Straßen, die mehrheitlich von vielen nackten Füßen ins Erdreich getreten worden waren. Und obwohl dieses Vorurteil später, nach seinem Umzug in eine ländliche Gegend im Nordosten, reichlich erfüllt wurde, konnte er sich doch, wenn er nach Buenos Aires zurückkam, jedes Mal aufs Neue nicht daran gewöhnen, auf dieser Seite der Welt eine Stadt vor Augen zu haben, deren historischer Teil sogar auf der anderen durch seine Opulenz hervorgestochen wäre. Zweifellos, die Fassaden aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein Gutteil davon mit verblichener und teils sogar abbröckelnder Farbe, standen

Auf den wohlklingenden Namen dieses fast antarktischen Landes war er zum ersten Mal im Rahmen seiner

Er erreichte das Hotel Majestic auf der Avenida de Mayo, das er gewählt hatte, weil es ihn an das Hotel Majestic in Budapest erinnerte, von wo aus er den Tausch von einer Million ungarischer Juden gegen zehntausend Lkws organisiert (zu organisieren versucht) hatte. Er durchquerte die Lobby, die seit dem Vorabend von einem improvisierten

Der Aufzug kam auf dem Boden auf, und mit einer schnellen Bewegung und einem verstohlenen Blick zur Rezeption, wo ein junger Mann in Livree Anmeldeformulare ausfüllte, wurden aus den Blumen für Eva Blumen für Vera.

 

Klement ejakulierte in seiner Ehefrau, ein Erguss, der eher rückfordernd war als lustvoll, als wollte er damit die erschrockene Miene aus ihrem Gesicht löschen, ihn derart vor der Zeit gealtert zu sehen, und ging nach nebenan ins Bad, bevor sein Glied sich wieder ein- und in die Vorhaut zurückzog, was das gründliche Reinigungsprogramm erschwerte, dem er es nach dem Beisammensein mit einer Frau zu unterziehen pflegte, selbst wenn es die eigene war.

Sie waren dermaßen groß geworden, dass sie nicht wiederzuerkennen waren, vor allem Klaus, der Älteste, der sich dem Argwohn nach zu urteilen, mit dem er den Mann anblickte, der ihnen als Onkel vorgestellt wurde, mit seinen sechzehn Jahren zum neuen Ehemann der Mutter gemausert hatte. Selbst der großzügig bemessene Geldschein, den der Onkel ihm zusammen mit den Äpfeln zur Verwaltung während des Spaziergangs mit seinen Brüdern durch die neue Stadt anvertraute, hatte diesen Argwohn kaum zu besänftigen vermocht. Die ihm im Alter folgenden Horst und Dieter hatten dem neuen Onkel nicht einmal dieses mild feindselige Gefühl entgegengebracht, so sehr waren sie mit den Kuhknöchelchen beschäftigt gewesen, die man ihnen beim Abholen am Hafen gegeben hatte und mit denen sie auf dem Zimmerboden gespielt hatten, genau wie Klement es die eingeborenen Kinder hatte tun sehen – als gehörten die Regeln nicht zu einem bestimmten Spiel oder einer speziellen Gesellschaft, sondern zur Kindheit ganz allgemein. Zuletzt hatte er sie mit fünf und drei Jahren gesehen, weshalb man sie perfekt durch andere Kinder hätte austauschen können, wie in den Filmen, in denen, je nach Alter, verschiedene Schauspieler dieselbe Person spielen; er hätte es nicht gemerkt.

Veronika, seine geliebte Vera, hingegen sah noch genau aus wie früher: das Gesicht genauso rund, das Haar genauso schwarz und die Augen genauso blau; der Körper genauso fest, die Glieder genauso straff und der Hintern genauso prall. In den intimsten Momenten nannte Klement

Bereits wieder angezogen erzählte er seiner Frau durch die Badezimmertür leicht euphorisch von einem Zufall, dessen er sich gerade erst bewusst geworden war. In seinem Pass vom Roten Kreuz, den er sich für die Auswanderung nach Argentinien hatte anfertigen lassen, hatte er neben der Änderung von Namen und Herkunftsort (und Religionszugehörigkeit und Familienstand und Beruf) auch sein Geburtsdatum von 1906 auf 1913 verschoben. Man hatte ihm geraten, dass nicht eine Angabe bezüglich der neuen Identität an die erinnern sollte, die er verstecken wollte,

»Ist das nicht wundervoll, Schatzi?«

»Darf ich auch mal ins Bad?«

Klement steckte sich eine der Glorias an, die seine Frau ihm mitgebracht hatte, wobei ihm mit amüsierter Überraschung auffiel, dass selbst der Name seiner liebsten deutschen Zigarettenmarke ihm auf Spanisch eine Zukunft verhieß (als junger Mann hätte er geschworen, dass gloria ein angelsächsisches Wort war), und trotz der Kälte öffnete er die Fenster sperrangelweit, um jede Spur von Sexgeruch zu vertreiben. Numerische Koinzidenzen machten ihn immer ein wenig melancholisch; es war, als würde er Zeuge eines

Am Ende der Avenida, zwischen den sich lichtenden Zweigen der Platanen, war das majestätische Kongressgebäude zu sehen, wo die Trauerkränze die breiten Freitreppen am Eingang vollständig bedeckten. Ihm kam die Rede in den Sinn, die Evita am siebzehnten Oktober des Vorjahres gehalten hatte, ein Ereignis, das als erste Liveübertragung des argentinischen Fernsehens angepriesen wurde und das er unter freiem Himmel auf einem Gerät nationaler Bauart vor dem Regierungssitz in Tucumán verfolgt hatte. »Wenn dieses Volk mich um mein Leben bäte, gäbe ich es ihm singend«, hatte die Primera Dama gesagt, oder so wurde es Klement zumindest erzählt, denn sein Spanisch reichte immer noch nicht für viel mehr als für das Alltagsgeschäft. Evitas Ausspruch erinnerte ihn natürlich an seinen eigenen großen Spruch, dass er lachend in die Grube springen würde in dem Bewusstsein, dass bereits fünf Millionen Juden mit reingesprungen waren. Daher hatte Klement das Gefühl, er selbst stünde auf diesem Balkon, vor all diesen Menschen, die seinen Worten zujubelten, vor diesen inbrünstigen Massen, denen seines Landes so ähnlich und zugleich so anders: auf der einen Seite die Ordnung und auf der anderen das Chaos; auf der einen Seite die Braunhemden, auf der anderen die descamisados, die Hemdlosen.

Am siebzehnten Oktober, einem Datum, das für die Argentinier so bedeutsam schien, hatte in Berlin exakt zehn

Er warf die Zigarette auf die Straße, atmete tief die in der Luft hängende Mischung aus lebendigem und verbranntem Holz ein und schloss das Fenster wieder. Er spähte auf seine goldene Armbanduhr, das einzige Schmuckstück, das er besaß (nicht zum Prahlen, sondern um es eventuell als Tauschobjekt einsetzen zu können – eine Vorsichtsmaßnahme, die er von den Juden, die durch Bestechung von Grenzwächtern illegal emigriert waren, gelernt hatte). Aber es war noch nicht Zeit fürs Mittagessen, sprich noch zu früh, um sich ein erstes Glas Wein zu erlauben. Vera kam aus dem Bad und fragte ihn, wofür diese zweite Toilettenschüssel gut sei, niedriger und mit Wasserhähnen bestückt wie ein Waschbecken, woraufhin ihr Mann ihr erklärte, das sei eine französische Erfindung, hatte er ihr nicht nach einer seiner Parisreisen davon erzählt? Viele Dinge erinnerten hier an Frankreich, von der Sprache, die die Intellektuellen sprachen, bis hin zu den Baguettes und den Croissants, die hier kleiner und fester waren und medialuna genannt

»Gibt es eine Kirche?«

»Davor gibt es kein Entrinnen.«

Klement deutete auf die Bibel, die seine Frau auf die Exemplare von Der Weg gelegt hatte, der meistgelesenen Zeitschrift in der deutschen Gemeinde, die ihm die Kameraden ausgeliehen hatten, um sich die Wartezeit zu vertreiben. Die Bibel war der erste Gegenstand gewesen, den sie nach der Ankunft im Zimmer ausgepackt hatte und den sie beim Beten (er wusste nicht mehr, ob bei dem anderen auch) in den Händen gehalten hatte. Es war dieselbe Bibel, die ihr Ehemann bei einem Wutanfall in zwei Teile zerrissen hatte und die Vera, statt sie neu binden zu lassen, weiter in dem Zustand nutzte, ergänzt um einen schmalen Gürtel aus rotem Leder mit Silberschnalle, um das Ganze zusammenzuhalten. Es war nicht die erste Bibel, die ihr der Mann, dem sie in einer Kirche ewige Liebe geschworen hatte, kaputt gemacht hatte. Die vorherige, die sie seit ihrem Kommunionsunterricht in einer Hülle aus purpurrotem Filz aufbewahrte, hatte Klement bei einem früheren Wutanfall in mehr als zwei Stücke zerfetzt und sie dann zwischen die Kohlen in den Majolika-Kachelofen geschmissen, wo sie stundenlang Funken gesprüht hatte. Er war es satt, dass sie ihm bei jedem Streit aus diesem Buch zitierte, als wäre es das Wort des Führers, und allgemein störte er sich daran, dass

»Manche Dinge ändern sich nicht, wie ich sehe«, sagte Klement ohne Groll.

Sie öffnete die Schnalle, trennte beide Teile (vor und nach der Zerstörung Israels, Ezechiel 33,23, rot und blau unterstrichen) und zeigte ihm, dass sie von innen vier kleine Löcher in den Buchdeckel gebohrt hatte, zwei auf jeder Seite. Sie enthielten die vier Tabletten, die ihr ihr Mann vor seinem Untertauchen gegeben hatte mit den Worten, die würde sie nicht brauchen, wenn die Nordamerikaner oder die Franzosen oder die Briten kämen, doch wenn die Soldaten, die an die Tür klopften, sowjetische Uniformen trugen, müsse sie sofort jedem der Kinder eine geben und selbst in die letzte hineinbeißen: Der Tod durch Vergiften sei ein Segen verglichen damit, diesen roten Untieren in die Hände zu fallen. Er selbst habe auch seine Kapsel, festgenäht auf der Innenseite eines Strumpfes, für den Fall, dass er in dieselbe Situation geriete. Zum Glück war er in amerikanische Gefangenschaft geraten, und obwohl das Reich tot war und mit ihm seine Träume und sein Daseinszweck, blieb ihm doch noch seine Familie, die auch ein Recht hatte, ihn unter den Lebenden zu wissen. Nur aus diesem Grund hatte er seine Portion Gift über den Donnerbalken geworfen und sich seither dafür eingesetzt, einen Weg zu finden, wie er aus dem Lager entkommen konnte, um die Seinen wiederzutreffen.

»Die können wir jetzt ins Klo schmeißen«, ordnete er großmütig an. »Hier gibt es keine Russen und auch sonst niemanden, der uns etwas Böses tun wird.«

 

»Onkel Ricardo, was hast du gemacht, bevor du nach Argentinien gekommen bist?«, wollte Klaus wissen, während sie im Speisewagen des Pullman Express darauf warteten, dass ihnen das Frühstück serviert wurde.

Er fing am Ende an, erzählte von dem Gefangenenlager, in dem er gelandet war, nachdem der Krieg einmal verloren war. Am besten, sagte er, hätten ihn die farbigen Amerikaner behandelt, weil sie wussten, was es hieß, Menschen zweiter Klasse zu sein, wie es nun den Nazis widerfuhr aufgrund der einfachen Tatsache, dass sie ihr Vaterland und ihre Rasse verteidigt hatten. Die weißen Amish hingegen ließen nicht einen Witz durchgehen. Einem Leutnant, der ihn nach seinem Namen gefragt und dann hinzugefügt hatte: »Geboren …?«, hatte er mit »Selbstverständlich, jawoll!« geantwortet, ohne ihm damit auch nur ein Lächeln entlocken zu können. Neben diesem Mann, erinnerte er sich, stand ein ehemaliger Offizier der SS, der dem Leutnant bei jedem neuen Befragten versicherte, das sei einer, der entschieden gegen Hitler gewesen sei. Bei Klement hatte er das ebenso gehalten, was diesen noch heute mit Scham und Ekel erfüllte.

»Dass wir verloren haben, bedeutet nicht, dass wir uns vor dem Sieger demütigen müssen«, erklärte Klement seinem Publikum, von dem die Wiedererrichtung eines eventuellen Vierten Reiches abhing. »Ich weiß noch, dass sie uns einen Film über die angeblich von uns begangenen Verbrechen vorspielen wollten, aber wir revoltierten, und sie mussten die Vorführung absagen. Warum haben sie sich nicht einen Film darüber angeschaut, was sie in Dresden gemacht haben?«

»Anschließend habe ich als Holzfäller gearbeitet, damit die Leute Holz für den Wiederaufbau der Häuser hatten, die durch die mörderischen Bombenangriffe der Engländer zerstört worden waren«, erklärte er, obwohl er wusste, dass dieses Holz als Brennstoff für Züge verwendet worden war – als wäre er dazu verurteilt, dass alles in seinem Leben sich immer rund um dieses Transportmittel drehte.

»Mit einer Axt?«, fragte Dieter und schaute seine dünnen Arme mit einem ziemlich ungläubigen Blick an.

»Ja, es war eine harte Arbeit, aber ich hatte gute Gefährten«, sagte der Onkel und verschwieg dabei, dass er auch eine schöne Gefährtin gehabt hatte, Nelly, die verwitwete Schwester des Kameraden, mit dem er geflohen war.

Sie hatten alle zusammen in einer Hüttensiedlung im Wald gelebt, die als »die Insel« bekannt war. An den Wochenenden fuhr Klement, oder eigentlich Otto Heninger,

»Und warum bist du uns nicht besuchen gekommen?«, erkundigte sich Klaus, nachdem er mit der Zungenspitze etwas dulce de leche probiert und für zu süß befunden hatte.

Klement musste sich zurückhalten, um diesem fragewütigen Bürschchen nicht einen Rüffel zu erteilen, und erst recht, um den Stolz zu verbergen, den dessen Scharfsinn in ihm weckte. Er half sich aus der Klemme, indem er erzählte, die Holzfällerei habe Pleite gemacht und er beschlossen, mit seinem Ersparten hundert Hühner zu kaufen, um die Versorgung einer Bevölkerung mit Nahrungsmitteln zu sichern, die durch die Arroganz und Grausamkeit der Sieger den schlimmsten Nöten unterworfen war. Da sich das Gehege unweit eines früheren Konzentrationslagers befand, habe er sich paradoxerweise auch gezwungen gesehen, mit denjenigen Handel zu treiben, die es geschafft hatten, das Lager zu überleben.

»Natürlich habe ich den Krummnasen die Eier zu Wucherpreisen verkauft«, sagte der Onkel und hielt sich, als wäre das noch nötig, einen Frühstückshalbmond mitten vors Gesicht, womit er selbst bei denen, die seine Anspielung nicht verstanden, für Heiterkeit sorgte.

Er hätte gern erzählt, dass er sich in jener Zeit, wenn er sich nicht gerade um seine Hühner kümmerte oder im Wald Blaubeeren als Futter für sie sammelte, damit befasst hatte, seine Memoiren zu schreiben. Eine nach der anderen wollte er die Gemeinheiten widerlegen, die seine alten Waffenkameraden bei diesem infamen Spektakel der Besatzungsmächte in Nürnberg über ihn erzählten. Nach einem kurzen Schweigen, das mit einem viel größeren

»Es war eine glückliche Zeit. Sonntags machte ich Radtouren durch die Gegend.«

In seiner Erinnerung erschien, schallend über dieses inexistente Glück lachend, das Gesicht des Juden, der ihm mehr Eier abgekauft hatte, als er hätte essen können, so zahlreich seine Familie auch einmal gewesen sein mochte. Die Angst vor diesem speziellen Juden und ganz allgemein vor den Jagdkommandos dieser Rasse, die die Nazis hinrichteten, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ein Schnellverfahren vorzutäuschen, hatte ihn dazu bewogen, die Legehennen unter Wert zu verkaufen und von einem Tag auf den anderen zu fliehen, nicht ohne zuvor die Memoiren zu verbrennen, deren Inhalt man Wort für Wort gegen ihn verwenden konnte. Diesmal vervielfältigte er die möglichen Zielorte: Den Besitzern des Stücks Land hatte er gesagt, er wolle sein Glück in einer Fabrik in Norwegen versuchen, und seiner Freundin Nelly log er vor, dass er sich den Russen stellen wolle. Falls sie in den nächsten Wochen nichts von ihm höre, könne sie ein Kreuz neben seinen Namen malen, deklamierte er, während sie an seine Brust geschmiegt lag und ihn schon wie einen Toten beweinte.

»Ich bin euch nicht besuchen gekommen, weil überall Israeliten waren.« Das konnte er ihnen sagen, fiel ihm ein, schließlich bewies der Umstand, verfolgt zu werden, nicht seine Schuld, sondern den irren Rachedurst der anderen. »Es war schon schwer genug, Abschied von meinem Vaterland zu nehmen. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, der sich von seiner Mutter losreißt, die er hat sterben sehen, ohne irgendetwas zu ihrer Rettung tun zu können.«

»In Genua, das war billiger«, log er wieder und erinnerte sich mit besonderem Groll, dass seine Kameraden nichts getan hatten, ohne im Gegenzug gutes Geld dafür zu kassieren, wohingegen die Franziskanermönche und die argentinischen Behörden nicht eine müde Mark von ihm verlangt hatten.