Band 1: Die Knochen der Götter
Band 2: Die Stunde des Raben
Band 3: Das Schiff aus Stein
Band 4: Das Erbe des Rings
Impressum
Verlag Akademie-der-Abenteuer
Boris Pfeiffer, Pfalzburger Straße 10, 10719 Berlin
E-Mail: info@verlag-akademie-der-abenteuer.de
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, nicht gestattet.
©Verlag Akademie-der-Abenteuer, Berlin 2021
1. Auflage
Umschlagillustration, Illustration und Umschlaggestaltung: Kris Kersting
Satz und Herstellung: Verlag Akademie der Abenteuer
Druck und Binden: BoD GmbH, Norderstedt
www.verlag-akademie-der-abenteuer.de
ISBN(print):978-3-98530-004-4
ISBN(ebook):978-3-98530-005-1
Printed in Germany
Das sollte ein Eliteinternat sein?
Rufus blieb fast die Spucke weg, als seine Mutter vor dem heruntergekommenen Gebäude parkte. Im nächsten Moment breitete sich ein fassungsloses Grinsen auf seinem Gesicht aus, das auf seinen Wangen Hunderte von Sommersprossen zum Tanzen brachte.
Diese ganze Aktion mit dem Stipendium für eine superwahnsinnig extracoole Schule, das er angeblich bekommen sollte, war sowieso schon völlig absurd. Aber das Haus, vor dem sie jetzt standen, setzte dem Ganzen eindeutig die Krone auf.
Und zwar eine echt schäbige Krone!
Rufus ließ den Blick über die große Freitreppe und die schwere, eisenbeschlagene Tür wandern. Darüber waren einige dunkle Flecken in der Fassade zu erkennen, die aussahen, als wären dort vor langer Zeit Buchstaben angebracht gewesen. Er kniff die Augen zusammen. Gebr entzifferte er, aber dann ging es nicht weiter, denn die nächsten Flecken waren zu verblichen. Erst dahinter waren sie wieder besser zu erkennen: Privatbankiers, gegr 1392.
Rufus stöhnte leise auf. „Gebrgegr“, murmelte er vor sich hin, und es klang, als klapperten seine Zähne. Aber was ihm wirklich gegen den Strich ging, war das Wort „Privatbankiers“. Das hier war eindeutig eine Bank und eine uralte dazu. Was sollte man da schon lernen? Mathe natürlich! Vor seinem inneren Auge tauchten sofort lange schwarze Zahlenkolonnen auf, die wie eine Ameisenarmee auf ihn zu marschierten. Rufus hätte sie zeichnen können, so deutlich sah er die kleinen Einsen, Sechsen und Nullen vor sich.
Er blickte verstohlen zu seiner Mutter. Wie immer in den letzten Jahren trug sie einen ihrer dunkelblauen Hosenanzüge und sah mit ihrer teuren Frisur, die ihr kupferrotes Haar in einer schick glänzenden Welle über die Ohren bis zum Kinn spülte, extrem gediegen aus. Viel zu gediegen für Rufus’ Geschmack. Früher, als sie noch mit seinem Vater zusammen gewesen war, hatte sich ihr Haar in langen Locken ums Gesicht geringelt und sie hatte viel hübscher ausgesehen. Aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen.
Rufus fragte sich wirklich, was hinter all dem steckte.
War das Ganze mit dem Stipendium vielleicht nur ein Trick seiner Mutter, um ihn endlich zu einem ordentlichen und guten Schüler zu machen? Rufus’ Mutter hatte zu seinem großen Bedauern eine wahre Besessenheit für Geld entwickelt, seit sie und sein Vater sich getrennt hatten. Ihrer Meinung nach war ein guter Schulabschluss die grundlegende Voraussetzung für eine vernünftige Karriere. Und dass sie jetzt ausgerechnet vor einer Bank standen, erhöhte die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Sache hier eingefädelt hatte, um ein Vielfaches.
Rufus hatte von Anfang an vermutet, dass seine Mutter ihn auf diese Weise jetzt auch noch in ein Internat abschieben wollte. Er hatte ihr kein Wort geglaubt, als sie behauptet hatte, dass nicht sie an das Internat, sondern das Internat an sie geschrieben hätte.
Internat! Schon das Wort klang grässlich.
Rufus sah dabei einen Schlafraum voller Sportangeber vor sich. Oder, noch schlimmer, ein Zimmer voller verwöhnter Reichlinge, die nur bei ihren Eltern anrufen mussten, um das Geld für die nächste Ladung feiner Edelklamotten rübergeschoben zu bekommen, und die tagtäglich ein paar frische minzgrüne Socken brauchten. Das war der schlimmste aller Albträume. Und leider stand Rufus’ Mutter auf minzgrüne Socken, seit sie gelesen hatte, dass sich der echte Adel so was über die Stinkefüße zog.
Doch welche seiner Schreckensvisionen er hier auch immer antreffen würde, keine davon war so schlimm wie die Wahrheit. Wenn seine Mutter wirklich vorhatte, ihn gegen seinen Willen und ohne ihn zu fragen in ein Internat zu stecken, würde Rufus von zu Hause abhauen. Dann würde er seinen Vater suchen, wo immer der sich auch versteckte, und ihn um politisches Asyl bitten.
Insgeheim hoffte er allerdings, dass seine Mutter doch nicht die Triebfeder bei dieser Sache war. Darum würde er erst einmal abwarten und der Geschichte auf den Grund gehen. Denn ganz egal, wie etepetete seine Mutter sich anzog, welchen durchgeknallten Guru-Friseur sie einmal in der Woche aufsuchte und ob sie wirklich völlig versessen auf üppige Gehaltsschecks war, seit sein Vater sie mit einer ganz schön viel jüngeren Frau verlassen hatte – Rufus liebte seine Mutter trotzdem.
Das war ihm bei dieser ganzen Geschichte mit dem Eliteinternat auf einmal klar geworden.
Noch bis vor einer Woche hatte sich Rufus täglich in sein Geheimversteck im Museum verzogen. Hauptsächlich, weil er es hasste, das kalte Essen aus dem Kühlschrank zu holen, das seine Mutter ihm dort bereitstellte. Besonders, wenn es sich dabei um Käsebrote handelte. Kalte Käsebrote waren das finsterste Grauen auf Erden.
Noch schrecklicher allerdings war es, wenn seine Mutter ihm einfach einen Zehneuroschein auf den Küchentisch legte. Beim Anblick des handgeschriebenen Zettels daneben verging Rufus regelmäßig der Appetit. Kauf dir heute bitte selbst was zu essen, mein Schatz. Immer wenn er den blöden Geldschein auf dem Tisch liegen sah, wusste er, dass er ihn nur deswegen bekam, weil seine Mutter nicht zu Hause, sondern in irgendwelchen Büros bei irgendwelchen wichtigen Besprechungen war. Und darauf war sie auch noch stolz. Weil das Geld, das sie damit verdiente, angeblich ihrem und Rufus’ gemeinsamen Leben zugutekam. Nur, dass es dieses gemeinsame Leben gar nicht gab.
Alles in allem hatte Rufus jetzt seit mehreren Jahren keine richtige Familie mehr. Sein Vater lebte wusste der Teufel wo mit einer Unbekannten, und seine Mutter verbrachte den Großteil ihrer Zeit bei ihrem tollen Job in ihrem tollen Büro, von dem aus sie über das Stadtschloss und den Fluss blickte.
Für ihn blieben der Zehneuroschein und jeden zweiten Tag kalte Käsebrote.
Eine Weile hatte er gehofft, sein Leben würde sich irgendwie von selbst wieder einrenken. Doch das geschah leider nicht. Wie immer, wenn er sich schlecht fühlte, hatte er sich in diesen Tagen an seinen Schreibtisch gesetzt und angefangen zu zeichnen. Zeichnen war immer noch das, was ihn am glücklichsten machte. Mit festen Strichen warf er seine Mutter aufs Papier, wie er sie von früher vor sich sah: mit ihren langen roten Locken, die wild um ihre Schultern fielen und zwischen denen sie spitzbübisch hervorlinste und verrücktes Zeug erzählte. Das hatte sie früher oft getan. Verrückte Geschichten erzählt, Rufus dabei umarmt, gelacht und ihm plötzlich einen Kuss auf die Wange gedrückt, dass es nur so knallte. Rufus liebte verrückte Geschichten. Und er liebte sie besonders, wenn seine Mutter sie mit ihrer leisen, geheimnisvollen Stimme erzählte.
Doch aus irgendwelchen Gründen schaffte er es selbst beim Zeichnen nicht mehr, sich an die leise und geheimnisvolle Stimme seiner Mutter zu erinnern. Frustriert war er an diesem Tag aufgestanden und auf der Suche nach etwas Essbarem in die Küche gegangen. Er hatte den Kühlschrank geöffnet und dann war sein Blick auf den Teller mit den Käsebroten gefallen. In diesem Moment hatte Rufus die Wut gepackt.
Am liebsten hätte er die Brote genommen und sie an die Wand geklatscht. Gerade noch rechtzeitig war ihm eingefallen, wie seine Mutter am Abend ausflippen würde, wenn er das tat, und Rufus hatte es sich eben noch verkniffen. Stattdessen war er aus der Wohnung gerannt und quer durch die Stadt gelaufen, auf der Suche nach irgendwas, das er tun konnte, um sich abzulenken. So hatte er plötzlich vor dem Völkerkundemuseum gestanden. Und so hatte er angefangen, die Schule zu schwänzen.
Rufus kannte das riesige Gebäude, weil er hier früher manchmal zusammen mit seinen Eltern gewesen war. In diesem Augenblick hatte er sich daran erinnert, wie glücklich seine Mutter damals ausgesehen hatte, wenn sie an der Hand seines Vaters mit ihrem leuchtend roten Haar durch die dunklen Säle gingen und sie das Licht der Strahler traf, die von der Decke auf die Ausstellungsstücke gerichtet waren. Davon fiel ihr Schatten auf die seltsam geformten Segel aus Pandanussblättern, die an den Masten des Segelbootes der Südseeindianer hingen. Von dort wanderte, während seine Mutter weiterging, er über geflochtene Buschgeistmasken und Tanzschilde, bis er zwischen den Zinken einer hölzernen Kannibalengabel verharrte.
Mit diesem Bild im Kopf hatte Rufus das Museum betreten. Und mit dreizehn Jahren bekam man dort auch noch freien Eintritt.
Die halbdunklen, kühlen und hohen Räume, in denen hinter jeder Ecke etwas Neues auf einen wartete, hatten ihn schon nach wenigen Schritten in ihren Bann gezogen. Hier war es viel besser als alleine zu Hause vor einem kalten Käsebrot. Und seine Mutter kümmerte sich sowieso nicht um ihn, also konnte er doch eigentlich tun, was er wollte!
Von nun an war Rufus fast jeden Tag ins Museum gegangen. Zunächst war er erst nach dem Unterricht in sein neues Versteck gezogen. Doch dann hatte er sich immer öfter schon in der Frühe auf den Weg gemacht, sobald seine Mutter zur Arbeit gegangen war. Denn auch die Schule machte ihm schon längst keinen großen Spaß mehr.
Im Museum hatte er sich auf eine der Bänke in den dunklen Sälen gesetzt und begonnen, die Ausstellungsstücke zu zeichnen. Das war genial. Fast alles, was er hier sah, gefiel Rufus: fein geschnitzte und bunt bemalte Vogelmasken, tanzende Kriegerfiguren mit grimmigen Gesichtern und Schwertern in den erhobenen Händen, Schmuckstücke, die wie goldene Spinnen aussahen. Der Anblick dieser Dinge hatte Rufus überwältigt. Er hatte Brustschmuckplatten betrachtet und gezeichnet, die den seltsamen Namen Pektorale trugen, riesige Federmäntel aus Tausenden von bunten Vogelfedern, unheimliche Schattenspielfiguren und klobige Steinmasken. Mit jedem Strich in sein Skizzenbuch hatte Rufus die Dinge genauer gesehen. Ja, wenn er sie eine Weile studiert hatte, konnte er sie sogar aus dem Gedächtnis zeichnen. Jedes Detail war ihm interessant erschienen. An manchen Zeichnungen hatte er sich zigmal versucht, bis sie so genau waren, dass man nach ihnen das Original hätte herstellen können.
Leider konnte man im Museum nicht jedes Stück von allen Seiten gleich gut betrachten. So hatte sich Rufus öfter mit schief gelegtem Kopf den Ausstellungsstücken bis auf wenige Zentimeter genähert, wenn er etwas ganz genau sehen wollte. Und dabei war es passiert.
Rufus hatte gerade eine mit Perlen besetzte Tabakspfeife studiert und versucht, die Züge eines Gesichts zu erkennen, das zwischen den Perlen in den Pfeifenkopf geschnitzt war, als er Alarm auslöste. Das laute Jaulen war wie eine Schiffssirene durch den Saal gehallt, und Rufus hatte kaum den Kopf zurückziehen können, als auch schon eine junge Museumswärterin in blauer Uniform angeschossen kam und ihn wütend am T-Shirt packte.
„Du lungerst hier schon den ganzen Vormittag rum. Habe ich mir doch gleich gedacht, dass du deine Finger nicht bei dir behalten kannst. Aber das Berühren der Ausstellungsgegenstände ist verboten! Oder hast du vielleicht sogar versucht, etwas zu stehlen?“
Die Wärterin hatte Rufus so streng gemustert, als hätte er bereits das halbe Museum eingesteckt. Dann hatte sie ohne Vorwarnung einfach in seine Hosentasche gefasst. „Los, Taschenkontrolle!“
„He!“, Rufus hatte sich wie wild gewunden. „Lassen Sie das! Ich habe nur gezeichnet.“
Doch die Wärterin hatte den Kopf geschüttelt. „Du hast hier gar nichts zu sagen. Noch ein Wort und du bekommst Hausverbot.“ Sie hatte Rufus umgedreht und ihm auch in die andere Hosentasche gefasst. „Warum bist du überhaupt hier und nicht in der Schule?“
In diesem Moment hatte es Rufus mit der Angst zu tun bekommen. Wenn die Frau ihn festhielt und am Ende noch seine Mutter anrief, konnte es mächtigen Ärger geben. Mit einem Ruck hatte er sich losgerissen und war unter dem ausgestreckten Arm der Wärterin hindurch davongerannt.
Aber Rufus hatte es nicht geschafft, sie abzuschütteln. Wo er auch langgelaufen war, immer waren die trommelnden Schritte der Wärterin hinter ihm geblieben.
Schließlich war er über eine Rampe in den nächsten Museumstrakt gerannt. Und dort hatte Rufus mitten in einer großen Halle eine Holzhütte entdeckt. „Männerhaus“ stand auf einem Schild daneben. Ohne weiter nachzudenken, war Rufus in die Hütte geschlüpft. Ein alter Wärter, den Rufus schon einige Male gesehen hatte, und der immer mit gemächlichen Schritten durch das Museum ging, hatte ihm zugenickt.
Dann war die keuchende Wärterin herbeigelaufen gekommen.
„Haben sie einen etwa zwölfjährigen Jungen gesehen? Rothaarig! Er hat den Alarm ausgelöst!“
Der alte Wärter war stehen geblieben. „Der, der immer zeichnet?“
„Tut er das?“, japste die Frau ungeduldig.
„Ja, das tut er. Er ist wahrscheinlich nur zu nah an ein Exponat herangekommen, keine Sorge.“
Die Wärterin hatte geschnaubt. „Kann sein, aber er hat sich losgerissen und ist weggelaufen. Ich will ihm Hausverbot erteilen.“
„Hausverbot.“ Der alte Mann hatte den Kopf geschüttelt. „Jeden Tag lösen zwanzig Besucher aus Versehen den Alarm aus. Das ist doch kein Grund für ein Hausverbot. Sagen sie ihm, er soll das nächste Mal nicht so nah rangehen und fertig.“
Die Wärterin hatte tief Luft geholt. „Hier ist er also nicht? Vielleicht hat er sich ja in der Hütte versteckt.“
Rufus, der angespannt gelauscht und vorsichtig durch eines der Hüttenfenster gespäht hatte, sah, wie die Frau sich in Bewegung setzte, um die Hütte zu durchsuchen.
„Halt!“, hatte ihr in diesem Moment der Wärter streng zugerufen. „Das ist eine indianische Männerhütte, in die ausschließlich die Männer des Stammes Zutritt haben. Das Museum hat nur deswegen die Erlaubnis, sie hier auszustellen, weil wir uns dazu verpflichtet haben, diesen Brauch beizubehalten. Sie dürfen da nicht rein. Ich gehe selbst nachgucken.“
Der alte Mann hatte sich umgedreht und war selbst in die Hütte gekommen. Erstaunt und etwas ängstlich hatte Rufus ihm entgegengesehen. Aber der Wärter hatte nur kurz den Kopf durch die Tür gesteckt und sich dann wieder umgedreht.
„Hier ist keiner. Wie ich gesagt habe. Nun gehen Sie schon wieder in Ihre Säle und beruhigen Sie sich. Der Junge ist harmlos. Er zeichnet nur.“
Und damit waren beide aus dem Saal verschwunden.
Rufus hatte keine Ahnung, warum der alte Wärter ihn nicht verraten hatte. Aber er hatte ihn auch nie gefragt. Von nun an hatte er sich jeden Tag in die Männerhütte gesetzt und in seinem Heft aus dem Gedächtnis die Dinge nachgezeichnet, die er sich ansah, während er das Museum durchstreifte. Der einzige Mensch, den Rufus in diesen Stunden regelmäßig zu Gesicht bekommen hatte, war der alte Museumswärter gewesen. Doch der leicht gebeugte alte Mann in der ausgebeulten blauen Uniform kümmerte sich nicht weiter um Rufus. Nur gelegentlich begrüßte er ihn mit einem stummen Nicken und lächelte dabei nicht einmal.
Und so wäre es wahrscheinlich weitergegangen, wenn Rufus’ Mutter nicht den Brief bekommen hätte.
Es war ein Samstagmorgen gewesen, und Rufus hatte den Brief an der Tür in Empfang genommen, weil seine Mutter sich gerade die Zähne putzte. Eliteinternat hatte im Absender gestanden, in blauer Schrift auf senfgelbem Papier. Das Wort war Rufus in die Knochen gefahren wie ein Peitschenhieb. Er hatte seine Mutter angestarrt, als sähe er eine Fremde, als sie kurz darauf aus dem Badezimmer kam.
Sein erster Gedanke war gewesen, ob es ihr jetzt sogar zu viel war, ihm zehn Euro auf den Tisch zu legen? Dann hatte er sich gefragt, ob die Schule seiner Mutter mitgeteilt hatte, dass er in seinen Noten abgerutscht war? Aber wozu dann gleich ein Internat? Dort würden seine Leistungen bestimmt nicht besser werden. Und warum hatte sie nicht wenigstens mit ihm geredet, bevor sie sowas machte?!
Rufus hatte seine Gedanken eben laut herausschreien wollen, als seine Mutter ihm den Brief wortlos aus der Hand genommen und geöffnet hatte. Während ihre Augen über die Zeilen flogen, hatte Rufus bemerkt, dass sie genauso überrascht wirkte wie er selbst.
„Rufus!“, hatte sie anschließend gerufen und dabei so strahlend gelächelt wie lange nicht mehr. „Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so gut in der Schule bist.“
Rufus hatte unsicher die Schultern gezuckt. „Wieso?“, hatte er vorsichtig gefragt.
„Weil es hier steht!“ Seine Mutter hatte den Brief geschwenkt. „Du bist wegen deiner außergewöhnlichen Leistungen für ein Stipendium an der ›Akademie für Hochbegabte‹ vorgeschlagen, einem Eliteinternat! Hochbegabt! Rufus, meine Güte! Warum hast du mir nicht gesagt, dass du auf ein Internat willst? Aber vielleicht ist das eine gute Idee. Ich mache mir sowieso schon Sorgen, dass ich mich zu wenig um deine Erziehung kümmere.“
Ich will überhaupt nicht auf ein Internat, hatte Rufus gedacht. Doch als sein Blick auf das Gesicht seiner Mutter fiel und dort hängen blieb, hatte er es sich verkniffen, das auch laut auszusprechen.
Denn ihre Augen strahlten, und sie hatte so glücklich ausgesehen, dass Rufus sich nicht erinnern konnte, sie überhaupt je so glücklich gesehen zu haben. Deswegen hatte er in diesem Moment nichts mehr gesagt, sondern einfach geschwiegen.
In Wirklichkeit hatte er nicht die geringste Ahnung, wieso ein Eliteinternat mit dem seltsamen Namen „Akademie für Hochbegabte“ seiner Mutter einen Brief schrieb, und warum ausgerechnet er ein Stipendium für dieses Internat bekommen sollte.
Aber Rufus wusste, er würde den Teufel tun, seiner Mutter irgendetwas zu sagen, das ihr dieses glückliche Lächeln wieder aus dem Gesicht trieb.
Rufus’ Mutter stieg als Erste aus dem Auto. Rufus folgte ihr zögernd. „Sehr luxuriös sieht das aber nicht aus“, hörte er seine Mutter murmeln, während sie den Blick kritisch über das Gebäude wandern ließ.
Er beobachtete seine Mutter genau. Sie sah wirklich nicht so aus, als würde sie diese Schule kennen. Aber vielleicht konnte sie sich auch nur verdammt gut verstellen und das alles war eben ein Trick, der ihn dazu bringen sollte, ihr zuliebe ein Eliteinternat zu besuchen…
Rufus streckte die Hand nach der schweren Türklinke aus. Dann stieß er einen erstaunten Laut aus. Die Tür war nicht nur riesig, sie wog auch mindestens doppelt oder dreifach so viel, wie er selbst, und Rufus schaffte es nur mit Mühe, sie zu bewegen. Endlich hatte er sie weit genug aufgestoßen, um den Kopf in eine gewaltige, ziemlich dunkle Halle stecken zu können. Kühle Luft schlug ihm entgegen. Rufus presste den ganzen Körper gegen die Tür und drückte sie weiter auf. Dann trat er ein. Der Boden der Halle war mit granitfarbenen Steinplatten bedeckt. Weiter hinten führte eine große, geschwungene Treppe nach oben. Und schräg daneben konnte Rufus eine kleine Vitrine erkennen, in der etwas ausgestellt zu sein schien, fast wie in einem Museum.
Das war alles. In der ganzen Halle gab es weder eine Pförtnerloge, noch war ein Mensch zu sehen.
Während seine Mutter hinter ihm eintrat und gewohnt geschäftsmäßig nach einer Hinweistafel Ausschau hielt, ging Rufus auf die Vitrine zu. Auf einem dunkelblauen Kissen lagen drei perlmuttschimmernde Scherben. Sie sahen aus wie die Überreste von Muscheln. Jede von ihnen war zerbrochen und hätte ziemlich armselig gewirkt, wenn sie nicht alle liebevoll geputzt und wie kostbare Museumsstücke ausgestellt gewesen wären. Rufus guckte sich nach einem Täfelchen oder Zettel an der Vitrine um, wie er es aus dem Museum kannte. Aber zu seiner großen Verwunderung, konnte er keinen Hinweis entdecken. Warum lagen sie dann da?
„Rufus!“ Seine Mutter stand auf dem ersten Treppenabsatz. „Direktion. Hier steht es. Komm schon, reiß dich los. Das sind doch nur Scherben. Du bist manchmal schlimmer als eine Elster. Wenn etwas glänzt, bist du sofort zur Stelle.“ Sie sah die Treppe hoch. „Komisch, dass hier niemand ist. Das macht ja schon einen etwas verwahrlosten Eindruck, findest du nicht?“
„Keine Ahnung!“ Rufus runzelte die Stirn. Er hätte zu gerne noch rausgekriegt, was es mit den Muschelteilen auf sich hatte. Alle drei sahen aus, als wären sie von Menschenhand bearbeitet worden und tatsächlich glänzten sie in seinen Augen verführerisch. Im Museum hatte er einmal gelesen, dass Muscheln vor langer Zeit als Zahlungsmittel benutzt worden waren. Also konnte es sich durchaus um eine Art prähistorische Münzsammlung handeln. Genauso gut konnten es aber auch Werkzeuge sein. Schließlich hatten die Menschen, bevor sie anfingen, sich ihre Sachen selber herzustellen, einfach geeignete Gegenstände benutzt, die sich in der Natur finden ließen, und sie dann nach dem Gebrauch wieder weggeworfen.
Die Stimme seiner Mutter riss ihn aus seinen Gedanken. „Rufus! Jetzt komm endlich. Wir sind nicht zum Spaß hier, wir haben einen Termin mit dem Direktor!“
Unwillig wandte Rufus den Blick ab. Was machten diese Dinger bloß in der Halle eines Eliteinternats? Mit hängenden Schultern drehte er sich um, um seiner Mutter zu folgen, als hinter ihm plötzlich eine schwungvolle Stimme erscholl.
„Willkommen in der Akademie!“
Rufus fuhr herum. Unbemerkt war ein kleiner und ziemlich dicker Mann aus einem versteckten Gang unter der Treppe hervorgetreten. Er trug einen etwas speckig glänzenden rostbraunen Anzug und eine gepunktete Krawatte, stand dicht hinter Rufus und sah genauso interessiert auf die Muschelstücke, wie Rufus es eben selbst noch getan hatte.
„Interessant, diese drei Artefakte, ja?“, meinte er vergnügt. „Ich frage mich seit vielen Jahren, was es mit diesen verflixten Scherben auf sich hat.“
„Sie sehen aus wie Muscheln“, sagte Rufus, ohne zu überlegen. Dann fragte er: „Was sind Artefakte?“
Der Mann nickte heftig. „Muscheln? Ja, Perlmutt, das denke ich auch. Aber wozu dienten sie? Was hat man damit gemacht? Sind es Schmuckstücke, Münzen, Werkzeuge? Ich finde es einfach nicht heraus. Ich weiß nicht einmal, woher sie stammen.“ Er fasste sich mit einer kräftigen Hand an sein Doppelkinn. Dann fügte er plötzlich hinzu: „Artefakte sind Dinge, die durch menschliches Tun geschaffen wurden. Man sieht hier deutlich, dass die Muscheln von Hand bearbeitet worden sind. Da, die Reibestellen. Und die Löcher! Die sind ganz eindeutig gebohrt worden. Alles Ausdrücke des menschlichen Geistes, der hier am Werk war. Menschliche Erfindungsgabe und handwerkliches Geschick.“ Er hob den Blick und sah Rufus an. „Das Wort Artefakt
stammt aus dem Lateinischen, von ars und facere und heißt so viel wie ›eine Bearbeitung machen‹.“
Er hielt inne und sah zu Rufus’ Mutter, die auf der Treppe stand und erstaunt zu ihnen hinuntersah.
„Gnädige Frau!“, rief er. „Sie wissen das ja bestimmt. Die meisten antiken Artefakte, die wir kennen, werden bei archäologischen Ausgrabungen gefunden. Aber ab und zu stolpert man auch an der Erdoberfläche mal über Pfeilspitzen und Keramikscherben. So wie ich hier eben sozusagen über Sie und Ihren Sohn.“ Er lachte, offensichtlich erfreut über seinen eigenen Scherz. „Sie ahnen gar nicht, was für Hinweise auf vergangene Kulturen man bekommen kann, wenn man diese Funde untersucht. Oder etwa doch?“
Er warf Rufus’ Mutter einen fragenden Blick zu.
„Äh, Pfeilspitzen und Keramikscherben …“, sagte diese langsam. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich recht verstehe?“
Der Mann kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Aber ja, die kommen zum Beispiel beim Pflügen auf einem Feld zum Vorschein.“
„Beim Pflügen?“, fragte Rufus’ Mutter und machte große Augen.
Der rundliche Mann nickte. „Genau, gnädige Frau! Sie sehen mich übrigens gerade an wie Marco Polo, als er im 13. Jahrhundert in der chinesischen Provinz Toloman Schneckengeld fand. Am selben Abend noch schrieb er in sein Tagebuch, in China würden die Menschen mit denselben Porzellanschnecken für ihre Arbeit bezahlt, die man bei ihm daheim zur Verzierung von Hundehalsbändern verwandte.“ Der Mann gluckste vor Vergnügen.
Die Augen von Rufus’ Mutter wurden noch größer. Verwundert sah Rufus den Mann genauer an. Sein Gesicht wurde von einem wilden, dunklen Haarkranz umrahmt. Auf den kräftigen Wangen prangten rote Flecken, und seine braunen Augen waren von einem fröhlichen Funkeln erfüllt, wie Rufus es bei einem erwachsenen Mann noch nie gesehen hatte.
In diesem Moment straffte Rufus’Mutter energisch die Schultern.
„Entschuldigen Sie, aber wir müssen jetzt zum Direktor. Wir haben einen Brief bekommen, dass mein Sohn für ein Stipendium ausgewählt wurde.“
„Aber das ist ja wunderbar!“, rief der Mann.
Rufus sah ihn neugierig an. „Unterrichten Sie hier?“, fragte er. „Sind Sie der Geschichtslehrer?“
Der Mann nickte. „Sehr wohl, Geschichte, das ist allerdings mein Fach.“ Er lächelte glücklich und ging voller Elan auf Rufus’ Mutter zu. Dann reichte er ihr formvollendet die Hand.
„Sie müssen entschuldigen, wenn ich Sie nicht in meinem Büro erwartet habe, Frau Minkenbold. Gino Saurini, ich bin der Direktor. Ich war so gespannt darauf, Ihren Sohn kennenzulernen, dass ich hier unten gewartet habe. Rufus’ Aufnahme in die Akademie ist mir von seiner Klassenlehrerin dringend ans Herz gelegt worden. So sehr, dass ich selbst ein wenig aufgeregt bin.“
Rufus verzog erschrocken das Gesicht. Das war der Schuldirektor? Und Rufus war ihm angeblich von seiner Klassenlehrerin empfohlen worden?
Direktor Saurini lachte leise, und Rufus konnte sehen, wie seine Mutter um Fassung rang. Endlich ergriff sie die dargebotene Hand und schüttelte sie leicht. „Herr Direktor, Sie persönlich? Was für eine nette Überraschung.“
Rufus zog die Stirn kraus. Seine Mutter schien den Direktor wirklich nicht zu kennen. Und das bedeutete ja wohl, dass der ganze Plan mit dem Internat auch nicht von ihr ausgegangen war.
Er sah den Direktor unsicher an. Diese ganze Geschichte wurde immer rätselhafter.
Die Gebrüder Micheluzzi
Direktor Saurini breitete die Arme aus.
„Gehen wir in mein Büro. Aber nehmen wir nicht die große Treppe hier vorne. Da ich sehe, dass Rufus sich für die Artefakte interessiert, würde ich Ihnen beiden auf dem Weg gerne einige weitere, etwas versteckte Säle der Akademie zeigen.“
Rufus’ Mutter lächelte erfreut. Dann fasste sie unvermittelt nach Rufus’ Hand. „Komm, Rufus. Kannst du dich noch erinnern, wie wir früher immer zusammen ins Museum gegangen sind?“ Sie lächelte dem Direktor zu. „Wir haben das wirklich sehr gern getan.“
Die Worte seiner Mutter versetzten Rufus einen Stich. Gleichzeitig nahm er ihre Hand fest in seine.
„Ja“, sagte er leise.
Während der kugelrunde Direktor Rufus und seiner Mutter durch den Gang unter der Treppe in einen kleinen Saal vorauseilte und sie von dort über Stufen und Durchgänge in eine Reihe weiterer Säle führte, die scheinbar gar kein Ende nehmen wollten, nahm Rufus erstaunt wahr, auf was seine Mutter achtete.
Der frisch gebohnerte Holzboden versetzte sie ebenso in Entzücken wie die hohen Fenster mit den schweren Vorhängen.
Rufus dagegen betrachtete fast nur die Vitrinen, die immer wieder ihren Weg kreuzten und in denen einige wirklich seltsame Ausstellungsstücke lagen.
Zuerst dachte Rufus, dass es sich um einen Zufall handeln müsse, aber nach drei Sälen, in denen seine Mutter Direktor Saurini begeistert dabei zuhörte, wie dieser erzählte, dass die Akademie mehrere Firmenchefs und berühmte Politiker hervorgebracht hatte, war sich Rufus sicher, dass dies alles nicht zufällig sein konnte. Und das war wirklich verrückt!
Anders als in einem Museum, lagen in den Vitrinen der Akademie keine wirklichen Ausstellungsstücke. Genauer gesagt, war nämlich nicht eines der Artefakte noch vollständig oder ganz. Es gab einfach keine verzierte Vase, keine geschnitzte Maske, keinen kunstvoll geflochtenen Korb, federbesetzten Umhang oder goldenen Schmuck, der in voller Pracht auf den schimmernden Samtbetten lag, mit denen sämtliche Vitrinen ausgeschlagen waren.
Stattdessen waren immer und überall nur Bruchstücke zu sehen. Bruchstücke, bei denen, obwohl sie alle sehr gepflegt wirkten, zum großen Teil nicht einmal auszumachen war, wovon sie möglicherweise stammten.
So etwas hatte Rufus noch nie zuvor gesehen. Scherben, Fetzen, große und kleine Reste von zerbrochenen, zerfallenen, zerrissenen und zerstörten Dingen.
Rufus hätte Direktor Saurini gerne nach dem Grund dafür gefragt, aber der Direktor unterhielt sich so lebhaft mit seiner Mutter, dass er sie nicht stören wollte.
Verständnislos sah sich Rufus diese unglaubliche Sammlung an. Was war der Grund für all diese kaputten Teile? Warum sammelte man hier nur Dinge, an denen der Zahn der Zeit schon in aller Ruhe genagt hatte?
Rufus musste plötzlich an seine Spielzeugautos denken, die er wütend mit dem Hammer zerschlagen hatte, als seine Mutter ihm gesagt hatte, dass er seinen Vater das nächste Wochenende nicht mehr besuchen konnte, weil der die Stadt verlassen hätte.
An dem Abend hatte Rufus die Autos der Farbe nach in einer schönen Regenbogenordnung auf dem Küchenfußboden aufgestellt und den Hammer aus dem Werkzeugkasten geholt, den sein Vater dagelassen hatte. Jeder Schlag fiel mitten aufs Dach eines Autos. Voller Wut, aber irgendwie sehr zufrieden, hatte Rufus zugesehen, wie die Gummiräder von den Felgen platzten, die Türen sich aus den Angeln lösten und die Karosserien platt gedrückt wurden.
Was für eine Geschichte hatten die kaputten Teile hier in der Akademie?
Klar, es war unwahrscheinlich, dass jede Scherbe hier das gleiche Schicksal erlitten hatte wie seine Spielzeugautos, vielleicht gab es hier einfach nur einen reichen und etwas verrückten Scherben- und Restesammler. Aber vielleicht waren die Geschichten dieser Scherben auch genauso wichtig wie die von Rufus’ zertrümmerten Autos, die er immer noch unter dem Bett in seinem karierten Kinderkoffer aufbewahrte?
Direktor Saurinis Büro lag oben unter dem Dach und wirkte mit seinem alten Holzfußboden und der rundum laufenden Fensterfront ein bisschen wie ein riesiger Taubenschlag, von dem aus man einen guten Überblick über die umliegende Dächerlandschaft hatte.
Der kleine, rundliche Mann lächelte höflich und ließ sich in einen gewaltigen Ledersessel hinter einem alten Schreibtisch fallen. Dicht dahinter erhob sich ein gemauerter Kamin, in dem jedoch kein Feuer brannte.
Gino Saurini deutete auf zwei mit glänzendem Stoff bezogene Sessel. „Möchten Sie nicht Platz nehmen?“
Rufus setzte sich sofort. Der alte Stoff knisterte unter ihm. Neben ihm tat seine Mutter nach einem misstrauischen Blick auf ihren Sessel das Gleiche. Doch dann entspannte sie sich.
„Ich bin sehr froh über den Brief, den wir von Ihnen bekommen haben“, begann sie.
„Ja, den hat Ihnen meine Sekretärin geschrieben“, lächelte Gino Saurini. „Ich selbst schreibe und arbeite nämlich ausschließlich mit der Hand.“ Er deutete auf einen Block feinen Büttenpapiers, der neben einem Füllfederhalter auf seinem Schreibtisch lag. „Alles Weitere übernimmt dann meine Sekretärin.“
Rufus’ Mutter räusperte sich verlegen. „Natürlich“, sagte sie dann. „Wir sind ja hier an einem Eliteinternat!“
Direktor Saurini nickte. „Für Hochbegabte, wohlgemerkt. Und das heißt, dass auch unsere Schüler in der Regel alles Wichtige im Kopf machen. Wir brauchen hier weitaus weniger Computer, Taschenrechner und Handys als an anderen Schulen. Genauer gesagt, benutzen wir sie gar nicht. Bei uns funktioniert das Lernen nur mit Gehirn und Gedächtnis.“
Rufus’ Mutter sah den Direktor ehrfürchtig an. „Natürlich“, murmelte sie beinahe schüchtern. „Und Sie denken, dass mein Sohn, dass mein Rufus an so einer hervorragenden Schule …“
„… absolut richtig aufgehoben sein wird“, vollendete der Direktor ihren Satz. Dann sah er Rufus an. „Allerdings, eine Frage gibt es.“
Rufus merkte, dass er feuchte Hände bekam.
In den letzten Minuten war ihm diese seltsame Akademie mit ihrem verschrobenen Direktor immer sympathischer geworden. Und auch wenn er sich ein Leben ohne Computer und Handy ziemlich langweilig vorstellte, hätte er schon gerne gewusst, um was es sich hier handelte. Trotzdem, bei der ganzen Geschichte musste es sich um einen Irrtum handeln. Er war jetzt sicher, dass die Sache keine Idee seiner Mutter gewesen war. Aber dass seine Lehrerin etwas damit zu tun hatte, glaubte er ebenfalls nicht. Er war einfach nicht hochbegabt oder superklug. Das Ganze musste ein Irrtum sein, eine Namensverwechslung oder so etwas. Und jetzt würde es gleich rauskommen. Welche Frage auch immer ihm der Direktor stellte, er würde sie nie und nimmer beantworten können. Bestimmt handelte es sich um eine Matheaufgabe mit zwei Unbekannten. Oder wie viel 2.678.454,25 geteilt durch 80 war. Oder welche Gebirge der Welt auf welchem Erdteil lagen.
Rufus hatte gedacht, dass er sich diesen Eliteschuppen einfach mal ganz cool angucken würde. Dass er vielleicht seine Mutter dabei erwischen würde, wie sie versuchte, ihn reinzulegen. Und dass er ihr dann die passende Antwort geben würde. Aber natürlich hatte er nicht vorgehabt, tatsächlich auf dieses Internat zu gehen.
Und doch hatte ihm die Unterhaltung in der Halle mit dem Direktor Spaß gemacht.
Rufus legte die Handflächen auf die Oberschenkel und wischte sie heimlich ab. Er hatte sich bis eben richtig gut gefühlt. Frei und auf eine Art neugierig, wie lange nicht mehr. Noch besser sogar, als wenn er durchs Museum streifte oder sich in die Männerhütte setzte. Einfach richtig gut.
Aber gleich würde ein blöder Eliteinternatsaufnahmetest alles wieder zerstören.
Rufus merkte, wie er zusammensackte. Doch dann durchzuckte ihn ein Gedanke. Selbst wenn das hier alles nur die Folge einer Verwechslung war, hieß es ja noch lange nicht, dass er am Ende als der blöde Loser dastehen musste. Wieso sollte er nicht in der Lage sein, diesen seltsamen Zufall auszunutzen? Er hatte immerhin eine Chance!
Schnell richtete Rufus sich auf.
„Dann machen wir jetzt diesen Test!“
Direktor Saurinis Augen schienen für eine Sekunde Funken zu sprühen.
„Frau Minkenbold“, sagte er langsam, „dürfte ich dafür bitte mit Rufus alleine sein? Ich muss ganz sichergehen, dass er auf sich allein gestellt ist, während ich ihn befrage.“
Rufus’ Mutter machte große Augen. „Sie haben ja wirklich strenge Vorschriften hier. Naja, in meinem Beruf läuft es auch so. Man bekommt im Leben nun mal nichts geschenkt. Ich verstehe das vollkommen, Herr Direktor. Obwohl ich Ihnen versichere, dass mein Rufus nie betrügen würde!“
Direktor Saurini sah sie an und wartete.
Rufus’ Mutter stand auf und machte sich auf den Weg zur Tür. Dann blieb sie unvermittelt stehen und drehte sich um. „Rufus, ich bin wirklich stolz auf dich!“, sagte sie mit fester Stimme. „Und ich bin absolut sicher, dass du hier deinen Platz finden kannst!“
Sie sah ihm in die Augen, und Rufus konnte erkennen, dass sie wirklich stolz war. Und er sah auch, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als dass er diesen Test bestand. Das machte die Sache irgendwie nicht leichter.
Im selben Moment drehte seine Mutter sich um, ging aus dem Büro und schloss leise die Tür hinter sich.
Gino Saurini sah ihr nach. Dann wandte er sich Rufus zu.
„Deine Mutter hat allen Grund, stolz zu sein. Auch wenn es sich bei der Akademie nicht haargenau um das handelt, was sie wahrscheinlich denkt. Aber das hast du vielleicht schon selbst bemerkt?“
Rufus zuckte zusammen. Hatte er da eben richtig gehört?
„Was? Äh, wie bitte?“, stotterte er. Er schluckte und fühlte, wie er rot wurde. Vorsichtig fragte er: „Ist das jetzt schon der Test?“
Direktor Saurini hob beschwichtigend die Hände. „Wir machen hier keinen Test, wie du ihn aus der Schule kennst. Ich habe das Wort Test auch gar nicht benutzt, sondern von einer Frage gesprochen. Eine Frage, ja genau. So eine Frage, wie sie zum Beispiel die drei Perlmuttscherben aufwerfen, die du gesehen hast. Aber bevor ich dir diese Frage stelle, sollte ich dir vielleicht zuerst ein paar Antworten geben?“
Antworten bekommen, bevor die Frage gestellt war? Was für ein merkwürdiger Test sollte das denn werden? Rufus saß jetzt ganz still in dem alten glänzenden Sessel. Irgendwie gefiel ihm, was hier vor sich ging, auch wenn er nicht den blassesten Schimmer hatte, was es eigentlich war.
„Okay“, sagte er laut.
Saurini nickte. „Du musst wissen, die Akademie heißt nicht einfach nur ›Akademie für Hochbegabte‹. Das ist nur der Titel, den wir gegenüber Eltern und anderen eher, äh…“, er räusperte sich etwas verlegen, „nun ja, Unwissenden benutzen. In Wirklichkeit heißt sie ›Akademie für Hochbegabte des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten.“
„Akademie des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten?“ Plötzlich musste Rufus lachen. So ging es ihm immer, wenn er etwas nicht verstand. Es kam vor, dass er vor einer besonders schweren Klassenarbeit saß und in lautes Gelächter ausbrach.
Gino Saurini sah ihn an. „Kannst du dir darunter irgendetwas vorstellen oder findest du den Namen dumm?“
Rufus versuchte sich zusammenzureißen. „Nein“, sagte er laut. „Ich meine, ja. Also, ja, ich kann mir was vorstellen.“ Gleichzeitig dachte er: Aber was? Im selbem Moment war es, als schösse ihm ein Lichtblitz durch den Kopf. Ohne abzuwarten, rief Rufus: „Kommt der Name vielleicht von diesen Brüdern, die die Bank gegründet haben?“
Saurini warf ihm einen erstaunten Blick zu. „Wie kommst du denn darauf?“
Rufus wurde blass. Daneben! Er hatte es vergeigt. Wie kam er auch auf so was? Der Gedanke war ihm eben einfach in den Kopf geschossen. Aber das war natürlich Quatsch mit Soße. Wieso sollten Bankbesitzer ihrer Bank einen solchen Namen geben? So ein hirnrissiger Schwachsinn konnte mal wieder nur ihm einfallen. Verlegen rutschte Rufus auf seinem Stuhl hin und her. „Ich, also, äh… da stand draußen über der Eingangstür, dass die Bank 1392 von irgendwelchen Gebrüdern gegründet worden ist. Wenn ›Gebrgegr‹ ›Gebrüder‹ und ›gegründet‹ bedeutet. Und leibhaftiges Studium, das klingt irgendwie auch so alt. Naja, das dachte ich jedenfalls …“
Saurini war ganz still geworden. Rufus ließ den Kopf sinken. Aus und vorbei. Er würde bei seiner Mutter bleiben und bei den kalten Käsebroten. Er hätte nie hierherkommen sollen. Wie war er nur auf die Idee gekommen, dass ausgerechnet ihn ein Eliteinternat aufnehmen würde?
In diesem Moment beugte Gino Saurini sich weit vor, sodass sein Bauch gegen die Schreibtischkante stieß.
„Sehr interessant, Rufus, wirklich äußerst interessant. Ich frage mich, wie du darauf kommst. Diesen Zusammenhang hat, soweit meine Erinnerung zurückreicht, noch niemand gesehen. Weißt du, dass er stimmt?“
„Es stimmt?“, murmelte Rufus verblüfft und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. „Aber ich, … es war nur …“
„Eine gute Intuition, ganz offensichtlich“, sagte Saurini zufrieden. „Ein Gefühl in dir, dass es genau so sein könnte, habe ich recht?“
Ein Schauer lief Rufus über den Rücken.
„Ja“, sagte er. „Es ist mir plötzlich eingefallen.“
„Und dabei hast du den Nagel auf den Kopf getroffen! Bravo!“ Gino Saurini klatschte in die Hände. „Die Akademie ist tatsächlich die drittälteste Universität in Deutschland. Sie wurde noch kurz vor der Universität Erfurt gegründet, die ebenfalls 1392 das Licht der Welt erblickte. Allerdings gilt die offiziell als die Drittälteste. Dass es nicht die Akademie wurde, hängt damit zusammen, dass die beiden Brüder etwas Ärger mit einem damals hier ansässigen Mönchsorden hatten. Die Mönche hatten im Namen der Kirche das Recht, neuen Studieneinrichtungen den Titel Universität zu verleihen oder zu verbieten. Und als sie von den Plänen der beiden Brüder erfuhren, behaupteten sie, diese stünden mit dem Teufel im Bunde.“
„Mit dem Teufel?“ Rufus fuhr sich nervös mit der Zunge über die Zähne.
„Ja, es waren schwierige Zeiten!“ Saurini lächelte ein wenig schmerzvoll. „Nicht alles, was man studieren kann, gefällt auch denen, die die Macht haben, studieren zu lassen. Daran hat sich bis heute eigentlich nicht viel geändert. Es gibt immer wieder Entdecker oder Ärzte, von denen andere Entdecker oder Ärzte behaupten, sie seien Scharlatane, obwohl sie das in Wirklichkeit gar nicht sind. Wissen ist nun mal auch ein Spiel um Macht. Das dürfen wir nie vergessen! Der seltsame Name der Akademie ist jedenfalls eine Antwort auf den Streit damals. Der Leibhaftige, so nannten die Brüder des Mönchsordens den Teufel. Und die beiden Gründer der Akademie, die Zwillingsbrüder Giorgio und Paolo Micheluzzi, aus Italien übrigens, besaßen einen gewissen Hang zum Scherzen. Sie dachten sich, wenn angeblich der Leibhaftige in ihrer Akademie herrschen sollte, dann wollten sie dafür sorgen, den Mönchen ein Schnippchen zu schlagen! Und das taten sie, indem sie die Akademie ›Akademie des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten‹ nannten.“
Direktor Gino Saurini lächelte versonnen.
Dann fuhr er fort: „Die ›Hochbegabung‹ im Namen haben tatsächlich erst wir heutigen Lehrer dazugefügt. In unserer Zeit haben viele Eltern große Angst, dass aus ihren Kindern keine erfolgreichen Menschen werden. Sie denken, dass ein Studium in erster Linie dem späteren Gelderwerb dienen soll. Das Studium als Quelle des Wissens und der Liebe zur Weisheit scheint dagegen eher ausgedient zu haben. Wir haben vielleicht vergessen, dass wir die besten Erfindungen der Menschheit immer noch Einfühlungsvermögen, Klugheit und Fantasie verdanken. Stattdessen glauben wir Einfaltspinsel doch wahrhaftig, der größtmögliche Egoismus würde zum größtmöglichen Wohle aller führen.“
Gino Saurini lachte und wirkte dabei ganz und gar nicht wie ein Einfaltspinsel. „Also haben wir begonnen, uns für ein Eliteinternat auszugeben. Wenn wir dann einem jungen Menschen anbieten, dass er hier studieren kann, natürlich kostenlos, haben die Eltern meist nichts dagegen. Im Gegenteil, sie freuen sich, und der Schüler kann dann frei entscheiden, ob er herkommen will oder nicht. Welches Elternteil würde es schon ablehnen, wenn sein Kind in Harvard, Cambridge oder Heidelberg umsonst studieren könnte?“
Der Direktor zuckte elegant mit den Schultern.
„Aber zurück in die Vergangenheit. Als die beiden Gründer der Akademie die besonderen Fähigkeiten dieses Hauses entdeckt hatten und dann erleben mussten, wie die argwöhnischen Mönche ihre Universität mit einem Federstrich verhinderten, war ihnen klar, dass sie die Akademie niemals am Leben erhalten könnten, wenn ihnen die Kirche oder andere mächtige Institutionen im Wege standen. So verfielen sie auf den überaus klugen Schachzug, die Akademie nach außen hin als eine Bank erscheinen zu lassen. Natürlich steht fast jede Bank dem Teufel sehr viel näher als die Akademie, aber das hat noch nie jemanden gestört. Banken besaßen schon immer ein hohes Ansehen in der Welt. Und durch einige Goldmünzen wurde auch der Mönchsorden ruhiggestellt. So konnte sich die Akademie in den folgenden Jahrhunderten unter ihrem Tarnmantel in Ruhe entwickeln. Aber nun zurück zu meiner Frage, Rufus. Was stellst du dir unter dem Namen vor?“
Rufus fühlte sich, als säße er einem leicht verrückten Märchenerzähler gegenüber. Italienische Zwillingsbrüder, die eine Universität gründen wollten und deswegen Ärger mit Mönchen bekamen? Eine geheime Akademie unter dem Deckmantel einer Bank? Eigenartige Kräfte, die die Brüder angeblich entdeckt hatten und die dieses Haus besitzen sollte? Akademie zum leibhaftigen Studium vergangener Zeiten?
Rufus öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Obwohl ein Teil in ihm Gino Saurini für einen äußerst merkwürdigen Schuldirektor hielt, wollte ein anderer Teil die Frage unbedingt beantworten. Er überlegte. Ganz offensichtlich bedeutete leibhaftig nicht Teufel. Das war ein Scherz der Brüder gewesen. Rufus war sich sicher, das Wort leibhaftig hatte er ganz bestimmt schon einmal in einem anderen Zusammenhang gehört. Aber wo? In einem Märchen, das war es! Dort hatte ein armer Bauernsohn, nachdem er eine Prinzessin auf einem Bild zu Gesicht bekommen hatte, die Prinzessin anschließend unbedingt leibhaftig sehen wollen. Ja, das war es! Leibhaftig hieß wirklich, in Fleisch und Blut, lebendig. Aber wie konnte so ein Wort auch mit der Vergangenheit zu tun haben? Leibhaftiges Studium vergangener Zeiten…Was vorbei war, war doch vorbei. Das konnte man ganz sicher nicht noch mal leibhaftig erleben.
Oder etwa doch?
Der Gedanke durchzuckte Rufus wie ein elektrischer Schlag. Gleichzeitig hörte er sich sagen: „Leibhaftiges Studium vergangener Zeiten, das klingt so, als ob man richtig dabei ist.“
Direktor Saurini lächelte. „So klingt es. Und es klingt natürlich unwahrscheinlich. Aber stell es dir einfach mal vor. Leibhaftig bei den historischen Quellen sein. Du weißt, was historische Quellen sind? Dinge aus dem Damals, die uns etwas über ihre Zeit verraten. Hier habe ich zum Beispiel eine.“
Er beugte sich vor und schob Rufus über den Schreibtisch ein dickes, in Leder gebundenes Buch zu. Auf dem Buchdeckel stand in goldenen, aber zerkratzten Lettern „Academia“. „Hier drin ist die Geschichte der Akademie aufgezeichnet, von ihren Anfängen bis heute. Nimm es nur!“
Er sah Rufus auffordernd an.