Band 1: Die Knochen der Götter
Band 2: Die Stunde des Raben
Band 3: Das Schiff aus Stein
Band 4: Das Erbe des Rings
Impressum
Verlag Akademie-der-Abenteuer
Boris Pfeiffer, Pfalzburger Straße 10, 10719 Berlin
E-Mail: info@verlag-akademie-der-abenteuer.de
Alle Rechte vorbehalten.
Nachdruck, auch auszugsweise, nicht gestattet.
© Verlag Akademie-der-Abenteuer, Berlin 2021
1. Auflage
Umschlagillustration, Illustration und Umschlaggestaltung: Kris Kersting
Satz und Herstellung: Verlag Akademie der Abenteuer
Druck und Binden: BoD GmbH, Norderstedt
www.verlag-akademie-der-abenteuer.de
ISBN (print): 978-3-98530-006-8
ISBN (ebook): 978-3-98530-007-5
Printed in Germany
Was stach ihn da? Unwillig drehte Rufus den Kopf zur Seite und zuckte erschrocken zurück, als sich wieder etwas Spitzes in seine Schläfe bohrte. Was war da los? Er hatte doch eben noch auf einer Lichtung am Feuer gesessen, Flammen waren in der Dunkelheit gen Himmel geschlagen, und ihr Schein hatte auf den Stämmen am Rand der Lichtung geflackert.
Außerdem war da noch ein kleiner Schatten gewesen, der sich geschmeidig vor dem Feuer hin und her bewegte, und in dessen behaartem Gesicht zwei silberne Knopfaugen glänzten …
Rufus hielt den Kopf ganz still und konzentrierte sich. Sofort hörte das Stechen auf. Auch das Feuer knisterte wieder und er konnte Rauchgeruch wahrnehmen. Dann schlugen die Flammen von einer Sekunde zur anderen hoch empor.
Er war zurück. Er saß irgendwo in einem Wald, am Rand einer Lichtung. Aber wo war er?
Ein Mann trat aus der Dunkelheit vor die Flammen. Er hatte einen wilden Bart und sein Haar glänzte im Feuerschein. Er sagte etwas, das Rufus nicht verstand. Aber er sprach anscheinend zu jemandem.
Vorsichtig richtete Rufus sich auf. In der Mitte der Lichtung erhob sich ein kleiner Hügel, auf dem ein Baum mit hängenden Ästen wuchs. Unter der kahlen Krone saß eine Frau. Zu ihr musste der Mann gesprochen haben, denn sie blickte kurz zu ihm auf. Doch sofort wanderte ihr Blick zurück zu zwei Mädchen, die sie in Decken gehüllt fest in ihren Armen hielt. Die Mädchen hatten die Köpfe gesenkt und blickten starr zu Boden.
»Der Stamm braucht dich!«, sagte der Mann. Diesmal konnte Rufus ihn verstehen. Es war eine seltsame Sprache, voller fremder Laute. Die Frau antwortete etwas und das verstand Rufus nicht. Aber die Worte klangen wie rigani, ei thad und saliko.
Sie schwieg einen Augenblick, als lausche sie ihren Worten nach. Als sie weitersprach, konnte Rufus auch sie verstehen: »Jetzt brauchen mich meine Töchter.«
»Der Stamm hat keinen Anführer ohne dich«, sagte der Mann eindringlich. »Du musst zu ihm zurückkehren, Königin. Du hast die Kinder in Sicherheit gebracht! Sie sind gerettet!«
Die Frau zog die Kinder enger an sich.
»Geh, Mutter«, sagte in diesem Moment eine klare Stimme. Es war das ältere der beiden Mädchen, das sprach: »Wir bleiben im Schutz des Baumes.«
»Nein, meine Töchter«, flüsterte die Frau. »Ich werde euch nicht alleine lassen.«
»Du musst«, sagte nun auch das andere Mädchen, das deutlich kleiner war als seine Schwester und dessen Stimme zerbrechlich klang. »Du bist die Königin.«
Die Frau ließ die Arme sinken. Dann stand sie abrupt auf. Sie war groß und athletisch und trug ihre langen, rotblonden Haare in viele Zöpfe geflochten, die kunstvoll im Nacken zusammenliefen und dort von einem schwarzen Band zusammengehalten wurden. Schnell trat sie unter die hängenden Äste des Baumes, nahm einige Zweige und verknotete sie leicht miteinander.
»Behüte meine Töchter, heiliger Baum«, sagte sie, die Zweige fest in der Hand. »Ich bitte dich, dass sie in deiner Obhut den Überfall auf unseren Stamm vergessen können. Ich will, dass sie frei aufwachsen und frei lieben werden. Dass ihre Liebe erwidert wird. Und für mich erbitte ich Kraft. Gib mir die Kraft, dass Recht wieder zu Recht werden kann.« Ihr Gesicht wurde hart. »Und gib mir Kraft genug, Vergeltung zu üben.«
Die Frau ließ die Zweige los und für einen Moment schwangen sie in der Luft. Dann hingen sie wieder still in der Dunkelheit. Kein Windhauch bewegte die Nacht.
Rufus war kalt. Erst jetzt bemerkte er, dass rund um den Baum einige kleinere Schneefelder den Boden bedeckten.
Die Frau wandte sich wieder den Mädchen zu: »Ich kehre jetzt zum Stamm zurück und werde mich beraten. Ihr bleibt solange hier. Sobald meine Entscheidung gefallen ist, schicke ich euch Tyrai als Begleiter. Wenn wir in den Kampf ziehen und der Baum meine Wünsche erhört, kehren wir später zu ihm zurück und bringen ihm unser Geschenk. Jetzt wird er euch behüten.«
Sie sah den Mann an, der gehorsam nickte.
Rufus blickte zu den Mädchen. Die beiden lehnten sich in ihre Decken gehüllt Seite an Seite gegen den Baumstamm. Ein Streifen Mondlicht fiel durch die dichten Zweige. Für einen Augenblick traf das Licht die Gesichter der Mädchen. Rufus schaute genauer hin. Er wollte wissen, wer diese beiden Mädchen waren und wie sie aussahen. Doch ehe er Einzelheiten erkennen konnte, trat die Königin vor sie und befahl:
»Tyrai, mach ihnen Essen, ehe wir aufbrechen.«
Rufus wandte den Kopf. Der Mann ging ans Feuer. Daneben war ein hölzerner Trog in den Waldboden eingegraben. Er war mit Wasser gefüllt. Mithilfe zweier dicker Äste zog der Mann große Steine aus den Flammen und warf sie in den Trog. Das Wasser zischte auf. Rufus sah wieder zu den Mädchen. Aber das Mondlicht war fort, und er konnte nur noch ihre schattenhaften Gestalten unter dem Baum erkennen und die ihrer Mutter, die hoch aufgerichtet vor ihnen stand.
Ein Schmerz bohrte sich in seinen Kopf. Wieder stach ihn etwas in die Schläfe. Und auf einmal wurde alles ganz dunkel.
Rufus stieß einen unwirschen Laut aus. Irgendetwas stimmte hier nicht. Was war das? Wo war er denn nur?
Dann schlug er die Augen auf.
Sein Kopf lag auf einer harten Holzplatte. Und rechts und links von ihm waren keine Bäume, sondern es türmten sich mächtige Bücherstapel auf. Einige der Bände waren aufgeschlagen und die spitze Ecke eines Buchdeckels stak gefährlich nah neben seiner rechten Schläfe in die Luft. Rufus blinzelte. Jetzt verstand er. Er musste geträumt haben. Dann war er im Schlaf anscheinend gegen die Buchecke gestoßen und der Schmerz hatte ihn aufgeweckt.
Was für ein merkwürdiger Traum.
Vorsichtig, um die Bücherstapel nicht anzustoßen, hob Rufus den Kopf und richtete sich langsam auf.
Durch das schmale Fenster seines Zimmers blickte er auf die im Morgenlicht liegende, verwinkelte Dächerlandschaft der Akademie. Der Akademie der Abenteuer, oder, wie sie wirklich hieß, Academia des leibhaftigen Studiums vergangener Zeiten, gegründet 1392 von den Gebrüdern Micheluzzi.
Seit kurzer Zeit war Rufus als Lehrling hier.
Auf einem Stuhl neben ihm lag sein mit Skizzen übersäter Zeichenblock. Rufus musterte die hohen Bücherstapel daneben. Diesmal hatte er Glück gehabt. Erst vor drei Tagen war ihm genau das Gleiche schon einmal passiert. Er war beim Lesen an seinem Schreibtisch eingeschlafen und am nächsten Morgen mit dem Kopf inmitten der aufgetürmten Bücher aufgewacht. Dabei hatte er sich zu heftig bewegt, und einige Bände waren wie bei einem Erdbeben über ihm zusammengestürzt. Das hatte verdammt wehgetan. Aber noch schlimmer war das folgende Donnerwetter der Magistra Bibliothecaria, Meisterin Iggle, gewesen, als er ein Werk über Glasbläserkunst aus dem 13. Jahrhundert mit einer verknickten Seite zurückgebracht hatte.
»Rufus Minkenbold!«, hatte sie mit ihrer durchdringenden Stimme geschimpft. »Nur weil du und deine Mitfrischlinge vor ein paar Wochen erfolgreich eure erste Flut bestanden habt, erlaube ich dir noch lange nicht, dass du meine kostbaren Bücher nachlässig behandelst. Zur Strafe für dieses schändliche Eselsohr ziehe ich dir einen Erkenntnispunkt ab. Und ich versichere dir, beim nächsten Mal wird mich nichts daran hindern, dich zu ausgedehnten Aufräumarbeiten bei mir in der Bibliothek zu begrüßen. In den obersten Regalen muss einiges entstaubt werden.«
Schon der Gedanke daran hatte Rufus schwindelig werden lassen. Die obersten Regale der Bibliothek waren nur über drei aufeinanderfolgende schmale und etwas wackelige Holzleitern zu erreichen, auf denen sich außer Meisterin Iggle höchstens ein ausgebildeter Feuerwehrmann oder ein Hochseilartist wirklich sicher bewegte.
Rufus stand auf, zog sein Hemd aus und trat an das alte Wasserbeckenmit dem Löwenkopf darüber. Er drehte den Hahn auf, wartete, dass das Löwenmaul Wasser zu spucken begann, und schaufelte es sich dann rasch über Kopf und Körper. Was hatte er da nur zusammengeträumt? Er forschte doch die ganze Zeit an seinem neuen Fragment, und das war eine Glasscherbe, die mit all dem nun wirklich nichts zu tun haben konnte. Wie kam er dann auf diesen Wald, auf so eine seltsame Sprache und die merkwürdige Kochstelle? Das war äußerst seltsam.
Nun ja, er hatte schon immer wild geträumt. Und das setzte sich halt in der Akademie fort, nur, dass er hier Sachen träumte, die irgendwie mit historischen Geschichten zusammenhingen.
Erst vor ein paar Tagen hatte Rufus geträumt, dass er zusammen mit einigen anderen Lehrlingen mitten im alten Rom ins Kino ging. Schon das war völlig irre gewesen. Aber dann hatte er im Kino auch noch plötzlich seiner Mutter gegenübergestanden und ihr verraten, dass es sich bei der Akademie gar nicht um ein Eliteinternat handelte. Das durfte sie natürlich nicht wissen. Zum Glück war es nur ein Traum gewesen, und sie hatte in Wirklichkeit nicht die geringste Ahnung, was sich tatsächlich hinter den Mauern der Akademie abspielte …
Rufus seufzte. Klar, so war das bei Träumen immer. Man verarbeitete in ihnen eben das, was einem tagsüber so durch den Kopf schoss. Und diesen Traum hatte er gehabt, nachdem Anselm, einer der älteren Lehrlinge, in Flutkunde erzählt hatte, dass bald der nächste Elternbesuchstag anstünde. Rufus hatte daran gedacht, dass er seine Mutter dann zum ersten Mal wiedersehen würde, seit er hier war. Und er hatte sich gefragt, wie er ihr alles, was er bisher erlebt hatte, nicht erzählen sollte. Denn die Wahrheit durften nur die Mitglieder der Akademie wissen. Nach außen hin galt die strikte Tarnung als Eliteinternat.
Unwillkürlich griff Rufus an den Lederbeutel, den er wie jeder Lehrling am Gürtel trug. Darin bewahrte er sein Fragment auf, dessen Geschichte er erforschte. Außerdem aber hatte er in seinem Beutel eine rote Locke seiner Mutter verborgen, mit der er hoffte, mittels der Kräfte der Akademie irgendwann in die Vergangenheit gelangen zu können. In die Zeit, als seine Mutter noch keine eiskalte Geschäftsfrau gewesen war, sondern einfach nur seine Mutter. Auch wenn er nicht wirklich wusste, was er dann tun sollte. Denn reden konnte man mit den Gestalten der Vergangenheit in den historischen Fluten nicht.
Rufus spürte, dass er Hunger hatte. Heute Morgen stand in Antike Ballsportarten ein römischer Sport namens Ludere raptim auf dem Stundenplan, und der Unterricht bei Meisterin Abel und Meister Hardy würde ganz sicher anstrengend werden. Rufus musste grinsen. Vielleicht hatte er ja deswegen von der merkwürdigen Kochstelle im Wald geträumt, weil ihm der Magen knurrte … Für den Unterricht war er mit No verabredet. Rufus und er hatten beide noch keine Ahnung, wie das Ballspiel funktionierte, aber No hatte ihrem Mitlehrling Ottmar von Mittelbach versprochen, dass sie zusammen eine Mannschaft bilden würden.
Nur, wo blieb No überhaupt? Normalerweise stand er immer überaus rechtzeitig auf, wenn Antike Sportarten auf dem Plan standen, und holte Rufus ab.
Schnell stieg Rufus in den speckigen Lederschurz, den er in seiner ersten Sportstunde getragen hatte und seitdem immer in diesem Unterricht anzog.
Im nächsten Moment rannte er schon aus dem Raum.
Nos Zimmer lag seinem schräg gegenüber. Doch als Rufus den Kopf hineinsteckte, sah er auf den ersten Blick, dass es leer war. Leer im Sinne von, dass No nicht da war. Ansonsten war der Raum vollgestopft mit Werkzeugen, Metall- und Holzteilen und Bergen von angefangenen Konstruktionszeichnungen. No liebte die praktische Arbeit. Als er sich Rufus und Filine, die mit den beiden Jungen zusammen ebenfalls neu an die Akademie gekommen war, vorgestellt hatte, hatte er sich sogar als Erfinder bezeichnet. Und irgendwie stimmte das auch. Was No tat, tat er am liebsten mit den Händen. Und dabei kam er auf die verrückteste Art immer wieder zu den Lösungen, die er suchte. Bücher dagegen fasste er nicht so gerne an… Rufus drehte sich um und zog weiter, in die Mensa. Während er über die Wendelrampe, den gewundenen schneckenhausförmigen Gang, der die Geschosse der Akademie statt eines Treppenhauses miteinander verband, nach unten ging, dachte er an sein Fragment, an dem er die Nacht über geforscht hatte.
Noch war er dem Geheimnis der dunklen Glasscherbe kein Stück weit auf die Spur gekommen, ganz davon zu schweigen, dass sich Anzeichen einer Flut gezeigt hätten. Auch wenn Rufus sich der Arbeit mit ganzer Kraft widmete.
Die Fragmente waren einer der wichtigsten Teile des Geheimnisses der Akademie. Jeder der Lehrlinge und Gesellen hatte ständig ein solches in einem Lederbeutel bei sich. Keiner von ihnen wusste, von was für einem Ding das Fragment stammte. Natürlich war klar, ob es ein Metallsplitter, eine Glasscherbe, ein Stoff- oder Lederfetzen, ein Holzspan oder das Bruchstück irgendeines anderen Materials war. Aber von was für einem Menschenwerk es übrig geblieben war, konnte niemand sagen. Die Aufgabe jedes Schülers war es, durch eigene Forschung herauszufinden, zu welchem Artefakt das Fragment ursprünglich gehörte. Und wenn es einem gelang, auf die richtige Spur zu kommen, konnte es passieren, dass das Akademiegebäude selbst den nächsten Schritt zur Lösung des Rätsels beisteuerte. Denn dann konnte eine historische Flut eintreten.
Rufus überlief eine Gänsehaut, wenn er nur daran dachte. Diese historischen Fluten waren das unglaubliche Geheimnis der Akademie. In ihnen zeigte sich die Vergangenheit rund um die Geschichte des Artefakts, von dem das Fragment stammte. In einer solchen Flut konnte man sich frei bewegen, in welcher Zeit auch immer sie sich abspielte. Es war das leibhaftige Studium vergangener Zeiten.
Und Rufus hatte, zusammen mit Filine, schon bald nach seiner Ankunft seine erste Flut ausgelöst. Sie beide sowie No und das Lehrlingsmädchen Coralia waren als Flutgruppe im alten Ägypten gewesen.
In den Stunden der Flut hatte Rufus so viel erlebt und gelernt wie noch nie zuvor. Er war am Nil von vor dreitausend Jahren entlanggegangen, war der Pharaonin Anchetcheprure, einem nubischen Goldschmiedemeister und dessen Sohn begegnet, dessen Kunst als Bildhauer die Pharaonin betört hatte. Er hatte eine politische Verschwörung erlebt und sprach seitdem sogar etwas Ägyptisch. Doch das war nicht alles.
Das Höchste der Gefühle war es, die Geburtsstunde des Artefakts, an dem man forschte, zu entdecken. Bei einem solchen Erfolg materialisierte sich am Ende der Flut das ehemalige Artefakt in der Akademie neu.
Und das war Filine und ihm gelungen. Rufus’ Silberfragment hatte sich als Teil der Katze der Anchetcheprure herausgestellt, eines einmaligen ägyptischen Kunstwerks. Und Filine hatte außerdem ein blaues Armband der Pharaonin entdeckt.
Auf diese Weise hatten die Mitglieder der Akademie im Laufe der Jahrhunderte viele verschollene Menschenwerke wieder ins Leben gerufen, und es gehörte zu ihren Aufgaben, diese Schätze unauffällig in öffentliche Museen zu bringen, damit die Menschen ihre eigene Geschichte dort besser studieren konnten.
Rufus lief die letzten Meter der Wendelrampe hinunter und ging dann durch eine offenstehende hohe Holztür in die Mensa. Er sah sich nach seinen Freunden um. Doch auf den ersten Blick war von ihnen nichts zu entdecken.
Inmitten des großen Saals brannte in einer hohen Sanddüne ein munteres Feuer, über dem ein langer Eisenrost als offene Kochstelle diente. Kupferne Wasserkessel auf Dreibeinen standen über den Flammen und direkt daneben erhob sich ein gewaltiger gemauerter Ofen.
Quer durch den großen Raum waren verschiedene Lager- und Essstätten aus allen Zeiten und Kontinenten verteilt.
Jetzt, am frühen Morgen, stand der Herrscher über dieses Reich, Meister Spitznagel, alleine auf der großen Sanddüne und buk Brot. Um ihn herum gruppierten sich verschiedene Backformen und gewaltige Teigberge sowie Näpfe und Schüsseln mit Gewürzen. Der Kochmeister war ein kräftiger Mann mit einem dicken Schnurrbart und tiefblauen Augen. Eben nahm er einen langen Eisenspieß, an dem ein Dutzend Brote aufgereiht waren, und prüfte mit einem kritischen Blick die goldene Farbe der Krusten. Dann streifte er die Brote zufrieden auf einen Tisch.
Als Rufus ihn so hantieren sah, fiel ihm der Wassertrog in seinem Traum wieder ein.
»Guten Morgen, Meister Spitznagel!«, rief er dem stattlichen Mann zu.
»Guten Morgen, Rufus!«
Rufus kam näher. »Meister Spitznagel, gab es eigentlich eine Zeit oder einen Ort, wo man heiße Steine in Holztröge legte, um so das Wasser zum Kochen zu bringen?«
Der Meister sah auf. »Diese Methode gibt es sogar noch heute! Jedenfalls bei Leuten, die gerne Urlaub wie Waldläufer machen.« Er stieß ein donnerndes Lachen aus. »Aber im Ernst, um Fleisch in seiner eigenen Flüssigkeit oder in Wasser zu kochen, hat die Menschheit das mindestens so lange so gemacht, wie es noch keine gebrannten Ton- oder Metalltöpfe gab, die man problemlos aufs Feuer setzen konnte. Oder anders gesagt: In so ziemlich jedem Holztopf wird das Wasser mittels heißer Steine zum Sieden gebracht. Wie sieht dein Holztrog denn aus?«
Rufus dachte nach. »Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte er dann. »Außerdem war er eingegraben.«
»Wo hast du ihn denn gesehen?«
»Ich habe ihn nicht wirklich gesehen. Ich habe nur davon geträumt. Und es war irgendwann in der Vergangenheit.«
Der Koch hielt abrupt inne. »Träumst du öfter von vergangenen Ereignissen?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Rufus. »Und es war auch kein richtiger Traum über etwas Historisches. Nur die Kleidung der Menschen schien alt. Aber da war noch alles Mögliche dabei. Irgendein Tier, das dann plötzlich verschwunden war. Und eben das Kochen in diesem Trog. Und ich bin sowieso mittendrin aufgewacht, weil mich ein Buch auf meinem Schreibtisch ins Gesicht gepikt hat. Deswegen kann ich mich nicht besonders gut erinnern.«
Doch Meister Spitznagel spitzte schon wieder die Ohren. »Was für ein Tier denn?«, wollte er wissen.
»Keine Ahnung«, gab Rufus zu. »Das war alles etwas wirr.«
Der Koch lächelte. »Verstehe!« Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu und legte einen frisch gebackenen Brotring mit einem Loch in der Mitte, einen dampfenden Halbmond aus hellem Teig und ein rosettenförmiges Brötchen auf einen Holzteller. Dann goss er eine kräftige Portion Honig dazu, bestreute die Brötchen mit Mohn, Anis und Fenchel und stellte ein schiffförmiges Schälchen mit Salz daneben. Das Ganze reichte er Rufus.
»Heute gibt es römische Brotsorten zum Frühstück. Damals existierte eine sehr viel größere Vielfalt als heute. Diese Ringform hier wurde beispielsweise zu Hochzeiten gereicht. Und kannst du mir sagen, was die Halbmond- und die Rosettenformen der Brötchen auf deinem Teller zu bedeuten haben?«
Rufus grinste. »Die macht der Bäcker, damit das Brötchen gut aussieht. Und das tun diese Brötchen hier alle!«
Meister Spitznagel lachte auf. »Wenn es so simpel wäre, würden wir in einer bescheidenen Welt leben. Nein, mein Lieber, auch Brotformen haben ihre Geschichte. Der Halbmond hier ist ein sogenanntes Gebildebrot. Die Form hat eine tiefere Bedeutung, als man ahnt. Der Mond steht für die griechische Göttin Selene, eine Mondgöttin. Und es gab auch noch Brötchen, die aussahen wie Drachen und Schlangen, Zöpfe und Pyramiden.«
»Und das ist historisch?«, sagte Rufus und betrachtete seine Brötchen etwas skeptisch.
Meister Spitznagel lächelte. »Historisch wahr und verbürgt. Es weiß nur niemand mehr. Guten Appetit!« Der Meister strich die nächste Ladung Brötchen auf einen Tisch und bestückte den Spieß sofort mit neuen, rohen Teigklumpen.
»Danke!« Rufus wandte sich ab, umzu gucken, ob Filine oder No inzwischen aufgetaucht waren. Stattdessen fiel sein Blick auf Coralia, die einige Schritte hinter ihm mit zwei Gesellen in den Saal getreten war und eifrig diskutierte. Sie trug eine Art Bauchtanzkostüm und sah wieder einmal höchst exotisch aus. Gerade hob sie die Hand, um dem rothaarigen Anselm, der Rufus neulich vom Elternbesuchstag erzählt hatte, ins Wort zu fallen. Anselm schüttelte den Kopf, aber der Dritte im Bunde, ein hagerer blonder Junge mit einem schmalen Mund und braunen Augen, den Rufus nicht kannte, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. In diesem Moment streifte Coralias Blick Rufus. Ihre Augen blitzten auf und funkelten schwarz.
Rufus wollte ihr gerade zunicken, als Meister Spitznagel ihm von hinten auf die Schulter tippte.
»Was ich vergessen habe, Rufus! Falls dein Traum doch ein historischer Traum gewesen sein sollte, versuch ruhig, ihm weiter zu folgen.«
Rufus drehte sich um. »Wie soll man denn einem Traum folgen?«, fragte er verwundert.
Meister Spitznagel zuckte die Schultern. »Wir sind immerhin in der Akademie. Und Träume in der Akademie können schon irgendwie anders sein.« Er sah Rufus kurz in die Augen, dann grinste er spöttisch: »Aber das ist nur so eine Idee.«
Rufus nickte und Meister Spitznagel nahm sich den nächsten Teigberg vor.
Der Lehrling sah sich nach einem Tisch um, an dem er essen wollte. Und dann entdeckte er plötzlich No.
Er saß alleine in der hintersten Ecke vor einem großen Stein, um den mehrere Baumstümpfe herumstanden, und starrte auf seine Brötchen. Mit einem Finger malte er Kreise in den Honig.
Quer durch den Saal ging Rufus zu ihm.
»Hey, No! Warum hast du mich denn nicht geweckt? Ich dachte schon, ich hätte verschlafen!«
»Was?« No sah auf. »Oh, hallo Rufus! Ich konnte schon seit Stunden nicht mehr schlafen. Da bin ich schon mal was essen gegangen.«
»Du konntest nicht schlafen? Warum denn nicht? Sag bloß nicht, du hast die ganze Nacht gelesen.«
»Sehr witzig«, stöhnte No.
Rufus sah auf Nos Finger, mit dem der blonde Junge immer weitere Kreise im Honig zog.
»Hast du schon darüber nachgedacht, was du deinen Eltern erzählst, wenn sie am Besuchstag kommen?«
No schüttelte den Kopf. »Wenn, kommt sowieso meine Oma. Du weißt doch, was meine Eltern von diesem ›Eliteinternat‹ halten.« Er malte wieder einen Honigkreis.
Rufus verzog den Mund. »Was machst du denn da?«
»Nachdenken. Sag mal, weißt du, wie viele Holzarten es auf der Erde gibt?«
»Keine Ahnung.« Rufus biss in sein erstes Brötchen. Es war wunderbar frisch und knusprig. Und historisch…
No seufzte. »Es gibt schrecklich viele Holzarten. Und deswegen ist es völlig unmöglich, rauszukriegen, woraus mein Fragment ist. Es sind nämlich über 28 000. Und heute Nacht habe ich versucht, meinem Fragment alle Arten laut aufzuzählen, damit es sich mir offenbart.«
Rufus hörte auf zu kauen. »Du hast was?«
No nickte. »Ja, genau. Aber ich bin nur bis D gekommen, weil ich eingeschlafen bin. Und dann bin ich ganz früh wieder aufgewacht und wollte mit E weitermachen. Aber, ehrlich gesagt, ich kann nicht mehr …«
Rufus musste ein Grinsen unterdrücken. »Wie wolltest du das denn überhaupt jemals schaffen?«
»Wieso? Ich habe mein Fragment in die Hand genommen und gesagt: ›Abaro, Abura, Afrikanischer Padouk, Afrormosia, Agba, Ahorn, Aiele, Akossika, Amaranth, Amarillo, Amberbaum, Amboina Maser, Amerikanische Kirsche‹ …«
»Hör auf!« Rufus ließ sein Brötchen fallen und hielt sich die Ohren zu. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Doch natürlich«, sagte No trotzig. »Irgendwann muss ja das richtige Holz dabei sein. Und wenn ich seinen Namen laut sage, dann passiert auch bestimmt was.«
»Aber das waren erst 13 Arten, und bis du alle 28 000 durch hast, kann es noch eine ganze Weile dauern.«
No seufzte wieder. »Ich weiß.«
»Und außerdem sind wir doch gleich bei Meister Hardy und Meisterin Abel in Antike Ballsportarten zum Ludere raptim verabredet.«
»Das weiß ich auch«, sagte No düster.
»He, No!« Rufus grinste seinen Freund an und hob das Brötchen wieder zum Mund. »Lass mal den Kopf nicht so hängen. Wir finden schon einen anderen Weg, um rauszufinden, was für eine Holzart das ist.«
»Nein!«, brummte No mürrisch. »Nicht wir! Ich muss das alleine schaffen! Sonst bekomme ich nie eine Flut zu Gesicht.«
»Aber wir waren doch schon zusammen in einer Flut.«
»Aber nicht in meiner. Nicht von meinem Fragment!«
Schlagartig war Rufus alles klar. No war bei ihrer ersten Flut dabeigewesen, aber ausgegangen war sie von Rufus’ und Filines Fragmenten. Und jetzt wollte No seine eigene Flut auslösen, eine, die mit seinem Fragment zu tun hatte. Aber das bedeutete ja nicht, dass er ganz alleine auf die richtige Spur kommen musste.
»Wissen«, sagte Rufus etwas altklug, »ist das einzige Gut, das sich vermehrt, wenn man es teilt.«
»Oh, Mann!« No sah ihn genervt an. »Was soll denn der blöde Spruch?«
»Entschuldige mal, das ist überhaupt kein blöder Spruch, sondern die reine Wahrheit. Aber wenn dich das nicht interessiert und du es unbedingt auf deine Art versuchen willst, dann kann ich dir zumindest helfen, alle Holznamen einmal laut zu sagen. Dann hat jeder nur noch 14 000 vor sich…«
»Sehr komisch!« No grinste müde.
Aber Rufus ließ sich nicht beirren. »Und wenn Filine auch noch mitmacht, dann bleiben für jeden nur noch 9 300 und ein paar Zerquetschte. Wo ist sie eigentlich? Sie wollte doch auch mit zum Ludere raptim.«
No hob die Schultern. »Keine Ahnung, seit sie ihre Pharaoninnenurgroßmutter kennengelernt hat, hält sie sich doch sowieso für was Besseres.«
Rufus verdrehte die Augen. »Mann, No, du bist heute Morgen echt ungenießbar.«
»Na und?« No leckte sich den Honig vom Finger und stopfte dann ein Brötchen hinterher. Schweigend kaute er darauf herum.
Rufus setzte sein Frühstück ebenfalls ohne ein weiteres Wort fort. In den letzten Tagen hatte er Filine auch nur selten zu Gesicht bekommen. Nach ihrer gemeinsamen Flut hatte sie begonnen, sämtliche Hieroglyphen, die sie im Palast der Anchetcheprure an den Wänden gesehen hatten, aus dem Gedächtnis in ein großes Buch zu übertragen. Rufus konnte das sehr gut verstehen. Er zog sich auch immer wieder zurück, um zu zeichnen oder zu lesen. Und außerdem war Filine schließlich wirklich eine Urenkelin der Pharaonin. Es wusste niemand außer No und ihm, und sie hatten Filine schwören müssen, dass es ihr Geheimnis bleiben würde, aber Filine stammte in direkter Linie von den Pharaonen ab, und Anchetcheprure war ihre 94. Urgroßmutter gewesen.
Rufus selbst hätte auch alles wissen wollen, was das Leben seiner 94. Urgroßmutter betraf, wenn er die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Aber dann war Filine bei ihrem Studium auf einen Bericht über altägyptische Himmelsvermessung und Sternendeutung gestoßen. Und seitdem beschäftigte sie sich auch noch mit Sternenkonstellationen.
»Vielleicht hat sie wieder in den Sternen gelesen und verschlafen?«, schlug Rufus lächelnd vor. Er tunkte sein drittes Brötchen in den Honig, bestreute es mit Salz und biss kräftig hinein.
No stöhnte. »Ich finde, sie benimmt sich allmählich etwas zu pharaoninnenhaft. Das ist ja schön und gut, dass sie von denen abstammt. Aber in den Sternen lesen, das ist doch wohl totaler Schwachsinn.«
»Zumindest haben früher Astrologie und Astronomie als Forschungsgebiet zusammengehört«, gab Rufus zurück.
»Ja, das hat sie mir auch erklärt. Wir werden ja sehen…« No stand abrupt auf. »Los, lass uns gehen. Vielleicht wird wenigstens das Ludere raptim cool.«
Rufus nahm einen letzten Bissen und ließ sich den feinen Geschmack auf der Zunge zergehen. Dann erhob er sich ebenfalls. »Na schön. Aber jetzt lass dich mal nicht unterkriegen. Du findest das richtige Holz schon noch. Und im Moment gibt es doch überhaupt keine Flut in der ganzen Akademie. Vielleicht ist es gerade besonders schwer, eine auszulösen?!«
»Vielleicht«, nickte No. Aber in seinen Augen konnte Rufus lesen, dass er überhaupt nicht so dachte.
Als die beiden in der Arena ankamen, erwarteten sie dort bereits Lucy Dinknesh, Ottmar von Mittelbach und Filine.
Ihre Freundin hatte beileibe nicht verschlafen, sondern wirkte hellwach.
»Da seid ihr ja endlich!«, begrüßte sie die beiden Nachzügler. Das Lehrlingsmädchen mit den leuchtend grünen Augen und dem mausfarbenen Haar sah ihnen erwartungsvoll entgegen. »Wir losen gerade die Mannschaften für das Ludere raptim aus. Ihr könnt gleich mitmachen.«
»Hallo, Fili!«, begrüßte sie No. »Ich wollte eigentlich mit Rufus und Ottmar eine Mannschaft bilden. Wenn Meisterin Abel demnächst das Turnier veranstaltet, wollen wir auch zusammen spielen.«
Filine hob den Kopf und warf No einen hoheitsvollen Blick zu. »Typisch! Ihr Jungen wollt zusammen spielen, und Lucy und ich sollen dann wohl mit Coralia die Mädchenmannschaft geben?! Aber nicht mit mir. Erstens wäre das nicht gut für euch, denn ihr würdet sowieso gegen uns verlieren. Und zweitens …«
»Ha, ha, sehr komisch!«, unterbrach No sie genervt. »Und warum würden wir bitte verlieren?«
»Weil Coralia die Beste ist«, sagte Lucy, »weil ich echt Ahnung von Taktik habe und weil Filine eine sehr gute Mannschaftsspielerin ist!«
»Na klar«, brummte No. »Und ich bin der Kaiser von China. Mann, ich krieg gleich die Krätze bei so viel Eigenlob.«
Doch weder Lucy noch Filine achteten auf seine Worte.
»Außerdem«, fuhr Filine stattdessen ungerührt fort, »haben wir hier alle gleiches Wahlrecht. Und deswegen losen wir aus, wer mit wem zusammenspielt!«
Sie zog einen blauen Steinwürfel aus der Tasche. »Das ist ein ägyptischer Würfel«, erklärte sie. »Er hat sechs Zahlen als Punkte auf den Seiten und dann noch diese griechischen Buchstaben, aber die brauchen uns nicht zu interessieren.«
Der Würfel hatte tatsächlich auf jeder Seite einen Buchstaben und Zahlenpunkte daneben eingeritzt.
»Warum sind die denn da drauf?«, fragte Rufus.
»Ich weiß es selbst noch nicht genau«, gab Filine zu. »Ich habe ihn erst gestern bei Meister Corvin in antike Spiele bekommen. Wahrscheinlich wurde er zum Wahrsagen benutzt. Aber wir können damit auch einfach auswürfeln, wer mit wem spielt. Die drei höchsten Würfe spielen zusammen und bei Unentschieden wird noch mal geworfen.«
No schnaubte verärgert. »Das ist ja ganz toll, bestimmst du das jetzt?«
»Ist doch in Ordnung«, warf Ottmar ein. Der kräftige Lehrling hob die Hände. »Wenn wir nicht in eine Mannschaft kommen, können wir immer noch nächstes Mal zusammen üben. Aber was ist mit Coralia? Sie ist leider noch nicht da.«
»Sie kommt zu den beiden mit den niedrigsten Zahlen«, entschied Filine. Dann holte sie einen hohen, schmalen Holzkasten aus einem Beutel. Der Kasten war oben offen und hatte innen eine Reihe von Stufen.
»Das ist ein ägyptischer Würfelturm«, erklärte sie. »Die Römer kannten ihn auch als Turricula. Den hat man früher benutzt, um Mogeleien auszuschließen.«
Sie warf den Würfel oben hinein und er rollte klappernd die Stufen hinab. Dann zog Filine eine geschnitzte Holzscheibe hoch, die die bewegliche Vorderseite des Turms bildete. Dahinter lag der Würfel auf dem Boden des Kastens. Er zeigte eine Fünf.
Lucy nahm ihn heraus, verschloss den Würfelturm wieder und warf. Sie hatte eine Vier.
»Dann brauchen wir drei ja jetzt alle nur noch eine Sechs zu würfeln, um zusammenzuspielen«, knurrte No. »Sehr demokratisch!«
»Wie bereits gesagt«, erklärte Filine schnippisch, »ist es ein Glücksspiel. Und das Glück kann man nicht austricksen. Genau deswegen ist es auch nicht demokratisch, sondern willkürlich. Der Ausgang des Spiels steht allein in den Sternen.«
»Dann zeige ich es deinen Sternen jetzt mal!«, sagte No wütend, nahm den Würfel, schloss die Schiebewand und warf ihn in den Turm. Dann zog er die Klappe wieder auf. Er hatte eine Sechs. Der blonde Lehrling grinste zufrieden. »Okay! Der Hammer hat zugeschlagen. Los, Rufus, du bist dran. Leg gleich noch eine nach!«
Rufus wiederholte die Prozedur. Doch als er die Klappe aufzog, zeigte der Würfel nur eine Zwei.
»Im Moment spielen No, Filine und ich zusammen«, verkündete Lucy. »Ottmar, du bist dran.«
Ottmar nahm den blauen Würfel und versuchte sein Glück. Er warf eine Zwei wie Rufus.
Filine lächelte. »Damit stehen die Mannschaften fest. Lucy, No und ich gegen Rufus, Ottmar und Coralia. Jungen und Mädchen sind gut verteilt.«
»Nur dass ich mit zwei Mädchen spielen muss«, stöhnte No.
In diesem Moment ertönten eilige Schritte hinter ihm. Es war Coralia. Das dunkelhaarige Lehrlingsmädchen trug immer noch ihr orientalisches Tanzkostüm, das aus einem münzbesetzten Oberteil und einem langen, mit Goldfäden durchwirktem Rock bestand. Darüber hatte sie einen Schleier geworfen, der ebenfalls über und über mit kleinen Goldmünzen verziert war, die bei jeder Bewegung klimperten.
Lucy sah sie aus ihrem schiefen Gesicht bewundernd an.
»Nicht schlecht, mein Raqs-Sharqi-Kostüm, nicht wahr?«, sonnte sich Coralia in der Aufmerksamkeit. »Ich habe es gerade erst fertig genäht. Jede Münze ist von Hand durchbohrt und original von 1920.«
Sie streckte die Arme aus und machte ein paar elegante Tanzschritte. Dann sah sie den Würfelturm.
»Was veranstaltet ihr denn hier?«
»Wir losen die Mannschaften für das Ludere raptim aus«, erklärte Lucy. »Du kannst noch mitmachen. Wenn du nicht würfeln willst, kommst du zu den niedrigen Zahlen, die hatten Ottmar und Rufus.«
»Oh!«, lächelte Coralia Rufus an. »Danke, aber ich werde natürlich noch mitwürfeln. So eine hübsche Turricula sieht man ja nicht oft. Ist sie ägyptisch?« Sie warf Filine einen abschätzigen Blick zu. Dann ergriff sie den blauen Würfel und ließ ihn lässig aus dem Handgelenk in den Turm fallen. Er sprang die Stufen herab und blieb liegen.
»Na, da bin ich ja mal gespannt. Machst du bitte auf!«, forderte sie Lucy auf.
Gehorsam zog Lucy die bewegliche Vorderseite in die Höhe. »Du hast eine Sechs«, verkündete sie.
Coralia verzog spöttisch den Mund. »Und was heißt das für eure kleine Auslosung?«
»Dass ich mit Ottmar und Rufus spiele und du mit Filine und No«, sagte Lucy.
Coralia fing an zu lachen. »Rufus, wie schade für dich, jetzt werde ich nicht mit dir, sondern gegen dich spielen. Du wirst es schwer haben, mein lieber Frischling!«
Immer noch lachend ging sie zu den Umkleideräumen.
Rufus sah ihr nach. Er konnte sich wirklich Leichteres vorstellen, als gegen Coralia zu spielen. Sie war in allem sehr gut, auch wenn sie nicht immer fair spielte, wie er in seiner ersten Flut erfahren hatte.
Dann fiel sein Blick auf Filine. Seine Freundin starrte Coralia finster nach. Die beiden mochten sich nicht besonders. Schon gar nicht, seit Coralia versucht hatte, die drei Frischlinge, wie die neuen Lehrlinge an der Akademie genannt wurden, in ihrer gemeinsamen Flut zu betrügen.
Dröhnende Schritte unterbrachen Rufus’ Gedanken.
»Aha, hier werden Würfelspiele mit einer Turricula gespielt. Wo habt ihr denn den Würfelturm her? Das sind äußerst seltene Artefakte. Offiziell gibt es auf der ganzen Erde nur zwei erhaltene Exemplare.«
Meister Hardy, der wie immer nur einen Lendenschurz trug, was seiner sowieso schon imposanten Gestalt von fast zwei Metern ein noch wilderes Aussehen verlieh, betrat die Arena.
»Filine hat ihn von Meister Corvin«, erklärte Ottmar.
»Gut. Ich hoffe aber, ihr veranstaltet keine Glücksspiele mit finanziellem Einsatz!«
»Nein, Meister Hardy«, versicherte Lucy. „Wir haben nur ausgewürfelt, wer mit wem in einer Mannschaft spielt.“
Meister Hardy nickte zufrieden. »Da wir heute ein römisches Spiel spielen und ihr die Mannschaften mit einem Glücksspiel bestimmt habt, eine Frage: An welchen sieben Tagen im Jahr waren im alten Rom Wettspiele erlaubt? Normalerweise waren sie nämlich verboten.«
»Während der Saturnalien natürlich!«, rief es aus Richtung der Umkleideräume. Coralia hatte sich umgezogen und kam jetzt in einem hautengen, tiefschwarzen Sportbody zurück. »Also in der Woche, die wir heute als Karneval kennen.«
»Richtig«, nickte der Meister. »Einen Erkenntnispunkt für dich.« Er warf einen wabbelig aussehenden Ball in den Sand.
»Ich war aber noch nicht fertig!«, protestierte Coralia. »Das Wetten war im alten Rom zwar allgemein verboten, nicht aber im Zirkus und bei den Wagenrennen. Das besagten unter anderem die Lex Cornelia, die Lex Publica und die Lex Titia. Und die Strafen bei Zuwiderhandlung waren um einiges höher als der Wetteinsatz oder der Gewinn. Außerdem konnte man per Gesetz auch keine Wettschulden eintreiben. Wer also nicht bezahlen wollte, der musste nicht.« Sie lächelte keck. »Es sei denn natürlich, sein Wettgegner war stärker oder mächtiger als er selbst. Dann beugte man sich wohl besser der Gewalt. Mal ehrlich, Meister Hardy, das ist doch mindestens fünf Punkte wert!«
Der Meister sah Coralia nachdenklich an. »Übertreiben wir es nicht. Aber na gut, drei Punkte sollst du haben.«
»Meister Hardy!«, rief es in diesem Moment vom Eingang. »Ihr seid so freigiebig mit den Erkenntnispunkten wie die Wüste mit dem Sand!«
Meisterin Abel, die einen roten Trainingsanzug anhatte und wie immer leichtfüßig über den Sandboden der Arena lief, hatte die Sportstätte betreten. »Drei Punkte für theoretisches Grundwissen, das höchstens zwei wert ist. Noch dazu, wenn man bedenkt, wie es in Wirklichkeit im alten Rom zuging. Wer kann mir dazu etwas sagen? Wie sah das Wettleben der Römer in Wahrheit aus?«
Filine meldete sich. »Die Römer liebten kaum etwas anderes so sehr wie das Wetten. Deswegen waren Würfelspiele weit verbreitet, und es gab viele Wettbüros und Spielhöllen. Und die Cäsaren, allen voran Augustus, hielten sich überhaupt nicht an die Saturnalien.«
»So ist es«, sagte Meisterin Abel. »Gesetz und Wirklichkeit klafften weit auseinander. Sie verhalten sich sowieso oft sehr widersprüchlich. Denkt daran, wenn ihr in eine Flut geratet und meint, schon alles über die jeweilige Zeit zu wissen. Haltet euch stets nur daran, was ihr seht, und nicht daran, wie es laut Gesetz oder einiger unvollständiger Schulbücher sein sollte. Drei Punkte für dich, Filine.«
Coralia warf Filine einen wütenden Blick zu.
»Und nun zur heutigen Einheit.« Die Meisterin nahm den Ball auf, den Meister Hardy mitgebracht hatte. »Das wird ein Spiel sein, das nahezu ohne Gesetz auskommt. Wir werden euch heute mit dem Ludere raptim bekannt machen oder auch dem Harpastum. Es ist schrecklich einfach und gilt doch als eines der härtesten aller Ballspiele.«
Sie hielt den Ball in die Höhe. »Was ihr hier seht, ist eine luftgefüllte Schweinsblase. No, hilfst du mir bitte.«
No, der etwas abseits stand, kam näher. Meisterin Abel lächelte ihm zu. »Wenn du sie bitte noch einen Moment in der heißen Asche hinten in der Ecke wälzen könntest.«
»Warum denn ich? Und wieso überhaupt?«
»Ich dachte, du magst diese handwerklichen Aufgaben?« Meisterin Abel sah No fragend an. »Die Wärme führt dazu, dass die Schweinsblase schön weich und dehnbar wird. Dann kann man sie besser aufblasen. Schließlich soll das Spielgerät später so prall und fest wie möglich sein! Im Moment ähnelt es ja eher seinem Originalzustand als einem Harpastum. Was heißt Harpastum, No?«
»Keine Ahnung!«, sagte der Lehrling mürrisch.
»Keine Ahnung, kein Punkt«, zwinkerte ihm die Meisterin zu.
Ottmar meldetet sich. »Als Ding heißt Harpastumkleiner Ball, aber es bedeutet auch Übungen mit dem kleinen Ball.«
»Sehr gut. Der Punkt geht an dich, Ottmar. No, wenn die Schweinsblase weich ist, bläst du sie bitte so fest wie möglich auf und bindest sie dann wieder ordentlich zu.«
No zuckte die Achseln, nahm die Blase und ging damit zu einem niedergebrannten Feuer am Rande der Arena. Währenddessen zog die Meisterin einen langen Strich in der Mitte des Platzes. Dann maß sie in jede Richtung 75 Schritte ab und zog dort wiederum einen Strich in den Sand.
»Das Ludere raptim«, erklärte sie, »gehörte bis ins 5. Jahrhundert zu den beliebtesten Ballsportarten der Römer. Das Ziel ist es, den Ball hinter die Linie der gegnerischen Mannschaft zu bringen. Die Mannschaftsstärke kann man frei bestimmen. Aber damit es Spaß macht, müssen es mindestens drei Spieler auf jeder Seite sein. Den Ball darf man sowohl aus der Luft fangen, werfen, schießen oder mit der Hand schlagen. Und«, sie sah Meister Hardy an und lächelte, »körperbetonte Zweikämpfe waren elementarer Bestandteil des Spiels.«
»Ja, schade, dass wir nicht mitspielen, Meisterin Abel«, lachte Meister Hardy. »Aber die Lehrlinge müssen es erst mal unter Anleitung lernen. Ich hätte euch gerne ein bisschen durch die Luft gewirbelt!« Meister Hardy ließ seine Muskeln spielen und wandte sich den Lehrlingen zu. »Alles ist erlaubt. Der Ball wird in der Mitte von mir eingeworfen. Die Mannschaft, die ihn unter Kontrolle bringt, muss versuchen, ihn durch das gegnerische Feld zu schaffen, bis hinter die Linie. Jeder darf jeden angreifen und behindern. Es darf geschubst, gehalten, gegrätscht, gezerrt und geschlagen werden. Dagegen ist Rugby ein Spiel für Weicheier! Ludere raptim diente Soldaten zur Ertüchtigung und jungen Männern zur Belustigung. Es gab sogar Spiele von Sklaven gegen Soldaten um Freiheit oder Tod. Man muss sich bei diesem Spiel aufeinander verlassen können. Und jetzt bildet euch selbst ein Urteil. Zwei Teams habt ihr ja bereits gebildet!«
»Ja«, sagte Coralia. »Ich spiele mit No und Filine gegen Rufus, Lucy und Ottmar.«
Meisterin Abel musterte die Lehrlinge. »Einverstanden. No, bist du fertig mit dem Ball?«
»Ja«, der blonde Junge kam zurück. Die Schweinsblase in seiner Hand war jetzt rund und fest.
»Nos Team, ihr geht nach rechts, Rufus, Ottmar und Lucy nach links«, ordnete Meister Hardy an. »Ich werfe den Ball ein.«
Er streckte die Hand aus und No warf ihm das Harpastum zu.
»Moment noch«, sagte in diesem Moment Coralia. Sie trat vor und warf einen herausfordernden Blick in die Runde. »Ich finde, wenn es in Rom bei dem Spiel um etwas ging, sollte es das auch bei uns. Deshalb sollten wir um einen Einsatz spielen.«
»Um was denn?«, fragte Meisterin Abel überrascht.
Coralias Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Ich schlage vor, die Sieger dürfen von den Verlierern verlangen, dass sie sie in ihre nächste Flut mitnehmen.« Sie warf Rufus einen kurzen Blick zu.
»Eiderwei!«, pfiff Meister Hardy. »Freier Eintritt in eine Flut. Das könnte einen interessanten Wettkampf geben, findet ihr nicht, Meisterin Abel? Darum müssten wir beide auch einmal wetten.«
»Wir verbringen sowieso fast jede Flut zusammen«, erwiderte die Meisterin trocken. »Aber ich würde zustimmen, dieser Einsatz ist es wert, sich richtig anzustrengen. Wenn ihr euch darauf einigen könnt, habe ich nichts dagegen. Ihr spielt dann unter echten Wettkampfbedingungen.«
»Ich bin dagegen«, sagte Filine. »Ich will nur üben.«
»Ich bin absolut dafür«, verkündete Coralia. »Wir sollten darüber abstimmen. Aber wenn ihr Schiss habt zu verlieren…«
»Genau, mach doch kein Drama daraus, Filine«, erhob No die Stimme. »Das ist doch eine coole Wette!«
Ottmar sah Rufus an. »Was denkst du?«
Rufus überlegte. Er hatte erst eine Flut erlebt, aber für ihn war ganz klar gewesen, dass die Flut selbst sich die Menschen auswählte, die an ihr teilhaben sollten. Natürlich, wer sich in der Flut befand, der konnte andere dazubitten. Nichts sprach dagegen. Aber sich von außen selbst in eine Flut einzuladen, sich irgendwie in die Flut zu drängen, wie Coralia es jetzt mit dieser Wette vorschlug, das war noch einmal etwas anderes…
»Ich weiß nicht«, sagte er unsicher.
»Ich bin dafür«, kicherte Lucy. »Ich finde, dann strengen wir uns alle mehr an. Und ich will gewinnen, Ottmar!«
Ottmar senkte den Kopf. »Ich bin aber nicht so gut in solchen Spielen«, murmelte er.
»Also, ich bin dafür«, mischte sich No wieder ein. »Ich will auch gewinnen und ich bin dafür!«
Jetzt waren die, die eine Wette eingehen wollten, schon zu dritt. Ottmar sah immer noch Rufus an.
»Los, Rufus, sei kein Feigling!« Coralia zwinkerte Rufus zu.
»Genau!«, grinste No herausfordernd. »Wenn ich gewinne, nimmst du mich mit. Und wenn ich verliere, kannst du bei mir dabei sein.«
»Aber Coralia …«, wollte Rufus sagen. Doch in diesem Moment verschwand alles Lachen aus Coralias dunklen Augen und sie sah ihn verächtlich an.
Rufus wusste nicht warum, aber plötzlich nickte er.
»Okay, No. Spielen wir darum.«
»Dann bin ich auch dafür«, erklärte Ottmar.
Die Würfel waren gefallen.
Meister Hardy erklärte, dass die Mannschaft siegen würde, die zuerst drei Punkte hatte. Einen Punkt gab es für jeden erfolgreichen Versuch, den Ball hinter die gegnerische Grundlinie zu tragen. Wichtig war nur, dass ein Spieler ihn dorthin brachte, den Ball über die Linie zu werfen oder zu schießen galt nicht. Alles andere war egal.
»Das gewinnen wir drei zu null«, höhnte No. Dann steckte er mit Coralia und Filine die Köpfe zusammen, um ihre Taktik zu besprechen. Filine wirkte zwischen den beiden begeisterten Ballspielern ein bisschen verloren, fand Rufus.
Er ging mit Lucy und Ottmar in ihre eigene Feldhälfte und beriet sich mit ihnen. »No ist der beste Ballspieler, den ich kenne. Und Coralia ist auch ein ziemliches Ass. Hat einer von euch schon mal Ludere raptim gespielt? Oder es gesehen? Ich habe nämlich keine Ahnung.«
»Ich kenne es ein bisschen«, sagte Lucy. »Weil ich mal ein paar Gesellen dabei zugeguckt habe. Aber wir spielen es hier alle zum ersten Mal. Trotzdem kenne ich ein paar Tricks vom Rugby. Das habe ich früher in meiner alten Schulmannschaft gespielt.«
Ottmar sah überrascht auf. »Das ist ja cool.«
Lucy verzog ihr schiefes Gesicht zu einem schlauen Lächeln. »Das ist es wirklich und da gibt es auch echt coole Spielzüge. Zum Beispiel den Loop!«
»Den Loop?«, wiederholte Rufus. »Kann uns der helfen? Und wie geht der?«
Lucy dachte nach. Dann nickte sie. »Hört genau zu«, sagte sie leise und dann erklärte sie den beiden erstaunten Jungen ihre Taktik.
Normalerweise lag Rufus nicht viel am Gewinnen. Aber die Idee, dass Coralia in seine nächste Flut eindringen konnte, war ihm unheimlich. Und so prägte er sich Lucys Worte haarklein ein und fragte bei allem, was er nicht verstand, genau nach.
»Super, Leute«, sagte er schließlich begeistert. »Probieren wir es!«
Ottmar nickte. Der etwas dickliche Junge wirkte nicht ganz so überzeugt. Dennoch murmelte er tapfer: »Okay, Probieren geht über Studieren, nicht wahr?«
Lucy schlug ihm aufmunternd auf die Schulter.
Zusammen mit Ottmar stellte sich Rufus so an der Mittellinie auf, dass sie beide Lucy mit einem Griff an der Hüfte halten und ihr gleichzeitig unter den Füßen Schwung geben konnten, um sie in die Höhe zu werfen.
Meister Hardy und die andere Mannschaft standen schon bereit.
»Sobald ich den Ball in die Luft werfe, hat das Spiel begonnen«, verkündete der Meister.
Rufus sah ihre Gegner an. Auch ihre Gesichter waren gespannt. Meister Hardy holte aus. »Das Spiel beginnt!«, brüllte er aus voller Kehle und schleuderte den Ball senkrecht über seinen Kopf nach oben.
Rufus verfolgte die Flugbahn des Harpastum. Der Ball flog schnurgerade in die Höhe, dann begann er wieder zu fallen.
»Los!«, rief er Ottmar zu. Zusammen packten sie Lucy und schleuderten sie dem Harpastum entgegen. Auf der anderen Seite sprangen Coralia und No nebeneinander ebenfalls danach, aber ohne Unterstützung, wie Lucy sie hatte, kam keiner von ihnen hoch genug. Lucy dagegen flog wie ein Fisch aus dem Wasser, schnappte sich das Harpastum und landete sicher auf beiden Beinen. Dann lief sie drei Schritte nach hinten, während Ottmar nach rechts und Rufus nach links flitzten. Die drei Lehrlinge bildeten jetzt eine Reihe.
Sofort stürzte No auf Lucy zu.
Doch diese gab, gerade bevor er sie packen konnte, den Ball nach rechts zu Ottmar ab. Der kräftige Lehrling fing das Harpastum mit beiden Händen und setzte sich im selben Augenblick nach vorn in Bewegung. Rufus tat dasselbe auf der linken Spielfeldseite. No drehte sich um und rannte Ottmar nach. Gleichzeitig lief Coralia los und hielt auf Rufus zu.
»Rufus!«, brüllte Ottmar. Er holte mit beiden Händen aus und tat so, als würde er Rufus den Ball zuwerfen. Dabei riss er beide Arme zuerst nach vorne und streckte sie dann nicht gerade geschickt, aber doch geschickt genug, um die Gegner zu täuschen, nach hinten aus, wo er den Ball hinter seinem Rücken in den Sand fallen ließ. Das war ein Trick, den Lucy ihm erklärt hatte, der sogenannte Scherenwurf. Und in diesem Augenblick war Lucy auch schon da. Sie packte den Ball und rannte damit nach rechts.
Im selben Moment stürzten sich No und Coralia auf Ottmar und Rufus. Nur Filine hatte sofort bemerkt, wer das Harpastum hatte. »Auf Lucy!«, schrie sie aus Leibeskräften.