Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Warren Buffett: Inside the Ultimate Money Mind
ISBN 978-1-119-71459-0
Copyright der Originalausgabe 2021:
Copyright © 2021 by Robert G. Hagstrom. All rights reserved.
All Rights Reserved. This translation published under license with the original publisher
John Wiley & Sons, Inc.
Copyright der deutschen Ausgabe 2022:
© Börsenmedien AG, Kulmbach
Übersetzung: Egbert Neumüller
Illustration Cover: Kevin West
Gestaltung: Sabrina Slopek
Satz: Manuel Schäfer
Lektorat: Elke Sabat
ISBN 978-3-86470-753-7
eISBN 978-3-86470-754-4
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DAS ULTIMATIVE MINDSET FÜR INVESTOREN
Prolog
KAPITEL 1Der junge Warren Buffett
KAPITEL 2Die Entwicklung einer Anlagephilosophie
KAPITEL 3Die Entwicklung des Value-Investings
KAPITEL 4Unternehmensorientierte Geldanlage
KAPITEL 5Es ist ja nicht so, als würde aktives Management nicht funktionieren
KAPITEL 6Der Geldverstand: Sportsmann, Lehrer, Künstler
Epilog
Danksagungen
Die Berkshire-Hathaway-Bibliothek
Weiterführende Lektüre
Anmerkungen
Omaha im US-Bundesstaat Nebraska, den 6. Mai 2017.
Es ist der erste Samstag im Mai, und für diejenigen, die sich an Warren Buffett orientieren, bedeutet das nur eines: die Jahreshauptversammlung von Berkshire Hathaway. In der Welt der Geldanlage gibt es nichts Vergleichbares.
Fünf Stunden am Stück (abgesehen von einer einstündigen Mittagspause) beantworten Warren Buffett und Charlie Munger, der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende von Berkshire Hathaway, Fragen von anwesenden Aktionären und von Finanzjournalisten im Auftrag ihrer Leser und Zuschauer sowie von Wertpapieranalysten. Die Fragen werden vorher nicht überprüft, und jede wird vollständig, aufrichtig, herzlich und mit dem sanften Witz beantwortet, der das Markenzeichen beider Männer ist. Auf dem Tisch stehen lediglich Wassergläser, Coladosen, Süßigkeiten von See’s Candies, Erdnusskrokant und zwei Mikrofone. Keine Notizen, keine Aufzeichnungen, nur zwei Männer, die mit Vergnügen Fragen beantworten und über ihre Ideen sprechen. Um die 30.000 Menschen lauschen auf jedes ihrer Worte. Und ich bin einer von ihnen.
Am Morgen war ich von meinem Hotel zum Century Link Center in der Innenstadt von Omaha gefahren, wo die Veranstaltung stattfindet. Der Parkplatz war fast voll. Die Arena mit 20.000 Sitzplätzen war schon mit Tausenden Aktionären von Berkshire Hathaway gefüllt, und weitere Tausende strömten in die Festsäle um die Arena. Viele hatten seit vier Uhr morgens Schlange gestanden und auf den Einlass um sieben Uhr gewartet. Viele hasten gleich nach dem Eintreten zu den Stuhlreihen um die elf Mikrofone herum, die über die Arena und die umgebenden Säle verstreut sind. Mit etwas Glück bekommen die Menschen auf diesen Plätzen Gelegenheit, ihre Frage zu stellen.
Es gab eine Zeit, da hätte ich in aller Frühe mit ihnen Schlange gestanden. Aber ich habe es schon seit Jahren aufgegeben, im Morgengrauen aufzustehen, und bin sicherlich zu alt, um durch das große Foyer zu rennen, um einen der begehrten Plätze zu erhaschen. Jetzt folge ich einer entspannteren Routine.
Sobald ich drin bin, nehme ich mir die Zeit, durch die riesige Ausstellungshalle zu schlendern, an deren Ständen sich alle Unternehmen präsentieren, die Berkshire Hathaway gehören. Sie ist wie eine Shopping Mall. Man kann sich Snacks besorgen, zum Beispiel See’s Candies, Eiscreme von Dairy Queen und Coca-Cola. Man kann modulare Häuser, Boote und Wohnmobile besichtigen. Man kann sich die neuen Farben der Marke Benjamin Moore und die neuesten Kirby-Staubsauger anschauen. Man kann sogar bei GEICO eine Versicherung abschließen.
Gegen halb neun steige ich in den ersten Stock hinauf und gehe in den „Grand Ballroom B“, wo ich gewohnheitsmäßig Platz nehme. Die mehreren Tausend Stühle in diesem Saal sind in zwei Abteilungen aufgeteilt, jede mit einem riesigen Fernsehbildschirm ausgestattet, auf dem bald der traditionelle Berkshire-Hathaway-Film zu sehen sein wird, bevor die Beantwortung von Fragen durch Warren und Charlie aus der benachbarten Arena live übertragen wird. Ich lasse mich in der letzten Reihe der rechten Seite nieder, strecke mich bequem aus und lächele.
Bis dahin wirkt alles ganz normal. Nichts deutet darauf hin, dass heute etwas Bemerkenswertes geschehen wird.
Das Format der Fragestunde ist fest etabliert. Auf der einen Seite des Tisches, an dem Warren und Charlie sitzen, sind Plätze für drei Journalisten vorgesehen – Carol Loomis von Fortune, Becky Quick von CNBC und Andrew Ross Sorkin von der New York Times. Sie legen Fragen ihrer Leser und Zuschauer vor. Auf der anderen Seite sitzen die Aktienanalysten: Jonathan Brandt, Analyst bei Ruane, Cunniff & Goldfarb; Jay Gelb von Barclay’s; Gregg Warren, leitender Analyst bei Morningstar. Und um die erwähnten elf Mikrofone herum sitzen Dutzende begieriger Aktionäre unruhig auf ihren Plätzen und gehen im Geiste ihre Fragen durch.
Warren fungiert als Zeremonienmeister. Zuerst ruft er einen Journalisten auf, dann einen Analysten, dann jemanden aus dem Publikum, in numerischer Reihenfolge: Und dann beginnt die nächste Runde wieder mit einem der Journalisten.
Die morgendliche Sitzung beginnt wie gewöhnlich. Es wird eine Frage zu fahrerlosen Lastwagen und dazu gestellt, welche Gefahr sie für BNSF Railway oder GEICO darstellen könnten. Dann eine Frage zu Berkshires Rückversicherungsdeal mit American International Group. Eine Diskussion über Technologie-Aktien, unter anderem IBM, Apple, Google und Amazon. Warren wird nach der Wettbewerbsfähigkeit der Luftfahrtgesellschaften gefragt, nach seinen Gedanken zu Coca-Cola und nach den anhaltenden Kämpfen mit Kraft Heinz.
Dann, gegen Ende der Vormittagssitzung, richtet an Mikrofon 9 ein Aktionär eine Frage an beide, Warren und Charlie: „Sie haben Fehler bei der Kapitalallokation weitgehend vermieden, indem Sie Ideen miteinander ausgetauscht haben. Wird das noch bis weit in die Zukunft von Berkshire so bleiben?“ Oberflächlich bezieht sich diese Frage zwar auf die Kapitalallokation, aber sie zielt eindeutig auf die Nachfolge ab und darauf, wer in Zukunft die Entscheidungen über die Kapitalallokation treffen wird.
Warren antwortet als Erster. „Wenn bei Berkshire ein Nachfolger eingesetzt wird, wird der Verwaltungsrat in allererster Linie die erwiesene Kompetenz der Kapitalallokation bedenken.“ Er weist darauf hin, dass die Vorstandsvorsitzenden vieler Unternehmen aus den unterschiedlichsten Bereichen an die Spitze aufsteigen, zum Beispiel aus dem Vertrieb, aus der Rechtsabteilung oder aus der Fertigung. Aber sobald jemand als CEO die Führung übernimmt, müsse er über die Verwendung des Kapitals entscheiden. „Es wäre für Berkshire nicht gut, wenn jemand eingesetzt würde, der viele Fähigkeiten auf anderen Gebieten besitzt, aber eigentlich nicht in der Lage ist, Kapital zuzuweisen.“
Nach seiner nächsten Aussage saß ich senkrecht auf meinem Stuhl.
„Ich spreche von dem, was ich als ‚Geldverstand‘ bezeichne. Manche Menschen haben einen IQ von 120 oder von 140 oder was auch immer, und der Verstand des einen ist für etwas Bestimmtes geeignet, der eines anderen für etwas anderes. Sie können alle möglichen Dinge, die andere Sterbliche nicht können. Ich kenne allerdings hochintelligente Menschen, die keinen Geldverstand besitzen und sehr unintelligente Entscheidungen treffen können. Sie sind nicht für diese Fähigkeit [die Kapitalallokation] gestrickt. Deshalb wollen wir jemanden haben, der hoffentlich sehr begabt ist, aber auf keinen Fall jemanden, dem es an Geldverstand mangelt.“
Geldverstand. Noch nie hatte ich Warren dieses Wort sagen hören. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich nach all den Jahren, in denen ich mich mit Warren Buffett beschäftigt hatte, nur zur Hälfte richtiglag.
Zum ersten Mal wurde ich im Juli 1984 auf Warren Buffett aufmerksam. Damals machte ich bei einer Brokerfirma im Nordosten eine Ausbildung zum Börsenmakler. Zu meiner Ausbildung gehörte es auch, die Jahresberichte von Berkshire Hathaway zu lesen. Wie so viele war auch ich sofort davon beeindruckt, mit welcher Klarheit Warren Buffett schreibt. Vor allem frappierte es mich, wie intelligent er die Vorstellung darlegte, dass der Besitz einer Aktie wie der Besitz eines Unternehmens sei. In meinem geisteswissenschaftlichen College-Studium hatte ich nichts mit Finanzen oder Buchhaltung zu tun gehabt, und deshalb fiel es mir nicht leicht, Aktien anhand von Zahlenkolonnen in Bilanzen und Gewinn-und-Verlust-Rechnungen zu verstehen. Aber als Warren Buffett erklärte, man solle sich Aktien als Unternehmen vorstellen, die von Managern geleitet werden, die Produkte an Verbraucher verkaufen, ergab auf einmal alles einen Sinn.
Als ich mir meine Sporen als Broker verdient hatte und in die Praxis ging, wusste ich genau, was ich tun würde. Ich wollte das Geld meiner Kunden in Berkshire Hathaway und in die Aktien investieren, die Berkshire in sein Portfolio kaufte. Ich forderte bei der Börsenaufsicht SEC alle früheren Jahresberichte von Berkshire Hathaway und die Jahresberichte der börsennotierten Unternehmen im Besitz von Berkshire Hathaway an. Im Laufe der Jahre sammelte ich alle Zeitungs- und Zeitschriftenartikel über Warren Buffett und Berkshire Hathaway. Ich war wie ein Kind, das Anhänger eines Baseballspielers ist.
Mir ist noch nie jemand begegnet, der mit Warren Buffetts Anlagegrundsätzen nicht einverstanden ist. Diese Prinzipien wurden die Investmentsäulen meines Buches „Warren Buffett: Sein Weg. Seine Methode. Seine Strategie.“. Und wenn ich einen Kunden fragte, ob er sein Geld auf die gleiche Weise anlegen wolle, lautete die Antwort fast immer: „Ja, auf jeden Fall!“ Doch im Laufe der Zeit stieß ich auch auf Anleger, die sich zwar entschieden hatten, wie Warren Buffett zu investieren, aber damit Schwierigkeiten hatten. Für viele war die Kluft zwischen dem Wissen, weshalb man eine Aktie besitzt, und dem emotionalen Rüstzeug, dem Zerren und Schieben des Marktes zu widerstehen, zu groß. Ich begriff, dass es ein großer Unterschied ist, ob man den Weg kennt oder den Weg beschreitet.
Aber an jenem Samstag über 30 Jahre später verstand ich endlich, dass das, was man braucht, um Menschen zur erfolgreichen Geldanlage zu verhelfen, weniger mit den Anlageprinzipien zu tun hat als mit der richtigen geistigen Einstellung. Obwohl sowohl Benjamin Graham als auch Warren Buffett über die Bedeutung des Temperaments geschrieben haben, hatte ich diesen Gedanken beiseitegeschoben und meinen Bleistift dafür gespitzt, auszurechnen, was eine Aktie wert war. Je schwerer es Menschen fiel, an der Börse zu investieren, umso mehr spitzte ich meinen Bleistift. An jenem Samstagmorgen begriff ich schließlich, dass ich den wichtigsten Ratschlag unberücksichtigt gelassen hatte.
Was bedeutet es, Geldverstand zu haben? Dieser Frage und allen ihren Nebenaspekten nachzugehen ist das Ziel des vorliegenden Buches. Wir werden dies erreichen, indem wir am Anfang anfangen – und dort finden wir frühzeitige Einflüsse, die Sie möglicherweise überraschen werden. Ein Beispiel: Ein Jahr bevor Warren Buffett zum ersten Mal „Intelligent investieren“ las, war der Elfjährige von einem Buch fasziniert, das er in der öffentlichen Bücherei gefunden hatte. „One Thousand Ways to Make $1000“ von F.C. Minaker trug zu Buffetts ersten Vorstellungen vom Geldverstand bei. Ein weiteres Beispiel: Die Rolle und der Einfluss von Warren Buffetts Vater darauf, wie sich die Untermauerung seiner Anlagephilosophie gestaltete, werden in Schriften über Buffett nicht sehr oft behandelt. Und noch ein Beispiel: Wir wissen, dass der junge Warren alles studiert hat, was mit Finanzen und Geldanlage zu tun hat, aber er begann auch, sich die Grundsätze des Rationalismus und Pragmatismus anzueignen, zwei für einen echten Geldverstand entscheidende Richtschnüre.
Und als Warren Buffett dann die grundlegenden Bausteine des Geldverstands beisammenhatte, wie setzte er diese Geisteshaltung ein, um sich in den letzten 65 Jahren durch die Investmentlandschaft zu manövrieren? Wir werden die Möglichkeiten erkunden, wie andere Menschen diese Bausteine in ihren eigenen geistigen Rahmen einbauen können, sodass sie letztlich zu einer Persönlichkeit werden, der man Geldverstand zuschreiben kann. Und was das Wichtigste ist: Ich werde zeigen, wie eine solche Person ihr Portfolio in unserer neuen, schnelllebigen Welt mit ihren rasenden Medien am besten verwalten kann. Und schließlich werde ich mit diesem Wissen gerüstet die Behauptung aufstellen, dass Anleger, die sich um den Erwerb von Geldverstand bemühen, viel bessere Chancen haben, erfolgreich zu werden.
Eines möchte ich klarstellen: Dies ist ein ganz neues Buch. Es ist keine Neuauflage von „Warren Buffett: Sein Weg. Seine Methode. Seine Strategie.“. Es ist keine Aktualisierung der zweiten Ausgabe, die zehn Jahre danach „Investment Strategies of the World’s Greatest Investor“ mit der in „The Warren Buffett Portfolio: Mastering the Power of the Focus Investment Strategy“ skizzierten Methode des Portfoliomanagements kombinierte. Auch hat es keine Ähnlichkeit mit der dritten Ausgabe, die zusätzlich ein aus acht Kapiteln bestehendes Arbeitsbuch mit Fragen, Antworten und Erläuterungen enthält, das dafür gedacht ist, zu beurteilen, wie gut man die von Warren Buffett skizzierte Methode verstanden hat. Es ist kein Buch über Methoden, sondern ein Buch über Denkweisen.
„Geldverstand“. Auf seine übliche präzise Weise schenkte uns Warren Buffett einen einprägsamen Namen für eine komplexe Vorstellung. Auf einer Ebene beschreibt dieser leicht zu merkende Ausdruck eine Denkweise über wichtige Finanzdinge, zum Beispiel über die Kapitalallokation. Auf einer anderen Ebene fasst er eine allgemeine geistige Einstellung zur modernen Geschäftswelt zusammen. Er bezieht sich auf eine Person, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, zu lernen, sich anzustrengen und irrelevantes Rauschen in die Schranken zu weisen. Auf einer noch tieferen Ebene können uns die profunden philosophischen und ethischen Konstrukte, die den Kern des Begriffs bilden, viel über eine Person mitteilen, der wir Geldverstand zuschreiben – eine Person, die wahrscheinlich in vielen Aspekten des Lebens erfolgreich sein wird, auch auf dem Gebiet der Geldanlage. Der Geldverstand ist eine machtvolle Vorstellung. Wir sollten mehr darüber herausfinden.
Legenden ranken sich gern um Menschen, die in ihrem Leben etwas Außergewöhnliches geleistet haben. Insbesondere faszinieren uns Bröckchen aus ihren frühen Lebensjahren, und wir fragen uns, ob wir, wenn wir genau hinschauen, Hinweise darauf finden, wie sie zum Erfolg gelangt sind.
Viele populäre Geschichten umschwirren Warren Buffett, der allgemein als bester Investor der Welt bezeichnet wird. Die meisten kennen Sie wahrscheinlich:
Als er sechs Jahre alt war, verkaufte er an einem Tisch auf dem Gehsteig Süßigkeiten, Kaugummi und Limonade. Im Lebensmittelladen seines Großvaters kaufte er für 25 Cent einen Sechserpack Coca-Cola und verkaufte die einzelnen Flaschen für fünf Cent – mit 20 Prozent Gewinn beziehungsweise Rendite. Ein Jahr später wünschte er sich vom Weihnachtsmann ein Buch über Anleihen. Im Jahr danach wollte er mehr und las die Bücher seines Vaters über die Börse. Mit elf Jahren kaufte er seine erste Aktie. Mit 17 Jahren kaufte er zusammen mit einem Freund für 25 Dollar einen gebrauchten Flipperautomaten und stellte ihn in einem Friseursalon auf. Von dem Erlös kauften sie zwei weitere Flipper. Ein Jahr danach verkauften sie ihr Unternehmen für 1.200 Dollar.
Es gibt aber auch eine Geschichte, die Sie vielleicht nicht kennen, und wahrscheinlich ist sie die aufschlussreichste von allen.
Als der elfjährige Warren Buffett die Benson-Zweigstelle der Omaha Public Library durchstöberte, stieß er auf ein besonders aussehendes Buch mit silbern glänzendem Umschlag – „One Thousand Ways to Make $1000: Practical Suggestions, Based on Actual Experience, for Starting a Business of Your Own and Making Money in Your Spare Time“ von F.C. Minaker, im Jahr 1936 veröffentlicht von der Dartnell Corporation (Tausend Möglichkeiten, 1.000 Dollar zu verdienen: Auf wirklicher Erfahrung basierende praktische Vorschläge, wie man sein eigenes Unternehmen gründet und in seiner Freizeit Geld verdient). Wie damals üblich gab Frances Mary Cowan Minaker nur ihre Initialen an, um ihr Geschlecht zu verschleiern.
Stellen Sie sich einen Jungen in Omaha im US-Bundesstaat Nebraska in den 1940er-Jahren vor. Es gab keinen Fernseher, keine Videospiele, keine Personal Computer und keine Smartphones. Es gab zwar Radiosendungen und überaus selten an Samstagnachmittagen einen Film im Kino, aber die Unterhaltung der meisten Menschen und von Warren war die Lektüre – Zeitungen, Zeitschriften und Bücher.
Und nun stellen Sie sich vor, wie der junge Warren von der Bücherei nach Hause läuft, seinen neuen Schatz fest umklammert, ins Haus platzt, sich in einen Sessel fallen lässt, das Buch auf Seite 1 aufschlägt und in eine neue Welt des Geldverdienens eintaucht – eine Welt, die er bislang weder vollständig verstanden noch zu schätzen gewusst hatte.
Minakers Buch ist dick (408 Seiten) und umfassend. Neben Hunderten konkreter Vorschläge für neue Unternehmen bietet es klare, geradlinige Lektionen über Geschäftstüchtigkeit, Werbung, Verkaufsförderung, Kundenbetreuung und vieles mehr. Es strotzt vor Geschichten über Menschen, die eine gute Idee zu einem guten Unternehmen gemacht haben, und das manchmal mit atemberaubendem Erfolg.
Manche Namen kennt man bis heute:
Die mitreißende Geschichte von James C. Penney, der bei seiner ersten Arbeitsstelle magere 2,27 Dollar im Monat verdiente. Er legte sein kleines Kapital mit zwei Partnern zusammen und eröffnete am 14. April 1902 das erste „J.C. Penney“-Geschäft. Im ersten Jahr erzielte es 28.891 Dollar Umsatz und James’ Gewinnbeteiligung lag bei knapp über 1.000 Dollar.
Warren blätterte weiter und las die Geschichte des 23-jährigen John Wanamaker, der seinen Schwager Nathan Brown dazu überredete, ihre mickrigen Ersparnisse zusammenzulegen und in ihrer Heimatstadt Philadelphia ein Geschäft für Herrenbekleidung zu eröffnen. Vor ihnen lag die Aussicht auf einen landesweiten Bürgerkrieg, hinter ihnen lagen die Reste der Bankendepression des Jahres 1857, die zu massiver Arbeitslosigkeit und zum fast vollständigen Ruin von Herstellern und Großhändlern geführt hatte. Unbeirrt öffneten sie am 27. April 1861 die Türen. Acht Jahre später war Wanamaker & Brown der größte Einzelhändler der Vereinigten Staaten für Herrenkonfektion.
Während seine Tagträume wuchsen, las Warren weiter.
Als er zu Seite 153 kam, musste er vermutlich breit grinsen. In Kapitel 6 geht es darum, ein Geschäft am Straßenrand zu eröffnen – etwas, das der Jungunternehmer bereits seit mehr als fünf Jahren machte. Kapitel 10 enthält Dutzende Ideen für Dienstleistungsunternehmen, unter anderem das Aufstellen von Billardtischen mit Münzautomat in Geschäften und Kneipen. Aus heutiger Sicht sehen wir die gerade Linie von dieser Story zu Warrens Flippergeschäft sechs Jahre später.
Im selben Kapitel 10 namens „Selling Your Services“ findet sich eine andere Geschichte, die noch mehr Einfluss auf Warrens Denken hatte. Folgendes geschah:
Im Jahr 1933 kaufte ein Mann namens Harry Larson im örtlichen Drugstore ein, als ihn jemand (man weiß nicht genau, wer) fragte, wie viel er wiege. Harry drehte sich um und erblickte eine Münzwaage. Er warf einen Penny ein, erfuhr sein Gewicht und ging zur Zigarrentheke. In den wenigen Minuten, die er anstehen musste, benutzten sieben weitere Kunden die Pennywaage. Das weckte Harrys Aufmerksamkeit, und er beschloss, mehr darüber herauszufinden. Der Ladenbesitzer erklärte ihm, dass die Waagen gemietet waren und dass seine Gewinnbeteiligung von 25 Prozent monatlich circa 20 Dollar betrug (in heutigem Geld etwa 384 Dollar) – 75 Prozent gingen an das Unternehmen, dem die Waage gehörte.
Harry erzählte Minaker, damit habe alles angefangen. Er nahm 175 Dollar, die er gespart hatte, kaufte drei Waagen und erzielte schon bald einen monatlichen Gewinn von 98 Dollar. „Eine ganz schöne Rendite“, notierte er ironisch. Doch das, was Warren faszinierte, war das, was Harry als Nächstes tat. „Ich kaufte insgesamt 70 Münzwaagen. […] 67 kaufte ich von den Pennys, die die ersten drei abgeworfen hatten. […] Ich verdiente genug, um die Waagen zu bezahlen, und konnte auch ganz gut davon leben.“1
Das – ein Penny nach dem anderen – ist das Wesen des Zinseszinseffekts. Häufig denkt man dabei nur an Verzinsung im engeren Sinne. Wahrscheinlich kennen Sie den berühmten Ausspruch von Albert Einstein: „Der Zinseszins ist das achte Weltwunder. Wer ihn versteht, verdient ihn; wer ihn nicht versteht, bezahlt ihn.“ Aber im Kern geht es um ein breiteres, leistungsfähigeres Konzept: Gewinn verwenden, um weiteren Gewinn zu erzielen. Harry Larson begriff dies instinktiv, und das Gleiche galt für einen jungen Mann namens Warren Buffett.
Viele Jahre später bezog er sich auf die Münzwaagen, als er seine Denkweise beschrieb: „Die Waage war leicht zu verstehen. Ich kaufe eine Waage und kaufe vom Gewinn weitere Waagen. Sehr bald habe ich 20 Waagen, und die Leute wiegen sich 50-mal am Tag. Ich dachte mir: Da ist Geld zu holen. Der Zinseszinseffekt – was könnte es Besseres geben?“2 Genau dieses Denkmodell bildete den Umriss und die Architektur dessen, was später aus Berkshire Hathaway wurde.
Und damit ist der Bogen zurück zu Minakers Buch geschlagen, das Warren Buffett tiefgreifend beeinflusst hat. „One Thousand Ways to Make $1000“ wird seinem Titel zwar nicht buchstäblich gerecht, aber dem Geiste nach durchaus: Ich zähle 476 neue Geschäftsideen. Viele davon wirken in unserer heutigen hochtechnisierten Welt wie der Handel mit Kutscherpeitschen, aber andere sind bemerkenswert vorausschauend. Jedoch liegt der wahre Wert des Buches für uns Heutige in den grundlegenden Prinzipien, die es vermittelt. Minaker legt in ihrem nüchternen, belehrenden Stil wichtige grundlegende Konzepte über Geld dar. Insbesondere möchte sie, dass der Leser die geistige Einstellung – das grundsätzliche Temperament – versteht, die er braucht, um seine Dollarziele zu erreichen. Zusammengenommen bilden diese Passagen über das Wesen des Geldverdienens die Grundbausteine, die zur Bildung von Warren Buffetts Geldverstand beitrugen.
„Der erste Schritt zur Gründung eines eigenen Unternehmens“, schreibt Minaker, „besteht darin, sich damit auszukennen. […] Lesen Sie deshalb alles, was über das Geschäft geschrieben wurde, das Sie zu gründen beabsichtigen, um die gesammelte Erfahrung von anderen zu bekommen, und beginnen Sie Ihre Planung dort, wo die anderen aufgehört haben.“ Sie betont, dass man über beide Seiten der Frage alles herausfinden soll: wie man Erfolg hat und wie man nicht pleitegeht. Etwas über ein Geschäftsfeld zu lesen sei so, als säße man mit einem Geschäftsmann in dessen Empfangszimmer und bespräche seine Probleme mit ihm. „Nur diejenigen, die meinen, sie wüssten alles, was es zu wissen gibt – und dazu noch mehr – finden einen solchen Ideenaustausch unklug“, schreibt sie. Was wirklich unklug sei, schreibt sie, sei, Hunderte von Dollar (in heutigem Geld wahrscheinlich Hunderttausende oder gar Millionen) auszugeben und dann festzustellen, dass die Idee nicht funktioniert – und jemand anders sie bereits ausprobiert und darüber geschrieben hat, sodass man hätte erfahren können, „warum genau das keine gute Idee ist“.3
Um ihren Lesern einen Anstoß zu ihren Recherchen zu geben, listet Minaker im Anhang des Buches auf 35 Seiten Bücher, Zeitschriften, Periodika, Broschüren und amtliche Publikationen zu dem Thema auf, wie man ein Unternehmen gründet und betreibt. Insgesamt gibt es 859 Verweise darauf, wie man im gewählten Geschäftsfeld erfolgreich sein kann.
Diese Lektion ging an Warren nicht vorbei. Der größte Raum in der Chefetage des Firmensitzes von Berkshire Hathaway in Omaha ist nicht Buffetts Büro, sondern die Referenzbibliothek. Darin stehen Reihen von Aktenschränken, die mit Geschichten von Unternehmen angefüllt sind. Diese Schränke enthalten alle alten und neuen Jahresberichte aller bedeutenden börsennotierten Unternehmen. Buffett hat sie alle gelesen. Daraus hat er nicht nur gelernt, was profitabel funktioniert hat, sondern vor allem auch, welche Unternehmensstrategien versagt und Verlust gebracht haben.
Der zweite Schritt der Entwicklung von Geldverstand ist einfach auszudrücken, aber für die meisten Menschen schwer umzusetzen. Er lässt sich in einem Wort zusammenfassen: machen. Oder, wie Minaker es griffig ausdrückt: „Man fängt an, Geld zu verdienen, indem man anfängt.“4 Hunderttausende Menschen haben schon davon geträumt, ein eigenes Unternehmen zu gründen, schreibt sie, haben es aber nie getan, weil sie blockiert waren. Sie haben gewartet, dass sich die geschäftlichen Prognosen bessern, vielleicht haben sie darauf gewartet, dass sich ihre eigenen Aussichten bessern, oder sie haben einfach auf den richtigen Zeitpunkt gewartet. Minaker schreibt, dass sie oft den Anfang hinausschieben, „weil sie nicht klar nach vorn blicken können“. Dies beinhaltet die Warnung, sich bewusst zu sein, dass man den besten Zeitpunkt nie im Voraus kennt und dass das Warten auf ihn bloß eine Art ist, sich in der Sicherheit des Nichtstuns zu verstecken.
Eine weitere Art, wie sich dieses Phänomen äußert, ist laut Minaker, dass Menschen in Starre verfallen, weil sie zu viel Zeit damit verbringen, sich Rat von anderen zu holen. „Wenn man ausreichend viele Menschen um Rat fragt“, so schreibt sie, „tut man fast mit Sicherheit am Ende nichts.“5 Oberflächlich mag es scheinen, als widerspräche dies der ersten Maxime (alles lernen, was man kann), aber in Wirklichkeit ist es eine Frage des gesunden Menschenverstands und der Ausgewogenheit. Die richtige Balance zu finden, sich zu informieren und dann zu wissen, wann es ans Machen geht, ist ein wesentliches Element des Geldverstands.
Wer sich mit Warren Buffett beschäftigt hat, erkennt Minakers Ratschlag problemlos wieder. Ja, Buffett bespricht große Ideen mit seinem langjährigen Geschäftspartner Charlie Munger. Es stimmt aber auch, dass Buffett nicht den ganzen Tag am Telefon verbringt, wenn er glaubt, dass Berkshire einen guten Kauf tätigen kann. Niemals verschiebt er eine endgültige Entscheidung, weil die Börse gestiegen oder gefallen ist, weil die Wirtschaft wächst oder schrumpft oder weil steigende oder fallende Zinsen vorhergesagt werden. Wenn ein Unternehmen gut ist und zu einem guten Preis zu haben ist, schreitet Warren Buffett zur Tat – er „macht einfach“.
Neben ihren Ratschlägen bietet Minaker auch überzeugende Inspiration: „[Mit seinem neuen Unternehmen] in See zu stechen ist, als wäre man Kapitän eines Schiffes; man verlässt sich auf sein eigenes Urteilsvermögen und auf seine Fähigkeiten.“ Das bezeichnet sie als den befriedigendsten Teil des Lebens als Geschäftsmann oder Geschäftsfrau.6
Man kann sich gut vorstellen, wie der junge Warren diese Wahrheit erkennt. Von der Zeit an, als er mit sechs Jahren anfing, Süßigkeiten und Limonade zu verkaufen, war Warren Buffett sein eigener Chef. Er war standhaft zuversichtlich und liebte seine Unabhängigkeit. Als er die Highschool abschloss, war er der reichste 16-Jährige in Omaha. Er könnte durchaus der reichste aus eigener Kraft reich gewordene Teenager gewesen sein. Aber noch war er kein Millionär, wie er früher einmal geprahlt hatte, dass er es werden würde. Dafür musste er weiter die Schulbank drücken.
Im Jahr 1947 schrieb er sich an der Wharton School of Finance and Commerce der University of Pennsylvania ein. Obwohl ihn sein Vater zum Studieren drängte, ließ sich Warren nicht leicht motivieren. Er fand, er sei doch schon ziemlich gut und das College sei Zeitverschwendung. Er hatte ja schon mehr als hundert Bücher über Betriebswirtschaft und Geldanlage gelesen. Was konnte er da auf dem College noch lernen?
Damit hatte er recht. Nach zwei unbefriedigenden Jahren in Wharton war klar, dass er mehr über Bilanzierung und Betriebswirtschaft wusste als seine Professoren. Er verbrachte mehr Zeit damit, bei Brokerfirmen in Philadelphia den Aktienmarkt zu studieren, als damit, für das College zu lernen. Als das Wintersemester 1949 begann, war Warren Buffett nirgends zu finden.
Als er nach Omaha zurückgekehrt war, schrieb er sich an der University of Nebraska ein und machte innerhalb eines Jahres seinen Bachelor, indem er in zwei Semestern 14 Kurse belegte. Während dieses Jahres und auch noch nach dem Abschluss fand man ihn meistens in der Bibliothek, wo er alle Bücher über Wirtschaft und Geldanlage verschlang, die er finden konnte.7
Im Sommer 1950 stieß er auf ein Exemplar eines Buches, das Benjamin Graham gerade veröffentlicht hatte – „Intelligent investieren“. Dieses Buch betrachtet er mehr als irgendein anderes der Hunderten Bücher, die er gelesen hat, als dasjenige, das sein Leben verändert hat.
Daraufhin durchforstete er die Business Schools und stellte noch im Sommer fest, dass Benjamin Graham und David Dodd, die gemeinsam das bahnbrechende Werk „Wertpapieranalyse“ verfasst hatten, als Professoren der Columbia University geführt wurden. „Ich hatte sie für längst tot gehalten“, sagte er einmal.8 Und so bewarb er sich gleich an der Columbia University und wurde genommen. Im September 1950 war er 1.200 Meilen von Omaha entfernt und spazierte über das New Yorker Universitätsgelände.
Sein erster Kurs hieß „Finance 111-112, Investment Management and Security Analysis“ und wurde von David Dodd gehalten.9 Vor der Abreise nach New York hatte er sich ein Exemplar von „Wertpapieranalyse“ besorgt, und als er an der Columbia University ankam, konnte er es praktisch auswendig. Buffett dazu: „Dieses Buch kannte ich wirklich. Ich kannte damals buchstäblich jedes einzelne Beispiel auf den 700 oder 800 Seiten. Ich hatte es regelrecht aufgesaugt.“10
Als das Sommersemester 1951 begann, war Buffett außer sich vor Freude. Sein nächster Kurs wurde von Benjamin Graham gehalten, ein Seminar, das die Lehren aus „Wertpapieranalyse“ und „Intelligent investieren“ kombinierte und auf konkrete Aktien anwandte, die an der Börse gehandelt wurden.
Grahams Botschaft war zwar einfach, aber in der Praxis revolutionär. Vor „Wertpapieranalyse“ bestand die an der Wall Street übliche Herangehensweise an die Aktienauswahl darin, dass man mit einer grundsätzlichen Meinung zu einer Aktie anfing – ob sie einem gefällt oder nicht – und dann herauszufinden versuchte, was andere Menschen wohl mit dieser Aktie tun werden – kaufen oder verkaufen. Die finanziellen Gegebenheiten wurden meist übergangen. Benjamin Graham holte das nach. Er meinte, bevor man Geld in eine Aktie steckt, ohne mehr als die herrschende Meinung zu kennen, könnte man doch zuerst herausfinden, was sie wert sein könnte.
Anfangs war Grahams Methode einfach: das Umlaufvermögen zusammenrechnen (Kundenforderungen, Bargeldbestand und Wertpapierbestand) und davon alle Verbindlichkeiten abziehen. So erhält man das Reinvermögen des Unternehmens. Dann – und erst dann – schaut man sich den Aktienkurs an. Liegt der Preis unter dem Reinvermögen, ist der Kauf lohnenswert und möglicherweise profitabel. Liegt der Kurs hingegen über dem Reinvermögen, lohnt sich eine Investition nicht. Diese Methode kam Warrens Zahlenbegabung entgegen. Benjamin Graham hatte ihm das verschafft, wonach er seit Jahren gesucht hatte – einen systematischen Ansatz der Geldanlage: Wertpapiere im Wert von einem Dollar für 50 Cent kaufen.
Es wurde schon geschrieben, das Studium an der Columbia University sei für Warren Buffett das gleiche Erlebnis gewesen, wie wenn jemand aus einer Höhle tritt, in der er sein ganzes Leben verbracht hat, in der Sonne blinzelt und zum ersten Mal Wahrheit und Wirklichkeit wahrnimmt.11 Warren genoss jeden Augenblick dieses Erlebnisses. Wenn er keine Kurse hatte, traf man ihn in der Unibibliothek an, wo er die Börsenteile alter Zeitungen las, die 20 Jahre in die Vergangenheit reichten. Sieben Tage die Woche gönnte er sich vom frühen Morgen bis zum Abend keine Pause. Die meisten fragten sich, ob er überhaupt schlief. Am Ende des Semesters bekam Warren Buffett die Note A+, die Graham zum ersten Mal in seiner 22-jährigen Lehrtätigkeit an der Columbia University vergeben hatte.
Nach dem Studium fragte Buffett Graham, ob er bei Graham-Newman arbeiten könne, der Investmentgesellschaft, die Graham neben seiner Lehrtätigkeit leitete. Graham wies ihn ab. Buffett bot ihm an, unentgeltlich zu arbeiten. Wieder ein höfliches „nein danke“. Und so kehrte Warren Buffett nach Omaha zurück und war entschlossen, zu schauen, was er auf eigene Faust tun könnte.
Er war gerade 21 Jahre alt geworden.
Als Warren Buffett im Sommer 1951 nach Omaha kam, richtete er seinen Verstand und seine Energie ausschließlich auf die Geldanlage. Teilzeitjobs, um zusätzliches Geld zu verdienen, interessierten ihn nicht mehr. Anfangs warnten ihn sein Vater und Graham, es sei nicht der richtige Zeitpunkt, um an der Börse zu investieren. Beide Männer warnten, es sei längst eine Korrektur überfällig. Doch Warren hörte nur Minaker: „Man fängt an, Geld zu verdienen, indem man anfängt.“
Ihm wurde eine Stelle bei der Omaha National Bank angeboten, aber er lehnte sie ab und zog die vertraute Firma seines Vaters vor, Buffett-Falk & Company. Ein Freund von Howard Buffett fragte ihn einmal, ob sie bald Buffett & Son heißen werde. Warren entgegnete: „Vielleicht Buffett & Father.“12
Buffett stürzte sich mit Leib und Seele in Buffett-Falk & Company. Er schrieb sich für einen Dale-Carnegie-Rhetorikkurs ein und lehrte schon bald an der University of Omaha „Investment Principles“. Seine Vorlesungen basierten auf Grahams Buch „Intelligent investieren“. Er schrieb unter dem Titel „Mein Lieblingswertpapier“ eine Kolumne in The Commercial und Financial Chronicle. Darin pries er eines von Grahams Lieblingsinvestments an, eine wenig bekannte Versicherungsgesellschaft namens Government Employees Insurance Co. (GEICO). Er hielt Kontakt mit Benjamin Graham und schickte ihm von Zeit zu Zeit Aktienideen.
Eines Tages im Jahr 1954 meldete sich Graham bei seinem ehemaligen Studenten mit einem Stellenangebot. Warren saß im nächsten Flugzeug nach New York. Er war einer von sechs Angestellten und teilte sich ein Büro mit den legendären Investoren Walter Schloss und Tom Knapp. Sie verbrachten ihre Tage damit, über dem Stock Guide von Standard & Poor’s zu brüten und Ideen für den Investmentfonds von Graham-Newman anzupreisen.
Die meisten ihrer Empfehlungen machten Graham und sein Partner Jerry Newman nieder. Als der Dow Jones im Jahr 1955 auf 420 Punkte stieg, saß Grahams Investmentfonds auf vier Millionen Dollar Cash. So verlockend die von Buffett ausgewählten Aktien auch waren, die Tür zur Investition bei Graham-Newman blieb geschlossen. Der einzige Ort für Buffetts Ideen war sein eigenes Portfolio. Im Jahr danach, 1956, hatte Graham genug. Er setzte sich zur Ruhe und zog nach Beverly Hills, wo er bis zu seinem Tod im Alter von 82 Jahren schrieb und lehrte, diesmal an der University of California, Los Angeles (UCLA).
Nun kehrte Warren Buffett zum zweiten Mal nach Omaha zurück, jedoch ganz anders als fünf Jahre zuvor als junger Absolvent. Jetzt war er älter, erfahrener, sicherlich hinsichtlich der Geldanlage klüger und auf jeden Fall viel reicher. Und eines wusste er mit Gewissheit: Nie wieder würde er für jemand anderen arbeiten. Er war bereit, sein eigener Herr zu sein.
Kapitel 10 von „One Thousand Ways to Make $1000“ ist mit „Seine Dienstleistungen verkaufen“ überschrieben. Es beginnt mit der Aufforderung an den Leser, eine persönliche Bestandsaufnahme zu machen. Man soll sich überlegen, was man gut kann, was man besser macht als alle anderen. Dann soll man sich überlegen, wer dabei Hilfe braucht und wie man die Betreffenden am besten erreicht.
Durch seine Lehrtätigkeit an der University of Omaha und seine beliebte Kolumne über Geldanlage hatte sich Warren Buffett in Omaha bereits eine gewisse Reputation aufgebaut, und seine Zeit bei Graham-Newman hatte seine Glaubwürdigkeit noch gesteigert. Daher stürzten sich, kaum dass er in Omaha angekommen war, Freunde und Verwandte auf ihn und baten ihn, ihr Geld zu verwalten. Seine Schwester Doris und ihr Mann, seine liebe Tante Alice, sein Schwiegervater, sein ehemaliger Zimmergenosse Chuck Peterson und ein Rechtsanwalt namens Dan Monen – alle wollten dabei sein. Zusammen gaben sie Warren Buffett im Jahr 1956 die Summe von 105.000 Dollar, um sie anzulegen. So kam die Kapitalanlagegesellschaft Buffett Associates mit Warren als unbeschränkt haftendem Gesellschafter zustande.
Als sich alle zur Gründungsversammlung in einem Restaurant in Omaha versammelten, gab Warren den Ton an. Er übergab jedem den Gesellschaftsvertrag und sagte ihnen, an der juristischen Anmutung des Vertrags sei nichts Böses. Dann legte er vollkommen offen die Grundregeln der Gesellschaft dar.13
Zunächst die finanziellen Bedingungen. Die beschränkt haftenden Gesellschafter sollten jährlich die ersten sechs Prozent Rendite der Kapitalanlagegesellschaft erhalten. Danach sollten sie 75 Prozent des Gewinns erhalten, und der Rest sollte an Warren gehen. Wurden in einem Jahr die Performanceziele verfehlt, gab es einen Verlustvortrag ins nächste Jahr. Anders ausgedrückt wurden die sechs Prozent, wenn die Partner sie in einem Jahr nicht bekamen, in das nächste Jahr verschoben. Warren sollte seinen Leistungsbonus erst dann bekommen, wenn seine Partner alles erhalten hatten.
Er sagte seinen Partnern, er könne keine Ergebnisse versprechen, aber er versprach, die Investments, die er für die Gesellschaft tätigen würde, würden sich nach den Value-Grundsätzen richten, die er von Benjamin Graham gelernt hatte. Dann erklärte er ihnen, wie sie die jährlichen Gewinne beziehungsweise Verluste betrachten sollten. Sie sollten die täglichen, wöchentlichen und monatlichen Schwankungen des Aktienmarkts ignorieren – sie lägen ja ohnehin außerhalb seiner Kontrolle. Er legte ihnen nahe, nicht einmal zu sehr darauf zu achten, wie gut sich die Anlagen in einem Jahr entwickelten. Er finde, man solle die Ergebnisse lieber über einen Zeitraum von drei Jahren betrachten. Und fünf Jahre seien noch besser.
Und schließlich sagte Warren seinen Gesellschaftern, seine Aufgabe sei es nicht, die Börsenentwicklung oder die Konjunkturzyklen vorherzusagen. Und das bedeute, dass er weder diskutieren noch offenlegen werde, was die Gesellschaft kaufte, verkaufte oder hielt.
Bei diesem Abendessen unterzeichneten alle den Gesellschaftsvertrag. Als im Laufe der Jahre mehr Gesellschafter hinzukamen, bekamen sie die gleichen Grundregeln. Damit sie auch keiner vergaß, fügte Buffett die Grundregeln den Ergebnisberichten bei, die er jedes Jahr an alle Partner versandte.
Abgesehen von dem Schreckgespenst der sechs Prozent Jahresrendite fand es Buffett auch hilfreich, wenn die Partner beurteilen könnten, wie gut er sich im Vergleich zu dem breit angelegten Aktienindex Dow Jones Industrial Average schlug. In den ersten Jahren waren seine Ergebnisse beeindruckend. Von 1957 bis 1961 erzielte die Gesellschaft eine kumulierte Rendite von 251 Prozent, der Dow Jones hingegen nur 74 Prozent.
Als sie von Warrens Erfolg hörten, stiegen weitere Anleger ein. Im Jahr 1961 hatte Buffett Partnership ein Kapital von 7,2 Millionen Dollar – mehr als Graham-Newman auf seinem Höhepunkt verwaltet hatte. Am Ende des Jahres gehörten eine Million Dollar von Buffett Partnership Warren Buffett. Gerade war er 31 Jahre alt geworden.
Warren Buffett wandte Grahams Anlage-Spielregeln mit atemberaubendem Erfolg auf Buffett Partnership an. Nach zehn Jahren war das verwaltete Vermögen der Gesellschaft auf mehr als 53 Millionen Dollar angewachsen. Warrens Anteil war fast zehn Millionen Dollar wert. Im Jahr 1968 erzielte Buffett Partnership eine Rendite von 59 Prozent, der Dow Jones nur acht Prozent. Das war das beste Jahr der Gesellschaft. Warren blieb wie immer Realist und schrieb an seine Partner, sie sollten diese Ergebnisse „als Ausreißer betrachten – wie wenn man beim Bridge 13 Pik-Karten auf die Hand bekommt“.14
Trotz der heldenhaften Performance-Ergebnisse häuften sich die Schwierigkeiten. Beim Durchforsten des Marktes fiel es Buffett schwer, „Value“ zu finden. Ohne Anlageideen und mehr als nur ein bisschen erschöpft von dem Performance-Derby, das er zwölf Jahre lang absolviert hatte, verkündete Buffett im Jahr 1969, dass er die Gesellschaft schließen würde. In einem Brief an seine Partner bekannte er, er sei mit dem derzeitigen Marktumfeld außer Tritt. „Einen Punkt möchte ich allerdings klarstellen“, schrieb er. „Ich werde den bisherigen Ansatz, dessen Logik ich verstehe, nicht aufgeben, auch wenn ich es schwierig finde, ihn anzuwenden, und selbst wenn das womöglich bedeutet, auf hohe und scheinbar leichte Gewinne durch einen Ansatz zu verzichten, den ich nicht vollständig verstehe, den ich nicht gewissenhaft geübt habe und der möglicherweise auf Dauer zu einem erheblichen Kapitalverlust führen könnte.“15
Im Jahr 1957 hatte sich Warren Buffett das Ziel gesetzt, den Dow Jones Industrial Average jedes Jahr um zehn Prozentpunkte zu übertreffen. Im Laufe der 13 Jahre von 1957 bis 1969 hatte Buffett Partnership eine durchschnittliche kumulierte Jahresrendite von 29,5 Prozent erzielt (die Nettorendite der Partner betrug 23,8 Prozent), während der Dow Jones eine Rendite von 7,4 Prozent abgeworfen hatte. Am Ende hatte Buffett den Dow Jones nicht um zehn Prozentpunkte im Jahr geschlagen, sondern um 22 Prozentpunkte! Das anfängliche Vermögen der Gesellschaft von 105.000 Dollar war auf ein verwaltetes Vermögen von 104 Millionen Dollar angewachsen. Dabei hatte Warren 25 Millionen Dollar verdient.
Bei der Schließung von Buffett Partnership achtete Buffett besonders sorgfältig darauf, dass die nächsten Schritte allen Partnern vollkommen klar waren. Er bot drei verschiedene Möglichkeiten an. Denjenigen, die an der Börse bleiben wollten, empfahl er seinen ehemaligen Columbia-Kommilitonen Bill Ruane. 20 Millionen Dollar Vermögen aus Buffett Partnership wurden an Ruane, Cunniff & Stires übertragen, und so wurde der berühmte Sequoia Mutual Fund geboren.
Die zweite Option für die Gesellschafter war die Investition in kommunale Anleihen. Nach Warrens Meinung war der 10-Jahres-Ausblick der Aktien etwa genauso wie derjenige der weniger riskanten und steuerfreien Kommunalobligationen. Als vollendeter Pädagoge schickte Warren jedem Partner eine hundertseitige Erklärung, wie der Kauf steuerfreier Anleihen funktioniert.16 Als dritte Option konnten die Partner ihr Vermögen in eine der größten Positionen der Gesellschaft investieren – Stammaktien von Berkshire Hathaway.
Wie immer war Buffett freimütig und offen. Er sagte seinen Partnern, er werde seinen persönlichen Anteil an Buffett Partnership in Berkshire Hathaway verschieben. Doc Angel, einer der frühen Getreuen von Buffett Partnership, sagte: „Mehr brauchte man nicht zu hören, wenn man auch nur ein bisschen Hirn besaß.“17
In der Anfangszeit von Buffett Partnership hatte Buffett Aktien einer Textilfirma aus Neuengland gekauft, die aus der Fusion von Berkshire Cotton Manufacturing und Hathaway Manufacturing hervorgegangen war. Es war ein klassischer Graham-Kauf gewesen. Die Aktie kostete 7,50 Dollar bei einem Nettoumlaufvermögen von 10,25 Dollar und einem Buchwert von 20,20 Dollar.
Warren Buffett war sich der Schwierigkeiten, vor denen die US-amerikanischen Textilhersteller im Wettbewerb mit billigeren Importen aus dem Ausland standen, durchaus bewusst. Trotzdem konnte er der Verlockung, „einen weggeworfenen Zigarrenstummel aufzulesen, der noch einen Zug hergibt“, nicht widerstehen.18 Die „Zigarrenstummel“-Theorie bezieht sich auf Grahams Schwerpunkt, harte Vermögenswerte billig zu kaufen, auch wenn sie kaum ökonomische Dynamik beinhalten. Angesichts des Bargelds und der Wertpapiere in der Bilanz sowie des wenn auch nur begrenzten Potenzials für künftige Gewinne aus Geschäftstätigkeit dachte sich Warren Buffett, bei Berkshire Hathaway gebe es kein großes Verlustpotenzial und eine passable Wahrscheinlichkeit, damit Geld zu verdienen.
Im Jahr 1965 besaß Buffett Partnership 39 Prozent der umlaufenden Stammaktien von Berkshire Hathaway. Buffett steckte in einem Machtkampf mit dem Verwaltungsrat um die Übernahme des Unternehmens, die Entlassung der unfähigen Unternehmensleitung und ihre Ersetzung durch Menschen, die das Kapital besser zuweisen konnten. Als sich der Staub gelegt hatte, hatte Buffett diesen Kampf zwar gewonnen, aber ihm wurde klar, dass er 25 Prozent des Vermögens von Buffett Partnership ohne Exit-Strategie in ein sinkendes Schiff investiert hatte. „Ich war wie der Hund, der das Auto eingeholt hat“, sagte er.19
Die Reise von der Verwaltung einer der großartigsten Kapitalanlagegesellschaften aller Zeiten zum Einsetzen seines Vermögens für eine sterbende Textilfirma bot alle Voraussetzungen für eine griechische Tragödie. Was dachte sich Buffett dabei?
Es war klar, dass er nichts dachte. Er hatte keinen großen Plan, einen vollständigen Turnaround zu organisieren. Und auch wenn ihm Benjamin Graham ins Ohr flüsterte, hatte er keinesfalls die Absicht, das Unternehmen einem noch größeren Narren zu verkaufen. Wer hätte schon einen 75 Jahre alten, aus dem 19. Jahrhundert stammenden, neuenglischen, kapitalintensiven und auf Arbeitskräfte angewiesenen Hersteller von Innenfutter für Herrenanzüge mit niedriger Gewinnspanne gewollt? Nein, Warren Buffett ließ sich von einem stärkeren Prinzip leiten, das den eigentlichen Kern seiner Anlagephilosophie bildet – dem langfristigen Zinseszinseffekt.
Dessen Vorzüge waren ihm bereits in jungen Jahren beigebracht worden. Noch wichtiger war, dass er die Vorzüge einer Zinseszinsmaschine aus erster Hand erlebt hatte, als er das, was er mit seinen verschiedenen Jobs verdient hatte, hernahm und wieder in sein kleines Unternehmen steckte. Wenn eine Zeitungsroute gut geeignet war, um Geld zu verdienen, dann bedeuteten zwei Routen noch mehr Geld. Wenn der Besitz eines Flipperautomaten seine Ersparnisse aufstockte, dann war es noch besser, drei Stück zu besitzen. Schon als Kind war es nicht Warrens Art, das verdiente Geld auszugeben.
Warren Buffetts Kindheitsunternehmen waren in vielerlei Hinsicht wie Konglomerate, denn er konnte das Geld unbehindert von einem Geschäft ins andere übertragen oder – was noch besser war – mehr Geld in das beste Geschäft reinvestieren. Und 20 Jahre später besaß er mit Berkshire Hathaway ein Konglomerat, auch wenn dies nur wenige erkannten.
Die meisten dachten, Buffett habe sich auf ein angeschlagenes Textilunternehmen eingelassen, aber dabei entging ihnen, dass er dank seines gewagten Schrittes nun eine Kapitalgesellschaft namens Berkshire Hathaway besaß, die ihrerseits ein Textilunternehmen besaß. Er dachte sich, er bräuchte bloß alles noch verbliebene Geld aus Berkshire Hathaway herauszuquetschen und es einem besseren Unternehmen zuzuteilen. Zum Glück generierten die Textilhersteller, die unter Berkshire firmierten, genug Kapital, damit Buffett andere Unternehmen kaufen konnte, und das ist, wie wir noch sehen werden, eine viel fröhlichere Geschichte. Es dauerte nicht lange, bis die Verwandlung von Berkshire Hathaway von einem eingleisigen Textilhersteller in ein Konglomerat, das ein Portfolio aus diversifizierten Unternehmensbeteiligungen besaß, vollzogen war.