image

JOHAN
NORBERG

OPEN

Die Geschichte des menschlichen Fortschritts

image

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Copyright der Originalausgabe 2020:

Copyright der deutschen Ausgabe 2021:

Übersetzung: Philipp Seedorf

ISBN 978-3-86470-777-3

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

image

Postfach 1449 • 95305 Kulmbach

Für Frida, die dafür sorgt, dass ich offen bleibe
und nie zu lernen aufhöre, ob ich will oder nicht.

„There is a crack in everything.
That’s how the light gets in.“

Leonard Cohen

INHALT

Einleitung: Händler und Tribalisten

Teil 1: Offen

1.Offener Austausch

2.Offene Türen

3.Offener Geist

4.Offene Gesellschaften

Teil 2: Geschlossen

5.Wir und die anderen

6.Nullsummenspiele

7.Antizipatorische Angst

8.Kampf oder Flucht

9.Offen oder geschlossen?

Danksagungen

Endnoten

Einleitung

HÄNDLER UND TRIBALISTEN

„Wenn wir die unmodifizierten, ungehemmten Regeln des Mikrokosmos (also einer kleinen Gruppe, eines Rudels oder, sagen wir mal, unserer Familien) auf den Makrokosmos (unsere Zivilisation im weiteren Sinne) anwenden, so wie es unsere Instinkte und sentimentalen Begierden manchmal gern hätten, würden wir ihn zerstören. Aber, wenn wir immer die Regeln der erweiterten Ordnung auf unsere eigenen Gruppen anwenden würden, würden wir sie erdrücken. Also müssen wir lernen, in zwei verschiedenen Welten auf einmal zu leben.“

- Friedrich Hayek, 1989 -

Vor langer Zeit kam ein 45 Jahre alter, 1,57 Meter großer Mann bei der Überquerung der Alpen zwischen dem heutigen Italien und Österreich ums Leben. Kurz danach zog ein Sturm auf, sodass sein Körper versiegelt und im Eis erhalten wurde und mehr als 5.000 Jahre nicht mehr gefunden werden sollte. Als deutsche Wanderer 1991 den mumifizierten Körper von Ötzi fanden, der nach den Ötztaler Alpen benannt wurde, eröffnete das die Gelegenheit, aus der Gegenwart einen außergewöhnlichen Blick in die Vergangenheit zu werfen: wie das Leben in der Kupfersteinzeit ausgesehen hatte, wie die Menschen gelebt hatten und was sie gegessen hatten. Aber es verschaffte auch einen Einblick in ihr kulturelles und wirtschaftliches Leben.

Wir wissen nicht sicher, wieso Ötzi den Elementen trotzte und an diesem Tag versuchte, die Alpen zu überqueren, über hügeliges und verschneites Terrain in einer Höhe von 3.000 Metern über dem Meeresspiegel. Aber wir wissen, wieso er bis zur Stelle kam, an der man ihn fand. Auch wenn er den Weg anscheinend allein zurücklegte, war er nie völlig einsam. Auf der ganzen Reise trug Ötzi die Ideen, Innovationen und die Arbeit von Tausenden Menschen mit sich. Er profitierte von Entdeckungen, die er nicht selbst gemacht hatte, und benutzte Werkzeuge, die er nicht selbst hergestellt hatte.

Seine Mütze war aus Bärenfell und seine Hose und sein Mantel aus Ziegenfell. Seine breiten, wasserdichten Schuhe waren dafür geeignet, um auf Schnee zu laufen, hatten Bärenleder als Sohle und Hirschfell auf der Oberseite. Sie waren so aufwendig, dass die Forscher darüber spekulieren, ob die Europäer bereits vor 5.300 Jahren spezialisierte Schuhmacher hatten.

Ötzi führte ein Set mit Feuerstein, Pyrit und mehr als ein Dutzend verschiedene Pflanzen mit sich, um Feuer zu machen, und er hatte einen Pilz für medizinische Zwecke dabei. Er hatte 61 Tätowierungen, die vielleicht mit Behandlungen gegen Schmerzen zu tun hatten. Außerdem trug er Klingenrohlinge, Speerspitzen und Dolche, die er nicht selbst hergestellt hatte. Sie waren vermutlich von Feuersteinmetzen gemacht worden, die lange Zeit damit verbracht hatten, ihre Fähigkeiten zu perfektionieren. Das Rohmaterial wurde aus drei verschiedenen Gegenden in den Südalpen gewonnen, bis zu 60 Kilometer entfernt. Die Forscher schreiben: „Eine solche Vielfalt legt nahe, dass es ein weitreichendes unterstützendes Netzwerk gab, das ganz und gar nicht auf die Berge von Lessini beschränkt und in der Lage war, die Gemeinschaften vor Ort zu erreichen.“1 Das Metall für seine Kupferaxt stammte nicht aus der Alpengegend, sondern teilweise aus der weit entfernten Südtoskana.

Interessanterweise zeigt das Design seiner Werkzeuge Einflüsse sowohl der südlichen als auch der nördlichen Alpentraditionen – die Pfeilspitzen sind typisch für Norditalien, aber der Schaber ist ähnlich wie die Werkzeuge der Schweizer Horgen-Kultur. Mit anderen Worten: Selbst vor 5.000 Jahren profitierte Ötzi von einer hochkomplexen Arbeitsteilung, die sich über beträchtliche Teile des Kontinents erstreckte – die Art von Handel, die es den Menschen ermöglichte, sich zu spezialisieren und etwas zu perfektionieren und es für die spezialisierten Güter und Dienstleistungen anderer auszutauschen.

Homo sapiens ist eine kooperative Spezies. Verglichen mit vielen anderen Tieren sind wir nicht besonders stark oder schnell, wir haben keine Panzerung, wir können nicht fliegen und sind keine sehr guten Schwimmer. Aber wir haben etwas, das uns einen überwältigenden Vorteil verschafft: Wir haben einander. Aufgrund der Entwicklung von Sprache und einem übergroßen Gehirn, das unsere sozialen Interaktionen im Blick behält, wurde es möglich, im großen Maßstab zusammenzuarbeiten und damit die Ideen, das Wissen und die Arbeitskraft anderer zu nutzen. Diese Zusammenarbeit machte die Innovationen möglich, die uns in Form von Kleidung und Medizin eine überlegene künstliche Kraft, Schnelligkeit und Panzerung verliehen. Sie ermöglichte uns sogar, zu fliegen und die Meere schneller zu überqueren als irgendwer sonst im Tierreich.

Der Mensch ist von Natur aus ein Händler. Wir tauschen ständig Wissen, Gefallen und Güter untereinander aus, damit wir mehr erreichen können, als wenn wir auf unsere eigenen Talente und Erfahrungen beschränkt wären. Und wir brauchen nicht viel, um damit zu beginnen. Wir sind stets auf der Lauer nach Möglichkeiten und es ist unglaublich leicht für uns, eine neue Partnerschaft oder Zusammenarbeit zu starten, selbst mit Fremden. Das Teilen von Wissen und Gütern machte es dem Menschen möglich, in unwirtlichen Gegenden überall auf dem Planeten zu überleben und zu gedeihen.

Daraus entstand Wissenschaft, die auf Austausch, Kritik, Vergleich und Ansammlung von Wissen beruht, und Technologie – die Anwendung der Wissenschaft, um praktische Probleme zu lösen.

Wir sehen den Nutzen, den die Zusammenarbeit und die Mobilität uns gegeben haben, besonders deutlich, wenn diese plötzlich beendet werden. Die Weltbank hat berechnet, dass der größte ökonomische Schaden durch Epidemien wie die Schweinegrippe, SARS oder das neuartige Coronavirus nicht durch die Sterblichkeit, die Krankheit, die Behandlung oder den damit zusammenhängenden Produktionsausfall verursacht wird, sondern von der gesteigerten Angst, sich mit anderen zusammenzutun. Bis zu 90 Prozent des Schadens entsteht aus Aversionsverhalten, was dazu führt, dass Produktionsstätten, Transporteinrichtungen, Häfen und Flughäfen geschlossen werden.2

Wir Menschen sind innovativ und wir imitieren und wiederholen einen Ablauf immer wieder, bis wir etwas Besonderes geschaffen haben. Die Ideen der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert rissen die Schranken nieder und schufen eine intellektuelle und ökonomische Offenheit, was ein Brandbeschleuniger für Innovationen war und einen nie da gewesenen Wohlstand brachte. In den letzten 200 Jahren hat sich die Lebenserwartung von weniger als 30 Jahren auf mehr als 70 Jahre gesteigert und extreme Armut wurde von etwa 90 Prozent der Weltbevölkerung auf heutzutage neun Prozent gesenkt.

Die gegenwärtige Globalisierung ist nicht mehr als die Ausweitung dieser Zusammenarbeit über Grenzen hinweg auf der ganzen Welt, was es mehr Menschen als je zuvor ermöglicht, sich die Ideen und Arbeitskraft anderer zunutze zu machen, egal wo sie auf diesem Planeten sind. Dies hat die moderne globalisierte Wirtschaft möglich gemacht und damit fast 130.000 Menschen täglich während der letzten 25 Jahre aus der Armut befreit.

Wie wir sehen werden, ist das autoritäre China kein Gegenbeispiel zur These, dass Fortschritt auf Offenheit beruht. Als China am offensten war, führte es die Welt beim Wohlstand, der Wissenschaft und der Technologie an, aber weil es vor 500 Jahren seine Häfen und damit auch seinen Geist vor der Welt verschloss, wurde das reichste Land des Planeten zu einem der ärmsten.

Chinas derzeitiges Comeback ist das Ergebnis einer teilweisen Öffnung seit 1979 und es schlägt sich spektakulär gut in den Bereichen, die geöffnet wurden, und versagt erbärmlich in denjenigen, die geschlossen blieben. Chinesische Unternehmen, die auf den Weltmärkten am Wettbewerb teilhaben, haben Millionen von Arbeitern aus der Armut geholt, aber die geschützten Unternehmen in Staatsbesitz zerstören den Reichtum in wachsenden „Rostgürteln“. Wenn chinesische Forscher in Bereichen arbeiten, die von der Partei gutgeheißen werden, landen sie in den angesehenen Wissenschaftsmagazinen, aber wenn sie Alarm schlagen wegen eines neuen Virus oder etwas anderem, das ihre Führer bloßstellt, enden sie im Gefängnis. Chinas Kommunistische Partei will sowohl die Vorteile der Offenheit als auch die Sicherheit der Kontrolle. Chinas Zukunft wird davon abhängen, welche Richtung am Ende die Oberhand gewinnt.

Die Globalisierung wurde schon die „Verwestlichung“ der Welt genannt. Ich dachte das früher auch. Als ich mich das erste Mal für Geschichte interessierte, studierte ich sie, wie die meisten Menschen, in umgekehrter Reihenfolge. Ich fing mit der Gegenwart an und reiste rückwärts in der Zeit, um nach ihren Wurzeln zu suchen. Dadurch bekam ich ein verzerrtes Bild von der Besonderheit Europas. Da die Aufklärung und die industrielle Revolution in Europa ihren Anfang nahmen, suchte ich nach Hinweisen, warum dies geschehen war, wie so viele vor mir. Natürlich waren diese Gründe leicht zu finden: die Renaissance, die Magna Charta, das römische Recht und so weiter, bis zurück zur griechischen Entdeckung von Philosophie und Demokratie.

Das ist eine Version dessen, was der britisch-ghanaische Philosoph und Kulturtheoretiker Kwame Anthony Appiah als eine Geschichtstheorie des „Goldnuggets“ beschrieben hat.3 Einst gruben die Griechen ein Goldnugget aus der Erde. Als die Römer sie eroberten, nahmen sie das Goldnugget und polierten es. Als das Reich fiel, wurde das Goldnugget geteilt und Fragmente landeten an verschiedenen Höfen Europas, in Stadtstaaten und Bildungseinrichtungen, bis es in den Universitäten von Europa und den USA wieder zusammengesetzt wurde.

Ich verlor langsam meinen Glauben an das Goldnugget, als ich in anderen Kulturen auf Formen der Renaissance stieß und die Tatsache, dass sie ihre eigenen Perioden der Herrschaft von Rechtsstaatlichkeit, des wissenschaftlichen Fortschritts und des schnellen ökonomischen Wachstums hatten. Ich entdeckte, dass die griechische Philosophie in Wahrheit ein gemeinsames Erbe mit der islamischen Welt hatte. Und ich erfuhr, dass die Chinesen die meisten wissenschaftlichen und technologischen Wunder allein entdeckt oder geschaffen hatten, und das lange vor dem Westen. Als ich all das sah, fand ich es zunehmend schwierig, ein Modell der direkten Abstammung der westlichen Zivilisation zu verteidigen, besonders, da diese Verteidigung darauf basierte, ein Jahrtausend zwischen dem Römischen Reich und der Renaissance als Anomalie des finsteren Mittelalters wegzudiskutieren.

Es gibt kein Goldnugget in der Geschichte, aber es gibt goldene Zeitalter der Kreativität und der Leistung. Eine Menge davon. Der Historiker Jack Goldstone nannte sie „Blütezeiten“: ein schneller und häufig unerwarteter Aufschwung, wenn die Bevölkerung und das Pro-Kopf-Einkommen wuchsen.

Was sie gemeinsam haben, ist nicht der Ort oder die Ethnizität oder der Glauben der Bevölkerung. Sie traten an verschiedenen Orten auf, in verschiedenen Epochen und Glaubenssystemen: im heidnischen Griechenland, dem muslimischen Kalifat der Abbasiden, dem konfuzianischen China, dem Italien der katholischen Renaissance und in der calvinistischen holländischen Republik. Das gemeinsame Element ist vielmehr, dass sie offen für neue Ideen, Einsichten, Gewohnheiten, Menschen, Technologien und Geschäftsmodelle waren, egal, woher sie kamen.

Ich werde darlegen, dass der Grund, wieso die Aufklärung und die industrielle Revolution in Westeuropa ihren Anfang nahmen, darin zu suchen ist, dass diese Region der Welt zufällig die offenste war, zum Teil war es einfach ein Glücksfall. Es hat sich an jedem Ort wiederholt, wo ähnliche institutionelle Veränderungen stattfanden. Es ist nicht der Triumph des Westens, es ist der Triumph der Offenheit.

Das sind gute Neuigkeiten für die Welt, denn es impliziert, dass diese Entwicklung auch in anderen Kulturen stattfinden kann. Aber es sind schlechte Neuigkeiten für uns im Westen, denn es bedeutet, dass uns unsere Stellung nicht vom Schicksal verliehen wurde, sondern von bestimmten Institutionen, und dass diese hier genauso zerstört werden können, wie sie einst in anderen Teilen der Welt zerstört wurden, und damit die früheren Blütezeiten der Geschichte untergruben.

Offenheit schuf diese moderne Welt und trieb sie vorwärts, denn je offener wir für Ideen und Innovationen sind, aus Richtungen, aus denen wir sie nicht erwarten, desto mehr Fortschritt werden wir machen. Der Philosoph Karl Popper nannte es „die offene Gesellschaft“.4 Es ist die Gesellschaft, die offen ist, weil sie kein Organismus ist, der eine vereinheitlichende Idee hat, einen kollektiven Plan oder ein utopisches Ziel. Die Rolle der Regierung in der offenen Gesellschaft besteht darin, die Suche nach besseren Ideen zu schützen und die Freiheit der Menschen, nach ihren individuellen Plänen zu leben und ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Das geschieht über ein System an Regeln, das in gleicher Weise für alle Bürger gilt. Es ist die Regierung, die davon absieht, die „Gewinner auszuwählen“, in der Kultur, dem intellektuellen Leben, der Zivilgesellschaft und dem Familienleben sowie in Wirtschaft und Technologie. Stattdessen gibt sie jedem das Recht, mit neuen Ideen und Methoden zu experimentieren, und erlaubt es diesen, zu gewinnen, wenn sie ein Bedürfnis erfüllen, selbst wenn es die alteingesessenen Platzhirsche bedroht. Daher kann eine offene Gesellschaft nie abgeschlossen sein. An ihr wird immer gearbeitet.

Das lässt Raum für Formen der menschlichen Ordnung, die das Ergebnis von menschlichen Handlungen sind, aber nicht vom Menschen bewusst entworfen wurden. Die wichtigsten Institutionen in Kultur, Wirtschaft und Technologie waren nicht zentral geplant, sondern die Folge von Kooperation und Wettbewerb, von Experimenten sowie von Versuch und Irrtum. Die Gruppen, die sich die besten Lösungen aneigneten – manchmal durch Zufall –, waren erfolgreich, breiteten sich aus und wurden imitiert, während gescheiterte Experimente leise beerdigt wurden.

Wie es der österreichische Denker und Nobelpreisträger Friedrich Hayek betonte:

So beschämend es auch für den menschlichen Stolz sein mag, wir müssen erkennen, dass der Fortschritt und sogar der Erhalt der Zivilisation von einem Maximum an Unfallgelegenheiten abhängen.5

Offenheit für Erfahrungen ist eine psychologische Eigenschaft, eine der „Big Five“ in der Taxonomie der persönlichen Eigenschaften, und steht in Beziehung mit Vorstellungskraft, intellektueller Neugier und einer Vorliebe für Vielfalt. Das hängt oft zusammen. Menschen, die offener für Neues sind, neigen normalerweise weniger dazu, es zu verbieten. Aber das ist nicht immer der Fall. Menschen, die unorganisiert und risikofreudig sind, sehen manchmal einen Bedarf nach strengen Regeln und einer starken Regierung, um sie vor Versuchungen zu schützen. Wie man bei vielen persönlichen Biografien feststellen kann, werden die Menschen nicht unbedingt reaktionär, weil sie, sagen wir mal, Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll hassen, sondern weil sie diese Dinge ein wenig mehr lieben, als gut für sie ist. Ähnlich werden manche disziplinierte und im Privaten konservative Individuen offener und politisch toleranter, nicht trotz, sondern wegen dieser persönlichen Eigenschaften. Sie sehen mit eigenen Augen, dass die Freiheit es ihnen erlaubt, ehrenhaft zu handeln und Gutes zu tun.

Meine Argumentation lautet, dass Menschen unabhängig von ihren Charaktereigenschaften unter offenen Institutionen mehr Probleme lösen als schaffen werden, und das wird die Chance steigern, dass sich die Pfade von Menschen mit unterschiedlichen Eigenschaften kreuzen, und ihre Gedanken und ihre Arbeit sich gegenseitig befruchten können.

Beim Programmieren gibt es den Spruch: „Wenn nur genug Leute einen Blick darauf werfen, sind alle Bugs leicht zu durchschauen.“ Das Gleiche gilt für eine Gesellschaft. Je mehr Augenpaare sich das angesammelte Wissen der Menschheit und unsere Probleme ansehen und je mehr Gehirnen gestattet wird, mit ihrer eigenen Kreativität etwas zu diesem Wissen beizutragen, desto größer die Chance, dass Bugs ausgebügelt werden.

Wenn Menschen keine Erlaubnis von einer zentralen Autorität brauchen, um mit neuen Ideen, neuen Technologien und Geschäftsmodellen zu experimentieren, sondern frei etwas erschaffen und konkurrieren können (auch wenn es ein paar Menschen und vorherrschende Gruppen vor den Kopf stößt), stellen wir größeren menschlichen Fortschritt fest. Die Welt ist groß. Die potenzielle Anzahl an Einsichten, Kombinationen von Ideen und Lösungen ist unbegrenzt. Die einzige Art, wie man all das Wissen nutzen und all diese Ideen testen kann, besteht darin, jedem die Chance dazu zu geben und die Freiheit zu lassen, zu kooperieren und frei Ideen auszutauschen. Und die gute Nachricht ist – wie Ötzis Kleidung und Werkzeuge zeigen –, dass Menschen darin erstaunlich gut sind.

Aber es gibt einen Haken bei der Sache. Wir haben diese wunderbare Fertigkeit entwickelt, harmonisch zu kooperieren, damit wir töten und stehlen können.

2001 haben eine Röntgenaufnahme und ein CT-Scan gezeigt, dass Ötzi sich nicht einfach in den Alpen verlaufen hatte oder in einen plötzlichen Sturm geriet. Das Bild zeigte genau die Form einer Pfeilspitze, die tief in Ötzis linker Schulter steckte. Er hatte außerdem einen Schnitt in der Haut, der mit der Schussbahn dieses Pfeils übereinstimmte. Später fanden Forscher auch Wunden in seiner rechten Hand und am Handgelenk, was nahelegt, dass er versuchte, sich selbst gegen einen Angreifer zu verteidigen. Er hatte auch Spuren von geronnenem Blut im Gehirn, was ein Hinweis auf einen Schlag auf den Kopf ist.

An seinem Messer und den Pfeilspitzen war DNA vom Blut dreier anderer Männer. Ötzi ist nicht in einem Schneesturm erfroren, wie man zuerst annahm. Er wurde im Nahkampf getötet.

Wir können nur darüber spekulieren, was zu diesem brutalen Ende geführt hat. Manche glauben, ein Streit innerhalb des Stammes hat dafür gesorgt, dass Ötzi fliehen musste. Andere spekulieren, das Dorf sei von einem anderen Stamm angegriffen worden und Ötzi habe sich aufgemacht, um sie zu rächen. Oder vielleicht wurde er einfach aus dem Hinterhalt von Fremden angegriffen. Wir wissen nur, dass das kein außergewöhnliches Schicksal zu seiner Zeit war. Die Rate gewaltsamer Todesfälle unter Jägern und Sammlern war ähnlich wie in der modernen Gesellschaft zu Kriegszeiten. Bis in die Moderne war das Leben der Menschen, wie der Philosoph Thomas Hobbes einst schrieb, schlimm, brutal und kurz.

Diejenigen, die anfingen, miteinander zu kooperieren, taten es, weil ihnen dies einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Tieren und anderen Gruppen von Menschen verschaffte. Kooperation machte es einfacher, diejenigen zu besiegen, die sich gern mit anderen anlegten. Und jede Gruppe musste eine Möglichkeit finden, sich gegen diejenigen zu schützen, die gern etwas von der Beute abhaben wollten, aber nichts dazu beitrugen. So lernten wir, zwischen „uns“ und „denen“ zu unterscheiden.

Wie wir noch erfahren werden, ist unsere Fähigkeit, neue Partnerschaften und Allianzen einzugehen, so stark, dass wir sofort loyal gegenüber neuen Gruppen sind, selbst wenn sie willkürlich entstehen und wir zunehmend davon ausgehen, dass die Mitglieder unserer Gruppe schlauer, besser und moralischer als andere sind.

Wir sind nicht nur Händler, wir sind auch Tribalisten. Wir kooperieren, aber, um andere zu besiegen. Beide Attribute sind integrale Bestandteile unserer Natur, drängen uns allerdings in entgegengesetzte Richtungen. Eines lässt uns Win-win-Situationen finden, bei denen wir auf neue Chancen, neue Beziehungen und neuen Austausch stoßen, die für beide Seiten vorteilhaft sind. Das andere lässt uns skeptisch sein, wenn es um Nullsummenspiele geht, bei denen wir glauben, andere können nur auf unsere Kosten profitieren. Es fördert den Wunsch, andere zu besiegen, und blockiert Austausch und Mobilität.

Dies ist der Kampf zwischen „offen und geschlossen“; über den im Kontext von Populismus, Nationalismus, Trump und Brexit so viel geredet wird. Er wird nicht zwischen zwei verschiedenen Gruppen geführt, zwischen Globalisten und Nationalisten, oder zwischen Menschen, die an einem bestimmten Ort verweilen, und den Weltbürgern (engl.: „Anywheres“ und „Somewheres“, A.d.Ü.). Stattdessen wird er die ganze Zeit in jedem einzelnen von uns ausgefochten.

Wenn wir uns bedroht fühlen, wollen wir in die Sicherheit unseres Stammes zurück und eine Wagenburg errichten; es macht uns zu Konformisten und verstärkt unsere Neigung, starken Führungsgestalten positiv gegenüberzustehen. Erstaunlicherweise führen sogar kleine Bedrohungen unseres Ordnungs- und Kontrollsinns – wie Fragen über unsere Einstellungen zu beantworten, wenn wir uns vorher nicht die Hände gewaschen haben oder wenn wir das in einem unordentlichen Raum machen müssen – dazu, dass wir voreingenommener und intoleranter sind.

Was ist dann, wenn wir fürchten, unsere Kultur, unser Lebensstil oder unsere ganze Gesellschaft seien bedroht, durch Pandemien, Immigranten, andere Länder oder betrügerische Eliten? Wenn die ganze Welt unordentlich aussieht? Das ist der Zustand, in dem wir uns nach der Finanzkrise und der Migrationskrise mit zunehmenden internationalen Spannungen wiederfinden, in dem die politische Befreiung nach dem Arabischen Frühling nicht länger mit Stabilität und Demokratisierung, sondern mit Chaos und Blutvergießen assoziiert wird. Wenn das ikonische Bild unserer Zeit nicht mehr der Fall der Berliner Mauer ist, sondern der Kollaps der Zwillingstürme des World Trade Centers in New York. Und dabei haben wir noch nicht einmal das potenziell lauernde Desaster durch den Klimawandel berücksichtigt.

In der Vergangenheit sind die großen Blütezeiten der Geschichte – die bedeutenden Perioden, in denen Offenheit und Fortschritt vorherrschend waren – langsam verebbt aufgrund von Cardwells Gesetz, benannt nach dem Technologiehistoriker Donald S. Cardwell.6 Innovation stößt immer auf Widerstand von Gruppen, die glauben, dass sie dadurch etwas verlieren, seien es alte politische oder religiöse Eliten, Unternehmen mit veralteter Technologie, Arbeiter mit obsoleten Fertigkeiten, nostalgische Romantiker oder alte Leute, die Angst haben, weil einfach nichts mehr so gemacht wird wie früher. Sie haben einen Ansporn, die Veränderungen mit Verboten, Regulierungen, Monopolen, dem Verbrennen von Booten oder dem Bau von Mauern aufzuhalten. Und auch wenn der Rest von uns über die Zukunft unseres Planeten Panik schiebt, lassen wir ihnen ihren Willen. Und so endeten alle Perioden der Offenheit und Innovation in der Geschichte, abgesehen von einer: derjenigen, in der wir jetzt leben. Eine offene Welt, wenn wir sie so bewahren können.

Die Covid-19-Pandemie illustriert, was passieren kann und was auf dem Spiel steht. Der internationale Handel und die Mobilität haben nicht nur die Welt bereichert, sondern auch ermöglicht, dass Mikroorganismen als blinde Passagiere mitreisen. Historisch gesehen haben Herrscher solche großen Plagen genutzt, um die Kontrolle über ihre Bevölkerung auszuweiten, die Zugbrücken hochzuziehen und Sündenböcke wie Juden, Ausländer oder Hexen zu attackieren.

Während die Pandemie durch das neue Coronavirus die Welt heimsucht, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie zum entscheidenden Wendepunkt weg von der Offenheit werden könnte. Unternehmen sind gezwungen, internationale Lieferketten neu zu bewerten, Einheimische werden skeptisch gegenüber Außenseitern und dem weltweiten Reiseverkehr und Regierungen gewähren sich selbst neue Machtbefugnisse. Während ich dies schreibe, hat noch keine Regierung eine Wahl aufgrund des Coronavirus „verschoben“, aber dergleichen ist früher in der Geschichte schon vorgekommen. Panik verschiebt die Politik in eine nationalistische Richtung, so wie bei Exportverboten von Medikamenten und medizinischer Ausrüstung. Und auch wenn es nur wie eine Methode aussieht, um die Bürger zu schützen, wird es andere Länder zwingen, dasselbe zu tun, was schließlich in Engpässen für alle resultiert. Mehrere Verbote von Lebensmittelexporten während der globalen Preiskrise im November 2010 sollten die örtlichen Lieferanten schützen, waren aber letztlich für einen 40-prozentigen Anstieg der Weltpreise für Weizen und für fast ein Viertel des Anstiegs des Preises für Mais verantwortlich.7

Auch wenn sich die Welt während Krisen oft in eine nationalistische Richtung bewegt, sind das die Zeiten, in denen wir am dringendsten neue internationale Vereinbarungen brauchen, um eine Politik zu vermeiden, die darauf angelegt ist, den Nachbarn zum Bettler zu machen (Beggar thy neighbour). Wir betrachten sie häufig nicht so, aber die Globalisierung ist tatsächlich unsere beste Chance, Pandemien von vornherein zu bekämpfen, da Wohlstand, Kommunikationstechnologie und eine offene Wissenschaft unsere Reaktionsfähigkeit auf neue Krankheiten schneller als je zuvor gemacht haben, wie der Wissenschaftsautor Ron Bailey angemerkt hat.8

Krankenhäuser, Forscher, Gesundheitsbehörden und Pharmaunternehmen überall können sich nun sofort mit Informationen versorgen und ihre Anstrengungen zur Analyse und Bekämpfung des Problems koordinieren. Nachdem es wochenlang versucht hatte, den Ausbruch zu verheimlichen, verkündete China am 2. Januar 2020, dass es ein neues Coronavirus gefunden habe. Chinesische Wissenschaftler benutzten Technologien, die auf der anderen Seite der Erde entwickelt worden waren, um das komplette Genom des Virus zu lesen und es am 10. Januar auf einem weltweiten Forschungs-Hub online zu veröffentlichen. Deutsche Forscher verwendeten diese Information, um einen Diagnosetest zur Feststellung neuer Infektionen zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Und wenn jemand den Mechanismus des Virus offenlegt, können andere sofort daran arbeiten, die Schwächen des Virus zu finden. Dann können Forscher und künstliche Intelligenzen auf der ganzen Welt mögliche Medikamente und Impfstoffe entwickeln, die das Virus genau an diesen Punkten angreifen.

Nach nur eineinhalb Monaten Arbeit konnte ein US-Biotech-Unternehmen einen brandneuen Impfstoff für klinische Tests an die Behörden schicken. Am 2. April, nur drei Monate, nachdem China zugegeben hatte, dass ein neues Virus aufgetaucht war, listete die National Library of Medicine in den USA 282 potenzielle Medikamente und Impfstoffe gegen das neue Virus auf und man rekrutierte bereits Patienten oder schlug es zumindest vor.

In einer ärmeren und geschlosseneren Welt ohne Massenverkehrsmittel bewegten sich Mikroorganismen langsamer, aber sie waren freier unterwegs, kursierten Hunderte Jahre, bis sie nach und nach fast alle von uns, einen nach dem anderen, ausgelöscht hatten. Heute ist unsere Reaktion ebenfalls global und daher hat die Menschheit zum ersten Mal eine Chance.

Das ist eine bemerkenswerte Leistung und wir vernachlässigen sie auf eigene Gefahr.

Dieses Buch ist sowohl ein Vorläufer- als auch ein Nachfolgeband zu meinem 2016 erschienenen Buch „Fortschritt: Ein Motivationsbuch für Weltverbesserer“. Das Buch war der Versuch, die erstaunlichen und überraschend wenig bekannten Entwicklungen zu dokumentieren, die in der modernen Welt stattgefunden haben. Aber ich habe stets nicht mehr getan, als die Gründe nur anzudeuten, wieso wir in den letzten 200 Jahren plötzlich mehr Fortschritt gemacht haben als in den vorherigen 20.000. In diesem Buch will ich darüber berichten, wie Offenheit den Fortschritt ermöglichte.

Gleichzeitig gehe ich noch einen Schritt weiter und betrachte die unsichere Zukunft des Fortschritts, indem ich mir die Kräfte ansehe, die ihn in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedrohen und ihn vielleicht doch noch zum Erliegen bringen. Ich schrieb „Fortschritt“ gerade zu der Zeit, als Populisten und Nationalisten die ersten Angriffe gegen die offene Weltordnung starteten, um uns alle daran zu erinnern, was auf dem Spiel steht. Dieses Mal will ich einen genaueren Blick darauf werfen, wieso es so verlockend ist, nicht über den Tellerrand hinauszublicken.

In der ersten Hälfte des Buches werde ich aufzeigen, wie der Freihandel, die Migration, das freie Denken und offene Gesellschaften die moderne Welt geformt haben – dass Offenheit ein natürliches Resultat ist, wenn Individuen versuchen, ihr eigenes Leben zu verbessern, und die Tatsache, dass sie am Ende die Gesellschaft als Ganzes und uns selbst in viel stärkerem Maße verbessert, als wir es ihr zutrauen.

Es stellt sich heraus, dass fast all die Dinge, die uns am Herzen liegen und von denen viele glauben, dass sie durch die Offenheit gefährdet werden, einst durch diese Offenheit geschaffen wurden. Das ist das Dilemma für den kulturellen Protektionisten: Er verteidigt immer etwas, das die Protektionisten vorheriger Generationen nicht erfolgreich verhindern konnten.

Meine Argumente basierten zum Teil auf einer Betrachtung der Weltgeschichte und ich skizziere, wie die Aufklärung, die industrielle Revolution und die ersten offenen Gesellschaften in Westeuropa Fuß gefasst haben, was aber nicht passierte, weil es Westeuropa war. Die europäischen Herrscher versuchten, wie alle anderen die Offenheit und den Fortschritt zu blockieren, denn sie wollten die Stabilität und herrschende Ordnung verteidigen und den Leuten das Geld aus der Tasche ziehen. Zum Glück waren sie nicht sehr gut darin und das machte den Weg frei für die kosmopolitischen Denker der Aufklärung und die Revolution der modernen Welt.

Die Weltgeschichte ist ein Genre der Geschichtsschreibung, das versucht, das Schubladendenken der Nationalgeschichten zu korrigieren, das die menschliche Erfahrung für patriotische Zwecke in ebendiese Schubladen steckt. Die Weltgeschichtsschreibung betrachtet auch die Randbereiche und die Verbindungen, die gegenseitige Befruchtung zwischen den Kulturen, die sie alle veränderte, und das oft gleichzeitig. Sie ist daran interessiert, wie die Europäer in den eroberten muslimischen Bibliotheken von der griechischen Philosophie erfuhren, wie sie sich in China wissenschaftliche Ideen aneigneten und ihre felsenfesten Ansichten über das Universum ins Wanken gerieten, weil sie sonderbare Dinge auf neuen Kontinenten fanden.

Aufgrund der aktuellen Gegenreaktionen gegen die Globalisierung glauben manche, dass die Welthistorie vorbei ist, bevor sie richtig Fahrt aufnahm. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Es ist wichtiger als je zuvor, die Welt zu verstehen, inklusive der Rückschläge, die von Natur aus global stattfinden. Die Gegenreaktionen wurden angeregt von transnationalen Ereignissen wie der Finanzkrise und der Migrationskrise; selbst Nationalisten reisen ständig über Grenzen, um sich gegenseitig zu inspirieren. Das Brexit-Referendum war ein Anschub für die Trump-Bewegung und die Wahl von Trump gab den Populisten in ganz Europa neue Energie – den Agitatoren und Parteien, die behaupten, es gäbe ein wahres, vereintes Volk, dessen allgemeiner Wille von einer korrupten Elite blockiert werde. Ein weiterer Anschub waren das Geld und die mediale Unterstützung aus Putins Russland, das begierig darauf ist, zu zeigen, dass der westliche Liberalismus überholt ist. Unterdessen betrachten westliche Antiliberale Putin als eine Quelle der Inspiration, denn er „steht für die traditionellen Institutionen ein“, wie Steve Bannon es ausdrückt.9

Wir können nicht ohne Offenheit leben, aber die Frage ist, ob wir mit ihr leben können. In der zweiten Hälfte des Buches werde ich einen genaueren Blick darauf werfen, warum die Offenheit immer bedroht ist, historisch und im Hier und Jetzt.

Ich werde argumentieren, dass die moderne Welt nicht absichtlich, sondern nahezu zufällig entstanden ist. Es geschah, weil es aufgrund zu vieler Lücken im Kontrollsystem der Fürsten, Priester und Gilden nicht gelang, die Kreativität der Menschen völlig auszubremsen. Sie wurde auf breiterer Ebene willkommen geheißen, weil man ihr so lange gestattet hatte, zu überleben, dass die Folgen in der Stärke der Gesellschaften und dem Lebensstandard der Menschen nur allzu deutlich wurden. Ist das ein ausreichendes Rezept für langfristige Nachhaltigkeit?

Ich kombiniere Lektionen aus der Geschichte mit Erkenntnisse der Evolutionspsychologie, um zu erforschen, wie unwohl uns angesichts dieser Offenheit zumute ist. Wir alle haben psychologische Veranlagungen, die uns dem Tribalismus, dem Autoritarismus und der Nostalgie zugeneigt machen, besonders, wenn wir uns durch Rezession, Ausländer oder Pandemien bedroht fühlen.

Unsere Neigung, die Welt in „wir“ und „die“ einzuteilen, wird immer dann verstärkt, wenn wir glauben, dass die Welt ein Nullsummenspiel ist und wir nicht alle gleichermaßen von Produktion, Mobilität und Handel profitieren können. Uns ist unbehaglich angesichts einer anscheinend chaotischen Gegenwart und einer unsicheren Zukunft. Das ist eine Chance für Demagogen, die uns versprechen, die Ordnung wiederherzustellen und Amerika, Russland, Indien, China oder Europa erneut „groß“ zu machen.

Ich werde einen Blick darauf werfen, wie eine Reihe von Krisen und Bedrohungen, vor allem die Finanzkrise, ein Gefühl geschaffen haben, dass wir angegriffen werden und uns schützen müssen, koste es, was es wolle. Das ist der Moment, in dem uns unsere genetische Flucht-oder-Kampf-Programmierung sagt, dass wir unsere Feinde finden und bekämpfen oder uns in unserer Gruppe hinter Zöllen und Mauern verschanzen müssen. Unsere menschliche Kreatur schuf diese moderne Welt und all ihre Wunder, aber sie verfügt auch über das Potenzial, alles einzureißen.

Ich werde mich auch auf die schwerwiegendsten Gegenargumente konzentrieren, die gegen Offenheit sprechen, vor allem die Sorge, dass sie Gemeinschaften und Lebensgrundlagen gefährdet und Ungleichheit und Umweltzerstörung hervorbringt. Ich werde argumentieren, dass diese Probleme in der Tat real und ernst sind, aber die einzige Art und Weise, wie wir damit fertigwerden und den Fortschritt am Leben erhalten, noch mehr Offenheit ist. Freiheit gibt uns nicht Sicherheit und Kontrolle, aber sie tut etwas Wichtigeres: Sie lässt uns Raum für das Unvorhersehbare und Unberechenbare und nur von dort können wir Fortschritt und Lösungen für unsere Probleme erwarten.

Das Wichtigste, was wir fürchten müssen, ist das Risiko, dass die Angst vor diesen Problemen uns dazu bringt, der Offenheit den Rücken zu kehren. Das würde uns der Mittel berauben, die Herausforderungen anzugehen, und es könnte sogar das umstoßen, was wir bereits erreicht haben. Wenn man den gegenwärtigen Lebensstandard, die Gesundheit, den Wohlstand, die Bildung und die Freiheit in einem historischen Kontext betrachtet, besteht kein Zweifel, dass wir in einem goldenen Zeitalter leben. Aber die Geschichte ist voller goldener Zeitalter, die nicht von Dauer waren.

Tom G. Palmer, einer der führenden klassischen liberalen Denker unserer Zeit, hat kürzlich gewarnt:

Ein Gespenst sucht die Welt heim: das Gespenst der radikalen antiliberalen Bewegungen, die alle mit den anderen wie Skorpione in einer Flasche im Kampf liegen und darum wetteifern, wer die Institutionen der Freiheit am schnellsten aushöhlen kann. Manche sind an den Universitäten angesiedelt und an anderen Zentren der Elite und manche beziehen ihre Kraft aus einer populistischen Wut. Die linken und rechten Versionen des allgemeinen antiliberalen Impetus sind darüber hinaus miteinander verbunden und jede befeuert die andere. […]

Diejenigen, die den Konstitutionalismus der Diktatur vorziehen, die freien Märkte der Vetternwirtschaft oder sozialistischen Planwirtschaft, den Freihandel der Autarkie, die Toleranz der Unterdrückung und die soziale Harmonie dem unversöhnlichen Antagonismus, müssen aufwachen, denn unsere Anliegen und der Wohlstand und Friede, den es mit sich bringt, sind in großer Gefahr.10

Wieder in Gefahr, könnte man hinzufügen. Die Evolution, die Sie und mich in auf Zusammenarbeit ausgerichtete Händler verwandelt hat, hat uns auch in statusfokussierte Anhänger des Tribalismus verwandelt, die sich Sorgen darüber machen, inwieweit alle anderen vorankommen. Das ist der Grund, wieso offene Gesellschaften im Lauf der Geschichte plötzlich und manchmal ohne Vorwarnung wieder in kollektive Kriegslüsternheit, Nationalismus und Protektionismus zurückgefallen sind. Oder sogar tatsächliche Kriege ausbrachen.

Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber die menschliche Natur.

1 OFFEN

1

OFFENER AUSTAUSCH

„Wir sind alle in einem unentrinnbaren Netzwerk der Gegenseitigkeit gefangen, vernäht mit einem einzigen Gewebe des Schicksals. […] Noch bevor Sie morgens Ihr Frühstück beendet haben, sind Sie schon von der halben Welt abhängig.“

- Martin Luther King, 1967 -

Im Juli 2017 überarbeitete Donald Trump eine Rede, die er bald halten sollte, mit seinem Stabssekretär. Auf den Rand kritzelte er drei Worte, die darauf hinwiesen, was er in der Rede besonders betonen wollte und was auch seine „America first“-Weltsicht zusammenfasste:

„HANDEL IST SCHLECHT.“1

In den Augen Trumps und vieler der Populisten der Rechten und Linken, die überall auf der Welt aufsteigen, ist der Freihandel der übelste ausländische Import von allen. Es ist etwas, das den unschuldigen Menschen von [fügen Sie hier das Land ein, in dem Sie zufällig leben] durch mächtige Ausländer aufgezwungen wird, die unsere Industrie zerstören wollen, indem sie uns mit billiger Ware überschwemmen. Es ist ein Plan der Chinesen, der WTO, der EU, uns schäbige und möglicherweise gefährliche Importe aufzuhalsen. Ironischerweise haben in Europa lange Zeit die Kritiker von der Globalisierung als einem US-amerikanischen Plan gesprochen. Manche nannten es „Amerikanisierung“. Kurz nachdem ich Trumps hingekritzelte Worte gelesen hatte, schickte mir ein Freund eine Nachricht von der Schule seiner Kinder, in der von einem Problem mit Brotzeitdosen die Rede war. Anscheinend hatten die Kinder angefangen, untereinander ihre Brotzeit zu tauschen. Reiskekse in den Brotzeitdosen verursachten die größten Probleme, denn die Schulkinder nutzten sie, um für andere Güter zu bezahlen und sogar, um sich bei Aufgaben helfen zu lassen oder andere Dienstleistungen zu entlohnen. Die Schule wollte die Hilfe der Eltern, um die Kinder davon abzuhalten, dem Freihandel zu frönen. Die Kinder hatten erkannt, dass sie durch Handel etwas zu essen bekommen konnten, das ihnen besser schmeckte als das, was sie bereits hatten. Nach einem Austausch dachten also beide Seiten, sie hätten nun eine bessere Brotzeitdose als vorher. Sie entwickelten sogar ein Tauschmedium – Reiskekse –, denn sie stellten fest, dass sie damit den Markt erweitern konnten.

Handel wird uns nicht von außen aufgezwungen. Ein Markt ist nicht ein Ort und nicht einmal ein Wirtschaftssystem. Es ist das, was Menschen tun, egal wo sie sind, in allen Bereichen, sogar Kinder, solange sie nicht von der Regierung – oder den Eltern – davon abgehalten werden.

Nachdem er die historischen Belege begutachtet hatte, kam der britische Journalist und Wissenschaftsautor Matt Ridley zu dem Schluss:

Es gibt keinen menschlichen Stamm, der nicht handelt. Westliche Forscher, von Christoph Kolumbus bis zu Captain Cook, stießen auf allerlei Schwierigkeiten und Missverständnisse, als sie das erste Mal in Kontakt mit isolierten Völkern kamen. Aber das Prinzip des Handels gehörte nicht dazu, denn die Völker, die sie trafen, hatten in jedem einzelnen Fall bereits eine Vorstellung davon, dass man Dinge austauschen kann. Innerhalb von Stunden oder Tagen nachdem er einen neuen Stamm getroffen hat, treibt jeder Entdecker Handel.2

Warum handeln wir? Der Ökonom Charles Wheelan bat einmal darum, man solle sich die beste Maschine der Welt vorstellen.3 Sie würde Sojabohnen in Computer verwandeln. Das sei für die Farmer fantastisch. Sie könnten das tun, worin sie gut sind, und trotzdem die Computer bekommen, die sie bräuchten, um ihre Bewässerungssysteme zu steuern. Und was sogar noch besser wäre, dieselbe Maschine könnte Bücher in Kleidung verwandeln. Ich könnte fünf Exemplare dieses Buches hineinstecken und ein neues Hemd würde herauskommen. Erstaunlicherweise könnte die Maschine sogar programmiert werden, um Möbel in Autos zu verwandeln, medizinische Versorgung in Elektrizität, Flugzeuge in Finanzdienstleistungen und Mineralwasser in Wein. Und sie könnte all diese Dinge auch wieder zurückverwandeln. Tatsächlich könnte sie alles, was man schon hätte, in alles verwandeln, was man wollte.

Die Maschine würde auch in armen Ländern funktionieren, wo die Menschen dasjenige in die Maschine hineinstecken würden, was sie produzieren könnten, auch ohne eine Menge Kapital und Bildung – sagen wir, Rindfleisch oder Textilien – und am anderen Ende würde Hightechmedizin und Infrastruktur herauskommen. Die beste Methode, arme Länder reich zu machen, bestünde offensichtlich darin, ihnen Zugang zu einer solchen Maschine zu geben.

Es hört sich wie Magie an, aber diese Maschine existiert bereits.

Man nennt sie Handel. Man kann sie überall einsetzen und sie funktioniert allein aufgrund menschlicher Vorstellungskraft und indem man die Protektionisten (oder Eltern) fernhält. Das ist kein finsterer ausländischer Plan, es ist die schnellste Methode, mehr Wohlstand durch das zu generieren, was man selbst herstellt, und die einzige Methode für arme Länder, reich zu werden, und für reiche Länder, noch reicher zu werden.

Die Menschheit hat, so dachte der schottische Philosoph und Ökonom Adam Smith, „eine Veranlagung, zu handeln, zu feilschen und zu tauschen“.4 Egal welches Zeitalter der Geschichte wir betrachten, die Menschen tauschen Gefälligkeiten, Ideen, Güter und Dienstleistungen aus. Und je tiefer die Archäologen graben, desto weiter zurück in der Geschichte sieht man die Belege für den menschlichen Austausch. Er reicht in der Geschichte Tausende Jahre zurück und laut einiger kürzlich gemachter Funde ist der Handel so alt wie die Menschheit selbst.

Homo mercator

Die ältesten Fossilien des Homo sapiens sind um die 300.000 Jahre alt. Genauso wie die ersten, kürzlich entdeckten Anzeichen von Fernhandel.5

Olorgesailie, das heute ausgetrocknete Becken eines uralten kenianischen Sees, ist eine wahre Fundgrube für Archäologen. Über die Jahre entdeckten sie vieles dort, aber nichts war so faszinierend wie die sorgfältig bearbeiteten und spezialisierten, mehr als 300.000 Jahre alten Werkzeuge, Speerspitzen, Schaber und Ahlen. Nicht nur ihr Alter ist erstaunlich, sondern auch das Material, aus dem sie gemacht sind: Obsidian. Dieses schwarze Vulkanglas wurde sehr geschätzt, denn man kann es leicht zerbrechen, um daraus rasiermesserscharfe Schneidwerkzeuge und Waffen herzustellen.

Obsidian wird auch von den Archäologen und Historikern geschätzt, denn es wird nur an einigen wenigen Standorten mit vulkanischer Aktivität gewonnen. Erstaunlicherweise ist keiner dieser Orte in der Nähe von Olorgesailie. Tatsächlich kam das Obsidian wahrscheinlich aus Quellen, die bis zu 88 Kilometer entfernt sind, wenn man die Abkürzung über die Berge nimmt. Die Forscher halten es für sehr unwahrscheinlich, dass die Menschen von Olorgesailie dorthin gependelt sind, und nehmen eher an, dass sie Teil eines Langstrecken-Handelsnetzes waren, über das Güter und Ressourcen für das Obsidian eingetauscht wurden, das sie haben wollten. Diese Interpretation wird von der Tatsache gestützt, dass sie auch bunte Steine zum Färben benutzten, die ebenfalls von weit her importiert worden waren.

Handeln, feilschen und tauschen – vor 300.000 Jahren.

Menschen haben schon immer kooperiert. Die Frühmenschen haben nicht nur untereinander Obsidian und Werkzeuge getauscht, sondern auch Know-how, Gefälligkeiten und Loyalität. Sie kooperierten beim Aufziehen der Kinder, bei der Verteidigung, beim Jagen und Sammeln. Am wichtigsten war jedoch, dass diese Kooperation sich auf andere Menschen erstreckte, die nicht Teil der Familie waren, Individuen im Stamm, die nicht verwandt waren, und auf die Besitzer des Obsidians auf der anderen Seite der Berge. Diese Beziehungen änderten sich ständig. Es war nicht einfach Bevorzugung des eigenen Stamms, sondern gegenseitig, ein Austausch, von dem beide Parteien einen Nutzen hatten. Wie es eine Beschreibung der Inuit-Kultur darstellte: „Der beste Platz für ihn, etwas aufzubewahren, was er selbst nicht braucht, ist im Magen eines anderen, denn früher oder später wird er sein Geschenk zurückerwarten.“6

Wir lieben Reziprozität und das sogar so sehr, dass wir uns schlecht fühlen, wenn wir nicht die Chance erhalten, etwas Nettes mit Nettigkeit zu vergelten (oder Böses mit Bösem). Die Produzenten von kostenlosen Onlinegütern waren überrascht, als sie feststellten, dass die Menschen bezahlen wollen, selbst wenn sie es nicht müssen, sobald man ihnen eine einfache Bezahlmöglichkeit bietet. Deswegen gibt Ihnen der Händler auf dem Basar immer einen Kaffee, sodass Sie das Gefühl haben, Sie schuldeten ihm wenigstens einen genauen Blick auf seine Waren. Deswegen sollten Sie auch zweimal überlegen, bevor Sie ein teures Geschenk von jemandem annehmen, der nicht Ihr Partner oder Ihre Partnerin ist.7

Kooperation und Austausch waren so essenziell für die Menschen, dass es schwer ist, zu erklären, was zuerst kam: der Handel oder der Homo sapiens. Und das meine ich wörtlich. Die Menschen gaben dem Handel seine Form, aber der Handel formte auch die Menschen, zu denen wir wurden. Das ist der Schlüssel, um zu verstehen, wie Menschen es schafften, die Welt zu erobern und alle Klimazonen zu besiedeln – trotz nur wenigen umweltbedingten genetischen Anpassungen.

Der Evolutionspsychologe Steven Pinker glaubt, dass die Eigenheiten des Homo sapiens durch die „kognitive Nische“ der Wissensanwendung der gegenseitigen sozialen Abhängigkeit erklärt werden können. Vor ein paar Hunderttausend Jahren haben wir gleichzeitig drei einzigartige Eigenschaften entwickelt: Intelligenz, Sprache und Kooperation. Diese verstärken sich gegenseitig: Schrittweise Verbesserungen der einen machen die andere wertvoller und verändern daher die soziale und physische Umgebung – und damit den evolutionären Druck für zusätzliche Anpassungen.8

Die Intelligenz macht es möglich, zu lernen und Informationen sowie Fähigkeiten im Gedächtnis zu speichern. Eine grammatikalisch fortgeschrittene Sprache erlaubt es uns, darüber mit anderen zu kommunizieren, sodass sie auf unseren Erfahrungen aufbauen können und nicht die gleichen Fehler selbst machen oder das Rad neu erfinden müssen. Das gibt uns sowohl die Mittel als auch den Anreiz, mit anderen zu kooperieren – und nicht nur mit unseren Verwandten. Eine offene Kommunikation erlaubt es uns, Wissen mit geringem eigenem Aufwand zu teilen und Verhalten zu koordinieren. Intelligenz ermöglicht – manchmal implizit – das Aushandeln von Absprachen über Gefälligkeiten und Güter, die zu verschiedenen Zeitpunkten ausgetauscht werden. In dem Moment, als die Menschen von einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit profitierten, erhöhte sich der Wert der Intelligenz und der Sprache dramatisch, was eine weitergehende Zusammenarbeit ermöglichte und so weiter.