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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Copyright der Originalausgabe 2021:

Copyright der deutschen Ausgabe 2021:

Übersetzung: Matthias Schulz

ISBN 978-3-86470-796-4

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Für Gail Ursell, die die Idee hatte,
und Bill Winters, der den Mut hatte,
die Idee zu realisieren

Martin Lindstrom

PLÄDOYER
FÜR DEN GESUNDEN

MENSCHEN
VERSTAND

5 Schritte für mehr Lebensqualität und weniger Bürokratie am Arbeitsplatz

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„Gesunder Menschenverstand ist die Fähigkeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und sie so zu tun, wie sie getan werden sollten.“

Josh Billings

INHALT

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VORWORT

EINLEITUNG

1WARUM KRIEGE ICH MEINEN FERNSEHER NICHT AN?

2WO IST DIE EMPATHIE HIN?

3VON AUSSEN NACH INNEN, NICHT VON INNEN NACH AUSSEN

4DIE UNSICHTBAREN ZWÄNGE DER POLITIK

5DER ZUGRIFF AUF DIESES KAPITEL WURDE VERWEIGERT

6ZEIGEN SIE MIR IHR DECK!

7WAS LAUERT DENN DA IM SCHATTEN?

8ANGST UND SCHRECKEN IN DER UNTERNEHMENSWELT

9WIE ALSO KÖNNTE DIE ANTWORT LAUTEN?

10SO ENTSTEHT DAS MINISTERIUM FÜR GESUNDEN MENSCHENVERSTAND

EINES NOCH …

DANKSAGUNG

ÜBER DEN AUTOR

QUELLEN

VORWORT

VON MARSHALL GOLDSMITH

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ALS WIRTSCHAFTSPÄDAGOGE, COACH UND AUTOR arbeite ich für gewöhnlich mit erfolgreichen Menschen, die besser werden wollen in dem, was sie tun. Manchmal bedeutet das, Führungskräfte zu beraten, die nicht mehr wissen, wo sie stehen. Die Orientierungshilfe könnte interner Natur sein („Wohin gehe ich?“) oder externer Natur („Wie passt das, was ich tue, zu diesem Unternehmen?“). Üblicherweise handelt es sich um eine Mischung aus beidem. Die Menschen, mit denen ich arbeite, erkennen häufig, dass die Fähigkeiten, die sie erfolgreich gemacht haben, nicht immer deckungsgleich mit den Fähigkeiten sind, die sie auf die nächste Ebene führen können.

Warum sollte diese Art Verwirrung nicht auch Unternehmen befallen? Viele Firmen tun das, was sie tun, bereits seit langer Zeit und oftmals auch so gut, dass sie sich selbst gar nicht mehr hinterfragen. Menschen und Unternehmen geben sich gerne Wahnvorstellungen hin, was ihre Stärken und Schwächen anbelangt. Die Stärken werden in den Vordergrund gerückt, die Schwächen kehrt man unter den Teppich. (Für Außenstehende ist das häufig augenscheinlich, aber weniger klar für Personen innerhalb des Betriebs.) Was sich viele Unternehmen gar nicht bewusst machen: Erfolgreich sind sie nicht wegen, sondern trotz diverser hartnäckiger Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Regeln, Vorgaben und Kulturen.

Martin Lindstrom leistet seit Jahren rund um die Welt bahnbrechende Arbeit als Markenberater. Thinkers50 führte ihn drei Jahre in Folge unter den 50 wichtigsten Vordenkern der Geschäftswelt. Manchmal ist es schockierend, sich vor Augen zu führen, hinter wie vielen atemberaubenden Innovationen er steckt – und dass sie tatsächlich alle aus ein und demselben Gehirn kommen. In der jüngeren Vergangenheit hat sich Martin darauf verlegt, globale Unternehmen und Kulturen von Grund auf zu transformieren. Wo auch immer er hinkommt, stößt er wieder und wieder auf dasselbe Problem: Es mangelt an gesundem Menschenverstand.

Wir Menschen leiden darunter, dass wir selbst uns anders sehen als der Rest der Welt. Spoiler-Alarm: Meistens liegt die Welt richtig! Ich habe „Mojo“ (so heißt übrigens auch eines meiner Bücher) einmal definiert als „positive geistige Haltung gegenüber unserer aktuellen Aktivität, eine Haltung, die im Inneren beginnt und nach außen strahlt“ und die zu mehr Bedeutung, mehr Glücklichsein und zu einem besseren Engagement der Angestellten führt. Den dunklen Zwilling des Mojo bezeichne ich als „Nojo“ und es handelt sich für mich um eine „negative geistige Haltung gegenüber unserer aktuellen Aktivität, eine Haltung, die im Inneren beginnt und nach außen strahlt“. In dieser „Nojo“-Kategorie können wir auch eine Ecke für den weltweiten Mangel an gesundem Menschenverstand freiräumen.

In diesem ausgesprochen witzigen, unterhaltsamen und informativen Buch liefert uns Martin zahlreiche Fallbeispiele, bei denen der gesunde Menschenverstand völlig abhandengekommen ist – geht es nun um antiquierte Regeln, endlose Meetings, schlimme Kundenerfahrungen, Rechtsprobleme, Compliance-Ärger oder was auch immer. Aber als Experte für Unternehmens- und Kulturtransformation schlägt Martin nicht einfach nur ein paar tote Äste ab und reitet dann in den Sonnenuntergang. Er taucht tief ein in die Organisation und fahndet nach den Wurzeln der Ineffizienz, der Undurchführbarkeit und der allgemeinen Klotzköpfigkeit. Er zeigt uns die Zusammenhänge zwischen dem Binnenklima eines Unternehmens und dem, womit die Kundschaft zu kämpfen hat. Die Fernbedienung für den Fernseher, von der niemand weiß, wie sie funktioniert? Der komplett sinnentleerte Internetauftritt eines Unternehmens? Alles geht zurück auf firmeninterne Flaschenhälse, die Geschäftsführung und Belegschaft nicht registrieren, weil sie sich zu sehr auf sich selbst konzentrieren. Und wie Martin (überzeugend) argumentiert, mangelt es dort, wo der gesunde Menschenverstand fehlt, oftmals auch an Empathie.

Wenn Angestellte das, was sie tun, freiwillig tun, dann halten wir sie meiner Erfahrung nach für engagiert. Wenn sie dagegen tun, was sie tun müssen, dann bezeichnen wir sie als „konform“. Die meisten Unternehmen verfügen über bestenfalls begrenzte Systeme, um wertzuschätzen, dass eine schlechte Entscheidung vermieden oder ein schlechtes Verhalten abgewendet wurde. Sie konzentrieren sich auf das, was sie tun, nicht auf das, was sie nicht tun. In diesem Buch zeigt uns Martin, was die meisten Unternehmen nicht tun, aber tun sollten. Er gibt uns konkrete Lösungsansätze an die Hand, mit denen der gesunde Menschenverstand und die Empathie in Organisationen wieder Einzug halten können, unabhängig von deren Größe oder Form.

Ich glaube seit Langem, dass 360-Grad-Feedback ein guter Weg ist, erfolgreichen Menschen dabei zu helfen zu erkennen, wie sie besser werden und ihre Beziehungen am Arbeitsplatz verbessern können. In diesem Buch führt Martin seine eigene, sehr gründliche Version der 360-Grad-Bewertung durch. Sie werden überrascht sein. Sie werden unterhalten sein. Sie werden erleichtert sein – es geht auch anderen so! Und schließlich werden Sie daran erinnert, dass Kategorien wie B2B oder B2C nicht sonderlich hilfreich sind, denn letztlich hängt alles von H2H ab, von „human to human“, von Mensch zu Mensch. Das sagt der gesunde Menschenverstand.

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MARSHALL GOLDSMITH ist laut Thinkers50, Fast Company und Global Gurus der weltweit führende Managementcoach. Er ist der Autor von Bestsellern wie Was Sie hierher gebracht hat, wird Sie nicht weiterbringen, Triggers und Mojo.

EINLEITUNG

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Sind Sie bei der Arbeit auch schon einmal von Ihrem Computer ausgesperrt worden? Nicht weiter schlimm, sagt die IT, Hilfe bekommen Sie über die Webseite. Aber wie sollen Sie auf die Webseite zugreifen, wenn doch Ihr Computer gesperrt ist?!

Wenn Sie in CC stehen, sind Sie Teil der Konversation. Niemand käme auf die Idee, Sie nicht länger ins CC zu setzen, schließlich sind Sie ja auch an der Lösung des Problems interessiert (glaubt zumindest das Team). Aber bei letzter Zählung umfasste diese Konversation 158 E-Mails und inzwischen würden Sie viel Geld dafür bezahlen, nicht länger im CC-Verteiler zu stehen.

Sie haben der Abteilungsleitung Ihre Reisepläne geschickt, aber noch nichts gehört. Leider hat die IT das Formular so eingerichtet, dass nach 24 Stunden alles gelöscht wird. Jetzt dürfen Sie den ganzen Reiseplan erneut eingeben und einreichen.

Eine Fachmarktkette ist in den gesamten USA aktiv und verkauft dort alles von Waschmaschinen und Trocknern bis zu Hängematten. Aber warum besagt eine interne Vorgabe, dass man an den über 100 Standorten in Florida Geräte zum Schneeräumen vorrätig haben muss? Zuletzt geschneit hat es dort 1977.

HEUTE LÄSST SICH MIT GUTEM GEWISSEN BEHAUPTEN, dass wir es ständig mit Beispielen dafür zu tun haben, wie sehr uns der gesunde Menschenverstand abhandengekommen ist. Mir jedenfalls geht das so. Als globaler Berater werde ich vordergründig dafür angeheuert, Marken zu erschaffen oder zu reparieren. Aber in neun von zehn Fällen diene ich letztlich als Vermittler für organisatorische Veränderung. Ich decke die blinden Flecken und die Fehlkommunikation auf, den furchtbaren Kundendienst, die Produkte, die keinen Sinn ergeben oder nicht einmal funktionieren, die Verpackungen, die uns bis zur Weißglut bringen, und den allgemeinen Mangel an Intuition (offline wie online). Dann mache ich mich daran, diese Dinge aus der Welt zu schaffen. Ich kann bestätigen, dass das Verschwinden von gesundem Menschenverstand in Unternehmen wie eine Epidemie um sich gegriffen hat – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern überall.

Vergangenes Jahr war ich am Flughafen (da bin ich fast immer anzutreffen) und gönnte mir ein neues Paar Kopfhörer. Sie waren schwarz, mit Geräuschabschirmung, bluetoothfähig, überteuert und ich sah damit nicht wie ein Teletubby aus. Ich bezahlte, griff den Bon und ging zu meinem Gate.

Was ich in diesem Augenblick nicht ahnte: Ich würde die nächsten 45 Minuten mit dem Versuch verbringen, die Kopfhörer aus ihrer Verpackung zu bekommen. Sie waren festgenagelt und lagerten sicher in einer Hartplastikschale, die wie ein halber BH einer Walküre aussah. Das Kabel wiederum steckte in einem eigenen Kunststoffrechteck. Egal, was ich tat, und egal, aus welchem Winkel ich angriff – die Kunststoffverpackung wollte nicht nachgeben. Da bewegte sich nichts und es tat sich keine Öffnung auf, an der ich ansetzen konnte.

Ich versuchte, die Verpackung aufzureißen, gab aber auf, als meine Finger begannen, zu schmerzen. Ich versuchte, die Verpackung aufzubeißen, aber das tat meinen Zähnen mehr weh als dem Kunststoff. Ich schlug die Verpackung immer wieder wie eine Piñata gegen meinen Sitz. Nichts funktionierte.

Langsam wurde es wirklich albern und nervtötend, außerdem ging mein Flieger bald. Ich wühlte in meinem Handgepäck auf der Suche nach etwas Scharfem herum, vielleicht einem Schlüssel oder einem Nagelknipser, mit dem ich dem Kunststoff zu Leibe rücken könnte. Nichts. Schließlich bat ich um Hilfe: „Sie haben nicht zufällig eine Schere da, oder?“, fragte ich die Dame am Schalter. Nein, habe sie nicht. „Oder ein Messer?“ Auch nicht. Ich sah ihr an, dass sie am Flugsteig lieber kein Gespräch über Scheren und Messer geführt hätte.

Mir blieb nicht mehr viel Zeit vor dem Abflug, also raste ich zu dem kleinen Kiosk zurück, wo ich die Kopfhörer gekauft hatte. „Können Sie mir bitte helfen?“, bat ich den Kassierer. Ganz offensichtlich war es nicht das erste Mal, dass er sich einer derartigen Bitte ausgesetzt sah. Er zog ein Teppichmesser aus einer Schublade, sägte ungefähr eine Minute an dem Kunststoff herum und reichte mir schließlich Kopfhörer und Kabel. „Wollen Sie den Behälter mitnehmen?“, fragte er mich. „Nein“, erwiderte ich. „Ich will diesen Behälter niemals wiedersehen.“

Eine derartige Erfahrung widerspricht dem, was man als „gesunden Menschenverstand“ bezeichnen könnte, auf geradezu delirierender Weise. Fassen wir noch einmal zusammen: Ich hatte für ein Paar Kopfhörer nahezu 400 US-Dollar ausgegeben. Aus irgendeinem Grund hatte ich meine Kettensäge und sonstiges schwere Gerät zu Hause gelassen. Da ich mir die Kopfhörer an einem Flughafen gekauft hatte, muss ich offensichtlich vergessen haben, meine eigenen einzupacken. Vielleicht war es aber auch ein Impulskauf (in diesem Fall zutreffend) und ich beabsichtigte, sie während des Fluges zu tragen, um heulende Säuglinge auszublenden oder Musik zu hören. Aber wie sollte ich (oder sonst jemand) die Verpackung aufbekommen?

Nun sagen Sie vielleicht, ich habe mir ein ganz spezielles Beispiel herausgepickt, weil es meine These stützt, dass der gesunde Menschenverstand an allen Ecken und Enden abhandengekommen ist. Meine eigenen Erfahrungen mit Unternehmen hätten mich blind gemacht für die Vernunft, die Praxisnähe, das Urteilsvermögen und die Geradlinigkeit, die die meisten globalen Organisationen auszeichnet. Glauben Sie mir, das ist reines Wunschdenken.

Üblicherweise beauftragt mich ein Unternehmen damit, den tieferen Zweck einer Marke zu identifizieren oder die Kundenerfahrung zu verbessern. Vielleicht soll ich ein neues Logo entwickeln, eine Webseite überarbeiten, einen Duft, ein Bier, eine Armbanduhr oder ein Einzelhandelsumfeld branden. Doch in den allermeisten Fällen wird sehr schnell deutlich, dass das wahre Problem – das für die lausige Moral verantwortlich ist, für die unterdurchschnittliche Produktivität, für die frustrierte Kundschaft und für das anhaltende Fehlen von Innovation (obwohl mir die Führungskräfte beteuern, wie begierig sie doch seien, neue Ideen in ihrer Organisation zu „entfesseln“ oder „nutzbar zu machen“, zwei Formulierungen, die ich mittlerweile hasse) – darin besteht, dass die Unternehmen das, was sie einst an gesundem Menschenverstand besessen haben, zugunsten von Systemen und Prozessen aufgaben, die selbst ein zwei Wochen alter Golden Retriever als dumm erkennen würde. Entweder besaßen die Unternehmen vom Start weg wenig gesunden Menschenverstand oder sie haben nicht bemerkt, wie er ihnen abhandengekommen ist.

Dieser weit verbreitete Mangel an gesundem Menschenverstand beeinträchtigt das wahre Geschäft der Unternehmen – dass sie ihre Kundschaft besser bedienen als die Konkurrenz und dass sie reaktionsschneller, aufmerksamer und stärker im Einklang mit den Bedürfnissen der Kundschaft agieren. Die Unternehmen sind dermaßen in ihre hausgemachten Probleme verstrickt und zusätzlich von unsichtbaren Bürokratiebergen in den Köpfen der Belegschaft geplagt, dass sie ihren eigentlichen Zweck aus den Augen verloren haben. Das kommt sie unvermeidlich teuer zu stehen.

Dieser weit verbreitete Mangel an gesundem Menschenverstand beeinträchtigt das wahre Geschäft der Unternehmen – dass sie ihre Kundschaft besser bedienen als die Konkurrenz und dass sie reaktionsschneller, aufmerksamer und stärker im Einklang zu den Bedürfnissen der Kundschaft agieren. Die Unternehmen sind dermaßen in ihre hausgemachten Probleme verstrickt und zusätzlich von unsichtbaren Bürokratiebergen in den Köpfen der Belegschaft geplagt, dass sie ihren eigentlichen Zweck aus den Augen verloren haben. Das kommt sie unvermeidlich teuer zu stehen.

Dieses Problem ist größer, als Sie es sich vorstellen können. Na gut, vermutlich können Sie es sich vorstellen.

Vor zwei Jahren – Covid war damals noch kein Thema – beauftragte mich Swiss International Air Lines, das Konzept des Reisens in der Economyklasse neu zu erfinden. Ich kam mit Mitgliedern der Geschäftsleitung zusammen und ihnen schwebten ganz offensichtlich bestimmte ästhetische Veränderungen vor: eine andere Begrüßung auf dem Videobildschirm, weniger grelle Leselampen, eine verbesserte Snackauswahl. Ich erklärte ihnen, bevor ich mich um Dinge wie Begrüßung, Beleuchtung und Bewirtung kümmern könne, müsse ich zunächst einmal die wahren Gründe dafür herausfinden, dass die Zahl der wiederkehrenden Fluggäste gegenüber früher zurückgegangen sei und dass die Airline nur auf Rang 18 rangierte, was die Pünktlichkeit anbelangte. Während der folgenden Monate besuchte ich gemeinsam mit Kabinenpersonal Fluggäste in deren Zuhause, damit sie sich aus erster Hand anhören konnten, wie es ist, im frühen 21. Jahrhundert eine Fluggesellschaft zu nutzen. Ich brachte Bodenpersonal, Piloten und Besatzung zusammen, damit sie verstanden, was die jeweils anderen überhaupt arbeiten. Ein Wort tauchte wieder und wieder bei nahezu allen auf, die ein Flugzeug bestiegen: „Sorge“.

Die eigentliche Flugangst ist dabei nur ein Teil des Ganzen, dabei handelt es sich möglicherweise um den arkadischsten Teil der gesamten Erfahrung. Aber es geht auch um die Sorge, rechtzeitig am Flughafen zu sein. Es geht um die Sorge, sich am Flughafen dicht an dicht mit Fremden aufhalten zu müssen, um den Umgang mit den Behörden, um die Mitreisenden, um die Besatzung – was, wenn das nicht nur alles Terroristen sind, sondern sie auch noch mit Covid infiziert sind? Es geht darum, dass man in einer Schlange stehend auf die Bordkarte wartet und sich sorgt, ob der Koffer zu schwer oder das Handgepäck zu groß ist. Da ist die Sicherheitskontrolle, bei der einem der Sicherheitsmensch zum hundertsten Mal sagt, man solle den Laptop (den man in Händen hält) nicht in der Tasche lassen. Man leert seine Taschen, reicht Gürtel und Schuhe herüber und stellt sich mit über dem Kopf gekreuzten Armen hin, während die Hose vom Gürtel befreit Zentimeter um Zentimeter über die Hüften rutscht. Ein Sicherheitsmensch schimpft, weil man in der Hemdtasche ein einzelnes Tic Tac vergessen hat.

Endlich hat man die Sicherheitskontrollen hinter sich gelassen, aber das war noch längst nicht das Ende. Jetzt kommt die Sorge, welche Zone oder welche bevorzugte Kundengruppe als erste an Bord darf (Jubilee Gold, Sapphire Silver, Sterling Platinum, Tequila Sunrise oder wer auch immer). Und wissen Sie was? Sie gehören zu Zone 9, das heißt, Sie dürfen gleichzeitig mit dem Gepäck (darunter einem Sarg), drei wütenden Deutschen Schäferhunden und einer Perserkatze namens Maria Magdalena an Bord. Es kommt Sorge auf, wenn beim Boarding das Ticket gescannt wird und man praktisch sofort in eine lange Warteschlange derer rennt, die darauf warten, endlich das Flugzeug betreten zu dürfen. Sorge, während man sich an den Businessklassepassagieren vorbeischiebt („Was sind das denn für Vögel? Die sind doch auch nichts Besseres als ich. Was habe ich bloß falsch gemacht?“). Sorge, während man in einem Gewühl aus Armen, Ellbogen und maskenlosen Passagieren, die einfach mitten im Gang stehen geblieben sind, nach Platz für sein Handgepäck sucht. Sorge, wer wohl neben einem sitzt. Sorge, was den Start anbelangt. Wird es zu Turbulenzen kommen und natürlich der Klassiker: Wird das Flugzeug in einen Berg krachen? Nicht vergessen wollen wir die Möglichkeit, dass jemand völlig Durchgeknalltes an Bord ist, Leute, von denen man ansonsten nur in der Boulevardpresse unter der Schlagzeile „Unfassbare Szenen an Bord eines Flugzeugs“ liest.

Dann kommt die Besorgnis rund um die Landung? Wird Schnee liegen, herrscht eine Hitzewelle? Wie lange es wohl dauern wird, bis man ein Uber oder ein Taxi bekommt? Gerät man mitten in die Rushhour? Was ist mit meinem Gepäck? Hat die Fluggesellschaft es verloren? Und wenn nicht, wird mein Gepäck das letzte auf dem Laufband sein? Und so weiter und so fort.

Für die meisten Fluggäste ist es diese Mischung aus Befürchtungen, einem Gefühl des Ausgeliefertseins, Klaustrophobie und Ängsten, die das auslösen, was ich hier einfach als „Sorge“ zusammengefasst habe. Begrüßungsbotschaften, Leselicht oder Snacks rangieren da ganz weit hinten auf der Liste.

Es tut mir leid, aber im Ernst: Ist all das wirklich neu für jemand, der schon einmal in einem Flugzeug geflogen ist? Ist das nicht einfach gesunder Menschenverstand? Einige Monate später nahm eine neue Abteilung in dem Unternehmen die Arbeit auf. Sie konzentrierte sich darauf, Ängste und Sorgen des durchschnittlichen Fluggasts weitestgehend zu minimieren, und hatte auch ein Auge auf andere Stellen innerhalb der Organisation, an denen es offenkundig an gesundem Menschenverstand mangelte. Schon bald begann das Unternehmen, seine Methoden zu ändern.

Wenn Sie heute als Fluggast von Swiss International beispielsweise von Zürich zum New Yorker Flughafen JFK fliegen, meldet sich der Pilot 40 Minuten vor der Landung über die Bordlautsprecher. Er gibt nicht nur die Nummer des Flugsteigs durch, an dem man landen wird, er erklärt auch, wie lange die Wartezeit bei der Einreisekontrolle sein wird, wie das Wetter sein wird, wie lange Sie zu Fuß voraussichtlich vom Gate zur Gepäckausgabe oder zur Passkontrolle gehen müssen und wie lange das Taxi voraussichtlich in die Innenstadt benötigt. Nun ist die Fluggesellschaft natürlich nicht für diese Dinge verantwortlich und sie liegen außerhalb ihrer Kontrolle, aber Sie steigen aus dem Flieger in dem Wissen, dass die Airline Ihre Zeitnöte, Ihre Gefühle und Ihre Besorgnis ernst nimmt.

Es gab noch einen weiteren Aspekt, der mit dem gesunden Menschenverstand zu tun hat und den die Fluggesellschaft unbeachtet gelassen hatte. Normalerweise ist es so, dass man aus dem Flugzeug aussteigt, dort eine Reinigungscrew in orangefarbenen Jacken steht und darauf wartet, das Flugzeug reinigen zu können. Das Team stürmt ins Flugzeug, klappt die Armlehnen hoch, saugt, schrubbt, wischt Oberflächen ab und sammelt an Dosen, Verpackungsmaterial, Zeitschriften, Zeitungen und sonstigen Dingen ein, was die Fluggäste zurückgelassen haben. Dann achten sie alle sorgfältig darauf, dass sämtliche Armlehnen wieder heruntergeklappt sind. Aber warum? Ein Kollege hat einmal gemessen, wie lange der durchschnittliche Fluggast benötigt, um bei heruntergeklappten Armlehnen in den mittleren Sitz oder den am Fenster zu gelangen, und wie lange, wenn die Armlehnen hochgeklappt waren: zwei bis drei Sekunden länger. Nun fing er an zu rechnen. Ein Airbus hat 220 bis 240 Sitze. Die Reinigungscrew hat sämtliche Armlehnen hoch- und dann wieder heruntergeklappt. Insbesondere das Herunterklappen kostete wertvolle Zeit. Warum die Armlehnen nicht oben lassen, damit es für die Passagiere beim Einsteigen leichter ist, zu ihrem Sitz zu gelangen?

In weniger als einem Jahr ist Swiss International Air Lines im Kopf der Kundschaft zu einem Synonym für Pünktlichkeit, Umsicht und Empathie geworden. Die Umsätze sind gestiegen, ebenso die Zahl der Fluggäste, die zum wiederholten Male mit Swiss International fliegen. Abteilungen und Dienste, die nie zuvor die Notwendigkeit, zu kommunizieren, gesehen hatten, arbeiteten nun nahezu nahtlos zusammen. Und Business Insider hat das Unternehmen kürzlich zur zweitbesten Airline in Europa gekürt.1

Rund 50 Prozent aller Menschen auf der Welt arbeiten für eine Organisation. Ein Unternehmen. Eine Behörde. Eine Schule oder Hochschule. Ein Krankenhaus. Eine Bank oder ein Versicherungsunternehmen. Ein Forschungsunternehmen. Einen Medien- oder Pharmakonzern. Frage ich die Leute, die das Sagen haben, wie viele Probleme es mit gesundem Menschenverstand in ihrer Organisation gibt, dann kneifen die meisten die Augen zusammen und geben eine Schätzung ab – ein paar Dinge, hier und dort etwas, aber nicht viel. Tatsächlich werden die meisten ausdrücklich betonen, dass gesunder Menschenverstand praktisch die Kernkompetenz ihrer Organisation darstellt. „Sehen Sie nur an, wie reibungslos unser Büro läuft.“ „Das neue IT-System ist viel besser als das alte (ist allerdings auch schon etwas überholt).“ „Wir sind im Aufstieg begriffen, ach was, wir gehen ab wie eine Rakete. Sehen Sie sich bloß unseren aktuellen Quartalsbericht an, da können Sie sehen, wie zufrieden die Wall Street mit unseren Fortschritten ist.“ Die Wahrheit sieht, zumindest meiner Erfahrung nach, anders aus: In großen Organisationen ist die Zahl der Probleme mit dem gesunden Menschenverstand enorm, falls sie denn überhaupt noch messbar ist. Je größer die Organisation, desto mehr mangelt es zumeist an gesundem Menschenverstand. Und wenn man sich die Zeit nimmt und mit den Menschen spricht, dann erklären sie einem, dass die IT-Abteilung aus einem Haufen Nerds besteht, die nie am Arbeitsplatz zu finden sind und die sich zu fein dafür sind, mit anderen Abteilungen zu kommunizieren. Zeit für einen haben sie sowieso nicht. Und lesen Sie ruhig einmal, was die Kundschaft online über das Unternehmen, seine Produkte und seinen Service zu sagen hat. Und was den Quartalsbericht und die Wall Street angeht – wen schert das? Denn dieses Unternehmen ist sowieso der reinste Alptraum.

Frage ich die Leute, die das Sagen haben, wie viele Probleme mit dem gesunden Menschenverstand es in ihrer Organisation gibt, dann sagen die meisten: „Nicht viele.“ Tatsächlich lässt sich die Zahl der Probleme in großen Organisationen gar nicht mehr messen.

Diese Stimmen sind nicht allein. Viele der Beispiele in diesem Buch, darunter auch die bereits erwähnten, klingen zu weit hergeholt, als dass sie echt sein könnten. Aber auch wenn ich hier nicht die Namen bestimmter Personen und Unternehmen nenne, garantiere ich Ihnen, dass sie existieren. Genauso wie diese Beispiele:

Auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie wurde in Italien ein Gesetz erlassen, das die Ansteckungsgefahr reduzieren sollte. Dazu wurde in Mailand die Zahl von Toiletten reduziert, die Restaurants ihrer Kundschaft anbieten durfte. Die Restaurants hielten sich an die Regel und versperrten sämtliche Kabinen bis auf eine. Aber was war mit den Gästen, die darauf warteten, die Toilette benutzen zu können? Ganz genau: Die standen allesamt dicht gedrängt in einer Warteschlange auf dem oftmals engen Flur vor der Toilette.

Da muss ich an einen Flug von Zürich nach Frankfurt denken, den ich etwa zu der Zeit genommen habe. Die Schweizer Behörden verlangten, dass alle 180 Passagiere zum Zweck der Nachverfolgung ein Formular ausfüllten, in das wir eintrugen, aus welcher Stadt wir kamen und wo wir hinwollten. Wir mussten sogar den Namen der Person im Nachbarsitz für den Fall eintragen, dass diese Person (oder wir) später über heftigen Husten, Gliederschmerzen und Fieber klagten. Alle 180 füllten das Formular brav aus, aber der Haken an der Sache: Die Fluggesellschaft hielt nur zwei Stifte bereit, sodass diese die nächsten 20 Minuten die Gänge auf und ab von Fluggast zu Fluggast und von keimverseuchter Hand zu keimverseuchter Hand wanderten.

Die Fluggesellschaft war auch sehr pingelig, was den Ausstieg aus dem Flieger anging. Einer nach dem anderen erhoben sich die Fluggäste in der Reihenfolge ihrer Reihen (1C, 2C, 3C…), rückten ihre Maske zurecht, sammelten ihre Sachen ein und verließen das Flugzeug. Es stand Handdesinfektionsmittel zur Verfügung für alle, die wollten, und jeder achtete auf 1,5 Meter Abstand. Dann wurden wir wie die Kühe in einen Shuttlebus gequetscht und zum Terminal gefahren – dicht gedrängt wie die Sardinen, Ellbogen an Ellbogen, Maske an Maske.

Ein Unternehmen rief ein neues Programm ins Leben, das die diversen Projekte, die es betrieb, „vereinfachen“ sollte. Das Problem dabei: Das Unternehmen verwendete buchstäblich Tausende Akronyme. „Hey Drew, ist das GLC inzwischen da und bestätigt es unser SSNR? Ist es RDF-fähig?“ Es gab dermaßen viele Akronyme, dass die Mitarbeiter den Überblick verloren. Um das Problem zu lösen, veröffentlichte das Unternehmen sein eigenes „Wörterbuch für interne Akronyme“ (Internal Acronym Dictionary, kurz IAD). Nun war das IAD nicht nur ein unfassbar langweiliger Lesestoff, es bedeutete auch, dass Beschäftigte, die einen Ausdruck wie „Verbrauchsgüter“ anstelle von CPG (für „consumer packaged goods“) verwendeten, getadelt wurden und die Anweisung erhielten, die entsprechende Abkürzung nachzuschlagen. Schon bald wurde es fester Bestandteil der Verhaltensregeln (die dort vermutlich VR hießen), Begriffe und die passenden Akronyme nachzuschlagen.

Ein Unternehmen, das die Baumarktkette Home Depot mit Ausrüstung und Teilen beliefert, bekam bei einem Meeting zu hören, dass auf der Verkaufsfläche zu viel geflucht werde. Ein Mitarbeiter wies darauf hin, dass Flüche durchaus branchenüblich seien und dass auch viele Kunden fluchten. Daraufhin verschickte die Personalabteilung unternehmensweit ein Memo: „Fluchen ist fortan auf Gespräche zwischen Beschäftigten und Kunden zu beschränken.“

Wo ist es denn hin? In den ersten Wochen des Covid-19-Lockdowns war Toilettenpapier so schwer zu finden wie ein Parkplatz in Manhattan. Während sich rund um den Globus die Menschen auf einen Lockdown mit unabsehbarem Ende einrichteten, waren in den sozialen Netzwerken praktisch jeden Tag Fotos und Videos von leeren Regalen zu sehen, was das Horten und die Panikkäufe bloß befeuerte. Selbst Amazon musste bei Lieferungen auf einmal mit monatelangen Wartezeiten arbeiten. Ist es nicht einfach gesunder Menschenverstand, dass Geschäfte und deren Lieferketten auch Extremereignisse berücksichtigen und ausreichend Toilettenpapier vorrätig haben? Hersteller anderer Gegenstände, die während der Pandemie beliebt waren (Alkohol, Sexspielzeug, Grußkarten, Waffen, Malbücher, Puzzle und Netflix-Abos), haben es doch auch geschafft.

Und für Amerikaner, die zwar Toilettenpapier ergattern konnten, dafür aber keinen Arbeitsplatz mehr hatten, gestaltete sich der Versuch, Arbeitslosenleistungen in Anspruch zu nehmen, teilweise noch schwieriger als die Suche nach einem neuen Job. Überall in den USA trafen die Zahlungen verspätet ein und manchmal auch gleich gar nicht. Und wer bei der Behörde in der Hoffnung anrief, ein echter Mensch würde einem erklären, warum der Antrag noch nicht bearbeitet worden war oder warum sämtliche Leistungen gesperrt waren, der verbrachte nicht selten mehrere Stunden in der Warteschleife, bevor einen das Telefonsystem abrupt aus der Leitung warf.

Mit Maske oder ohne Maske, bei persönlichen Besprechungen, Zoom-Konferenzen oder Meetings per Microsoft Teams, inmitten einer Pandemie oder in der Zeit danach – wie Sie sehen werden, mangelt es überall dort an gesundem Menschenverstand, wo Menschen zusammenkommen. Mehr als alles andere hoffe ich, dass die folgenden Seiten verdeutlichen, dass es nicht nur Sie sind, die sich am Arbeitsplatz Tag für Tag mit Frustrationen, Einschränkungen, Kopfschmerzen, Wirrwarr und Fußfesseln herumärgern müssen. Glauben Sie mir: Solch dummes Zeug passiert überall auf der Welt.

In den folgenden Kapiteln präsentiere ich Ihnen nicht nur weitere schwer zu glaubende, aber wahre Fallbeispiele aus unterschiedlichen Branchen und kundenorientierten Umgebungen. Ich versuche zudem, Ihnen einen Fahrplan für Ihr eigenes Ministerium für gesunden Menschenverstand an Ihrem Arbeitsplatz an die Hand zu geben.

Für mich klingt das absolut sinnvoll. Es klingt nach gesundem Menschenverstand.

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WARUM KRIEGE ICH MEINEN FERNSEHER NICHT AN?

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VIELLEICHT WIRD IHNEN INZWISCHEN KLAR, was mir klar wurde: In Unternehmen aller Größen und Formen ist der gesunde Menschenverstand abhandengekommen. Wir haben es mit einem weit verbreiteten, tief sitzenden und ein wenig deprimierenden Phänomen zu tun. Aber wohin ist er verschwunden? Und hat seine Abwesenheit dazu geführt, dass – um nur ein Beispiel zu nennen – die amerikanische Behörde für Flugsicherheit TSA es verbietet, ein Messer mit an Bord eines Flugzeuges zu nehmen, laut der TSA-Webseite aber Geweihe, künstliche Knochen, Bocciakugeln und Brotbackmaschinen in Ordnung sind?2 Oder dass die italienische Regierung per Gesetz runde Eiswürfel verbietet, weil man sie als Waffen verwenden kann (das gilt auch für die eckige Variante, aber das scheint niemand zu stören)? Oder dass ich einmal in einer asiatischen Toilette ein Schild gesehen habe, auf dem stand: „Während der Benutzung nicht auf dem Toilettensitz stehen!“ Diese tagtäglichen Angriffe auf den gesunden Menschenverstand fressen nicht nur Zeit, saugen Energie ab und machen wütend, sie sind auch kostspielig. Ein Beraterunternehmen hat errechnet, dass alte Bestimmungen und Abläufe, die vor Jahren eingeführt und seitdem nicht aktualisiert wurden, die Unternehmen jährlich 15 Milliarden US-Dollar für Entwicklung und Compliance kosten – zusätzlich zu den 94 Milliarden, die die Durchsetzung eben dieser Regeln die Firmen ohnehin kostet.

Bei fast allen Organisationen in meinem Kundenkreis habe ich deshalb begonnen, ein Ministerium für gesunden Menschenverstand einzurichten, das daran arbeitet, all die internen Frustrationen, Hürden und Hindernisse aus der Welt zu schaffen, von denen die meisten Führungskräfte und Manager nicht einmal wissen, dass sie überhaupt existieren. Bei diesem Ministerium handelt es sich nicht um eine dieser widerlichen, skurrilen „Wir haben uns alle lieb“-Einrichtungen. Es ist kein Pflaster. Es ist real und dient als erste Verteidigungslinie gegen unbedachte, gelegentlich unzusammenhängende Systeme, Abläufe, Regeln und Bestimmungen, die Ressourcen, Moral und Produktivität verschlingen.

Heute reise ich um die Welt und verwandle Unternehmenskulturen von innen heraus. Aber das war nicht immer so. Zwei Jahrzehnte lang arbeitete ich ausschließlich als Experte für globales Branding und als Berater. Wenn ich auf meine Arbeit für Microsoft, Pepsi, Burger King, Lego, Google und andere Firmen zurückschaue, ging es dabei in erster Linie um Schönheitsreparaturen. Ich habe meine Arbeit geliebt, aber rückblickend war es auch ein „Rein-raus“-Job. Ich entwickelte eine Idee und da ich wusste, dass es nun am Unternehmen lag, meine Idee anzunehmen oder abzulehnen, ging ich zum nächsten Brandherd über. Hier und da hatte ich den Verdacht, dass unabhängig davon, für wie gut ich meine Idee hielt, es vermutlich fifty-fifty stand, ob sie irgendwann Früchte tragen würde. Aber das war ja nicht mein Problem, sondern das Problem des Unternehmens.

Ein gutes Beispiel trug sich 2005 zu, als McDonald’s mich beauftragte, das Happy Meal neu zu gestalten.

Falls Sie es nicht kennen sollten: Das Happy Meal von McDonald’s ist die Kinderversion dessen, was das Unternehmen an die Erwachsenen verkauft. Die Kleinen haben die Wahl zwischen einem Hamburger, einem Cheeseburger und Chicken McNuggets. Dazu gibt es eine kleine Portion Pommes frites, ein Erfrischungsgetränk und ein Spielzeug, das mit einer Fernsehshow oder einem Film zu tun hat. Es handelt sich um einen effizienten und preiswerten Weg, Kinder zu ernähren, wobei man nicht unbedingt von gewichtsbewusst oder nahrhaft sprechen kann. Damals waren sich alle globalen Trendforscher einig: „Echtes“ Essen war in, Fast Food und stark verarbeitetes Essen waren out. Mehr und mehr Medienberichte stellten eine Verbindung zwischen Fast Food und Fettleibigkeit bei Kindern her – nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch in Europa, im Mittleren Osten und in Japan. Kurz zuvor war Morgan Spurlocks Film Super Size Me erschienen. Darin zeichnet der Regisseur auf, welch schreckliche Folgen es auf seine körperliche und mentale Gesundheit hatte, sich einen Monat lang ausschließlich bei McDonald’s zu ernähren. Aufgrund all dieser Umstände akzeptierte ich den Auftrag von McDonald’s unter einer einzigen Bedingung – dass ich eine gesunde Alternative zum Happy Meal entwickeln durfte, die auch die Fantasie der Kinder anregt. Ich entwickelte letztlich ein Konzept, das ich das Fantasy Meal nannte und das einem einzigen Zweck dienen sollte: Es sollte Kleinkinder dazu bringen, Brokkoli zu essen.

Das Fantasy Meal war tatsächlich gut für Kinder. In einer Version hielt ein kleiner Drachen ein Hamburgerbrötchen in seinen Klauen und der Hamburger selbst war in der Nähe. Ich baute Treppen aus Gurkenstreifen und Möhrensticks. Eine andere Version war ein Nachbau des Spaceshuttles mit einer Tomate im Pilotensitz und Möhrensticks rund um die Cockpittüren. Ich fand meine Konzepte für das Fantasy Meal ziemlich gut. Wenn McDonald’s umweltfreundliche, nahrhafte Gerichte für Kinder anbot, würde es viel Lob dafür einstreichen, sich eines kulturellen und gesellschaftlichen Themas von wachsender Bedeutung anzunehmen. Die Kinder würden sich besser ernähren. Die Eltern wären glücklich. Rundum nur Sieger.

Was ich an Reaktionen auf meinen Vorschlag erhielt, war ausgesprochen positiv. In-te-res-sant! Das hörte ich wieder und wieder. Ich freute mich darüber, denn mir war noch nicht klar, dass ich mich, wenn mir ein Geschäftsmann sagt, meine Idee sei in-te-res-sant, genauso gut gleich vom Dach stürzen könnte. Ja, in-te-res-sant bedeutet bei manchen Gelegenheiten genau das, aber meistens steht es doch für etwas anderes: A) Die Leute im Unternehmen hassen Ihre Idee. B) Die Leute im Unternehmen hassen Ihre Idee, aber vielleicht lassen sich die Kollegen ja doch irgendwie davon überzeugen, dass sie brauchbar ist. C) Irgendwie mögen sie Ihre Idee, aber sie wissen ganz genau, dass das Management sie niemals absegnen wird.

In den nächsten Monaten drehte die Idee vom Fantasy Meal seine Runden durch die über den ganzen Planeten verstreuten Büros von McDonald’s. Die Menschen dort gaben Feedback ab und regten kleine Veränderungen an – aber bitte vergessen Sie nicht: Wir finden die Idee noch immer sehr in-te-res-sant! Ein Jahr später kam das Konzept vom Fantasy Meal wieder bei mir an.

Ist es Ihnen als Kind einmal passiert, dass Sie in einem belebten Supermarkt Ihre Mutter verloren haben? Sie brechen spontan in Tränen aus. Dann sehen Sie sie von hinten und stürzen auf sie zu, „Mamaaaa“ rufend. Aber dann dreht sie sich um und es ist überhaupt nicht Ihre Mutter, sondern einfach irgendeine Frau. Genau so war es, als das Fantasy-Meal-Konzept erneut auf meinem Schreibtisch landete. Verschwunden waren der Drache, die Treppe aus Gurkenstreifen, die Tomatensitzkissen, die Träger aus Möhrensticks. Aber immerhin gab es einen kleinen Apfel!

Es hatte wohl interne Streitigkeiten darüber gegeben, wie viel das Fantasy Meal kosten würde, um es umzusetzen. Streitigkeiten, weil man neue Werke errichten und Arbeitskräfte einstellen müsste, die all das Obst und Gemüse zubereiten, ganz zu schweigen davon, dass sämtliche Restaurants neue Gerätschaften hätten erhalten müssen. Ich weiß nicht mehr, was noch alles, aber die Antwort von McDonald’s lautete: Nein.

Das Unternehmen verkaufte (und verkauft bis heute) einige Milliarden Burger pro Jahr. Warum an einer Erfolgsformel etwas ändern? Hier, Kinder, nehmt einen Apfel zu eurem Burger und vergesst nicht, mehr Sport zu treiben.

Aber die Idee war wirklich in-te-res-sant!

Je mehr ich mich umhörte, desto deutlicher wurde es, dass verwässerte Kompromisskonzepte, Konzepte, die einst vielversprechend begonnen hatten, aber dann zu Brei verkocht wurden, total angesagt waren. Ein Phänomen. Nicht nur das, auch die Art und Weise, wie die Menschen Geschäfte machten, hatte sich verändert – und zwar nicht zum Besseren. Immer mehr Unternehmen investierten in hochmoderne Technologiesysteme, um alltägliche Arbeiten zu automatisieren und den Mitarbeiten die Möglichkeit zu bieten, ihr Gehirn einzusetzen. Systeme und Prozesse gaben nun vor, wie Arbeitnehmer ihre Zeit verbrachten und ihre Energie einsetzten. Mithilfe von zahllosen KPIs (Key Performance Indicators, Leistungskennzahlen) quantifizierten Betriebe nun sämtliche Tätigkeiten. Das führte unglücklicherweise dazu, dass die abteilungsübergreifende Arbeit an Problemen untergraben und geschwächt wurde. Schritt für Schritt sank die Kundenzufriedenheit, ebenso die Moral der Angestellten. Überall auf der Welt war das so. Es beeinflusste auch den bis dahin mehr oder weniger geradlinig verlaufenden Bogen meiner eigenen Karriere.

Wenn ein Unternehmen im Kern aus einer Gruppe von Menschen besteht, die innerhalb eines Netzwerks auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, dann schien es mir, dass diese Netzwerke, egal, wohin ich auch schaute, zerbrachen. Und das erste und naheliegendste Opfer dieser Entwicklung war der gesunde Menschenverstand.

Vielleicht sind gar nicht die Konzepte das Problem, dachte ich mir, vielleicht liegt es an den Organisationen und deren Kultur. Wenn ein Unternehmen im Kern aus einer Gruppe von Menschen besteht, die innerhalb eines Netzwerks auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, dann schien es mir, dass diese Netzwerke, egal, wohin ich auch schaute, zerbrachen. Und das erste und naheliegendste Opfer dieser Entwicklung war der gesunde Menschenverstand.

Während ich von Unternehmen zu Unternehmen wechselte, entwickelte ich mit der Zeit mein eigenes 5-Punkte-Programm, wie man einer Unternehmensorganisation wieder gesunden Menschenverstand einhauchen könnte. So etwas braucht Zeit. Über Nacht geht da überhaupt nichts, ganz im Gegenteil, denn wenn die Menschen beginnen, innerhalb von Organisationen zu arbeiten, passiert etwas mit ihnen. Sie vergessen, dass sie Menschen sind. Sie beginnen, sich an Regeln, Prozesse, Abläufe und offizielle wie inoffizielle Verhaltenskodizes zu halten, die für Außenstehende überhaupt keinen Sinn ergeben. Irgendwo auf diesem Weg vergessen sie, wie es sich für sie anfühlen würde, wenn ihre Bank ihnen erklärte, dass der Zugriff auf das Bankkonto leider gerade nicht möglich sei, oder wenn ihr Anruf bei der „Service“-Hotline sie durch vier unterschiedliche Abteilungen führte und 90 Minuten kostbare Lebenszeit verschlingt, während man ihnen wiederholt erklärt, dass ihr Anruf zu Trainingszwecken mitgeschnitten wird. Meistens muss jemand von außen kommen und die Dinge reparieren, für die die Unternehmen betriebsblind geworden sind.

Der ehemalige Ford-Chef Alan Mulally sagte mir einmal, er sei gerade zwei Wochen im Amt gewesen, als ihm klar wurde, dass im Unternehmen etwas gewaltig schiefläuft. Ihm war nämlich aufgefallen, dass die Autos auf den Firmenparkplätzen größtenteils keine Ford-Modelle waren!

Die gute Nachricht: Wenn man Organisationen den gesunden Menschenverstand zurückgibt, dann beginnt die Belegschaft, die Welt wieder durch menschlichere Augen zu betrachten und im Verlauf dieses Prozesses auch die Marke ihres Unternehmens neu aufzubauen.

Angenommen, Sie bestellen online ein Paar flache Schuhe. Sie kommen in der falschen Größe. Weil Sie kein Rücksendeetikett mit Rückporto finden können (das liegt daran, dass es das schlicht nicht gibt), stopfen Sie die Schuhe in einen alten Weinkarton und bezahlen 17 US-Dollar bei der Post dafür, die Schuhe zurückzusenden. Zwei Wochen gehen ins Land, aber von dem Unternehmen kein Pieps. Als Sie anrufen wollen, um nach einer Rückerstattung oder einem Umtausch zu fragen, stellen Sie fest, dass die Nummer des Kundendienstes nicht auf der Webseite steht (Gott bewahre, nachher ruft tatsächlich noch jemand an!). Als Sie schließlich doch eine Nummer zum Anrufen finden, landen Sie dreimal in der Warteschleife, während man Sie von Abteilung zu Abteilung weiterreicht. Sie stellen Ihr Telefon auf stumm, fangen an zu brüllen und schwören sich, bei diesem Unternehmen nie wieder Schuhe zu kaufen. Warum überhaupt Schuhe tragen, wenn das jedes Mal so ein Ärgernis ist?!

Ist das die Art von Service, den Sie als Mitarbeiter sich in ähnlicher Lage wünschen würden oder den Sie erwarten würden? Würden Sie aufgrund dieser Erfahrung Freunden und Angehörigen dieses Schuhunternehmen empfehlen? Ich glaube nicht. (Kleines Gedankenspiel: Wenn jeder Mitarbeiter mindestens 20 Leute kennt und ein Unternehmen Zehntausende Beschäftigte hat, dann könnten bei vielen Unternehmen allein schon die Empfehlungen ausreichen, eine Wende zum Besseren hinzulegen.) Der ehemalige Ford-Chef Alan Mulally sagte mir einmal, er sei gerade zwei Wochen im Amt gewesen, als ihm klar wurde, dass im Unternehmen etwas gewaltig schiefläuft. Ihm war nämlich aufgefallen, dass die Autos auf den Firmenparkplätzen größtenteils keine Ford-Modelle waren!

Letzten Endes kommt es für eine Steigerung von Effizienz, Produktivität, Moral und Zufriedenheit immer darauf an, wie viel gesunden Menschenverstand man innerhalb einer Organisation vorfindet. Dieses Fehlen von gesundem Menschenverstand wiederum macht sich deutlich bei Gegenständen bemerkbar, wo man es nie für möglich gehalten hätte – etwa bei einer Fernbedienung für den Fernseher.

Vor einigen Jahren war ich für eine Konferenz in Miami und übernachtete dort im Hotel. Weil mich die Nachrichten interessierten, griff ich zur Fernbedienung. Sie war erstaunlich komplex und möglicherweise hätte man damit sogar ein Raumschiff steuern können. Unzählige kleine Ziffern. Eine Batterie von Knöpfen. Drei separate numerische Tastenfelder. Mit welchem Knopf schaltete ich den Fernseher ein? Der rote, auf dem „On“ stand?

Aber Moment einmal … warum gab es zwei rote „On“-Knöpfe? Was würde geschehen, wenn ich beide drückte? Wäre mein Fernseher dann doppelt an und ich hätte Zugriff auf übernatürliche Programminhalte, die Zuschauer mit nur einem „On“-Knopf niemals zu sehen bekommen? Was bedeutete „Quelle“? Was bedeutete „A – B – C – D“? Wofür standen all die Pfeile? Wahllos drückte ich auf einigen Knöpfen herum und nach einigen Minuten ging der Fernseher tatsächlich an. Ich sah mir eine Weile die Nachrichten an, dann schaltete ich das Gerät wieder aus. Das heißt, ich versuchte es. Es gab zwei „Off“- Knöpfe. Als ich den ersten drückte, wurde das Licht im Zimmer auf eine stimmungsvolle, sexy Weise gedimmt. Als ich den zweiten „Off“-Knopf drückte, schaltete sich die Klimaanlage ab. Der Fernseher jedoch lief weiter. Am Ende kletterte ich auf den Schreibtisch und zog die Stecker für den Fernseher, die Minibar und die Stehlampe aus der Steckdose.