Christof Dörr
Die Superstar Industrie
Ein Blick hinter die Kulissen deutscher Castingshows
Dörr, Christof: Die Superstar Industrie. Ein Blick hinter die Kulissen deutscher Castingshows. Hamburg, Charles Verlag 2021
Originalausgabe
ePub-eBook: ISBN 978-3-948486-56-3
Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.
ISBN: 978-3-948486-54-9
Lektorat: Bianca Weirauch, Weida
Umschlaggestaltung: © Annelie Lamers, Hamburg
Umschlagmotiv: © nagaets/stock.adobe.com; designed by vectorpocket/freepik.com
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Hermannstal 119k, 22119 Hamburg
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© Charles Verlag, Hamburg 2021
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Dieses Buch widme ich
meinen Töchtern Carlotta und Matilda,
die gerade anfangen, sich für Castingshows zu interessieren.
Sie mögen es nicht, wenn Heidi Klum ihre Entscheidungen scheinbar endlos lang hinauszögert
und wenn Dieter Bohlen die Kandidaten unfair behandelt.
Noch haben sie kein Interesse daran,
mal selber an einer Castingshow teilzunehmen.
Noch ….
»We Have A Dream«
Deutschland sucht den Superstar (2003)
We have a dream – music is our life
We have a hope – music will survive
We’ll take the chance – we had it all
We feel like heroes – we’re standing tall
»Leider interessieren sich die Zuschauer nur für Skandale, Tränen und Probleme, sodass sich immer wieder etwas Neues ausgedacht wird, um Einschaltquoten zu bekommen, aber dabei werden die Teilnehmer und teilweise deren Zukunft zerstört. Ich werde nichts ändern können, aber ich kann nicht verstehen, wie die Menschen, die dahinterstecken, noch ruhig schlafen können und kein schlechtes Gewissen haben.«
(16-jährige DSDS-Kandidatin 2004,
Rückmeldung an das Produktionsteam)
Vorwort
Es war der Schock-Moment der 15. Staffel von Germany’s Next Topmodel. Im Finale stieg Kandidatin Lijana Kaggwa plötzlich aus. Sie warf Heidi Klum sprichwörtlich die High Heels vor die Füße und ging. Dabei hatte sie doch scheinbar bis dahin schon so viel erreicht. Sie war unter den Top 4, ihrem großen Traum ganz nah. In 180 Minuten könnte sie zur Siegerin, zum Topmodel 2020 gekürt werden. Was war passiert?
Ganz einfach: Die Realität hatte die Schau im TV entlarvt. Um das zu verstehen, muss man wissen, wie die Sender ihre Castingshows produzieren. Bei Germany’s Next Topmodel ist es so, dass die einzelnen Folgen aufgezeichnet werden, zum Beispiel von September bis November. Anschließend werden sie zusammengeschnitten. Die 15. Staffel, in der Lijana mitgemacht hatte, wurde dann ab 31. Januar 2020 gesendet. Nur das Finale war noch nicht fertig, ProSieben strahlte es am 21. Mai live aus. Lijana Kaggwa war also nach dem Abschluss der Dreharbeiten bis zum großen Finale im Mai zu Hause und schaute sich natürlich die zusammengeschnittenen Folgen ihrer Staffel an. Was sie zu sehen bekam, schockierte die damals 24-Jährige und veränderte ihr Leben. Denn Lijana wurde nicht als hübsches Mädchen dargestellt, die Topmodel-Qualitäten hat. Sie wurde über viele Folgen als die ehrgeizige Zicke abgebildet. Der Zusammenschnitt ihrer Aussagen zeigte den Zuschauern eine vom Ehrgeiz zerfressene Lijana, die scheinbar ständig über ihre Konkurrentinnen lästerte und sich selbst für den strahlenden Mittelpunkt der Show hielt. Mit jeder ausgestrahlten Folge wurde es schlimmer, so entwickelte sich Lijanas großer Traum immer mehr zum Alptraum. Ganz Deutschland sprach über sie, lachte über sie, begann sie zu hassen.
Das Ergebnis: Lijana erlebte einen Shitstorm im Netz, wurde als »Bitch«, »Dreck«, »abartig«, »Schlampe« beschimpft, bekam sogar eine Morddrohung. Aber auch ihr reales Leben wurde zu einem Spießrutenlauf. Ein Mann erkannte sie auf der Straße und bespuckte sie. Sie war am Ende ihrer Kräfte und beschloss: So bin ich nicht! Das will ich nicht! Ich steige aus! In einem Interview mit der Zeitschrift BUNTE im Februar 2021 erzählte Lijana, dass sie damals den Sender sogar kontaktiert und darum gebeten hatte, sie nicht mehr so einseitig darzustellen, weil sie den ganzen Hass nicht mehr aushalten würde:
»Selbstverständlich habe ich dann während der Ausstrahlung angerufen und gesagt: Leute, wir waren alle dabei und wir wissen alle, wie es abgelaufen ist, und ich finde nicht, dass der Zuschauer das richtige Bild vermittelt bekommt. Es wurde mir versichert, die Leute fänden das trotzdem spannend, was bei GNTM passiert, und ich sei einer der Hauptgründe. Aber das hat mir natürlich nicht wirklich geholfen. Meine Enttäuschung war riesig. (…) Aus Sicht der Produktion verstehe ich, dass man Quote braucht. Aber manchmal habe ich das Gefühl, man vergisst einfach, dass junge Frauen dahinterstecken mit Gefühlen.«
Der zugespitzte Zusammenschnitt durch ProSieben hatte dafür gesorgt, dass Millionen Fernsehzuschauer Woche für Woche ein Zerrbild von ihr vorgeführt bekamen, das den Hass schürte. So wurde sie den anonymen Hatern im Netz zum Fraß vorgeworfen.
Ein zweites Beispiel: Wenn man Deutschland sucht den Superstar bei YouTube eingibt, bekommt man »DSDS 2019 Fabrizio Giordano mit Rehab von Amy Winehouse« als eines der ersten Videos angezeigt. Dieses Video aus dem Januar 2019 zeigt einen jungen Mann mit Lippenstift und High Heels. Der 21-Jährige bekennt freimütig, dass er homosexuell ist. Im Schnitt hat RTL ein Lied mit dem Text »Homo Dance, alle tanzen den Homo Dance!« unter diese Szene gelegt. Pietro Lombardi und Dieter Bohlen werden gezeigt, wie sie sich anlächeln. Als Fabrizio Giordano anfängt zu singen, steht schnell fest, dass er ganz offensichtlich nicht singen kann. Er trifft keinen Ton. Aber anstatt ihn einfach zu verabschieden, stürzt sich die Jury auf ihn. Minutenlang wird Fabrizio lächerlich gemacht. Pietro Lombardi sagt: »Meinst du das ernst, oder willst du uns verarschen hier? (…) Du singst komplett scheiße! Du singst scheiße. Punkt!«
Fabrizio Giordano ist sauer und verlässt das Casting. Zu seinem Abgang wird das Lied: »My Baby, Baby, Balla Balla« eingespielt. Dazu der hämisch vorgetragene Sprechertext: »Mann, das war knapp! Du warst wirklich kurz davor, es in den Recall zu schaffen!«
Dieses Video wurde mehr als 13,6 Millionen Mal aufgerufen und man fragt sich beim Anschauen: Gab es im Fall von Fabrizio nicht eine Vor-Jury, die ihm diese öffentliche Bloßstellung hätte ersparen können? Musste man in der Nachbearbeitung mit der wertenden Musik und dem ironischen Sprechertext wirklich noch so auf den Kandidaten eindreschen? Hätte man ihn nicht vor sich selbst schützen müssen? Oder wollten die Verantwortlichen bei RTL diese Blamage vor einem Millionenpublikum bewusst herbeiführen? Denn sicher ist: Die peinlichsten Auftritte bringen die beste Quote und die meisten Klicks im Internet. Hätte RTL nicht trotzdem so viel Verantwortungsbewusstsein haben müssen, Fabrizio zu ersparen, dass dieses Video jetzt für alle Zeit unter seinem Namen zu finden sein wird?
Es sind zwei Beispiele von unzähligen, die man auflisten könnte. Sie zeigen, um was es den Sendern wirklich geht. Sie wollen keine Topmodels, Superstars, Popstars oder Supertalente hervorbringen. Sie wollen möglichst viele Zuschauer vor dem Fernseher versammeln, damit die Einschaltquote steigt und sie viel Geld mit Werbung verdienen können. Selbstverständlich ist das nichts Verwerfliches, ganz im Gegenteil: Für Privatsender ist es das natürliche Geschäftsmodell. Aber wenn man zu DSDS, TVOG, GNTM usw. geht, dann muss man das wissen. Man muss wissen, dass Menschen wie Fabrizio Giordano, die sich einfach fürchterlich überschätzen, nicht vor sich selbst geschützt, sondern gnadenlos zur Schau gestellt werden. Man muss wissen, dass Menschen wie Lijana Kaggwa, die vielleicht etwas zu ehrgeizig ist und die sich ganz sicher zu einigen Kommentaren hat hinreißen lassen, die sie besser unterlassen hätte, nicht einfach aus der Sendung entfernt werden, sondern dass ihre Fehltritte genüsslich ausgekostet werden. Sie werden vorgeführt. Wäre sie einfach nur ein hübsches Mädchen, das sich gut auf dem Catwalk bewegen kann, hätte sie niemals so viel Sendezeit bekommen.
Mit ihrem Zusammenschnitt appellieren die Sender an die niedrigsten Instinkte ihrer Zuschauer: Missgunst, Schadenfreude, Voyeurismus, Bosheit, Sensationslust. Wer möglichst viel weint, wenn ihm die Haare abgeschnitten werden sollen. Wer möglichst viel kreischt, wenn er mit Schlangen, Spinnen oder anderen Klassikern des Castingfernsehens fotografiert werden soll. Wer möglichst viel Heimweh hat, kurzum, wer dem Zuschauer möglichst viele Emotionen präsentiert, der bekommt die meiste Sendezeit. Ein solcher Kandidat kommt selbst bei überschaubarem Talent deutlich weiter, als es ihm aufgrund seiner natürlichen Begabung eigentlich zustehen würde. Aber ist es das wirklich wert? Denn selbst wenn man vielleicht unter die Top 3 gekommen ist, ist man in ganz Deutschland bekannt als »die Zicke«, »die Heulsuse« oder der, der von Dieter Bohlen immer beschimpft worden ist.
Und man darf nicht vergessen: Das Internet vergisst nie. Die peinlichsten Momente werden für alle Zeit im Netz auffindbar sein und die Kollegen lachen auch dann noch über sie, wenn man sie für sich selbst schon längst als Jugendsünde abgehakt hat. Aus diesem Grund warnen Experten seit vielen Jahren vor Castingshows. Die Kommission für Jugendmedienschutz hat in Bezug auf Deutschland sucht den Superstar bereits mehrfach Befürchtungen geäußert: »Die Präsentation beleidigender Äußerungen und antisozialen Verhaltens, die Häme und Herabwürdigung anderer als legitim darstelle, könne bei Kindern eine desorientierende Wirkung haben.«
Der Begriff des Castingshow-Opfers ist längst im alltäglichen Sprachgebrauch angekommen und als solches schafft man es vielleicht noch ins Dschungelcamp, wie Gisele Oppermann, die seit ihrer Teilnahme an Germany’s Next Topmodel bundesweit als Heulsuse bekannt ist, oder wie Menderes Bağcı, der laut Juror Kay One »trashige Teil von DSDS«. Viele andere landen aber mit Depressionen in einer Klinik und leiden vielleicht ein Leben lang unter ihrem gescheiterten Versuch, in die Glamourwelt zu gelangen.
Denkt mal drüber nach, warum es in Deutschland mittlerweile 18 Superstars, 16 Topmodels, 11 Popstars und 14 Supertalente geben müsste, man aber von keinem etwas hört, das dem Titel auch nur annähernd gerecht werden würde.