Rainer Korn
OUT
Willkommen in der Unsterblichkeit
Impressum
© 2021 Redaktionsbüro Rainer Korn
Wahlstedter Straße 31, D-24598 Heidmühlen
fon 04320-58 17 97; mail: info@rainerkorn.de
www.rainerkorn.de
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk, Internet und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlaggestaltung: Hannes Dänekas
Lektorat: Frank Steinbrecher
für Stephi
Auf dem 17. Zukunftskongress eines Think Tanks, der 2018 in Wolfsburg stattfand, wurde zehn Teilnehmern in Aussicht gestellt, das Implantieren eines Computerchips in ihren Körper gewinnen zu können.
------------------------
Im Jahr 2018 ist es Forschern der Universität von Washington in Seattle und der Carnegie Mellon University in Pittsburgh gelungen, drei menschliche Gehirne per Internet und EEG-Aufzeichnung online zu verbinden, um ein Tetris-ähnliches Spiel zu spielen. Zwei Spieler senden Hirnsignale über das Internet direkt ans Gehirn eines Dritten, der sie interpretiert und umsetzt.
-----------------------
Eine US-Firma entwickelt 2018 eine neue Generation von Smartphones, die im Mund getragen werden. Das „Supersense“ benannte Produkt überträgt den Klang in Wellen über die Kieferknochen direkt ins Ohrinnere – für den „Empfänger“ fühlt es sich an, als ob sich die Stimme des Anrufenden in seinem Kopf manifestiert.
-----------------------
Zwei US-Sicherheitsforscher finden 2018 heraus, dass sich Herzschrittmacher eines US-Herstellers „hacken“ lassen. Sie konnten nach Belieben die Frequenz der Impulse des Herzschrittmachers verändern und ihn auch komplett anhalten.
-----------------------
Im Jahr 2012 gelang es dem Wissenschaftler Steve Ramirez, Mäusen mit Hilfe von Lasertechnik und einem genmanipuliertem Virus, das die Mäuse zu bestimmten Zeitpunkten lichtempfindlich machen sollte, künstliche Erinnerungen einzupflanzen.
-----------------------
Im Juli 2017 warnt Elon Musk, Gründer von Tesla, in einer Rede vor den Gouverneuren der USA vor den Gefahren Künstlicher Intelligenz. Musk: „Roboter können alles besser als wir Menschen. Ich selbst habe Zugang zu hochentwickelten KI-Systemen und kann nur versichern, dass die jedem Sorge bereiten sollten. Die Künstliche Intelligenz gefährdet die menschliche Zivilisation als Ganzes.“
-----------------------
Die Zukunft beginnt gestern.
Diese Welt wird nicht mehr durch Waffen bestimmt, oder Energie, oder Geld. Die kleinen Einsen und Nullen herrschen nun. Es dreht sich alles nur um Elektronen.
Das Flugzeug beschrieb einen weiten Bogen 10.000 Meter über dem Boden. Unter der Maschine breitete sich ein lockerer, weißer Wolkenteppich aus. Michael D. Allhoven überflog die Recherchen zu seiner neuen Story. Es ging um die Veruntreuung von Beratergeldern in der EU-Kommission, in der Bundeswehr und um Einrichtungen, die sich mit Cyberwar und staatlichen digitalen Verbrechen beschäftigten. Während in Deutschland die Bundeskanzlerin und die Regierung einen „Digitalpakt für die Schulen“ auf den Weg brachten und damit meinten, mit der globalen Digitalisierung Schritt halten zu können, manipulierten andere Regimes sogar die US-Präsidentschaftswahlen. Eine neue Form von Krieg war entstanden, eine neue Form von Kriminalität: Cyberwar und Cybercrime. Während in Deutschland verzweifelt versucht wird, Anschluss an die rasend schnelle Digitalisierung zu finden, hangeln sich Handynutzer weiterhin im Land von Funkloch zu Funkloch.
Findige Kriminelle, Regierungen und staatliche Stellen weltweit hatten längst das Internet gekapert, um es für ihre finsteren Zwecke zu nutzen.
Waren die Menschen so schlecht?, dachte Michael. Oder machte das System die Menschen so schlecht? Diese Welt war so voller Ungereimtheiten, es passierten so merkwürdige Dinge. Ein egomanischer Vereinfacher wurde US-Präsident und nicht nur in Brasilien wählten sie ihren eigenen zukünftigen Diktator. Die Menschheit schwankte zwischen Konsum und Überleben – und entschied sich wahnwitzigerweise für den Konsum.
Es gab kein richtiges Leben im falschen – diesen Satz des Philosophen Theodor W. Adorno hätte Michael gern als sein Lebensmotto ausgegeben, wenn ihn jemand danach gefragt hätte. Doch: Was war das falsche Leben? Und: Welches war das richtige? Wer wusste das schon? Marie sagte oft, er machte sich zu viele Gedanken. Konnte man sich zu viele Gedanken machen? Machten sie sich nicht alle zu wenige?
Michael schaute aus dem Flugzeugfenster. Die kommt uns aber ganz schön nahe, dachte er noch, als eine andere kleinere, sehr schnelle Maschine sich von rechts vorn seinem Flugzeug näherte. Dann schrie jemand auf und das Schreien schwoll zu einem kreischendem Sturm an, aber nur ganz kurz. Die Maschinen krachten ineinander. Das war’s, war Michael D. Allhovens letzter Gedanke, dann wurde die Welt dunkel und still. Die Unendlichkeit breitete sich in 122 Menschen aus, die eben noch geatmet, gelacht, sich unterhalten, geschlafen und geträumt hatten. Sie wurden von einer Sekunde zur anderen aus dem Leben gerissen: Mütter, Väter, Singles, Kinder. Michael D. Allhoven bekam von alledem nichts mehr mit. Er war zurückgekehrt in die Weltendunkelheit, aus der er einst auf die Erde des Lichts gekommen war. Der Rest war Schweigen.
Hallo?
Selber Hallo.
Wer ist da?
Ich.
Michael fühlte sich seltsam. Präsent, aber irgendwie auch unendlich leer. Irgendwas war passiert, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Er sollte vielleicht die Augen öffnen, um dieser unglaublich tiefen Dunkelheit zu entkommen. Nur leider hatte er keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Normalerweise passierte das einfach. Da gab es keinen Befehl „Augen öffnen“ – es geschah fast wie von allein. Normalerweise. Entweder hatte er es verlernt, die Augen zu öffnen, oder er war gelähmt oder er hatte gar keine Augen mehr! Irgendwas war passiert. Etwas Elementares. Aber so sehr er sich auch anstrengte, kein Gedanke formte sich in ihm, der ihm in irgendeiner Art und Weise hilfreich erschien. Was hatte er zuletzt gemacht? Wo hatte er sich befunden? Mit jeder Frage, die er sich stellte, wuchs eine kalte Angst in ihm. Sie drohte ihn zu ersticken. Atmen, jetzt wieder atmen. Aber panisch musste er feststellen, dass auch das ihm nicht gelang. Aber wenn er nicht atmete, dann musste er sterben. Seltsamerweise fühlte er keinerlei Atemnot, kein Ringen nach Luft. Er atmete einfach nicht, fertig. Die erste Panikattacke verflog ein wenig, als er feststellte, dass er nicht gleich starb. Streng deinen Geist an, hämmerte er sich ein. Was ist passiert? Wo war er?
Nicht schön, so, die Dunkelheit, was?
Schon wieder die Stimme. Michael erschrak.
Und bevor du wieder fragst, ich bin hier. Ich kann dir leider momentan nicht mehr zu mir sagen, tut mir Leid. Aber ich, nun, laboriere noch herum, um mir Klarheit zu verschaffen. Ist allerdings nicht so einfach, wo alles so leer in und um einen herum scheint. Dir geht’s wohl ähnlich, wie?
Michael hörte die Stimme gar nicht, stellte er fest, sondern nahm sie in sich auf. Als ob sie sich in seinem Kopf manifestierte. Na ja, wenn er keine Augen hatte, um zu sehen, hatte er wohl auch keine Ohren, um zu hören. Das war immerhin schon mal logisch, wenn auch ein sehr schwacher Trost. Wer war der andere und wo war er?
Du kannst wohl auch nichts sehen, oder?, wollte Michael von ihm wissen.
Stille.
Hallo? Bist du noch da?
Stille.
Es war wie im Film. Sie waren zu zweit an die Tür ihres Reihenhauses gekommen und hatten geklingelt. Ein Mann, eine Frau. Marie hatte ihnen nur in die Augen sehen müssen und wusste, es war etwas Fürchterliches geschehen. Flugzeugunglück. Maschine in die Eifel gestürzt. Keine Überlebenden. Ihr Mann war eingecheckt gewesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit tot. Suchtrupps sind am Flugzeugwrack, das über mehrere Quadratkilometer verteilt in zerbrochenen Stücken liegt. Marie wollte gar nicht wissen, was die Absturzursache war. Sie fühlte ihr Leben mit einem Mal genauso zerbrochen wie dieses Flugzeug. Hannah! Hämmerte es in ihrem Kopf. Sie musste noch bei einer Freundin sein. Ein Referat vorbereiten. Ihre 16-jährige Tochter, für die in diesem Moment noch alles heil wie immer sein würde – doch das Schicksal hatte bereits seine Flügel ausgebreitet, hockte da auf einem Ast wie ein Gespenst, bereit zum Abheben. Marie saß zwei Stunden auf dem Küchenstuhl, unfähig sich zu bewegen. Das Telefon klingelte.
„Marie? Hier ist Tom. Hast du das von dem Flugzeugunglück gehört? Saß Micha in der Maschine? Oh, mein Gott, bitte lass ihn einen anderen Flug genommen haben.“
„Tom? Nein, die Polizei war bereits hier. Er war auf diesem Flug eingecheckt. Sie sagen, es …, es gäbe keine Hoffnung auf Überlebende ...“
„Oh, Marie, Scheiße! Das tut mir so unendlich Leid!“
Tom war Michaels Ressortleiter Wirtschaft. Er hatte ihn quasi auf den Flug von Frankfurt nach Brüssel geschickt, um über die neuen Formen von Cyberkriminalität zu recherchieren. In Frankfurt hatte Michael sich mit verschiedenen Informanten getroffen, um Hintergrundmaterial zu sammeln. Außerdem war Tom Michaels bester Freund und auch oft bei ihnen zu Gast.
„Marie? Soll ich vorbeikommen? Ich kann in dreißig Minuten da sein.“
Sie wollte schon Ja sagen, zögerte dann. Wollte sie Tom jetzt hier haben, wo sie noch nicht mal mit Hannah gesprochen hatte?
„Danke, Tom, aber ich muss erstmal mit Hannah sprechen. Ich – ich brauche noch ein wenig Zeit für mich. Es ist so unwirklich. Ich habe Micha zehn Mal angerufen, aber immer heißt es, der Teilnehmer sei zurzeit nicht erreichbar.“
„Mein Gott, Marie – ruf mich an, wenn Du mich brauchst. Ich versuche, über die Redaktionskanäle Neuigkeiten aufzutreiben.“
Sie legten auf.
Neuigkeiten? Welche sollten das denn sein? Das übliche Prozedere bei Abstürzen: die hektische Suche nach der Blackbox; wilde Theorien in den sozialen Medien; Terrorismus, menschliches Versagen. Es war eigentlich alles egal für sie. Michael lag zerfetzt in Einzelteilen in der Eifel. Nie wieder würde sie seine so vertraute Stimme hören, die „Kleines“ hauchte. Nie wieder seine Lippen auf ihrem Nacken spüren, auf den Lippen.
Die Talkshow war okay gewesen. Der Moderator hatte ihn verschiedene Male versucht, aufs theoretische Glatteis zu führen, aber er war lächelnd darüber hinweg geschwebt. Mitch galt vielen als Superdenker, seit er vor drei Jahren sein bahnbrechendes Buch „Alles und nichts“ herausgebracht hatte. Darin webte er einen Zusammenhang aus 10.000 Jahren Religion, politischer Geschichte, Psychologie und der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften – inklusive Irrungen und Wirrungen der Zeitgeschichte. Ein Wälzer in drei Bänden, zudem noch so spannend geschrieben, dass alle drei Bände Nummer-1-Bestseller wurden – weltweit. Das hatte ihm natürlich sofort den reflexartigen Vorwurf von Teilen der Wissenschaft eingebracht, er würde populärwissenschaftlich agieren und biege das Wissen so, wie es ihm in den Kram passt. Doch ein nicht unbedeutender Teil des Wissenschaftsbetriebs, vor allem der jüngere, war begeistert von seiner Analyse und vor allem von seinen Schlussfolgerungen, die letztendlich allen Entwicklungen, ob religiös, gesellschaftlich, politisch (was ja oft dasselbe war), aber auch familiär und sportlich, dieselben inneren Mechanismen nachwies. Eigentlich war es eine riesengroße Vereinfachung, die Mitch betrieben hatte. Allerdings so genial fundamental bewiesen, dass sich alle Kritiker bisher ihre neidischen Zähne daran ausgebissen hatten. Nicht wenige sprachen bereits von der „Neuen Weltenformel“, die Mitch gefunden hatte und die der Einstein’schen Relativitätstheorie in keiner Weise in ihrer Wirkung nachstehen würde. Dieser Erfolg hatte Mitch nicht nur steinreich gemacht, sondern spülte ihn auch in Talkshows und andere TV-Sendungen. Denn er war nicht nur ein extrem wacher Geist, sondern sah auch noch unverschämt gut aus, konnte unglaublich charmant sein und verfehlte selbst auf seine Kritiker nicht seine bezaubernde Wirkung. Dabei waren seine äußeren und inneren Attribute nur eine zufällige Mischung seiner Gene, wie Mitch gern erzählte – verursacht vom Lauf der Geschichte. Und damit brachte er seine eigene persönliche Entwicklung in schönsten Einklang mit seiner „Weltenformel“. Seine Mutter, eine Deutsche, deren Familie aus dem vormals deutschen Ostpommern am Ende des Zweiten Weltkriegs vor die Tore Hamburgs geflohen war, traf ihren späteren Mann, einen US-Amerikaner aus Florida, auf einer Hafenrundfahrt im Hamburger Hafen. Howard gehörte zu einer US-Wirtschaftsdelegation, die eine Woche in der Hansestadt zubrachte, um die „Geschichte des europäischen Handels“ kennenzulernen, wie sein Vorgesetzter das ausdrückte. Howard Winfield war wiederum zu einem kleinen Teil direkter Nachfahre der afrikanischen Sklaven, die auf den „neuen“ Kontinent geschafft worden waren. Ein weiterer Teil seiner Familie stammte aus Vancouver in Westkanada. Dort hatten sich sogar vor etwa 150 Jahren noch asiatische Gene in seinem Stammbaum verewigt. Und zwar in Form eines chinesischen Spezialisten in Sachen Fische filetieren. Die Chinesen galten in der Fischverarbeitung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen bedeutenden Anteil an der Wirtschaft in Südwest-Kanada hatte, als beste Filetierer der Welt. Schnell, effizient und gehorsam – das waren Werte, die die kanadischen Fischkonserven-Hersteller begeisterten. Diesen Teil seiner Geschichte kannte Mitch Kessler natürlich auch. Und er kokettierte gern damit, wenn irgendwer in seiner Nähe von Rasse zu faseln begann. Mit ein paar Fragen hatte er einen vermeintlich „reinrassigen“ blonden Arier in dessen Entstehungsgeschichte zumindest bis in den Irak oder gar bis nach Indien verortet. Das Dumme an Rassisten war nur ihre unglaubliche Blindheit – sie wurden wie kleine Jungs böse, wenn ihnen jemand die Wahrheit sagte und ihre kleine Scheinwelt in Stücke riss. Da half ihnen nur noch blinde Gewalt – getreu dem alten Motto, der Überbringer der schlechten Nachricht ist selbst schlecht und gehört weg. Zum Glück traf Mitch heute nur noch äußerst selten auf große, dumme Jungs. Seine Bucherfolge hatten ihn zu einem schwerreichen Mann gemacht. Er konnte manchmal immer noch nicht glauben, wie schnell das geschehen war. Aus dem Uni-Betrieb hatte er sich schon vor einem Dutzend Jahren frustriert verabschiedet. Seither schrieb er für eine erfolgreiche Food-Bloggerin die Texte. Josephine konnte zwar unglaublich gut und kreativ kochen, agierte vor der Kamera so herrlich erfrischend und ehrlich, war allerdings nicht in der Lage, zwei zusammenhängende Sätze zu schreiben. Jedenfalls keine, die miteinander einen Sinn ergaben. Josy war darüber furchtbar traurig, hatte schon einige Versuche gestartet, ihr persönliches Schreib-Handicap zu überwinden, war aber immer kläglich gescheitert. Mitch hatte sie (zufällig) in einer Hotelbar kennengelernt. Er schrieb bereits an seinem ersten Buch, das nicht so recht vorangehen wollte, und hatte ziemlich dringende finanzielle Probleme. Josy hatte ein Meeting gehabt mit Vertretern von Maggi, die sie sponsern wollten. Sie war ein aufsteigender Stern am Foodblogger-Himmel (bei ihr allerdings bisher nur via YouTube aus besagten Gründen). So saßen sie beide an der Bar zufällig nebeneinander und begannen ein leidenschaftloses Hotelbargespräch, das immer intensiver zu werden schien. „Maggi und Josephine? Niemals!“ Am Schluss nach einigen Caipis war Josy sich sicher: Sie würde unabhängig bleiben. Schluss. Punkt. Und Mitch hatte einen neuen Job, der ziemlich schnell ein einigermaßen sicheres Einkommen bedeutete. Der ihm aber dennoch ausreichend Zeit ließ, sich um sein Buch zu kümmern. Josy fand dieses Vorhaben fantastisch. Der Vorteil, für eine Foodbloggerin zu arbeiten, bestand auch darin, dass sich Mitch über kulinarische Unterversorgung keine Sorgen zu machen brauchte. Josy war eine fantastische Köchin. Und weil sie einen vegetarischen Blog betrieb, wurde auch Mitch selbst Vegetarier. Zuerst eben aus Zufall, dann aus Überzeugung. Obwohl, Zufall war auch schon wieder so ein Begriff, mit dem Mitch ernste Probleme hatte ...
Er hörte mehrere Stimmen. Oder besser: Er nahm mehrere Stimmen wahr. Sie schienen zu diskutieren.
Ich hätte den Fehler mit den zwei Fronten niemals machen dürfen. Das weiß ich jetzt auch.
Nun, ich weiß nicht, von der Problematik weiß ich zu wenig, habe ja vorher gelebt.
Ach, es ist eine solche Schande, dieses ganze Unnütze, diese Aasgeier, die nur von meinen Innereien gelebt haben, dieser dicke Göring mit seinen Fantasie-Uniformen. Spätestens da hätte ich merken müssen, dass dieser Mann komplett dem Wahnsinn verfallen war. Oder dieser Speichellecker Göbbels. Wussten Sie, dass der im Glauben gewesen war, eigentlich der bessere Führer zu sein? Der klügere? Seine ganze Liebe zu mir war nichts weiter als der Wunsch, an meine Stelle zu treten, das Reich zu Füßen.
Michael glaubte sich in einem weiteren Traum. Da sprach Adolf Hitler. Diese Stimme kannte er, sie war so markant und wer hatte nicht schon einmal diesen Agitator auf Archivmaterial gehört? Eine absolut unverwechselbare Stimme und dazu die Themen. Michael war zutiefst verwirrt. Wie konnte das sein. War er wahnsinnig geworden? Aber was war denn überhaupt geschehen. Er versuchte sich zu erinnern. Maria kam ihm in den Sinn, seine Frau. Seine Tochter Hannah. Das Reihenhaus in Hamburg-Wandsbek. Sein Job. Er war Journalist. Das Nachrichtenmagazin. Tom, sein Kollege, Freund, Vorgesetzter. Er fuhr einen Smart, weil alles andere in dieser Stadt keinen Sinn machte. Er spielte jeden Mittwoch Badminton mit Tom und anderen Kollegen. Im Urlaub wanderten sie gern in den Bergen. Er löste Schachaufgaben, hatte aber schon lange keine echte Partie mehr gegen einen Menschen gespielt. Er war 44 Jahre alt, wog 82 Kilo und war einen Meter 74 groß. Seine Mutter lebte in Gießen, sein Vater war vor zwei Jahren gestorben. Maria war ein Jahr älter als er, arbeitete als Grundschulleiterin, war aber zurzeit krankgeschrieben. Sie hatten sich in einem Fußballstadion an einem Imbiss kennengelernt. Beide machten sich nichts aus Fußball, sie war von ihrem Bruder mitgeschleppt worden, er von Kollegen aus der Sportredaktion („Das musst du mal erleben, diese Atmosphäre! Dieses gemeinsame Gefühl!“). Doch weder bei Maria noch bei ihm wollte sich der Funken der Begeisterung einstellen. Sie mussten wohl beide etwas gequält ausgesehen haben, jedenfalls schauten sie sich nur an und mussten lachen. Sie verließen das Stadion noch während der ersten Halbzeit und redeten einen ganzen Nachmittag und Abend zusammen in einer kleinen Bar im Schanzenviertel in Hamburg. Hannah war ihre Tochter, sie war 16, ging aufs Gymnasium und war trotz ihres Alters relativ vernünftig, wie Micha fand. Er hatte von Kollegen wahre Horrorgeschichten gehört von ihren „wachsenden“ Mädchen. Er hatte immer darauf gewartet, dass der Horror auch in ihr hübsches Reihenhaus einziehen würde, aber da kam nichts. Probleme wurden beredet, nicht immer super-sachlich, aber stets mit Respekt vor dem anderen. Vielleicht war das das ganze Geheimnis, dachte Micha jetzt. Dem anderen mit Respekt zu begegnen, auf Augenhöhe. Er hatte keine Ahnung, warum er das jetzt alles gerade dachte, wo neben ihm Hitler vom Zweifrontenkrieg faselte.
Maybrit starrte auf ihren Computer-Bildschirm. Zahllose Kolonnen an Zahlen zogen wie Heere bereit zur Schlacht über den Monitor. Ein dumpfer Schmerz erinnerte sie daran, dass sie ziemlich bald einen Zahnarzttermin verabreden sollte. Doch diese Zahlenkolonnen waren sogar in der Lage, ihren Zahn zu beruhigen. Sie warf ihrem Chef einen Blick zu. Magnus telefonierte. Eigentlich hörte er zu und jemand anders erzählte. Seiner Miene nach zu urteilen, war das ein vorgeschalteter Politiker, der ihm langwierig etwas darlegte. Magnus war nicht gänzlich uninteressiert, aber seine Miene verriet seine Ungeduld und von der Schwierigkeit, diese nicht am Telefon zu zeigen. Also doch ein Politiker – auf jeden Fall, da war sich Maybrit jetzt sicher. Endlich war das Telefonat vorüber und Magnus starrte durchs Fenster.
„Die haben keine Ahnung von Digitalisierung.“
Maybrit wusste, was er meinte.
„Die wollen alles kontrollieren, wissen aber nicht einmal, was sie eigentlich kontrollieren wollen und können.“
Magnus war für die verantwortlichen Politiker eine Art A.A.O. – alles ausführendes Organ. Also luden sie bei ihm, dem Chef der Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz/Intelligente Technik, kurz AG K.I.T., ihre ganzen Sorgen ab. Er sollte dann wohl eine Art digitalen Zauberstab schwingen und alles wurde gut. Neben Maybrit und ihm war noch Thilo mit an Bord ihrer Sondereinsatzgruppe, die innerhalb des Bundeskriminalamtes eine Sonderrolle einnahm. Die drei aus der digitalen Welt, wie Dr. Benz sie gern nannte – ihr einziger richtiger Vorgesetzter beim BKA. Es gab natürlich noch eine ganze Reihe weiterer Abteilungen, die sich mit Internet, Digitalem und den damit verbundenen Verbrechen beschäftigten. Doch die AG K.I.T. kümmerte sich um die ganz sonderbaren Fälle, um neue Erscheinungsformen der www-Kriminalität. Alle drei waren Spitzenleute in Sachen digitaler Welt und arbeiteten in dieser Konstellation jetzt zwei Jahre zusammen. Sie waren nicht diejenigen, die nach ausgiebiger Recherche die Pistolenhalfter umlegten und die überführten Bösen aus dem Dunkel des Darknet ins helle Licht der Wirklichkeit zerrten. Ihre Arbeit war zwar die Grundlage für weitere Ermittlungen, die aber von Kollegen aus anderen Abteilungen fortgeführt und wenn möglich abgeschlossen wurden.
Meine Digi-Precogs, beschrieb Dr. Benz gern die drei – womit er die hellseherischen Personen aus dem berühmten Zukunftsthriller „Minority Report“ von Steven Spielberg meinte. Sie können Morde schon vorher sehen, bevor sie ausgeführt werden. Die „Täter“ werden quasi bereits im Vorfeld ihrer Tat verhaftet und in Verwahrung gebracht. In einen Zustand ständiger Bewusstlosigkeit. Dr. Benz liebte den Film, in dem Tom Cruise die Hauptrolle spielte, und war nur darüber enttäuscht, dass das ganze Projekt leider am Schluss beendet wurde, weil es sich als fehlerhaft herausstellte. Für Dr. Benz war es eine fantastische Vorstellung, Verbrechen bereits vor ihrer Ausführung verhindern und die „Täter“ wegsperren zu können. Mit mutmaßlich angehenden Terroristen wurde ja schon seit einigen Jahren ähnlich verfahren. Wurden ihre Vorbereitungen entdeckt, gab’s eine Observation und möglicherweise Zugriff, bevor die Tat begangen wurde. Auch für die Vorbereitung eines terroristischen Akts konnte man für lange Zeit hinter Gitter wandern.
Als Hellseher empfanden sich die drei vom K.I.T. allerdings nicht gerade. Sie surften in den digitalen Weiten der Internets und kamen sich da eher manchmal wie die Pioniere aus Star Trek vor – nur dass sie nicht in einem Raumschiff materiell durch den Weltraum rasten, sondern eben digital in den ebenso unendlichen Weiten der Clouds und Netze.
„Magnus? Die Hackeraktivitäten, die wir seit einer Woche beobachten, steigen sprunghaft an. Ziel sind vor allem wissenschaftliche Einrichtungen der Unis und der technischen Hochschulen.“
Magnus drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr um.
„Irgendwelche Wurzeln? Verbindungen zu bekannten Aktivitäten?“
Maybrit schüttelte ihren Kopf.
„Nein, nichts zu erkennen. Das brandet immer wieder wie Wellen auf die Server. Aber es wirkt ein wenig ziellos, so, als ob die letzte Konsequenz zum Durchbrechen nicht vorhanden ist.“
„Okay, beobachte es weiter. Ich habe ein anderes Problem. Das Büro des Hamburger Innensenators hat merkwürdige digitale Sendungen erhalten. In ihnen wird vor Gottes Rache gewarnt, wenn der Mensch sich weiter seiner Hybris schuldig macht. Die menschliche Intelligenz sei von Gott gegeben – jeder Versuch, sich darüber zu erheben, sei ein Angriff auf Gott und seine Schöpfung. Das würde ernste Konsequenzen nach sich ziehen und so weiter ...“
Thilo Thielsen schaute nun das erste Mal von seinem Bildschirm auf.
„Klingt nach üblichem religiösem Eifertum, allerdings aus christlicher Richtung, vermute ich. Aber ehrlich, solche Dinge kursieren doch tausendfach im Netz. Wieso misst das IM dem denn eine Bedeutung zu?“
Magnus schaute seine beiden Mitarbeiter abwechselnd an:
„Es wurde in diesem Fall ein Video mitgeschickt, das den Innensenator spielend mit seinen beiden Töchtern zeigt – am Schluss färbt sich das Bild rot ein.“
Irgendetwas war furchtbar schief gelaufen, da war sich Michael jetzt ziemlich sicher. Er, der so gern alles unter Kontrolle hatte, der Probleme als Schachspieler anging, analytisch, berechnend und kontrolliert, sah sich jetzt einer total unwirklichen, abstrakten und unmöglichen Situation gegenüber. Hitler schwieg jetzt zum Glück, aber er nahm eine andere Stimmen wahr.
Der Schwache kann nicht verzeihen. Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken.
Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.
Michael nahm die Sätze in Englisch wahr, obwohl er sich da nicht so sicher war (wie konnte er bei irgendwas hier sicher sein?). Sie berührten sein Inneres, brachten es zum Schwingen. Sie kamen ihm sogar bekannt vor, auch wenn er sie gerade nicht einordnen konnte. Aber das schien zurzeit das eindeutigste Merkmal seiner Situation zu sein: die Unmöglichkeit des Einordnens. Obwohl, der zweite Satz: Die Welt hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier – der passte ja irgendwie wunderbar zur aktuellen Diskussion um Ressourcen, die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich auf der gesamten Welt, zu Klimaveränderung und Migrationsbewegungen weltweit. Zu übermäßigem Fleischkonsum mit all seinen schädlichen Folgen, zu dem Abholzen des Regenwaldes, CO2 und Stickoxid und zum ganzen Rest.
Der Satz mit der Gier, sprach Michael, der stimmt natürlich, aber hilft auch nicht so richtig weiter im politischen Tagesgeschäft, wo es doch hauptsächlich um kurz- bis mittelfristige Problemlösungen geht. Die Menschheit ist so beschäftigt mit dem Verwalten der aktuellen Situation, dass sie sich viel zu wenig Zeit und Mühe gibt, um die zentralen Fragen zur Zukunft der Menschheit zu stellen. Es scheint, dass alles rein wirtschaftlichen Interessen untergeordnet wird – und den Aufsichtsrat interessiert das Wohl der Menschheit und der Erde nur in feierlichen Stiftungsreden, ansonsten weiter wie gehabt, Geld scheffeln.
Michael fand es auf eine sonderbare Weise komisch, dass er diese Gedanken hatte, wo doch ihm seine persönliche Situation komplett unbewusst und unklar war. Da vernahm er wieder die Stimme von vorhin:
Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.
Unzweifelhaft richtig, dachte Michael, sehr schön zugespitzt formuliert, aber welche Konsequenzen zieht man nun daraus?
Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für die Welt.
Okay, das erinnerte Michael stark an die Theorie des Schmetterlings-Effekts – nur in positivem Sinne. Geprägt hatte ihn der US-amerikanische Meteorologe Edward N. Lorenz in einem Vortrag 1972 mit dem Titel „Vorhersagbarkeit: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?“ Lorenz wies in mathematischen und physikalischen Versuchen nach, dass sich in bestimmten Systemen nicht vorhersehen lasse, wie sich selbst kleine, beliebige Veränderungen am Anfang des Systems auf die gesamten Entwicklungen und Folgen auswirken. Das war die Geburt der populären Chaostheorie. Eigentlich hätte die korrekterweise „Dynamik nicht linearer Systeme“ heißen müssen, aber dann wäre sie sicherlich in der Öffentlichkeit niemals auf ein so großes Interesse gestoßen. Nicht wenige Wissenschaftler sehen in der Chaostheorie eine der drei wissenschaftlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts – neben der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der von Max Quandt begründeten Quantenphysik. Und auch persönlich hatte Michael seine eigenen Erlebnisse mit der Chaostheorie gehabt. Als er mit 14 Jahren seine erste „richtige“ Freundin kennenlernte, war dieses Zusammentreffen auch eine Verkettung glücklicher Umstände gewesen. Denn eigentlich – und dieses Wort eigentlich war eigentlich das Anfangswort zu jeder Chaostheorie – wollte er zum Fußball fahren. Doch neben der Straße fand er eine verletzte Krähe, die wohl in ein Auto geflogen war. Sie duckte sich ganz flach in einen kleinen Graben neben der Straße unter ein paar Zweige eines Gebüschs. Michael griff sie behutsam um den Körper und die Schwingen und steckte sie unter seine Jacke. Mit einer Hand schob er das Rad, mit der anderen hielt er den schwarzen Vogel. Erst hatte er ein wenig Furcht, dass die Krähe mit ihrem so aus der Nähe betrachtet ziemlich gewaltigen Schnabel nach ihm hacken würde. Aber das tat sie nicht. Er kannte eine Tierärztin im Ort, bei der sie auch mit ihrem Beagle hin und wieder waren. Sie untersuchte die Krähe, gab ihr eine Beruhigungsspritze, stellte fest, dass wohl nichts gebrochen sei und der Vogel einfach von dem Zusammenprall benommen war. Sie organisierte einen Karton, in den die Krähe verfrachtet wurde. Sollte sie die nächsten zwei Stunden überstehen, so die Ärztin, hätte sie wohl keine inneren Verletzungen und würde vielleicht überleben. So verbrachte Michael die nächsten zwei Stunden mit dem Karton auf dem Schoß im Wartezimmer der Praxis und wartete darauf, dass die Krähe starb oder überlebte. Ying oder Yang. Null oder Eins. Schwarz oder Weiß. Leben oder Tod. Bald kam ein Mädchen in seinem Alter mit ihrem Meerschweinchen ins Wartezimmer. Siegrid fand die Krähe natürlich super spannend – und so waren sie zusammen gekommen. Die Krähe überlebte, hieß dann Krax, weil sie ziemlich krächzende Töne von sich gab – eine Folge des Unfalls, wie die Ärztin vermutete. Fünf Jahre lebte sie bei den Allhovens, bis sie eines Tages von einem Ausflug nicht mehr zurückgekommen war. Michael war todtraurig und schaute jeden Tag in den Himmel, um Krax auf sich zufliegen zu sehen. Aber Krax blieb verschwunden. Michael zog bald darauf aus dem kleinen Ort weg nach Hamburg, wo er studieren wollte. Doch noch jahrelang blickte er immer wieder sehnsuchtsvoll in den Himmel, um ein Zeichen von Krax zu entdecken. Aber Krax tauchte nie wieder auf. Als hätte es die Krähe nie in Michaels Leben gegeben. Mit Siegrid war noch schneller Schluss gewesen. Nach einem Jahr trennten sie sich, wie sich halt Teenager voneinander trennen. Hätte das Auto damals vielleicht ausweichen können? Dann wäre Krax nie in seinen Armen gelandet, genauso wenig wie Siegrid. Alles wäre anders gekommen. Und so war es mit beinah allem im Leben. Zufälligkeiten bestimmten es. Oder wie hieß es so schön: Planung ist das Ersetzen des Zufalls durch Irrtum. Die Chaostheorie bewies nun, dass selbst kleinste Veränderungen zu großen Umwälzungen führen konnten. Selbst das Mit- und Gegeneinander der Planeten, Sterne und Kometen orientierte sich nach diesem Chaosprinzip. Ein abgebrochener Teil eines Asteroiden, der auf einem Planeten einschlägt und dort zu einer verdichteten Explosion führt, die Moleküle schafft, die es vorher auf dem Planeten nicht gegeben hat. Vielleicht der Anfang des biologischen Lebens auf diesem Planeten? Die Stimme meldete sich wieder, als hätte sie Michaels Gedanken gelesen:
Wo Liebe wächst, gedeiht Leben – wo Hass aufkommt, droht Untergang.
Er lenkte seinen geliebten polarweißen Range Rover durch die Straßen Hamburgs. Sein Navi lotste ihn in eine kleine Seitenstraße Altonas. Er fluchte. Hier einen Parkplatz zu finden, dürfte keine leichte Aufgabe werden. Endlich fand er eine Lücke und versuchte, seinen Fünfmeter-Boliden hineinzuzwängen. Nächstes Mal nehme ich ein Taxi oder kaufe so eine verdammte Erbsenbüchse Smart, versprach Mitch sich und stieg aus. Das kleine Café hatte er schnell gefunden. Drinnen war es gemütlich mit viel Holz eingerichtet. Allerlei Kaffee- und Teekannen hingen von der Decke oder standen überall herum, wo Platz war. Es gab vielleicht ein Dutzend runde Tische, jetzt gegen Nachmittag an einem Montag zur Hälfte besetzt. Ein sehr gemischtes Publikum, stellte Mitch fest. Jüngere, ältere, freakige Leute und ganz normal gekleidete. Ein bunter Mix. Die Bedienung war eine junge, dunkelhaarige Frau, wahrscheinlich eine Studentin, mit blitzweißen Zähnen und einer lustigen kleinen Zahnlücke in der oberen Reihe. Von einem der vorderen Tische stand eine sehr schlanke Frau auf. Sie wirkte sportlich, fast drahtig, trug ihre schwarzen Haare sehr kurz. Auch ihre Augen waren dunkel. Auf Anfang 30 schätzte Mitch sie und sie gefiel ihm, ohne Frage. Sie wirkte auf den ersten Blick leicht unterkühlt, nein, eher distanziert, vielleicht auch einfach vorsichtig.
„Valery Bernstein, guten Tag!“
Sie sprach mit einem herrlichen amerikanischen Akzent und hielt ihm ihre schmale Hand zur Begrüßung hin. Sie setzten sich. Valery orderte einen grünen Tee, Mitch einen Milchkaffe, zubereitet aus Hafermilch. Dabei dachte er kurz, dass es „früher“ lediglich Milchkaffe gegeben hatte. Heute konnte man ihn mit Hafer- oder Soyamilch bestellen, mit laktosefreier Kuhmilch und den Kaffee ohne Koffein. Die Individualisierung des Menschen in der westlich geprägten Welt nahm immer stärkere Formen an. Wie weit konnte das gehen, bevor es im Getriebe zu knirschen begann? Und wie würde sich ein Gigant wie China dahingehend entwickeln? Noch stand dort die von oben verordnete Kollektivität an erster Stelle, obwohl eine starke Entwicklung hin zu individuellem Konsum und zur allgemeinen Individualisierung stattfand. Ein Land mit über einer Milliarde Menschen im Wechselbad der Systeme von Kommunismus und entfesseltem Kapitalismus. Mitch schob die Gedanken zur Seite. Manchmal war es problematisch, ein „Superdenker“ zu sein – diesen Beinamen hatten ihm die Medien nach seinem Bucherfolg verpasst. Einfach zu viele Gedanken, unablässig, nicht wie ein Strom, sondern wie ein großer, rauschender Gebirgsbach, dessen Wasser sich an Steinen und Felsen bricht, immer neue Wege sucht und doch die alten findet? Er seufzte und wandte sich Valery zu, die ihn aus ihren dunklen, tiefen Augen anschaute wie ein spannendes Insekt, das vor einem auf dem Tisch krabbelte. Nicht mit Ekel, sondern eher aus wissenschaftlicher Neugier – was haben wir denn da für ein seltsames Geschöpf?
„Wie Sie wissen, Dr. Kessler, arbeite ich für MiNU – Mind Networks United. Leif Trager, der Gründer des MiNU, beobachtet Ihre Arbeit genau. Er ist sehr daran interessiert, mit Ihnen zu kooperieren. Er ist von Ihren Büchern begeistert. Leider konnte er heute nicht kommen, weil er plötzlich für ein paar Tage nach Bangkok reisen musste. Nächste Woche wird er wieder hier sein und sich freuen, mit Ihnen zusammen zu treffen.“
Sie machte eine kleine Pause und wartete, ob er etwas erwidern wollte. Mitch fand, dass sie extrem kontrolliert sprach, ohne dabei kalt zu wirken. Im Gegenteil, ihre Stimme hatte eine leicht warme Farbe, die von ihrer geringen Lautstärke, mit der sie sprach, profitierte. Es war angenehm, mit Valery zu reden, fand Mitch, wollte, dass sie weiter sprach. Als sie merkte, dass von Mitch nichts kommen würde, fuhr sie leise fort.
„Das MiNU beschäftigt sich mit Künstlicher Intelligenz. Wir meinen einen Weg gefunden zu haben, Wissen für alle in bisher unbekannter Form bereit zu stellen. Wir möchten, dass Sie unsere Bemühungen untersuchen und bewerten.“
„Warum ich?“, fragte Mitch.
„Nun, Sie haben durch Ihre Bücher gezeigt, dass Sie in extremen Zusammenhängen denken, Geschehen von Jahrtausenden analysieren können. Vielleicht ist Ihr Gehirn etwas sehr Besonderes in dieser Zeit. Auch darüber würden wir gern mit Ihnen sprechen.“
„Also, soll nicht nur ich Ihre Arbeit untersuchen, sondern Sie wollen auch mich untersuchen, verstehe ich das richtig?“
Mitch schaute sie direkt an. Man konnte förmlich in diesen Augen versinken, dachte er. Wie zwei schwarze Löcher mit unendlicher Ausdehnung nach innen und unstillbarem Hunger nach Energie. Sie lächelte.
„Das haben Sie gut erkannt, Dr. Kessler. In der Tat, uns interessiert Ihr Wissen. Ihre Art zu denken. Sie könnten für unser Projekt enorm gewinnbringend sein – gewinnbringend im wissenschaftlichen Sinne. MiNU ist eine Stiftung, die nicht an Profit orientiert ist.“
Mitch schlürfte seinen Hafermilch-Kaffee.
„Sie wollen mein Gehirn.“
Er sagte es ohne Fragezeichen. Valery Bernstein lächelte ihn an.
Es klingelte. Marie seufzte und stand langsam auf. Sie horchte nach oben. Doch aus Hannahs Zimmer drang nicht einmal Musik. Kein gutes Zeichen. Ihre Tochter hatte die Nachricht vom Tod ihres Vaters schweigend aufgenommen. Wie in Trance, hatte Marie kurz gedacht. Dann hatte Hannah sich an sie gelehnt und lange geweint, immer wieder von Krämpfen geschüttelt. Marie wusste, wie sehr Hannah an ihrem Vater hing. Als sie vier Jahre gewesen war, hatte sie ihn immer wieder gefragt, ob sie ihn denn später heiraten könne. Er und Marie hatten darüber gelächelt und Michael hatte dann immer zu ihr gesagt:
„Meine kleine Blume, du bist hier für ewig in meinem Herzen“ – und er legte seine Handinnenfläche behutsam auf seine Brust.
„Wir brauchen gar nicht zu heiraten, weil ich immer für dich da sein werde. Und schau mal, ich bin ja mit Mama verheiratet, aber du bist mein ewiger Sonnenschein, der immer in meinem Herzen leuchtet, wohin ich auch gehe. Das ist viel besser als zu heiraten ...“
Hannah saß dann auf seinem Schoß, sah ihn mit diesem unglaublichen kindlichen Ernst an, umarmte ihn und flüsterte in sein Ohr:
„Ich werde immer dein Sonnenschein sein. Ich leuchte auch noch hell, wenn alles um uns herum total dunkel ist.“
Marie schluckte, als sie an diese Momente dachte. Und sie war sich sicher, dass es Hannah genauso ging. Bis Hannah ungefähr acht Jahre alt war, hatte sich diese Szene immer wieder zwischen ihr und Michael abgespielt. Es war ein Ritual geworden, etwa wenn Hannah sich schlecht fühlte – aber auch, wenn es Michael nicht gut ging. Er war zu der Zeit noch kein politischer Journalist, sondern beschäftigte sich viel mit krassen sozialen Themen wie Kindesmissbrauch, Pädophilie, mit Vernachlässigung von Kindern bis hin zu totaler Verwahrlosung, aber auch mit Bildung, sozialen Aufbauprojekten und Sozialpolitik. Über diese Schiene gelangte er schließlich zum politischen Journalismus. Da waren die Themen zwar oft genauso abstoßend und unglaublich wie vorher, aber die extreme psychische Belastung, die oft durch die kinder-spezifischen Geschichten an seinen Nerven und an seiner Seele teilweise wie verrückt gezerrt hatte, war von ihm gewichen. Das, was er in der Europa- und Wirtschaftspolitik zu sehen bekam, widerte ihn zum Teil an, diese Anti-Demokratisierung, dieser menschenfeindliche Lobbyismus, diese Egozentrik der mächtigen Frauen und Männer – sein Weltbild einer westlich geprägten demokratischen Politik, die den Menschen dient, war erst ins Wanken geraten und schließlich in Trümmer gefallen. Und je länger er sich in diesen Türmen der Macht bewegte, desto stärker spürte er den Sog, der auch ihn in dieses System der Gefälligkeiten, der Abhängigkeiten und der Korruption hineinziehen wollte. Wie eine unheimliche Kraft, die einen lockt, immer einen Schritt weiter in die Dunkelheit zu gehen. Er hatte Kollegen kennengelernt, die mittlerweile in diesem Strom, dieser Parallelwelt aus Geben und Nehmen, schwammen wie Fische im Wasser. Auf diese Weise wurden Entscheidungen getroffen, die sich gegen die Menschen wandten, aber Geld in die Taschen vieler Privilegierter schaufelten. Wer in diesem Strom seine Netze auswarf und die Silberfische und Goldlachse, die da heimlich und unerkannt herumschwammen, aufs Trockne warf, damit sie von allen öffentlich bestaunt und im besten Fall bestraft werden konnten, machte sich nicht gerade Freunde in Teilen der Politik, Wirtschaft und des Journalismus. Er und Marie hatten oft über diese Zusammenhänge gesprochen, wenn sich gerade wieder besonders finstere Machenschaften zusammenbrauten oder sie öffentlich wurden.
Als Hannah älter war, wurde ihr Ritual zu einem spielerischen. Sie schenkte Michael ein eindrucksvolles, selbst gemaltes Bild einer strahlenden Sonne.
„Wenn ich irgendwann in Australien bin, dann kann ich ja nicht mehr immer bei dir sein, dann schaust du dir dieses Bild an und dann bin ich doch bei dir!“
Seit Hannah zehn Jahre alt war, bedeutete ihr Australien die endgültige Verheißung. Für sie stand fest, dass sie irgendwann in dieses Land ziehen würde. Sie schaute Dokumentationen über Down Under, las Reportagen und wollte alles über das ferne Land wissen. Woher dieser Wunsch gekommen war, wussten Marie und Michael nicht. Er war einfach irgendwann da gewesen und nicht wieder gegangen. Michael musste versprechen, eines Tages mit Hannah nach Australien zu reisen. Nun, dachte Marie mit einem schmerzhaften Stich der Trauer, würde es dazu niemals mehr kommen. Es war alles noch zu frisch, um Michaels Tod in seiner Endgültigkeit zu begreifen, dass er nie wieder in die Tür treten würde mit seinem freudigen und lauten Ausruf: „Ich bin wieder da!“
Sie öffnete die Tür. Davor stand eine dunkelhaarige, schlanke Frau.
„Hülsenberg, Tatjana, enschuldigen Sie, Frau Allhoven?“
Marie nickte leicht.
„Erst einmal mein herzliches Beileid. Es muss furchtbar sein, eine solche Nachricht zu bekommen. Ich bin Wirtschafts-Spezialistin bei Europol“ – sie zückte ihren Dienstausweis und reichte ihn Marie – „ich möchte mich nicht aufdrängen und ich kann verstehen, dass Sie sich ersteinmal sammeln müssen, aber wir müssten auch dringend mit Ihnen reden.“
Sie blickte Marie aus freundlichen, dunklen Augen an, wartete Maries Reaktion ab.
Ihr erster Impuls war, die Frau zu vertrösten und zu verabschieden, zu bitten, sie möge in ein paar Tagen wieder kommen. Aber gleichzeitig war da eine tiefe Neugier in ihr drin. Die Nachricht über den Tod ihres Mannes war gerade ein paar Stunden alt und schon stand eine Frau von Europol vor ihrer Tür? Sie wusste, dass Michael mit Polizeibehörden zu tun gehabt hatte – das war Teil seins Jobs. Er hatte ihr auch mehr als einmal seine Meinung über BKA, Euro- und Interpol mitgeteilt. Der Sog, der auch an ihm zurrte und zerrte, machte vor Polizeibeamten jedwelchen Dienstranges keinen Halt. Als Michael über die Verstrickungen von Interpol mit der Industrie recherchierte – es ging 2013 um angebliche millionenschwere Kooperationsverträge mit dem Tabakkonzern Philip Morris sowie zahlreichen Pharmaunternehmen – hatte er sogar von Drohungen gesprochen, ohne jemals konkret geworden zu sein. Natürlich hatte sie wissen wollen, ob sie tatsächlich gefährdet waren. Ihr kam es damals wie ein Thriller im Fernsehen vor – alles schien heile Welt, sicher und frei – aber plötzlich wurden sie bedroht von einer dunklen Seite der Demokratie und des Kapitalismus? Von Korruption und Verbrechen? Michael hatte damals abgewunken, er bilde sich das vielleicht nur ein; wenn man erst einmal anfängt, im Schlamm zu wühlen, formen sich halt Figuren, vor denen man schon mal Angst bekommen kann. Er hatte danach nicht wieder davon erzählt und sie hatten auch nicht erneut darüber gesprochen. Es hatte zwar etwas Dunkles, Unausgesprochenes, aber ehrlicherweise war Marie auch nicht wirklich erpicht darauf, sich weiter Sorgen zu machen. Zu irreal erschien ihr eine etwaige Bedrohung durch staatliche Organisationen. Für Verschwörungstheoretiker hatte Marie noch nie viel übrig gehabt. Wenn man sich bestimmte Aspekte und Wissensteilchen aus dem gewaltigen Mega-Strom der Informationen herauspickte, ließ sich so gut wie alles theoretisch „beweisen“ oder man säte zumindest Skepsis und Misstrauen unter den Menschen. Dazu kommt noch eine Flut von Fälschungen in Bildern, Videos und Berichten, dass es mitunter schwer fällt, die Wirklichkeit noch zu erkennen – sofern es EINE Wirklichkeit, wie Michael immer mit einem Lächeln zu sagen pflegte, tatsächlich gibt. Nach zwei Gläsern Wein war er dann meist der Überzeugung, dass es keine eine, sondern wohl viele verschiedene Wirklichkeiten geben müsse – fast jeder Mensch, der nachdenkt, ja selbst, der nicht weiter nachdenkt, hat seine eigene Wirklichkeit. Bei einigen bildete die sich allerdings wahnhaft aus, führte zu religiösem Eifertum, einer übersteigerten Angst vor Fremdem oder sonstwelchen fanatischen Auswüchsen.
Es war nie irgendetwas passiert nach den „Drohungen“, die Michael erwähnt hatte. Marie fühlte sich weder verfolgt noch bedroht, es knackte nicht im Telefon, es gab keinerlei Hinweise darauf, dass sie zum Zielpunkt einer Observation geworden waren. Dass sie ins Fadenkreuz einer mächtigen Organisation geraten sein könnten. Nichts.
Tatjana Hülsenberg stand noch immer vor ihrer geöffneten Tür. Meine Güte, dachte Marie, wo bin ich mit meinen Gedanken. Sie hatte keinerlei Gespür dafür, wie lange sie hier schon so standen. Ohne weiter nachzudenken, signalisierte sie der Europol-Mitarbeiterin mit einer Handbewegung, sie könne eintreten. Marie bat sie in das Wohnzimmer.
„Einen Kaffee?“
„Gern. Schwarz, bitte.“
Wie ein Automat füllte sie den Wasserkocher mit Wasser und stellte ihn an. Sie füllte einige Löffel Kaffee in eine French Press Kanne und wartete darauf, dass das Wasser zu kochen begann. Von ihrer halboffenen Küche konnte sie die Frau beobachten, die sich noch nicht gesetzt hatte, sondern scheinbar interessiert das Bücherregal studierte. Plötzlich blieb sie stehen, zog ein Buch heraus und blätterte langsam durch die ersten Seiten. Marie konnte nicht erkennen, um welches Buch es sich handelte. Das Wasser kochte. Sie wand sich ab, füllte die Kanne auf. Langsam schritt sie in das Wohnzimmer. Tatjana Hülsenberg hatte kein Buch mehr in der Hand. Sie saß auf einem Sessel und schaute Marie aus ihren dunklen Augen an.
Sie waren zu dritt zu der Veranstaltung des MiNU gekommen. Der ebenso schillernde wie anscheinend hoch intelligente Vorstandsvorsitzende der Stiftung, Leif Trager, war noch nicht auf der durch glitzernde Stahlträger gestützten Bühne zu sehen. Dort stand nur ein überdimensionaler Metallkopf mit geschlossenen Augen. Hinter der Bühne ragte eine riesige LED-Leinwand auf, die zurzeit allerdings nur das bekannte Matrix-Muster aus dem gleichnamigen Film abspielte. In einer Vorankündigung hatte das MiNU für heute die Vorstellung einer bahnbrechenden Entwicklung in Sachen Künstlicher Intelligenz bekannt gegeben. Das MiNU, so wusste Magnus Herzberger, war vor etwa fünf Jahren an diesem Standort in der Neuen Hafen-City im städtebaulich aktuell spannendsten Stadtteil Hamburgs errichtet worden. Das schimmernde Gebäude, dessen Außeneffekt durch eine raffiniert angebrachte Außenhaut-Kombination aus Glas und Metall erreicht wurde und das ein echter Hingucker war, wirkte ein wenig wie aus dem Weltraum im Hamburger Hafen gestrandet, fand Magnus. Trotzdem konnte sich wohl niemand seiner Faszination entziehen. Innen war dieser „fantastische“ Effekt konsequent fortgeführt worden. Viel Metall, noch mehr Glas, spiegelnde Flächen – man hatte zwar das Gefühl drinnen zu sein, aber auf eine verstörende Art und Weise auch wieder nicht. Natürlich war dieser Effekt gewollt.