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Fahrend? Um die Ötztaler Alpen

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Inhalt

Einführung
Edith Hessenberger/Michael Haupt

Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit
Michael Span

Die Jenischen im Tiroler Oberland
Roman Spiss/Elisabeth Maria Grosinger-Spiss

Die Haiminger Landfahrer im Spiegel der Zeit
Manfred Wegleiter

Fragmente einer Familiengeschichte aus dem Oberland
Stefan Dietrich

Die Vinschger sain Korrner!
Helene Dietl Laganda

Die Jenischen im Nationalsozialismus
Horst Schreiber

Was bleibt vom Pionier, Kulturvermittler, Sammler und Dichter Romed Mungenast? Überlegungen mit Blick auf seine Sammlung im Forschungsinstitut Brenner-Archiv
Christine Riccabona

„Ich habe mein Leben geändert.“ Romed Mungenast im Gespräch
Thomas Huonker

Fremdbilder >< Selbstbilder. Leben mit der Geschichte jenischer Ahnen
Edith Hessenberger

Gedichte
Sieglinde Schauer-Glatz

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Personenregister

Ortsregister

Autorinnen- und Autorenverzeichnis

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Krippenfigur „Karrenzieher“ von Johann Giner d.J. (1806–1872), Sammlung Tiroler Volkskunstmuseum

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Jenische Realität oder bürgerliche Romantik? – Skizze des Imster Malers Johann Linser, 1875

 

Einführung

Edith Hessenberger/Michael Haupt

Die jenische Geschichte Tirols ist keine, die häufig erzählt wird, sie ist keine Geschichte, die sich in Schul- oder in Dorfbüchern findet. Sie ist unsichtbar, wie auch die Jenischen unsichtbar sind. Ihre Existenz ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, ihre Realität wird meist nicht als Teil der Tiroler Geschichte erinnert. Das ist einer der Gründe, warum die Ötztaler Museen, die Initiative Minderheiten und das Vintschger Museum diesen Aspekt unserer Geschichte im Rahmen des von der Europaregion Tirol-Trentino 2021 ausgerufenen Museumsjahres zum Thema „Transport –Transit – Mobilität“ (einmal mehr) in ihren Fokus genommen haben. Der Blick schweift dabei ganz bewusst über den „Tälerrand“ hinaus.

Schon im Titel des vorliegenden Buches steckt eine Frage: „Fahrend? Um die Ötztaler Alpen. Aspekte jenischer Geschichte in Tirol“. – Welche Bilder tauchen in unseren Köpfen auf, wenn wir von Jenischen hören, und wie sehr entsprechen sie der historischen, aber auch der aktuellen Realität? Waren Jenische wirklich ein fahrendes Volk, wie häufig kolportiert wird? Wie sehr unterschieden sich Jenische in dieser Hinsicht von der sesshaften Bevölkerung, war diese tatsächlich so immobil und ortsgebunden, wie häufig angenommen wird?

Bis heute wird in Bezug auf Jenische in Tirol häufig von Karrnern, Dörchern, Laningern etc. gesprochen. In Nordtirol hat sich in der wissenschaftlichen Arbeit zur jenischen Geschichte die Überzeugung durchgesetzt, dass diese landläufigen Bezeichnungen vermieden werden sollten. Zu lange transportierten sie sowohl negative Stereotype als auch romantische Verfälschungen, bis heute werden sie im Tiroler Sprachgebrauch als Schimpfwörter verwendet. Das stärkste Argument ist jedoch, dass eine Reihe Jenischer, die sich heute um eine kritische Aufarbeitung ihrer Geschichte in Tirol bemühen, die Bezeichnung Karrner etc. deutlich von sich weisen und als beleidigend empfinden.

In Südtirol stellt sich die Situation etwas anders dar. Hier wurde der Begriff Korrner durch kritische Kulturarbeit, wie etwa in Form der literarischen Arbeiten von Luis Stefan Stecher, seit den 1970er Jahren teils auch positiv konnotiert. 1978 wurde Stechers Band „Korrnrliadr: Gedichte in Vintschger Mundart“ veröffentlicht, in dem er Jenischen ein Denkmal setzen und von ihrem Alltagsleben berichten wollte. Durch die Vertonung von Ernst Thoma sind viele dieser Gedichte zu Volksliedern geworden. Zuletzt wurden von Heiner Stecher, Luis Stefan Stechers Sohn, zusammen mit seiner Band Flouraschwarz mehrere Gedichte neu vertont.

So kommt es, dass im vorliegenden Band nicht nur unterschiedliche Herangehensweisen an Fragestellungen rund um jenische Geschichte in Tirol, sondern auch unterschiedliche sprachliche Zugänge deutlich werden. Diese Tatsache macht die Komplexität der Geschichte und Gegenwart Jenischer in Tirol deutlich, die zwischen Diskriminierung und Marginalisierung, vollkommener Integration und nicht zuletzt in den aktuellen Bemühungen um Anerkennung als Volksgruppe in Österreich mündet.

In diesem Band

Für eingehende Betrachtungen verschiedenster Aspekte jenischer Geschichte in Tirol konnten dankenswerterweise eine Reihe hervorragender Wissenschafterinnen und Wissenschafter gewonnen werden. Mobilität ist das Thema des EUREGIO-Museumsjahres 2021 – aus diesem Grund wird auch die Frage danach, ob Mobilität nun Ausnahme oder Alltag im historischen Tirol war, an den Eingang des Buches gestellt. Der Historiker Michael Span erstellt unter dem Titel „Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit“ einführend einen Überblick über die Formen und die Bedeutung von Mobilität in Tirol – in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen. Bereits im 16. Jahrhundert gab es erste Bestrebungen im Rahmen der Tiroler Landesordnung, die Mobilität der Tiroler strenger zu regeln. Wanderhandel, Bettel und Migration standen jedoch bis ins 20. Jahrhundert an der Tagesordnung.

Von der allgemeinen Mobilitätsgeschichte hin zur Geschichte der Jenischen führen Elisabeth Maria Grosinger-Spiss und Roman Spiss im Beitrag „Die Jenischen im Tiroler Oberland“, in dem sie am Beispiel konkreter Familiengeschichten historische Realität erfahrbar machen. Diese war geprägt von der Verachtung der „Vagabunden“, die manchmal ihre gesamte Habe auf Karren mit sich führten, abseits der Siedlungsgebiete lagerten und sich als Tagelöhner oder als Besenbinder, Scherenschleifer, Regenschirmund Pfannenflicker oder Korbflechter den Lebensunterhalt verdienten, durch die sesshafte Bevölkerung. Ihre Lebensweise brachte sie regelmäßig in Konflikt mit dem Gesetz und den Interessen der sesshaften Bevölkerung, die sie als „Karrner“, „Dörcher“ oder „Laninger“ bezeichnete.1 Die marginalisierten Dauer-Wanderer waren schon bald stigmatisiert, wie ein Bericht des Brunecker Kreisamtes aus dem Jahr 1818 verdeutlicht: „Als Hauptschule des Verbrechens sieht (man) die sogenannten Landfahrer, Dörcher, Karrenzieher; die Deserteurs und die arbeitsscheuen Vagabunden an.“2

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Abb. 1: Schloss Wiesberg mit fahrender Familie im Vordergrund, gezeichnet von Carl Viehbeck, 1820

Maßgeblich zur Verachtung dieser sozialen Gruppe trugen, neben der Abstiegsangst der Sesshaften,3 nicht zuletzt die mit dem Anwachsen der Gruppe zunehmenden Kosten für die Gemeinden bei. Die Gemeinden waren – wenn seitens der Verarmten ein Heimatrecht bestand – für die Ausstattung der Kinder und die Armenfürsorge zuständig.4 Wie die Situation in Gemeinden aussah, in denen viele Jenische daheim waren, zeichnet der Chronist Manfred Wegleiter exemplarisch für die Gemeinde Haiming nach. Für seinen Beitrag „Die Haiminger Landfahrer im Spiegel der Zeit“ hat er eine Vielzahl an Dokumenten aus verschiedenen Archiven durchgearbeitet und analysiert sowie Zeitungen nach jenischen Spuren durchforstet. Dabei spielen Quellen wie Gemeinderatsprotokolle oder das Totenbuch am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eine große Rolle, anhand derer etwa die Suche nach Wohnraum oder die Hygienebedingungen und die daraus resultierende hohe Kindersterblichkeit nachvollzogen werden können. Wegleiter bemüht sich um ein differenziertes Bild, liefert Erklärungen für zugeschriebene Verhaltensweisen und streicht beispielsweise auch Leistungen aus dem Schulbereich hervor, die gängigen Vorurteilen widersprechen. Ergebnis ist ein vielstimmiges Bild einer Gemeinde, das vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reicht.

Mit einer spannenden Zusammenschau von „Fragmenten einer Familiengeschichte aus dem Oberland“ setzt der Historiker Stefan Dietrich die Überlegungen fort und lässt die Leserschaft an der eigenen Familiengeschichte teilhaben, die über fast 200 Jahre hinweg Anekdoten aus dem Leben der Katharina Mayr in mündlicher Überlieferung erhalten hat. Dietrich stellt die Erzählungen den schriftlichen Quellen rund um Katharinas Biografie gegenüber. Interessantes Detail: In der Hoffnung auf das Sakrament einer sogenannten „Rom-Ehe“ führte ihr Lebensweg tatsächlich bis nach Rom. Gerade für Menschen, denen in den Heimatgemeinden die Bewilligung zur Heirat verweigert wurde, stellte eine Trauung durch einen päpstlichen Vertreter in Rom die einzige Möglichkeit dar, eine Ehe zu schließen. Trotz der Gefahr einer mehrwöchigen Gefängnisstrafe nach der Rückkehr in die Heimatgemeinde wurde diese Möglichkeit im 19. Jahrhundert häufig von Jenischen angenommen.

Im darauffolgenden Beitrag „Die Vinschger sain Korrner!“ wirft Helene Dietl Laganda einen Blick auf die Situation in Südtirol bzw. speziell ins Vinschgau. Wie eingangs erwähnt, kam es in Südtirol durch eine frühe kritische Kulturarbeit zu einer bemerkenswerten Diskursverschiebung, die zur Folge hatte, dass sich die Vinschger Bevölkerung kollektiv im Erbe der „Korrner“ sieht. Andererseits scheint aber der Bezug zu realen Personen der Vergangenheit zu fehlen und es wird davon ausgegangen, dass es keine „Korrner“ mehr gibt. Von der Eigenbezeichnung als Jenische und einer eigenen Sprache fehlt heute jegliche Spur.5 Eine in letzter Instanz nicht ganz befriedigende Erklärung, warum dies so sein könnte, liegt in der sogenannten Option. Der deutschsprachigen Bevölkerung wurde mit dem Hitler-Mussolini-Abkommen 1939 vor die Wahl gestellt, entweder ins nationalsozialistische Deutschland zu emigrieren oder mit dem Verbleib in Südtirol die Repressionen infolge der Italianisierungskampagne der faschistischen Regierung in Rom in Kauf zu nehmen. Offensichtlich waren unter den ersten und dauerhaften Optanten viele Südtiroler Jenische, die als Ärmste der Armen wenig zu verlieren hatten.6 Paul Rösch vermutet auch, dass ihnen von den Bürgermeistern „goldene Brücken gebaut wurden, dass sie gehen“.7 Auch Alois Federspiel („Storchn Lois“), dessen Biographie als die eines der „letzten“ Südtiroler „Korrner“ in diesem Buch wieder abgedruckt wird, hat sich für die Option entschieden. Die Bezüge zwischen Süd- und Nordtiroler Jenischen zeigen sich aber schon früher. Im Bewusstsein, dass es schwierig ist, sich an Familiennamen zu orientieren, und damit Vorurteile reproduziert werden, die etliche Jenische dazu veranlasst haben, andere Namen anzunehmen,8 können doch familiäre Beziehungen über den Reschenpass festgestellt werden. Auch in persönlichen Gesprächen mit Nordtiroler Jenischen im Rahmen der von der Initiative Minderheiten seit 2016 veranstalteten Jenischen Kulturtage werden diese Verbindungen immer wieder erwähnt.

Einem der dunkelsten Kapitel der Geschichte widmet sich der Zeithistoriker Horst Schreiber unter dem Titel „Die Jenischen im Nationalsozialismus“. In atemberaubender Dichte zeichnet Schreiber die politische Linie des nationalsozialistischen Regimes nach, die eine Anerkennung der Jenischen als zugehörig zur „Volksgemeinschaft“ in Aussicht stellte, wenn diese ihre Lebensweise aufgeben würden und sich assimilierten. Zugleich wurde Jenischen von Anfang an unterstellt, ebendiese „Volksgemeinschaft“ zu zersetzen, und sie wurden als „Asoziale“ verfolgt. Einzelne dieser Schicksale finden, wo sie sich rekonstruieren lassen, im Beitrag Eingang und geben so ein fundiertes Bild der Situation Jenischer in der NS-Zeit sowie in den ersten Jahrzehnten danach. Einmal mehr zeigen sich ideologische und personelle Kontinuitäten nach 1945. Doch auch die Tatsache, dass die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Bezug auf die Diskriminierung und Verfolgung der Jenischen „mehr Kontinuität als Bruch“ bedeutete, wird deutlich.

Romed Mungenast als Person einerseits und besonders als Pionier in den Bemühungen um die Dokumentation der jenischen Geschichte andererseits nimmt in einem Sammelband zur jenischen Geschichte in Tirol wenig überraschend einen wichtigen Platz ein. In einem ersten Beitrag gibt die Literaturwissenschaftlerin Christine Riccabona auf die Frage „Was bleibt vom Pionier, Kulturvermittler, Sammler und Dichter Romed Mungenast?“ eine Antwort in Hinblick darauf, welche Teile von Mungenasts Sammlung im Innsbrucker Forschungsinstitut Brenner-Archiv Eingang fanden. Darin und in seinem literarischen Nachlass findet sie „Spuren einer Haltung“ und stellt ein bleibendes Interesse an Werk, Leben und Sammlung von Romed Mungenast fest.

Im darauffolgenden Beitrag „Ich habe mein Leben geändert“ wird das Gespräch des Historikers Thomas Huonker mit Romed Mungenast aus dem Jahr 2003 in Auszügen wiedergegeben. Darin erzählt Mungenast offen und selbstkritisch über Schlüsselerlebnisse, die ihn bei der Entwicklung von einem diskriminierten und ausgegrenzten Kind – durch eine Phase der Wut über dieses Unrecht – hin zu einem Forscher und Kenner der jenischen Geschichte unterstützten und ihn zu einem Vorkämpfer für die Anerkennung Jenischer als Teil der Tiroler Geschichte und Gesellschaft werden ließen. Man freut sich posthum mit ihm, wenn man ihn, wenige Jahre vor seinem zu frühen Tod 2006, von seinem späten persönlichen Glück erzählen hört.

Edith Hessenberger widmet sich in ihrem Beitrag „Fremdbilder >< Selbstbilder. Leben mit der Geschichte jenischer Ahnen“ den Spuren Jenischer im Ötztal. Sie stellt Erzählungen, Anekdoten und historische Quellen über Jenische zwei lebensgeschichtlichen Interviews mit Jenischen gegenüber. Durch diese Konfrontation von Fremd- mit Selbstbildern regt sie eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung an. Divergenzen zeigen sich hier etwa besonders deutlich in Bezug auf die Inszenierungen der „Karrner“ und „Laninger“ in den Fasnachten der Region sowie den Reaktionen Jenischer darauf. – Ist es Zufall, dass beide jenischen Gewährsleute ihren Ausdruck in Kunst und Literatur gefunden haben?

Mit Gedichten von Sieglinde Schauer-Glatz in jenischer Sprache und im Ötztaler Dialekt schließt die vorliegende Publikation den Bogen auf poetische Weise. In den abgedruckten Texten verhandelt die Dichterin, die für ihr jahrzehntelanges Engagement für Menschen mit Behinderung 2010 mit der Verdienstmedaille des Landes Tirol ausgezeichnet wurde, Ausgrenzungen. Der Abschluss ist jedoch geprägt durch den versöhnlichen Ton im Gedicht „Die Hoamat“, in dem sie auf ihre Kindheit in Huben zurückblickt.

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Abb. 2: Jenisches Lager am Wegesrand im Vorderen Ötztal

An dieser Stelle soll ein Wort zum Titelbild dieses Bandes nicht fehlen: Wir stellen – symbolisch für die Herangehensweise an dieses komplexe Thema – eine Fotografie von Meinhard Pfaundler aus dem Jahr 1931 an den Anfang dieses Buches (und auf die Titelseite des Projektes): Sie befindet sich mit der Bildbeschriftung „Karrner“ in einem Fotoalbum über Piburg (Gemeinde Oetz) und lässt viele Fragen offen. Nicht nur die Fragen danach, wer auf diesem Foto zu sehen ist oder wo dieses Foto gemacht wurde. Auch die Frage danach, ob es sich wirklich um Jenische handelt oder ob uns einige stereotype Elemente hier in die Irre leiten. Ausgehend von den wenigen Daten, die uns heute noch vorliegen, den wenigen Zeugnissen wie Fotos oder Erinnerungserzählungen sollen Aspekte jener Geschichte von Tirolerinnen und Tirolern rekonstruiert und bewusst gemacht werden, die mitunter gezielt unsichtbar gehalten wurden.

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1 Pescosta 2003, S. 20 u. 30.

2 Jäger 2005, S. 227.

3 Spiss 1993, S. 100.

4 Kluibenschedl 1985, S. 72.

5 Als Paul Rösch, der sich in den späten 1980er Jahren als einer der Ersten umfassend mit den „Korrnern“ im Vinschgau wissenschaftlich auseinandergesetzt hat, Interviews für seine Dissertation (vgl. Rösch 1988) führte, waren wenigen älteren Leuten zwar noch einzelne jenische Worte geläufig, aber als eigenständige Sprache war Jenisch nicht mehr in Verwendung. (Vgl. Rösch und Obwegeser 2019, 49:45 min.) Die Tochter von Alois Federspiel hingegen erzählte davon, dass ihr Vater gelegentlich die Sprache benutzte.

6 Vgl. auch ebd., 38:00 min.

7 Ebd., 41:20 min.

8 Für den Vinschgau konstatiert Paul Rösch etwa, dass viele Jenische im Rahmen der Italianisierung der Faschisten recht früh italienische Namen annahmen. Ebd., 40:35 min.

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Das Bild der wandernden „Tirolerin“ – schon durch die Kleidung Inbegriff stereotyper Zuschreibungen. Georg Emanuel Opitz: „Die Tyrolerinn, der Hausmeister und ein Italiäner mit Gypsfiguren in Wien“, 1804–1812

 

Migration und Mobilität im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit

Michael Span

Dass Migration und Mobilität so alt wie die Menschheit selbst sind, gilt als allgemein bekannt. Dabei sind ganz unterschiedliche Typen von Wanderungsbewegungen zu unterscheiden. Von der dauerhaften Ein- oder Auswanderung über zyklisch wiederkehrende Migration bis zum Leben als Fahrende ganz ohne festen Wohnsitz, von Migration aus religiösen, politischen, wirtschaftlichen, ökologischen oder gesundheitlichen Gründen bis zu Vertreibung, Versklavung und/oder Verschleppungen, von der Binnenmigration in die nächste Stadt oder das Nachbardorf bis zur Auswanderung auf andere Kontinente. Der Trend zu vermehrter Sesshaftigkeit habe sich – nach einer Phase besonders hoher Mobilität während der Industrialisierung – erst mit dem 20. Jahrhundert, in besonderem Maße nach 1945, verstärkt, erklärt etwa Sylvia Hahn in ihrem Überblick zur Migrationsgeschichte.1

Auch im Tiroler Raum waren Migration und Mobilität in der (Frühen) Neuzeit üblich. Tatsächlich ist es sogar so, dass die Alpenregion in besonderer Weise von unterschiedlichen Wanderungsbewegungen geprägt wurde. Und einige Aspekte dieser alpinen Migrationsgeschichte – beispielsweise die saisonale Arbeitsmigration von Tiroler*innen – trugen einerseits bereits früh zur Ausbildung stereotyper Bilder bei und fanden andererseits auch in einschlägiger Grundlagenliteratur bereits Erwähnung.2

Im Folgenden sollen einzelne Schlaglichter auf Aspekte dieser Geschichte geworfen und so versucht werden, diese in ihrer Mehrdimensionalität zu umreißen und im Tiroler Oberland in der Frühen Neuzeit zu verorten. Dies soll anhand relevanter Literatur zur Thematik erfolgen, deren Grundgerüst durch konkrete Quellenfunde zur Region ergänzt wird. Grundsätzlich mitzudenken gilt es dabei, dass die Region sowohl Ziel- als auch Ausgangsort von Migration sein konnte. In vielen Fällen war sie beides zugleich, denn keineswegs gab es nur transregionale bzw. grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen.

Im Folgenden wird der Ausgang bei der Tiroler Landesordnung aus dem 16. Jahrhundert genommen, die für den in diesem Band behandelten Raum bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als rechtliche Grundlage diente. Hier kommt vor allem die sicherheitspolizeiliche Dimension von Wanderungsbewegungen auf landesfürstlichem Territorium respektive in dieses zum Ausdruck. Dabei wird bereits deutlich, dass die Obrigkeit vor allem mobilen Formen von Handel und Dienstleistungsgewerben sowie Bettler*innen ihre Aufmerksamkeit widmete. Auf die Spuren, die diese Personengruppe als „Vagabund*innen“ in den lokalen Quellen hinterließ, wird in diesem Beitrag ein besonderer Fokus gelegt.

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Abb. 1: Bettler vor der Stampfanger-Kapelle bei Söll, Bleistiftzeichnung, um 1820

Migrationsbewegungen, ob in Form einer einmaligen dauerhaften Auswanderung oder als wiederkehrende, saisonale Wanderung, die aus der Region hinaus führte, wurden in der Tiroler Landesordnung indes im Grunde nicht berührt.3 Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen aus dem ländlichen Raum in großer Zahl als Arbeitsmigrant*innen auf der Suche nach Einkommensmöglichkeiten die Grenzen der Grafschaft hinter sich ließen. Unterschiedlichen Ausformungen dieser Wanderungsbewegungen soll im Folgenden ebenfalls Raum gegeben werden.

Entstehen soll so ein konziser Einblick in die Vielschichtigkeit des Themenfeldes Migration und Mobilität, der die eingangs angeführte, triviale Diagnose der historischen Normalität von Wanderungsbewegungen konkretisiert und im regionalen Kontext verankert darstellt.

Die Region als Ziel von Wanderungen

Migration und Mobilität als Problem – die Tiroler Landesordnung

„Schotten“, „Savoyer“, „Juden“, „Bettler“, „Zigeuner“, „Riffianer“ – die Tiroler Landesordnung in ihrer Form von 1573 nennt gleich mehrere Gruppen, für die offenbar aufgrund ihrer Mobilität besonderer Regelungsbedarf gesehen wurde. Am deutlichsten wurde dies im Zusammenhang mit den „Schotten“, so wurden zeitgenössisch wandernde Händler genannt, die keineswegs aus Schottland stammen mussten,4 und „Sophoyren“ (Savoyern), für die dasselbe in Hinblick auf Savoyen galt,5 formuliert. Ihnen wurde untersagt, ihre Geschäfte von Haus zu Haus, abseits offizieller Marktzeiten und außerhalb der Kontrollsphäre der Obrigkeit zu betreiben – eine Bestimmung, die auch auf jüdische Handelsleute ausgedehnt wurde. Betrügereien sollten damit unterbunden werden.6 Falls sich „Schotten“ oder „Savoyer“ aber „mit wonung vnnd hauß-hablichem wesen niderlassen“, also sesshaft werden würden, so dürften sie – gleich wie die anderen Untertanen auch – ihren Geschäften „frey vnd vnuerhindert“ nachgehen. Die Mobilität wurde hier insofern als kritisch betrachtet, als durch sie obrigkeitliche Kontrollen erschwert oder gar verunmöglicht wurden.7 Ebenfalls wohl aufgrund sozioökonomischer Merkmale und wegen ihrer Mobilität standen die sogenannten „Riffianer“ im Visier der Obrigkeit.8 Sie zögen „mit grossem Spil / Zerungen vnnd Weybern“ von Jahrmarkt zu Jahrmarkt bzw. Kirchtag zu Kirchtag, heißt es in der Landesordnung, was „Mordt / vnd annder vil Args“ zur Folge habe. Einreise nach und Aufenthalt in Tirol war ihnen daher untersagt.9 Selbiges galt auch für nicht näher definierte „Zigeuner“. Wer ihnen Unterkunft gab, sollte bestraft werden, während im Gegenzug Gewalt gegen sie straffrei gestellt und damit legitimiert wurde.10 Über die Zugehörigkeit zu den Gruppen der Schotten, Savoyer, Riffianer oder Zigeuner entschieden wohl die jeweils sesshaften Bevölkerungsteile bzw. deren obrigkeitliche Vertreter. Wesentliches Kriterium für diese Zuschreibungen bildete dabei zweifelsohne der Faktor Mobilität.

Ähnlich verhielt es sich mit Bettler*innen beziehungsweise allgemein Menschen, die auf Almosen angewiesen waren. Jede Gemeinde sollte für die Versorgung ihrer eigenen Armen zuständig sein. Das Betteln in anderen Gemeinden war verboten. Argumentiert wurde dies einerseits mit den Kosten, die Almosenempfänger*innen verursachten, andererseits damit, dass so gewährleistet werden sollte, dass niemand, der eigentlich seinen Lebensunterhalt auch auf anderem Wege verdienen konnte, Almosen bezog. Persönliche Bekanntschaft durch Sesshaftigkeit sollte hier somit als Korrektiv fungieren. Ein weiterer Grund, der ins Treffen geführt wurde, war sicherheitspolizeilicher Natur: Bettler*innen wurden mit „bösen Missstalten und Handlungen“ in Verbindung gebracht.11 Aus diesen Gründen waren es im Besonderen „fremde“, ausländische Bettler*innen, die in der Tiroler Landesordnung problematisiert wurden. Ihnen sollte nach Möglichkeit die Einreise verweigert werden; jene, die sich bereits auf landesfürstlichem Territorium befanden, sollten außer Landes geschafft werden. „Vmbschwaiffendt[e]“, also mobile, ausländische Bettler*innen, die von den Obrigkeiten im Land betreten wurden, sollten bestraft werden.12

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Abb. 2: Der Markt als Begegnungsort, dargestellt von Jakob Placidus Altmutter, ca. 1819

„Vagabundinnen“ und „Vagabunden“

Eine Bezeichnung für nicht ortsansässige Menschen, die sich zwar nicht in der Landesordnung, wohl aber in lokalen frühneuzeitlichen Quellen häufig findet, ist die des „Vagabunden“ bzw. der „Vagabundin“. Welche für die zeitgenössischen Schreiber die Kriterien waren, die sie dazu veranlassten, diesen Begriff zu verwenden, ist dabei nicht ganz klar. So wird etwa zuweilen dezidiert erwähnt, dass die so Bezeichneten um Almosen baten bzw. bettelten, während an anderen Stellen von der Ausübung mobiler Gewerbe die Rede ist. Wesentlich war sicherlich das Fehlen eines dauerhaften Wohnsitzes – zumindest in der fraglichen Region. Doch auch darüber hinaus ist der Begriff, wie Beate Althammer auseinandersetzt, von Ambiguität geprägt.13 So handelte es sich in der Regel nicht um eine Selbstbezeichnung, sondern vielmehr um eine von verschiedenen Akteur*innen und unterschiedlichen Situationen beeinflusste Zuschreibung, in deren Zentrum zumindest die Motive der Mobilität und der Armut als Konstante standen, wenngleich Letztere zuweilen als lediglich vorgetäuscht oder aber selbst verschuldet unterstellt wurde.14 Armut per se war allerdings nicht das entscheidende Kriterium für die prekäre soziale Stellung, die Vagabundierenden zugewiesen wurde. Wesentlich sei, dass sie zumeist nicht als Teil einer „integrierten“ Armut, einer Form der Bedürftigkeit, die als „normal“ betrachtet wurde, da die ökonomischen Unterschiede zwischen manifest armen und anderen Teilen der Bevölkerung lediglich gering waren, verstanden worden seien. „Vor allem in Gesellschaften, in denen große Teile der Bevölkerung nahe am Existenzminimum leben, muss Armut kein Makel sein“, so Althammer.15 Vagabundierende werden dementgegen von der Historiografie zur frühen Neuzeit in der Regel „als Prototypen der marginalen Armut“ betrachtet, als Angehörige von „Randgruppen“, die von einer kontinuierlich neu ausverhandelten Norm abwichen. Die Frage, ob und in welcher Weise diese Abweichung in historischer Perspektive als Problem betrachtet wurde, ist damit in weiterer Folge verbunden. Zumindest ab der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lassen sich jedenfalls wachsende Bestrebungen verorten, eine Inklusion der Betroffenen zu erreichen: „Der Vagabund galt nicht allein als Problem wegen seiner Armut, sondern vor allem wegen seiner Devianz, seiner Abweichung von der Norm einer ordentlichen und nützlichen Existenzweise.“16

Die Spuren von Vagabund*innen finden sich im lokalen Kontext beispielsweise in den Kirchenmatriken. Das Totenbuch von Längenfeld im Ötztal berichtet etwa von Todesfällen von Vagabund*innen, wie dem des 1679 verstorbenen Wolfgang Jenewein17, dem des als Vagabund und Bettler bezeichneten Franz Grienauer18, der im Sommer 1765 auf der Suche nach Almosen in den Lehnbach in Längenfeld im Ötztal stürzte und starb, oder dem der Vagabundin Maria Hueberin19 aus Pfaffenhofen im Jahr 1772. Auch in den Taufbüchern des Ortes werden immer wieder Kinder genannt, deren Eltern (oder zumindest ein Elternteil) als Vagabund*innen bezeichnet werden.20 Zumeist ist dabei nicht ersichtlich, dass derartige Taufen oder auch Todesfälle von der zuständigen Geistlichkeit in einer besonderen Weise gehandhabt worden wären. Beim Eintrag zu einer Taufe in Längenfeld am 18. Mai 1716 wird jedoch erkennbar, dass die Mobilität der involvierten Personen von der kirchlichen Obrigkeit als problematisch betrachtet wurde: Den Angaben der Mutter des Täuflings wurde mit offener Skepsis begegnet, die zwar im Falle möglicherweise „illegitimer“, also unehelich geborener, Kinder durchaus nicht unüblich war, die sich durch die Migrationsgeschichte der Mutter jedoch noch verschärfte. Weder der Name, den diese angab – Maria Schreterin –, noch deren Herkunft aus Salzburg und auch nicht ihre Ehe mit einem gewissen Johann Michael Saxenhamer, der laut ihren Angaben von Soldaten verschleppt worden war, wurden als erwiesen betrachtet. Erforderliche Unterlagen konnte die Frau nicht vorlegen.21

Bemerkenswert sind vor diesem Hintergrund die kirchlichen Aufzeichnungen einiger anderer Orte im Tiroler Oberland: So wurden in Flaurling (1740–1796), Inzing (1767–1818) und Hatting (1786–1814) für die Taufen der Kinder von Vagabundierenden eigene Rubriken in den Taufbüchern angelegt, sodass es mit dem separaten „Liber Vagantium“ bzw. „Liber Vagorum Baptizatorum“ jeweils eine dritte Abteilung neben den Verzeichnissen der ehelich und der unehelich geborenen Kinder der Orte gab.22 In Ranggen (1729–1783) wurden „Vagi & Illegitimi“, also die Kinder von Vagabundierenden und jene, deren Eltern nicht miteinander verheiratet waren, zusammengefasst.23 Dass mit den Eintragungen in diese separaten Listen ein gewisses Stigma verbunden war, darf wohl angenommen werden, eine detaillierte Untersuchung steht allerdings noch aus.

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Abb. 3: „Tyroler auf der Reise“ um 1833, Stich von N. Pötschke nach einer Zeichnung von (Carl Friedrich Moritz) Müller

Wanderhändler*innen, Hausierer*innen

Nicht ohne Schwierigkeiten von den in den Quellen genannten „Vagabund*innen“ abgrenzbar waren Wanderhändler*innen und wandernde Dienstleister*innen, die durch das Land zogen und ihre Waren oder Leistungen auf Märkten oder auch hausierend vertrieben. Robert Büchner führt vor allem Quellen aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert als Belege für „Schotten und Niederländer“ sowie vor allem „Savoyer und Welsche“ als wandernde Krämer*innen, aber auch als Dienstleister*innen oder Schausteller*innen auf Tiroler Territorium an. Die Angebotspalette war umfangreich: von Südfrüchten über Geschirr und Stoffe bis zur Unterhaltung – häufig als Beispiel genannt werden etwa Aufführungen mit dressierten Murmeltieren. Der wirtschaftliche Erfolg war demzufolge ebenfalls sehr unterschiedlich. Vielfach bedienten die oft saisonal wandernden auswärtigen Händler*innen die Nachfrage nach Dingen, die der lokale Handel nicht zu decken vermochte, weshalb die Obrigkeiten sie zuweilen trotz an sich geltender Verbote und Restriktionen gewähren ließen. Eine dauerhafte Ansiedelung auf dem Gebiet der Grafschaft Tirol, wie dies die Tiroler Landesordnung – oben wurde es erwähnt – anregte, war offenbar nur wenig attraktiv, erklärt Büchner. Vor allem größere Städte strahlten mehr Anziehungskraft aus.24

Im 18. Jahrhundert wurden die Maßnahmen gegenüber inländischen Hausierer*innen zwar reduziert, dennoch blieb eine Restskepsis der Obrigkeiten bestehen.25 Dass der Hausierhandel auch im lokalen Kontext Konfliktpotenzial barg, das zeigen Beispiele aus Quellen: Durchaus gängig war nämlich unter anderem auch der Handel mit alkoholischen Getränken – zum Missfallen der lokalen Wirtsleute, aber auch der Verwaltung.26 So wurde etwa gegen Ötztaler Kraxenträger vorgegangen, die Branntwein, den sie über das Timmelsjoch ins Tal gebracht hatten, ohne Genehmigung ausschenkten.27 Dieses Problem war auch in anderen Regionen Tirols bekannt. Im Stubaital forderten die Wirte die Gerichtsobrigkeit 1823 auf, sie möge gegen „sogenannte Karrenfahrer – u. Traghausierer“ tätig werden, „welche allerlei Getränke in alle Enden dieses Thales“ brächten, wodurch die „christlichen Sitten“ verdorben und ganze Familien in den finanziellen Ruin gestürzt würden.28

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Abb. 4: Der Import und Vertrieb von Südfrüchten war eine Einkommensquelle für mobile Händler*innen aus Tirol.

Die Region als Ausgangspunkt von Wanderungen

Dauerhafte Auswanderung

Am 13. März 1795 bekannten Johann Kien und seine Ehefrau, Genoveva Hoferin, im Rahmen eines Gerichtstermins in Rietz, dass sie ihrem Bruder bzw. Schwager, Anton Kien, 95 Gulden aus einer Erbschaft schuldig waren. Solche und ähnliche Einträge finden sich in den Verfachbüchern im Tiroler Landesarchiv zuhauf. Dieser spezielle Fall weist jedoch eine Besonderheit auf: Anton Kien befand sich zum Zeitpunkt des Gerichtstermins Tausende Kilometer entfernt von Rietz, in „Philadelphia in Nordamerika“.29

Ähnliche Hinweise auf ausgewanderte Untertanen finden sich häufiger in den gerichtlichen Aufzeichnungen zu Verlassenschaft sabhandlungen, etwa aus dem Gericht Petersberg, welches im Wesentlichen das Ötztal, einen Abschnitt des Inntals zwischen Karres und Rietz sowie das Mieminger Plateau umfasste. Neben dem genannten Anton Kien finden sich hier in den Jahren um 1800 zum Beispiel auch Maria Josepha Kuenin30 aus Längenfeld, die einen Kaufmann aus Pavia in der Nähe von Mailand geheiratet hatte, oder Kaspar Neurauter31, der als Seemann in den Niederlanden angeheuert hatte. Diese Quellenfunde zeigen, dass Emigration aus der Region im 18. und 19. Jahrhundert durchaus nicht unüblich war, und auch, dass der geografische Radius dabei sehr weit gefasst war. Darüber hinausgehende Informationen zu den Ausgewanderten und deren Familien finden sich ohne vertiefende Nachforschungen in zusätzlichen Quellenbeständen jedoch nicht im Verwaltungsschriftgut der Herkunftsregion. Überhaupt ist verlässliches Zahlenmaterial zu Auswanderungen aus der Habsburgermonarchie für die Zeit vor der Mitte des 19. Jahrhunderts rar.32

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Abb. 5: Diese zwei namentlich heute leider nicht mehr bekannten Frauen waren nach Chicago ausgewandert und sandten um 1900 dieses Foto an ihre Familie im Gasthof Hirschen in Längenfeld.

Im lokalen Kontext führten mitunter Erbfälle dazu, dass zwischen Verwandten nach einer Auswanderung wiederum Kontakt hergestellt wurde, die sonst nur in losem – zuweilen wohl auch gar keinem – brieflichen Austausch standen.33

Saisonale Migration

Wesentlich häufiger als dauerhafte Auswanderungen über weite Distanzen hinweg waren in der gesamten Frühen Neuzeit verschiedene Formen zyklischer bzw. saisonaler Migration. Sylvia Hahn weist in ihrem Überblickswerk zur Migrationsgeschichte darauf hin, dass auch die Bevölkerung Tirols schon früh, nämlich von Joseph Rohrer in seinem Werk „Uiber die Tiroler“ aus dem Jahr 1796, als in dieser Hinsicht sehr mobil charakterisiert wurde:34 „Es ereignet sich nämlich in mehreren unfruchtbaren Thälern alljährig der Fall, daß sie auf einige Monathe von ihren männlichen Einwohnern, wie unsere Donauufer von den wilden Gänsen verlassen, und erst nach einer geraumen Zeit wieder besucht werden.“35 Verschiedene Wege des Nebenerwerbs waren notwendig, da die Landwirtschaft alleine nicht ausreichte, um alle Bewohner*innen des Landes zu ernähren,36 so Rohrer, das betreffe im Besonderen auch den „sehr unfruchtbaren Imsterkreis“, also auch das Tiroler Oberland.37 Als Händler*innen und Hausierer*innen, als Handwerker oder aber Hilfskräfte in der Landwirtschaft suchten viele Menschen im Ausland oder zumindest außerhalb ihrer unmittelbaren Herkunftsregion Verdienstmöglichkeiten. Besonders prominent werden in der Literatur Bauhandwerker aus Tirol und Vorarlberg erwähnt, die entweder einzeln oder in Gruppen von bis zu über 100 Personen auf Baustellen in verschiedenen Regionen Europas tätig waren, von Süddeutschland nordwärts bis nach Luxemburg, im vorderösterreichischen Gebiet sowie im Osten und auch Süden Frankreichs.38

Die zahlenmäßig bedeutendste saisonale Wanderungsbewegung machten jene aus, die sich in der Landwirtschaft verdingten – zumindest bis um 1800. Die Auswirkungen des Erbrechts auf die Bodenbesitzstrukturen waren dabei ein wesentlicher Faktor. War Grund und Boden stark aufgesplittert, wie in Gebieten mit Realteilung, etwa dem Tiroler Oberland, begünstigte das saisonale Migration. Aus diesen Regionen zogen die Menschen nicht selten in solche, in denen konzentriertere Besitzstrukturen saisonale Helfer*innen in der Landwirtschaft erforderlich machten, um dort ihr Geld zu verdienen. Die Poebene bzw. Oberitalien oder auch Süddeutschland waren zum Beispiel Ziele solcher Wanderungsbewegungen, aber auch im Tiroler Pustertal waren große Höfe im Sommer auf Hilfskräfte angewiesen.39 Auch die saisonale Migration von Kindern aus dem Tiroler Oberland, die bis ins 20. Jahrhundert hinein vorkam, ist hier zu erwähnen. Als „Schwabenkinder“ fanden sie nicht nur Eingang in die Forschungsliteratur,40 sondern auch in die Populärkultur.41

Neben jenen, die ihre Arbeitskraft zu Markte trugen, zogen – verstärkt ab dem 18. Jahrhundert – außerdem Tausende über die Landesgrenzen hinaus, um mit unterschiedlichsten Produkten Handel zu treiben. Stubaier Metallwaren, Grödner Schnitzwaren, Deferegger Teppiche und Decken oder Handschuhe aus dem Zillertal wurden in weite Teile Europas exportiert, Oberinntaler Vogelhändler*innen, Ölträger*innen sowie Wein- und Südfrüchtehändler*innen und viele andere mehr betrieben ihre Geschäfte oft auch im Ausland.42 Dies konnte in Form eines einfachen Hausierhandels durch einzelne Kraxenträger geschehen oder auch deutlich professionalisierter durch Handelsgesellschaften mit mehreren Teilhabern.43

Illustration

Abb. 6: Gerade in und um Imst waren Vogelhandel und Vogelzucht eine Einkommensquelle. Kupferstich von Johann Ernst Mansfeld nach einer Zeichnung von Johann Christian Brand, 1798

Ziel- und Ausgangspunkt zugleich war die Region auch für weitere Formen von Mobilität als Arbeitsmigration: die Touren von Handwerksgesellen etwa44 oder die Wanderbzw. Lehrjahre des männlichen Nachwuchses der ländlichen Eliten.45 In den Quellen finden sich neben diesen bekannten Migrationsmustern jedoch mitunter auch Hinweise auf ungewöhnliche Karrieren, wie etwa die der aus Silz stammenden Wundarzt-Tochter Therese Stockerin, die 1802 „zu Warschau in Königreich Pohlen als Kammerjungfer“ tätig war.46 All diese Erscheinungsformen von Migration bzw. Mobilität, die aus Tirol hinausführte, können an dieser Stelle jedoch nicht eingehender behandelt werden.

Wie viele Tiroler*innen – es waren vorrangig Männer – auf diese Weise außer Landes unterwegs waren, ist unklar. Eine Schätzung für das 18. Jahrhundert geht von rund 30.000 aus, eine Erhebung in den Jahren 1811/1812 zählte 27.800 (bei einer Gesamtbevölkerung von rund 700.000 Personen). Wesentlich ist, dass die beschriebene saisonale Mobilität keineswegs ohne Weiteres immer als Folge von Überpopulation und ungenügenden Erträgen aus der Landwirtschaft sowie einer allgemeinen wirtschaftlichen Krise zu interpretieren ist: „Die Subsistenzsicherung durch Mehrberufigkeit stellte […] den ‚Normalzustand‘ dar“, und vor allem hinsichtlich des Wander- bzw. Hausierhandels mit heimgewerblich gefertigten Produkten, dessen Bedeutung im 18. Jahrhundert anwuchs, erklärt Ammerer, dass diese Wanderungen durchaus als „Karrieremöglichkeiten bzw. Chancen für ein ‚besseres Leben‘“ betrachtet wurden.47

„Tyroler“ und „Tyrolerin“ im frühneuzeitlichen Europa

„Da in großer Anzahl vor allem Männer […] auf Handelswanderschaft gingen, waren neben den Savoyarden die Tiroler schon den Zeitgenossen weithin ein Begriff“,48 so Gerhard Ammerer.49 Die Eindrücke, die Tiroler*innen auf ihren Reisen hinterließen, fanden als Stereotype auch Eingang in die Literatur.50 Eines der wohl bekanntesten Beispiele in dieser Hinsicht ist Heinrich Heines bissiger Kommentar über die Tiroler*innen, der ganz selbstverständlich voraussetzte, dass seine Leser*innenschaft „diese bunten Deckenverkäufer, diese muntern Tiroler Bua, die wir in ihrem Nationalkostüm herumwandern sehen“, kannte.51

Diese Stereotype wurden von Tiroler Händler*innen und Dienstleister*innen auch selbst zu Vermarktungszwecken aufgegriffen. Sie antizipierten gewisse Erwartungshaltungen ihres Publikums, wie z. B. aus einer zeitgenössischen Replik auf den Spott Heines hervorgeht.52 Ganz ähnlich inszenierte Felix Mitterer Ende des 20. Jahrhunderts einen Zillertaler Wanderhändler des ausgehenden 18. Jahrhunderts: In seinem Stück „Das wunderbare Schicksal“ erblickte er im Handschuhhändler