Georg Kühlewind
Das Reich Gottes
Die Zukunftsvision
des Neuen Testaments
Verlag Freies Geistesleben
«Es ist schließlich doch immer das Reich Gottes,
das man sucht.»
Rudolf Steiner, Vortrag vom 7.10.1922
Cover
Titel
Einstimmung
Das Reich Gottes
Die Grundlehre des Christentums
Das Reich oder Königtum
Was gehört nicht zum Reich?
Herannahen und Sinnesänderung
Der Säemann
Die Gleichnisreden
Der innere Kreis und die Außenstehenden
Das «Verstehen» der Gleichnisse
Das Urgleichnis
Die Armen im Geist
Wer da hat …
Unverborgenheit
Das Geheimnis
Wie die Kindlein
Die Wandlungen der Gleichnisse
Durchsichtigkeit
Das Weltenrisiko
Die Wirklichkeit des Reiches: Johannes
Das zwölfte Kapitel
Der 22. Psalm
Ausklang
Pilatus
Das Ärgernis
Kreuzestod
Die doppelte Anklage
Pilatus fragt
Der König der Juden
Die Lehre vom Leiden
Anhang
Nachtrag zu «Das Reich Gottes»
Anmerkungen
Nachwort – Von der Keimkraft des Logos
von Andreas Neider
Über den Autor
Impressum
Leseprobe: Georg Kühlewind – Die Erneuerung des Heiligen Geistes
Es ist mir sehr bewusst, dass über die Evangelien zu schreiben ein nicht geringes Wagnis ist. Ich möchte es dennoch unternehmen; nicht weil ich überzeugt wäre, etwas höchst Bedeutendes vorbringen zu können, sondern weil ich meine, einen fundamentalen Zug dieser wie aller anspruchsvollen Bücher erkannt zu haben: dass sie nämlich auf der informativen Ebene nicht oder nicht wesenhaft verstanden werden können. Das ist mir an dem Bild des Säemanns aufgegangen, das im Nachfolgenden wohl die Hauptrolle spielt. Kurz gefasst: Die Saat muss aufgehen, es muss mit ihr das Wunder des Keimens geschehen – sonst geht ihr Wesen, Saat zu sein, in uns verloren. Mir scheint, das ist wenigstens eine der zentralen Botschaften, und es ist eine frohe Botschaft, ein Eu-angelion, dass dem Menschen nichts Wesenhaftes fertig gegeben werden kann. Darin gründet seine Würde: Er müsste alles neu schaffen, was ihm zukommt, jedes Buch, jedes Geschehen, sein Schicksal und die gegebene, nur zum Teil gegebene Welt.
An die jüngst geschriebene Betrachtung «Das Reich Gottes» schließt sich ein Aufsatz an, der einer viel früheren Zeit des Forschens entstammt. «Pilatus» nimmt die Geschichte, wie der Logosträger verurteilt wird, die unmittelbare Vorgeschichte der Erlösungstat, wie unter ein Vergrößerungsglas. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist der vorangehenden neueren Arbeit insofern verwandt, als es zeigt: Wenn man die Zeichen der äußeren Geschehnisse nicht bis zum höheren Sinn verfolgt, wird man in Bezug auf das Wesentliche, das einem das wichtigste ist, durch sich selbst irregeführt. Dass dies einmal, im Falle der Erlösungsgeschichte, so sein musste und nicht anders möglich war, sollte keineswegs ein Trost oder gar Freipaß für uns, die heutigen Schriftgelehrten, Pharisäer und nicht einmal für die heutigen Pilati sein.
Die Gestalt des «Königs» im Pilatus-Aufsatz verbindet diesen mit der Schrift über das Königtum.
Dass das Reich oder Königtum der Himmel oder Gottes herangenaht ist und dass die Menschen danach streben sollten, dieses Reich zu verwirklichen, durchzieht als Lehre das ganze Neue Testament. Die Predigt des Vorbereiters, Johannes des Täufers, beginnt damit (Matth. 3,2) und auch die erste Predigt des Herrn (Matth. 4,17; Mark. 1,15; Luk. 4,43); das zu verkünden werden die Jünger ausgeschickt (Matth. 10,7; Luk. 10,911); dieselbe Lehre kennzeichnet die Apostelgeschichte und auch die Paulusbriefe. Eben darum ist die Frage berechtigt: Was bedeutet – besonders für die heutigen Menschen – dieses Reich, genauer: Königtum – basileia? Und dem Betrachter der Texte kann auffallen, dass das Wesen dieses Königtums im Neuen Testament nirgends klar dargestellt wird. Es wird davon gesprochen, wer es erreichen oder erben kann, es wird durch viele Parabeln charakterisiert, es wird gesagt, auf welche Weise man nicht in das Reich hineingelangt; wir finden aber keine ausdrückliche Schilderung davon. Und wenn die Frage nach dem Wesen des Königtums beantwortet wäre, so bliebe noch die: Warum keine direkte Darstellung? Stattdessen wird des öfteren vom «Geheimnis des Reiches Gottes» (Matth. 13,11; Mark. 4,11; Luk. 8,10) wie auch vom «Geheimnis» – mysterion – überhaupt gesprochen, das nicht auf direkte Weise mitteilbar zu sein scheint. Dann wird sogar von den Gleichnissen gesagt (Mark. 4,11-12, s. auch Matth. 13,14; Luk. 8,10): «… denen aber draußen widerfährt es alles durch Gleichnisse. Auf dass sie es mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen; auf dass sie sich nicht dermaleinst bekehren und ihre Sünden ihnen vergeben werden.» Eine zunächst unverständliche und ungeheuerliche Aussage.
Um die Hauptfragen herum tun sich weitere Rätsel auf. Über das Königtum wird nur in den drei synoptischen Evangelien geschrieben, Johannes erwähnt das «Reich Gottes» nur wie nebenbei im Gespräch mit Nikodemus (Joh. 3,3-5) – warum?
Vom Königtum der Himmel spricht allein Matthäus, die anderen Evangelisten sprechen vom Königtum Gottes – eine weitere Besonderheit, die Erklärung heischt.
Außer von diesen Fragen eher formaler Art ist die Lehre vom Königtum mit dem Rätsel der Parabeln umrankt, die von ihm handeln: mit der Kindlichkeit, den immer in diesem Zusammenhang erwähnten Heilungen, mit der «Erbschaft» und vor allem der Gestalt des Säemanns, der wie ein großes Wappenbild der Lehre vom Königtum aufzufassen ist. Die nichtbildlichen Aussagen zu diesem Thema sind kaum weniger rätselhaft. Außer der schon erwähnten Aussage über die Parabeln findet man hier noch andere, die schwer zu verstehen sind. «Denn wer da hat, dem wird gegeben; und wer nicht hat, von dem wird man nehmen, auch was er hat» (Mark. 4,25; Matth. 13,12; Luk. 8,18). Oder: «Denn es ist nichts verborgen, wenn nicht, damit es offenbar werde, und nichts ist verheimlicht, außer damit es in Sichtbarkeit trete» (Mark. 4,22; Matth. 10,26; Luk. 8,17 und 12,2). Alle diese Rätsel müssten sich erhellen, wenn der Schlüssel des Reiches der Himmel gefunden ist.
Wir kennen heute fast nur die einzelnen angewendeten Bedeutungen der Wörter unserer Muttersprache und erfahren sie nicht mehr in ihrem Ursprung, in ihrer Urbedeutung, die alle Anwendungen ermöglicht, so wie das kleine Kind sie im Spracherwerb erlebt. Wir sagen «Anfang» im räumlichen, zeitlichen und «übertragenen» Sinne, die Urbedeutung aber, die all dies ermöglicht, ist dem Alltagsbewusstsein unerreichbar. Auch die Etymologie kann nur auf einstige Anwendungen eines Wortes blicken und auf den Wandel der angewendeten Bedeutungen – immerhin manchmal ein wichtiger Fingerzeig. Die Urbedeutung ist nicht aussprechbar, nicht erklärbar, höchstens zu umschreiben, wenn die meditative Versenkung sie erreicht oder ihr nahe kommt.* In tiefsinnigen und besonders in traditionellen religiösen Texten klingt die Urbedeutung in den Worten an – daher die Schwierigkeit, diese Texte zu verstehen.
Der Mensch kennt die Idee «Welt», ob das Wort mehr «Menschenalter» (siehe Duden Band 7 zu diesem Wort), das heißt «der Mensch ist dabei», bedeutet oder Ordnung und Schönheit (griechisch: kosmos) oder Licht, lichte Welt (ungarisch: világ, kroatisch: svjet) oder Frieden (russisch: mir): alles, was an Äußerem und Innerem in das Bewusstsein tritt oder treten kann. Innerhalb der «Welt» gibt es aber eine Teil-Welt, in der sich der Mensch als Ich-Wesen intim zu Hause fühlt, die er mit seinem Ich durchtränken, in der er sich jeweils artikulieren, in der er bewusst leben kann, wo ein Ich-Bewusstsein irgendeiner Art besteht. Dieser heimische Teil der Welt trägt ursprünglich den Namen «Königtum» oder «Reich».1
Wie weit das Königtum des Menschen reicht, hängt vom Ich ab. Das Königtum ist jeweils die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen dem bewussten Ich-Wesen und der ihm gegebenen, durch es erfahrbaren «Umgebung» – auch der innerlich erfahrbaren –, alles einschließlich seinem Wie. Im partizipierenden archaischen Bewusstsein wurde die Mitwirkung des Menschen am «Bild» der Welt dumpf traumhaft erlebt, eben weil das Ich-Bewusstsein von diesem «Bild» gar nicht getrennt war. Das Gegebene war mehr, größer als heute; nicht nur die sinnlich wahrnehmbare Welt in ihrer Gefühlsfülle war gegeben, sondern größtenteils auch die innere Welt, wo der Mensch heute die Quelle seiner Gedanken ahnend fühlt und fühlend ahnt. Die sinnlich wahrnehmbare Welt ist dem Menschen auch heute gegeben, auch als Sinneswahrnehmung, was er so selbstverständlich findet, dass ihm diese Gegebenheit gar nicht bewusst wird, und gehört auch in der heutigen herabgelähmten Form zum Königtum des Menschen, und zwar eben in der herabgelähmten Gestalt;2 sie verdeckt in ihrem nicht bemerkten Gegebensein dem Menschen die äußere und die innere geistige Welt.
Die Frage der «kritischen» Philosophie: Wie gelangt, was «außen» ist, in das Bewusstsein «hinein»? – selbst ein Ergebnis der Dualität der Seele – reißt das Königtum entzwei. Die stillschweigende immerwährende Mitwirkung des Bewusstseins am «Bild» wird nicht bemerkt. Dieses Mitwirken besteht einerseits in der begrifflichen Gliederung des Gegebenen – mit Begriffen, die im Hinblick auf die Natur keine echten, sondern eher nur formale Unterscheidungszeichen sind; andererseits in der nichtbewussten Herausfilterung aller höheren Gegebenheiten – im Fühlen und Wollen –, die im Königtum zur jeweiligen Epoche noch keinen Platz haben, da sie für den «König» allzu überwältigend wären.
Historisch gesehen war der König ursprünglich ein Mensch, der in seinem Ich-Wesen die anderen überragte, der gewissermaßen dem modernen Menschen näherstand als die anderen. Die Ich-Macht führte man auf einen höheren Ursprung, etwa auf Gottes Gnade zurück; der König sollte sich in den Problemen des irdischen Lebens seines Volkes besser auskennen als die anderen.
Im Zeitalter der Bewusstseinsseele oder der Mündigkeit der Menschen verblasst die Gestalt des Königs, denn ein jeder Mensch wird in seiner Ichheit stark genug, um den Anspruch zu erheben, in dem eigenen Leben selber zu regieren und in den Fragen der Volksgemeinschaft mitzusprechen. Und es hat sich ein eigenes Leben, das Eigenleben des Geistes,3 das Seelisch-Individuelle stark ausgebildet.
*Die technischen und wissenschaftlichen Ausdrücke sind eindeutig, weil sie nicht durch die Sprache gegeben, sondern von Menschen geschaffen sind.
Nach dem Verblassen des partizipierenden Bewusstseins, in dem der Mensch in Einheit mit der Welt lebte, ist die religiöse Zeit eingetreten, in welcher der Mensch eine Wieder-Verbindung mit dem Himmel, mit der Gottheit anstrebte. In diesem Zeitalter, vor und bis zur Entwicklung der Bewusstseinsseele – die durch die Reflexionsfähigkeit des Bewusstseins auf sich selbst charakterisiert werden kann –, lebte die Menschheit im Gefühl der Polarität von Himmel und Erde, Göttern und Menschen. Alles was zum Himmel gehörte, war nicht Teil des Reiches, war Gebiet der Himmelsbewohner, deren Sein auch außerhalb des Reiches lag. Doch erstreckte sich dieses Gebiet nichtsdestoweniger in das Bewusstseinsleben der Erdenbewohner hinein, und zwar auf zweifache Weise: Einmal als das überbewusste Wie der Bewusstseinsfunktionen, ja als das Bewusstsein selbst, das noch kein Selbstbewusstsein war – der Mensch konnte sich noch nicht auf das Bewusstsein besinnen, es war verborgen vor ihm. Er war heimisch – war im Reich – in den Ergebnissen der Bewusstseinsprozesse, die zwar anders waren als die heutigen, aber ebenso wenig wie heute seiner Zuständigkeit unterlagen. Je weiter wir in der Bewusstseinsentwicklung rückwärts schreiten, um so mehr schrumpft der innere Teil des Reiches zusammen. Ebenso schrumpft das äußere Reich, das der Natur. Denn je weiter wir in der Entwicklung zurückschauen, desto mehr finden wir den Menschen abhängig von der Natur, wie er sie damals erlebte, so dass sich die Naturprozesse im geistigen Sinn in ihm fortsetzten – er war nicht getrennt von ihnen, daher war auch das nicht sein Reich. Des Menschen Reich ist mit der Bewusstseinsentwicklung stetig gewachsen.
Wie das Bewusstsein zum größten Teil von oben gewährt war, so wurde auch die Natur als ein Teil der Göttlichkeit, der göttlichen Gegebenheit empfunden und erlebt, als Ausdruck, Zeichen der Naturgöttlichkeit. Daher lautete die Frage im Hinblick auf die Natur – wenn überhaupt eine Frage auftauchte –: «Was bedeutet das?» im Gegensatz zu den Fragen der späteren Naturwissenschaft «warum?», «woraus?», «wie?». Es war die besondere Mission des Hebräertums, im Gegensatz zum Heidentum den Unterschied zwischen den Naturgottheiten und der Göttlichkeit der Inwendigkeit, der inneren Bewusstseinsquelle herauszuarbeiten. Denn nur die Gottheit des Ich-bin wirkt aktuell, im Jetzt, und führt dadurch die Menschheit in die Richtung der Bewusstseinsseele, des «Ich-bin», während die Naturgötter ihr Werk einst getan haben, jetzt jedoch nicht mehr wirksam sind – sonst wären keine Naturgesetze möglich – und nur durch ihre Vertreter die Naturschöpfung aufrechterhalten. Das sind die Elementargeister, Sylphen, Undinen, Salamander und Zwerge der Märchen, die unter einem Gesetz stehen, die keine Ich-Wesen sind. Die Ich-Wesen und die Natur, beide gehören in der vorchristlichen Bewusstseinsverfassung nicht zum Reich des Menschen.
Die Polarität zwischen der «oberen» und der «unteren» Welt, zwischen den beiden Reichen, wird besonders nachdrücklich im Johannes-Evangelium hervorgehoben, in dem sonst selten die Rede vom Reich Gottes ist. So sagt der Herr dem Nikodemus: «Es sei denn, dass jemand von oben* geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen» (Joh. 3,3).
In demselben Kapitel sagt Johannes der Täufer (ein positives Spiegelbild des «alten» – Joh. 3,4 – Nikodemus): «Der von oben her – ánothen – kommt, ist über alle. Wer von der Erde ist, der ist von der Erde und redet von der Erde. Der vom Himmel kommt, der ist über alle» (Joh. 3,31). Im 8. Kapitel, Vers 23 spricht der Herr zu den Juden im Tempel: «Ihr seid von unten her, ich bin von oben – áno – her …» Und endlich zu Pilatus: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt» (Joh. 18,36). Man muss wissen, dass das Wort kosmos – Welt – im Johannes-Evangelium viel öfter vorkommt als in den anderen Evangelien und immer diese, das heißt die irdische Welt bedeutet. So dass dieses Evangelium, das die höchsten Lehren, den höchsten Standpunkt im Hinblick auf das Geschilderte darstellt, zugleich auch am tiefsten das Verhältnis des von oben Kommenden zur hiesigen Welt andeutet.
Nun ist jeder Mensch von oben geboren. Wenn das Wiedergeborenwerden von oben als Bedingung dazu betont wird, das Reich Gottes zu «sehen» (Joh. 3,3), so bedeutet das ein bewusstes Wiederholen des einstigen Abstieges, das heißt, es muss das Bewusstsein erst von unten aufsteigen, um den kindlichen Zustand – was er auch bedeuten mag – und die Verbindung mit dem Organismus wieder zu gestalten. Die Bewegung muss jedenfalls von unten ausgehen, von dem Reich, wo der Mensch sich zu artikulieren vermag. Der Herr spricht zu dem unteren Menschen im Gespräch mit Nikodemus, der kaum versteht, während der Täufer von Anfang an im Verständnis wirkt und auch sein Anderssein, das ihm in das Reich Gottes einzutreten verbietet, akzeptiert.
Die Bewegung von unten nach oben nimmt die Möglichkeit der Bewusstseinsseele vorweg, ohne dass sich der Mensch jedoch bereits in dem Maße mit einem dritten Element auseinandersetzen müsste, wie es in der modernen Zeit notwendig ist. «Unten» heißt im Neuen Testament das Alltagsbewusstsein; das dritte Element ist das Unterbewusste – im Neuen Testament hat es noch keinen Namen –, das sich im Laufe der Jahrhunderte entwickelte und etwa zur Zeit der Romantik allgemein wurde. Dieses ist neben dem Himmels- und dem Naturreich ein weiteres Gebiet dessen, was nicht zum Reich des Menschen gehört, was aus diesem herausgefallen ist, sich von ihm entfremdet hat, obwohl es potenziell zu diesem Reich gehören könnte. Für den Menschen der modernen Zeit ist es notwendig, sich mit dem Unterbewussten auseinanderzusetzen, und zwar nicht theoretisch, sondern kräftemäßig, damit die verlorenen, im Unterbewussten gebundenen schöpferischen Kräfte zurückgewonnen werden, bevor wesenhafte Schritte in der Richtung nach oben getan werden können. Die Metanoia wird dadurch schwieriger.
* Das griechische Wort ánothen bedeutet ursprünglich «von oben», áno = oben, nach oben; es wird sekundär auch im Sinne von «von Neuem» gebraucht, wie Luther es hier übersetzt; dass «von oben» im Text gemeint wird, erhellt aus den Versen Joh. 3,5-6.
Sowohl Johannes der Täufer wie der Herr beginnen ihre Predigt mit dem Satz: «Ändert euren Sinn, denn das Königtum der Himmel ist herangenaht»* (Matth. 3,2 und 4,17). Wie in vielen Meditationstexten ist auch hier die Reihenfolge der Halbsätze umgekehrt, worauf das Wörtchen «denn» (griechisch: gar – bei Luther ursprünglich nicht übersetzt) hinweist. Dem Sinn nach: «Ändert euren Sinn, damit das Königtum der Himmel herannahen kann.»
«Herangenaht» heißt: Es ist noch nicht hier (siehe Mark. 9,1; 14,25; 15,43; Luk. 17,20; 19,11; 22,16-18). Damit es komme und da sei, muss etwas getan werden. Dieses «etwas» wird in den Gleichnisreden, die vom Gesichtspunkt der Menschen das Herannahen des Königtums beschreiben, stets als eine Aktivität derselben dargestellt, und es verbindet als gemeinsamer Zug alle diese Gleichnisse. Dieses Gemeinsame in den Bildern ist: die Sinnesänderung. In den Predigten Johannes’ des Täufers werden dazu zwei Charakteristika gegeben. Das eine ist, dass es nichts nützt, sich auf die Abstammung von Abraham, also auf die Vergangenheit zu berufen, das andere ist, dass man die würdigen Früchte der Sinnesänderung bringen möge, sonst «wird der Baum abgehauen und ins Feuer geworfen.»
Das Sich-Loslösen von der Vergangenheit der Abstammung, den Blutsbanden, wirkt in jener Zeit und Umgebung völlig revolutionär. Es bedeutet: Von jetzt ab ist der Wert, das Wesen des Menschen nicht mehr von seiner Abstammung, sondern von den individuellen Taten und Absichten seines Lebens bestimmt.
Wie viel auch die Botschaft: «Das Reich der Himmel ist herangenaht» schon in sich bedeutet, sie hat doch noch einen weiteren Bezug, der zum Beispiel von Markus in Worte gefasst wird: «Die Zeiten sind erfüllt» (Mark. 1,15; auch Gal. 4,4; Eph. 1,10). Sowohl Johannes dem Täufer wie dem Herrn ist es bewusst: Jetzt ist die große Zeitwende gekommen, es beginnt eine große neue Epoche – nicht eines einzelnen Volkes, sondern der ganzen Menschheit. Das wird erst durch Johannes den Evangelisten ausgesagt (Joh. 10,16), bildet aber den Inhalt der ganzen Arbeit des Apostels Paulus, des Heidenapostels.
Es ist charakteristisch, dass das Wort «herannahen» bei Johannes kein einziges Mal zu finden ist, während ein anderer Ausdruck: ménein – «bleiben» – reichlich gebraucht wird, unvergleichlich öfter als in allen anderen Schriften des Neuen Testaments. Es scheint, als schreibe Johannes aus einer Bewusstseinsverfassung heraus, in der das «Königtum» schon Wirklichkeit geworden ist.
«Die Zeiten sind erfüllt» – dieser Satz weist auf die Erwartungsstimmung hin, die das Neue Testament durchzieht. Sie wird durch Fäden aus dem Alten Testament gewoben: vor allem sind es die prophetischen Schriften, die das Motiv «Einst kommt der Erlöser Israels», «Es kommt eine andere Zeit» enthalten. Auf diese Stellen wird im Neuen Testament wiederholt Bezug genommen (Mark. 1,15; Matth. 1,22; 2,15; 26,54; Joh. 12,38; 13,18). Aber ebendiese Tradition wurde auf eine Weise missverstanden, die dann die Tragödie der Erlösungstat mit sich gebracht – und ermöglicht hat. Man muss das ebenso paradox ausdrücken, wie einst Augustinus über den Sündenfall gesprochen hat: Felix peccatum Adae – Adams glückliche Sünde. Bis in die Apostelgeschichte hinein, im Gespräch mit dem Auferstandenen (1,6), wird ein Wiederherstellen des «Königtums» auf Erden erwartet, jedoch ohne aktive Mitwirkung der Menschheit (siehe auch Luk. 19,11; 24,21).
Gerade das aber ist mit dem Herannahen nicht gemeint, geschweige denn mit der Sinnesänderung. Beide Ausdrücke zielen auf eine individuelle innere Wandlung des Menschen, in deren Folge sehr wohl auch eine Veränderung im äußeren Leben stattfinden kann, aber das Reich der Himmel ist eindeutig jene innere Gebärde. Worin sie besteht, ist das Thema der Gleichnisreden, der Bergpredigt, der Feldpredigt und eigentlich des ganzen Neuen Testaments. Solch eine allgemein-menschliche Wandlung kann nur stattfinden, wenn etwas in der geistig-irdischen Wirklichkeit geschieht, durch Worte persönlicher Art kann eine solche Veränderung nie bewirkt werden. In der Erfüllung der Zeiten muss für die ganze Menschheit etwas geschehen, das die individuelle Wandlung ermöglicht. Dieses Geschehen wird in den Worten des Täufers angedeutet: «Ich taufe euch mit Wasser zur Sinnesänderung; der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin nicht würdig, ihm die Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen» (Matth. 3,11; siehe auch Mark. 1,8; Joh. 1,33; Luk. 3,16). Die Taufe mit dem Heiligen Geist und mit Feuer – beide sind ein und dasselbe – ist ein rein geistiges, innerliches Geschehen beziehungsweise wird durch Handauflegung der Jünger und Apostel Christi vollzogen, manchmal aber ohne diese Gebärde.4 Im – vielleicht nur scheinbaren – Widerspruch zu den Worten des Täufers hat Jesus selbst nicht getauft.** Nach den hochpreisenden Worten Jesu über den Täufer (Luk. 7,24-29) ließen sich «alles Volk, das ihn hörte, und die Zöllner taufen mit der Taufe des Johannes». Im nächsten Satz heißt es: «Aber die Pharisäer und Schriftgelehrten … ließen sich nicht von ihm