Karl König

Bruder Tier

Mensch und Tier in Mythos und Evolution

Herausgegeben von Richard Steel
Illustriert von Stephen Walton

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Editorische Vorbemerkung

von Richard Steel

Einleitende Gedanken zur Neuauflage

von Imanuel Klotz

Karl König – Bruder Tier – Aufsätze

Geleitwort zur Erstausgabe 1967 von Fritz Götte

Vom Ursprung der Robben

Vom Leben der Pinguine

Die Wanderungen der Aale und Lachse

Die Elefanten

Das Bärengeschlecht und sein Mythos

Schwäne und Störche

Die Taube als heiliger Vogel

Die Spatzen der Erde

Delphine – Kinder der Meere

Hunde und Katzen – Begleiter des Menschen

Bruder Pferd

Epilog (Fritz Götte)

Anmerkungen

Editorische Vorbemerkung

von Richard Steel

Das Staunenlernen vor der Weisheit der Welt ist eine gute Haltung in unserem intellektuellen Zeitalter. So ist es auch erstaunlich, wie bestimmte Ereignisse – ohne dass man sie so geplant hat – zur rechten Zeit in Erscheinung treten. So ist es mit Bruder Tier gegangen. Eine Neuherausgabe und -bearbeitung war schon zu Beginn der neuen Karl König Werkausgabe 2007 geplant, sogar mit einer gewissen Dringlichkeit, weil das Buch vielfach nachgefragt wurde. Die Arbeiten verzögerten sich, weil andere Titel den Vorrang bekamen. Nun fällt der Band wie «zufällig» in die Zeit der Pandemie, aber auch in eine Zeit, in der Klima, Umwelt und Artenschutz in aller Munde sind. War es beim ersten Erscheinen der Aufsätze die Zeit von Silent Spring1, so ist es jetzt der Ruf nach Extinction Rebellion. So sollte es am Ende wohl sein, dass die Neuausgabe zu diesem Zeitpunkt erscheint und das Buch so einen Beitrag zu den Existenzfragen unserer Zeit leisten kann.

Die Menschheit scheint wie ohnmächtig vor den wachsenden Umweltproblemen, globalen Katastrophen und dem Artensterben zu stehen. Dem Ruf zum Umdenken und Handeln wird sich über kurz oder lang kein Zeitgenosse mehr entziehen können. Plötzlich ist jeder existenziell betroffen. Der Intellekt eines materialistisch-wirtschaftlichen Zeitalters hat eine Ausbeutung aller Ressourcen unserer Welt zu Wege gebracht: z. B. die in der Erde schlummernden Stoffe, die Fruchtbarkeit des Bodens, die Pflanzen- und Baumwelt, die tierische Vielfalt bis hin zum Menschen selbst.

Wenn die Abstammung des Menschen vom Tier lang und intensiv genug gedacht wird – wie dies seit dem 19. Jahrhundert der Fall ist –, dann prägt diese gedachte Verwandtschaft in einer bestimmten und zugleich tragischen Weise den Menschen. Es ist wie das «Andorra-Prinzip» – frei nach Max Frisch. Der Mensch ist tatsächlich in mancher Hinsicht sehr nahe an das Tier herangekommen – aber eben in anderer Haltung, als dies von König mit der «Bruderschaft» des Tieres gemeint ist. Es ist der «Kampf ums Dasein», der immer mehr in die Mitte rückt und die menschliche Gesellschaft prägt, die immer deutlichere Zeichen von dem trägt, was Rudolf Steiner mit dem auf uns zukommenden «Krieg aller gegen aller» bezeichnet hat. König möchte mit seinen Tier-Darstellungen ein Gefühl für unseren gemeinsamen Ursprung und dem gemeinsamen Ziel erwecken; von einem Weg, den wir brüderlich teilen können.

So nahe ist das Menschengeschlecht an das Reich der Tiere herangerückt, ihren natürlichen Lebensraum zerstörend und für sich verbrauchend, gleichzeitig ihre Verhaltensweisen in sein Weltbild einführend, dass die Empathie, das Gefühl eines «Wir» der Menschen zu wenig auf das Tier überspringen kann, sondern eher die Viren der Tiere auf die Menschen. Somit sind wir in der Gegenwart angekommen.

Sind die düsteren Prognosen ein Grund aufzugeben? Wird es in naher Zukunft einen Auszug der Millionäre geben, um Lebensräume auf anderen Planeten zu suchen? Lassen sich Ansatzpunkte für eine positive Veränderung der Lebenslage des Menschen finden?

Malcolm Gladwell prägte den Begriff Tipping Point.2 Er beschreibt soziale Epidemien und meint damit, dass auch sozial positiv wirkende Impulse – einem Virus vergleichbar – hoch ansteckend wirken können und folgert: Schauen Sie sich die Welt um Sie herum an: Sie mag aussehen wie unveränderbar und unversöhnlich. Das ist sie nicht. Mit der kleinsten Bewegung – am rechten Ort angesetzt – kann sie «umgeschoben» werden: «Tipping Point»!

Ein solcher rechter Ort der weltverändernden Bewegung ist mit Sicherheit das eigene Denken eines jeden Menschen. Eine der wesentlichsten Forderungen der Gegenwart ist gewiss die Frage nach der Entwicklung von Lebendigkeit und Bildhaftigkeit im Denken. Karl König war einer der großen Lehrer eines lebendigen, imaginativen Denkens; eine Kraft, die bislang künstlich aufgebaute Grenzen durchstoßen kann; Lebenskräfte fördernd und wahre Moralität suchend. Die Aufsatzreihe Bruder Tier mag hier stellvertretend als würdiges Beispiel dienen, wenn man sie unvoreingenommen auf sich wirken lässt.

Somit erkennen wir unmittelbar, dass es gegenwärtig der rechte Zeitpunkt ist, Bruder Tier erneut einer breiten Leserschaft zur Verfügung zu stellen. Der volle Titel Bruder Tier – Mensch und Tier in Mythos und Evolution kann im Vorfeld bereits Fragen anregen, spiegelt letztlich aber auch genau Königs Absicht sowie seine Arbeitsmethode wider: Wir lernen aus seinen Ausführungen, wie in der Mythologie nicht ein alter, sondern geradezu ein neuer Zugang des selbstständig denkenden Menschen zur Evolutionsfrage verborgen ist, der uns über die darwinistische Denkweise hinweghelfen kann. So entsteht – Stück für Stück – eine Anschauung der gemeinsamen Evolution von Mensch und Tier, die unsere wahre Verwandtschaft mit dem Tierreich unmittelbar erlebbar macht. So könnte ein «geschwisterliches» Verhalten durch genau jene «Herzenserkenntnis» entstehen, die König als Grundvoraussetzung für die Zukunft des Menschseins fordert.3

Diese Aufsätze, die weit über das Spektrum naturwissenschaftlicher Fachbeiträge hinausragen, können einen neuen Bezug zu den Naturreichen – insbesondere dem Tierreich – ermöglichen.

Im Gespräch mit Fritz Götte, so berichtet dieser in seinem Geleitwort zur ersten Buchausgabe 1967, sprach Karl König von einer «künftigen Zoologie».

Götte, Freund und Verleger Königs, war selbst so berührt von den Tierdarstellungen, dass er ihn immer wieder aufforderte, weiterzuschreiben, was König bis zu seinem Tode 1966 auch buchstäblich tat. Den zuletzt fragmentarisch gebliebenen Aufsatz «Bruder Pferd» vollendete Götte dann als Herausgeber selbst. In diesem «Epilog» schrieb er über die künftige «Evolution» des Denkens:

Von der Qualität des Denkens wird es abhängen, welche Technik die Zukunft hervorbringen wird, eine menschen- und naturmörderische oder eine wesentragende und heilende, welche vor dem Christus bestehen kann. Und es hängt weiter von der Qualität des Denkens ab, welche sozialen und politischen Ordnungen oder Missordnungen die Menschheit ferner finden wird.

König hat, insbesondere in den letzten zehn Jahren seines Lebens, neben seinen Aufgaben in der weltweit gewachsenen Camphill-Bewegung und seiner Tätigkeit als Redner und Berater – auch international – unermüdlich geschrieben. Der Zeitgeist hat ihm wohl zu verstehen gegeben, dass seine Ansätze, seine Ziele, seine Art, die Herzen zu bewegen, schon damals wichtig waren, doch in der Zukunft erst recht von Belang sein werden. – Vielleicht erst zu einer viel späteren Zeit, in der sie aufgrund ihrer Signifikanz und unmittelbaren Praxisorientiertheit sowie sozialen Wirksamkeit den rechten Ackerboden finden werden. Genau in diesen letzten zehn Jahren (1956 – 1966) kamen diese elf Aufsätze mit vierzehn Tierbildern zustande.

Mehrere Auflagen von Bruder Tier (auch als Taschenbuch) sind seit 1967 auf Deutsch und als Übersetzungen ins Englische, Französische, Spanische, Russische und Chinesische erschienen. Für die nun vorliegende und bearbeitete Neuherausgabe haben Johannes F. Brakel und Wolfgang Schad dankenswerterweise neuere naturwissenschaftliche Beiträge zur Verfügung gestellt, die wir teilweise – wenn es sich um einfache Korrekturen handelt – im Text korrigiert haben; meist sind sie als Anmerkungen hinzugefügt.

Wir sind besonders dankbar, dass der englische Naturmaler und Zeichner Stephen Walton die Zeichnungen für diese Ausgabe angefertigt hat, denn auf dem Zukunftsweg zur Herzenserkenntnis hat grundsätzlich die Kunst eine wesentliche Rolle zu spielen, so soll sie hier den ihr gebührenden Platz einnehmen.

Einleitende Gedanken zur Neuauflage

von Imanuel Klotz

Du führst die Reihe der Lebendigen

Vor mir vorbei, und lehrst mich meine Brüder

Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.

Goethe, in Faust, «Wald und Höhle»

Das Einmalige des vorliegenden Werkes Bruder Tier besteht darin, dass Karl König die Erscheinungen der Sinneswelt nicht nur mit dem üblichen wissenschaftlichen Blick betrachtet, sondern gleichzeitig mit dem jungen, in der Menschheit allmählich erst erwachenden Herzensdenken, das ihm ein besonderes Anliegen war.1 Schon zu Beginn seiner Studienzeit – die er vor dem Medizinstudium mit Zoologie begann – hatte er sich an der damit in Zusammenhang stehenden Anschauungsweise Goethes orientiert, die in den hier vorliegenden Aufsätzen auch immer wieder erwähnt wird. Ein typisches Symptom für dieses an sich noch zukünftige Herzensdenken ist das Ausreifen des zu behandelnden Themas. König schreibt das Werk in den letzten zehn Jahren seines Lebens als Frucht eines lebenslangen Strebens, dessen Wurzeln bis in seine Jugendjahre reichen, in denen er früh seine Fähigkeit zu schulen versuchte, moderne wissenschaftliche Exaktheit mit gott- und geistergebenem Erkennen zu verbinden. Wir können diesen Weg erahnen, wenn wir nicht nur Königs naturwissenschaftliches Studium als Hintergrund bedenken, sondern uns zudem den geistigen Hintergrund seines Denkens und seine starke Empathiefähigkeit vergegenwärtigen.

Sein schon in der Kindheit sich zeigendes soziales Gewissen, sein unermüdlicher Einsatz als Arzt und Heilpädagoge waren nach außen hin natürlich dem Menschen gewidmet, doch die Liebe zum Tier und das Gefühl des brüderlichen Verbundenseins – durchaus im paulinischen Sinne der Erlösung der Kreatur2 – verließen ihn nie. Eine kleine Episode, die seine Mutter 1966, im jüdischen Altersheim in London lebend, in ihren Memoiren3 festhielt, kann dies anekdotisch verbildlichen:

Einmal kam mein Sohn die ganze Nacht nicht nach Hause; wir dachten, er schläft vielleicht bei den Bergels. In der Früh kam er zerzaust und schmutzig. ‹Ja, wo warst du denn?› Da sagte er: ‹Bei der Polizei.› Der Grund? Er hielt im Stadtpark einen Vortrag, wie schlecht die Tiere hier behandelt werden. Der Schinder kommt und fängt die Hunde ein auf grausame Art … Das war immer ein jämmerliches Heulen. Und so hielt mein Sohn einen Vortrag im Stadtpark darüber, eine große Menschenmenge sammelte sich um ihn, und das war in Wien streng verboten. So kam der Polizist und arretierte ihn von der Stelle weg, er durfte uns nicht einmal anrufen. Das ist der österreichische Polizeistaat im Gegensatz zu England, wo jeder Mensch im Hyde Park sprechen kann, ohne belästigt zu werden.

1902 in Wien als Kind jüdischer Eltern geboren und dort aufgewachsen, beginnt Königs Entwicklung im Judentum, von dem er sich eigenständig bereits als Zwölfjähriger zu lösen beginnt, sich zum Christentum wendet und sich sechzehnjährig in der katholischen Kirche taufen lässt, jedoch bald aus der konfessionellen Bindung herauswächst.

Seine religiöse Innigkeit ist mit der ernsten Suche nach philosophisch und wissenschaftlich erfassbarer Wahrheitsliebe in einem sozialreformierenden Kontext menschlicher Brüderlichkeit verbunden. Die Krönung seines frühen Jugendstrebens erlebt Karl König in seinem neunzehnten Lebensjahr am 4. Mai 1921, im Umkreis des ersten Mondknotens, der Wiederkehr der Geburtskonstellation von Erde, Sonne und Mond:4

Ich habe in den letzten Tagen etwas durchlebt; was noch niemals in mir war. Die Umwelt ist für Stunden von mir gefallen, und ich habe das Innerste erblickt: ich habe erfasst, dass wir teilhaben am ganzen All der Ewigkeit, dass das Ich das All-Eine ist. In diesen Stunden kam mir mein Bewusstsein viel größer und weiter als die Sterne vor. Die Zeit dauerte sehr sehr lange. Mir war, als hätte ich erst in diesen Stunden das Denken erfasst.5

Hiermit deutet Karl König die geistige Pforte an, die er auf dem Weg zu seinen akademischen Studien an der Universität Wien durchschritt. Als Realschüler musste er zunächst das Latinum nachholen. Er hörte währenddessen auch Vorlesungen über Botanik, Zoologie, experimentelle Zoologie und Biologie sowie zwei Semester lang auch Physik, Chemie und höhere Mathematik. Bei all dem pflegte er von Jugend an eine intensive Auseinandersetzung mit der Dichtung und der Musik; liebte insbesondere Beethoven, Bruckner und Mahler, spielte auch sehr gerne Klavier, sodass die Musik ein zentrales Element in seiner Bildung ausmachte und er sogar den Beruf eines Dirigenten in Betracht zog. Aber sein Interesse für das Wesen des Menschen und sein entschiedener Heilerwille, in dem er aber den Menschen nie nur für sich, sondern immer auch im sozialen Zusammenhang sah, führten ihn zum Medizinstudium.

Bei seinem Eintritt in die Universität notierte er in seinem Tagebuch, dass sich die Welt der naturwissenschaftlichen Forschung … vor mir mit unmäßiger Gewalt zu enthüllen begann; mit Gelassenheit ahnte er:

Das materialistische Meer wird auf mich einstürmen. Aber ich will standhalten. Die Welt und das All sind voll von Gott und voll von Engeln und Wundern, voll von Güte und Zorn und voller Willen.

Als er sich dann auf die mathematisch-materialistischen Anschauungen und Forschungen einließ, wie sie im Fach Medizin nötig sind und gefordert werden, begegnete er Goethe, den er bis dahin nur als Dichter kannte und schätzte, nun auch als Naturforscher. Damit wird ihm der Geist des wahrhaft Lebendigen, den er im Bereich des Denkens bereits ergriffen hatte, auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht greifbar.

[Goethes] botanische und anthropologisch-morphologische Darstellungen wirkten auf mich wie eine Erlösung. Hier fühlte ich mich unmittelbar angesprochen, das waren die Tore, die zu möglichen Antworten führen werden. Ich begegnete in den Goethe’schen Anschauungen über die Natur etwas, das mein Denken […] belebte. […] Nun erst wurde das Studium der Anatomie, der Embryologie und Histologie zu einem täglichen Quell innigster Freude. Knochen und Muskel offenbarten mir neue Welten. Die Idee der Metamorphose ergriff mich tief, und ich lernte ahnend das Walten der Bildekräfte der Natur kennen. So begann ich auch die Identität, die zwischen diesen Bildekräften und unseren Gedanken besteht, zu erfassen. Draußen in der Natur wirken diese bildenden Kräfte so, dass sie alle organischen Formen entstehen lassen. Drinnen, in der menschlichen Seele aber, sind sie die Bildner unserer Gedanken und Ideen.6

So entsteht Königs Menschenbild zwischen einem geisterfüllten Kosmos und dem natürlichen Leben von Pflanze und Tier auf der Erde. Dabei richtet er seinen Blick auf das Werden des Menschen im Bereich der Embryologie und Evolution. Durch seine damaligen tiefen Fragen kann man sich vielleicht daran erinnert fühlen, wie genau einhundert Jahre zuvor7 solche Fragen in Charles Darwin lebten, der aber bewusst alles Künstlerische ausschloss, verbannte, das davor ebenso eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte, um sich ganz der naturwissenschaftlichen Forschung hinzugeben, was er aber im Alter bereute.8

Drei Jahre verbrachte König am Embryologischen Institut. In seinem Tagebuch finden wir folgenden Eintrag:

Ich lernte die Wege der sogenannten exakten Forschung kennen – und – unterrichtete […] Hunderte von Studenten in der Kunst des Mikroskopierens; vor allem aber wurde mir die Entwicklung und Ausgestaltung des menschlichen Embryo gründlich vertraut.9

Das phylogenetische und ontogenetische Grundgesetz beschäftigte ihn und lenkte seinen Blick auf die spirituellen Aspekte der Evolution von Mensch, Erde und Welt. Im gegenwärtigen Tierreich schaute er auf längst vergangene Stufen der Menschwerdung, welche das Tier wie ein zurückgebliebener Bruder des Menschen bewahrt. Aus dem Geist einer solchen Anschauung, die von dem Prinzip des durch Pflanze und Tier zum Menschen aufsteigenden Lebens durchdrungen ist, betrachtet Karl König das Tierreich, woraus der Titel Bruder Tier hervorgeht. Es handelt sich um ein uraltes, aber von uns heute in neuer Form zu erringendes Mysterienprinzip, an dem Karl König von den allerverschiedensten Seiten lebenslang gearbeitet hat. Hier steht das Tier in der Mitte zwischen Mensch und Pflanze. Eine knappe Beschreibung dieses Mysterienprinzips, von Rudolf Steiner geschildert, sei hier angeführt. Ausgehend von der Fortpflanzung im Bereich der Pflanzen beschreibt er:

Wer in die tieferen Beziehungen eindringt, betrachtet die Pflanze als einen umgekehrten Menschen. Sie hat unten die Wurzel, dann nach oben den Stängel, Blätter, Staubgefäße und Stempel; die Stempel enthalten die weiblichen, die Staubgefäße die männlichen Befruchtungsorgane. In naiver Unschuld streckt die Pflanze die Befruchtungsorgane der Sonne entgegen, denn die Sonne ist die Befruchtungskraft. Die Wurzel ist in Wahrheit das Haupt der Pflanze, welche die Befruchtungsorgane in den Weltenraum hinausstreckt und deren Kopf von dem Innern des Erdzentrums angezogen wird. Der Mensch ist umgekehrt, er hat das Haupt oben und die Organe, die die Pflanze zur Sonne hinaufstreckt, unten. Das Tier steht in der Mitte, es hat den Leib horizontal. Wird die Pflanze halb gedreht, so ergibt sich die Stellung des Tieres, wird sie ganz umgedreht, die des Menschen. Das hat die alte Geheimwissenschaft in einem uralten Symbol ausgedrückt, im Kreuz, und hat gesagt, wie Plato es nach den alten Mysterien ausdrückt: Die Weltenseele ist ans Kreuz des Weltenleibes geschlagen. – Das heißt, die Weltenseele ist in allem enthalten, aber sie muss sich hinaufarbeiten durch diese drei Stufen hindurch; sie macht ihre Reise am Kreuz des Weltenleibes durch.10

Erdenkreuz der Weltenseele, nach einer Zeichnung Rudolf Steiners11

Diesen Zusammenhang behandelte Rudolf Steiner in der Zeit 1905/06 öfter; zum Beispiel auch in einem Vortragszyklus in Paris über Kosmogonie.12 Hier kann uns eine Formulierung besonders interessieren:

Nehmen wir einmal an, wir sähen zwei Brüder, von denen der eine intelligent und schön, der andere hässlich und beschränkt ist. Was würde man von einem Menschen sagen, der glauben würde, dass der intelligente Bruder von dem idiotischen abstamme? Auf dieser Linie liegt der Irrtum des Darwinismus in Bezug auf die Rassen. Der Mensch und das Tier haben einen gemeinsamen Ursprung. Die Tiere sind eine Dekadenzerscheinung von einem gemeinsamen Vorfahren, von dem der Mensch den höheren Entwicklungsgrad darstellt.

Das braucht uns nicht hoffärtig zu machen, denn nur den niederen Reichen ist es zu danken, dass die höheren sich entwickeln konnten.13

Anschließend stellt Rudolf Steiner diese Tatsache in einen Zusammenhang mit der Demut des Christus bei der Fußwaschung (Joh. 13). Diese Haltung ist es, die wir bei Karl König erleben können und die zu der Formulierung «Bruder Pferd» im letzten der Aufsätze führte, woraus der Freund und Verleger Fritz Götte den Buchtitel Bruder Tier ableitete. Im gesamten Werk finden wir immer wieder Textstellen, in denen Karl König das Tier als vom ätherischen Weltenwesen durchzogenes Geschöpf schildert. Auf diese Zusammenhänge ist er bereits durch Goethes Metamorphoselehre aufmerksam geworden, die von diesem Strom des Lebens handelt, der in seinen typischen Ausprägungen – als «Typus» bezeichnet – von der Urpflanze zum Urtier bis herauf zum Menschen in drei Stufen aufsteigt, von denen Goethe einmal sagt:

Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose sich erhebender Typus gehe durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen Teilen auf gewissen mittleren Stufen gar wohl beobachten, und müsse auch noch da anerkannt werden, wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden zurückzieht.14

Damit ist das innerste Wesen des naturforscherischen Goetheanismus gekennzeichnet, den König als junger Student zu erfassen vermochte und an dessen Entfaltung er zeitlebens arbeitete. Die große Aufmerksamkeit, die er dabei der Zoologie widmete, bezeugt seine noch heute vorhandene Bibliothek, in der sich mehr als 190 wissenschaftliche Werke befinden, die mit zahlreichen Randbemerkungen versehen sind.

Das Hauptwerk seines Lebens aber besteht nicht in gedruckten Texten, sondern in dem Aufbau der als «Camphill» bekannt gewordenen therapeutischen Gemeinschaft, die in Schottland begann und inzwischen weltweit gewachsen ist. Hier widmet man sich der Therapie Seelenpflege-bedürftiger Kinder und Jugendlicher sowie der sozialtherapeutischen Arbeit mit erwachsenen Menschen. Dabei kommt es zu einer therapeutischen Gemeinschaftsbildung, die mit dem Suchen und dem Aufbau einer wahrhaft geist- und naturgemäßen Sozialordnung verbunden ist. Den Aufbau dieser Arbeit nimmt der fünfunddreißigjährige König in Zusammenarbeit mit zwei Jugendgruppen in Angriff. Bei dieser Unternehmung wird er besonders von Dr. Ita Wegman begleitet, der ärztlichen Mitarbeiterin Rudolf Steiners, bei der er in der klinischen und heilpädagogischen Arbeit assistiert hatte. Unter den vielen Freunden der damaligen Zeit sei der Arzt Eugen Kolisko hervorgehoben. Kolisko kannte König bereits aus der gemeinsamen Jugendzeit in Wien. Er wurde von Rudolf Steiner als Schularzt an die erste Waldorfschule nach Stuttgart berufen und bekam von ihm auch entscheidende Hinweise zur kosmischen Gliederung des Tierreiches.15

Die Freunde verband das Interesse für Medizin und Zoologie sowie das gemeinsame Anliegen im Hinblick auf die Ernährung, die Landwirtschaft und das soziale Leben. So wirkten sie immer wieder an Tagungen zusammen und trafen sich 1938 im britischen Exil wieder, wo aber die Hoffnungen auf eine konkretere Zusammenarbeit 1939 durch Koliskos frühen Tod abbrachen. 1930 hatte Kolisko über Die zwölf Gruppen der Tiere in Zusammenhang mit dem Tierkreis publiziert. Das ist direkt auch für die Entstehung von Bruder Tier wichtig, denn Karl König knüpfte daran an: Obwohl er gerade erst nach Schottland gekommen war, mit der Gründung der kleinen Gemeinschaft und ihren alltäglichen Pflichten sehr beschäftigt war, schrieb er 1939 und 1940 ausführlich über die Tiere und den Tierkreis.16 Die vorbereitenden Notizen nehmen fast hundert Seiten in seinem Notizbuch ein, die er wohl hauptsächlich auf der wöchentlichen Zugfahrt nach Dundee schrieb, denn er musste regelmäßig zur Universität, weil sein deutschsprachiges medizinisches Studium in der Kriegszeit nicht anerkannt wurde. Trotz allem war es ihm wichtig, diese umfassende Arbeit fertig zu stellen; eine Arbeit, die er über viele Jahre vertiefte und in verschiedenen Kursen, Vorträgen und Seminaren – später auch für Ärzte und Künstler – darstellte. Zusammen mit Bruder Tier zeugen sie davon, dass König, getragen von einem umfassenden Wissen, durch seine bildhafte Art des Betrachtens,17 die nur aus dem im Herzen erwachten Denken gegründet ist, tiefere Schichten des Tierreichs erschließt, was für alle Menschen, besonders aber auch für Lehrer wegweisend ist. Von Zuhörern seiner damaligen Vorträge erfahren wir, wie diese Bildhaftigkeit unmittelbar wirkte und auf das Publikum übersprang. Seine Darstellungsart vermittelte reichhaltige innere Bilder, doch wenn er über Tiere sprach, reichten wenige Gesten oder ein kurzer, schaukelnder Gang und man erlebte den Elefanten vor sich.

In der seit 2007 erscheinenden Karl König Werkausgabe sind bereits einige Ausführungen über Tiere erschienen, die König für Landwirte gab.18 Aus der Fülle seiner Arbeiten werden weitere Schriften zum Thema zu publizieren sein. Bruder Tier erschien erstmals als Aufsatzreihe in der Zeitschrift Die Drei; 1956 die Beiträge über «Die Wanderungen der Aale und Lachse» und «Die Taube als heiliger Vogel». Fritz Götte, Mitbegründer des Verlag Freies Geistesleben und ab 1953 Redakteur der Zeitschrift, hat die elf Aufsätze kurz nach Königs Tod als Buch zusammengefasst. Allerdings war der letzte Teil – über das Pferd – noch nicht ganz fertiggestellt, denn an diesem Aufsatz schrieb König im wahrsten Sinne des Wortes noch in seinen letzten Tagen. Auf Seite 48 des Manuskriptes stand als letzte Überschrift: «Epilog». Wir haben es dem einfühlsamen Verleger Götte zu verdanken, der ein enger Freund Königs geworden war, dass wir heute etwas davon erahnen können, wie König den Abschluss wohl hätte gestalten wollen. Unter Verwendung der Vorbereitungsnotizen rundete Fritz Götte den Epilog und somit das Buch selbst ab. Im Geleitwort zur ersten Auflage 1967 berichtet Götte von dem Gespräch mit König im Jahr 1959, in dem beschlossen wurde, die Reihe fortzusetzen:

Hierbei fiel das Wort, wir sollten versuchen, immer mehr Tiere aus ihrer heutigen Gefährdung, ja Ausrottung durch den Menschen in eine Arche Noah, welche sich in der Menschenseele selber bilden sollte, hineinzuretten.

Diese Aussage – drei Jahre vor dem Erscheinen des bahnbrechenden Buches Silent Spring19 – hat sicher nichts von ihrer Brisanz verloren.

Karl König

Bruder Tier – Aufsätze

Geleitwort zur Erstausgabe 1967

von Fritz Götte

Karl König ist am 25. September 1902 in Wien geboren; am 27. März 1966 ging er in Brachenreuthe am Bodensee durch die Todespforte. Er war Arzt, und er war es in einem umfassenden Sinne. Sein ärztliches Bemühen ging über das Behandeln einzelner Menschen hinaus; er schuf soziale Zusammenhänge, in denen Heranwachsende, Kinder und Jugendliche, welche vom sogenannten normalen Leben nicht ohne Weiteres aufgenommen werden konnten, sich in vollem Sinne als Menschen zu entfalten und zu erleben vermochten. In dieser ausgedehnten Arbeit trug ihn der tief in der eigenen Seele verwurzelte Gedanke: es gibt im Grunde keine Abnormen; wir sind alle Menschen schlechthin, wenn auch der eine oder andere in einem Erdenleben einmal hilfsbedürftiger sein möge als die Mehrzahl der Mitlebenden. Ein Brüderlichkeitsgedanke, den er durch das gesprochene und das geschriebene Wort, vor allem aber durch sein Tun eindrucksvoll vertrat.

Aber Karl König erlebte dieses brüderliche Verbundensein nicht nur gegenüber den hilfebedürftigen Menschen. Er war davon gleichermaßen erfüllt gegenüber den Tieren. So ergab es sich ganz konsequent, dass er auch – um dieses etwas sonderbar Anmutende zu sagen – für die Menschlichkeit des Tieres eintrat. Eine Hauptquelle war ihm dabei die Evolutionslehre seines Lehrers Rudolf Steiner, des Begründers der Anthroposophie, welche von der Schicksalsverbundenheit von Mensch und Tier spricht, die schon von Urvergangenheiten her besteht. Es ist eine Evolutionslehre, welche von der Trennung des Tierischen (wie auch des Pflanzlichen und Mineralischen) im Menschwerdungsprozesse spricht, aber auch von einer kommenden Wiedervereinigung oder – paulinisch gesprochen – von der Erlösung der Kreatur.

Karl König ist in seinem Denken und Sinnen einer solchen christlichen Strömung tief verpflichtet, damit aber auch Goethes morphologischen Arbeiten, die ihn den jeweiligen Typus als Abwandlung einer ideellen Grundgestalt aufzusuchen lehrten. Es ist die Lehre von jener «haushältischen Natur», die sich, wie Goethe im Anschluss an Geoffroy de Saint-Hilaire schreibt, «einen Etat, ein Budget vorgeschrieben, in dessen einzelnen Kapiteln sie sich die vollkommenste Willkür vorbehält, in der Hauptsumme jedoch sich völlig treu bleibt, indem, wenn an der einen Seite zu viel ausgegeben worden, sie es der anderen abzieht und auf die entschiedenste Weise sich ins Gleiche stellt». Man wird diesem Goethe-Schlüssel auf den folgenden Seiten wiederholt begegnen.

Der Verfasser unserer Tierbetrachtungen hat, bevor er sich der Medizin zuwandte, und in dieser besonders der Embryologie, auch Zoologie studiert. Aber das Buch vom Tier als Begleiter des Menschen soll kein einschlägiges «Fachbuch» sein, ja, Karl König hat wohl kaum an eine Buchveröffentlichung gedacht. Sein früher Tod hat überdies ausgeschlossen, dass er seine Darstellungen noch einmal ausgestaltete und überarbeitete. Wir bringen dieselben nunmehr so, wie sie in der Zweimonatsschrift für Anthroposophie und Dreigliederung Die Drei ursprünglich erschienen sind. Karl König bot der Schriftleitung im Jahre 1956 die ersten Arbeiten an: «Die Wanderungen der Aale und Lachse» sowie «Die Taube als heiliger Vogel». Es ergab sich dann eine dreijährige Pause, bis aus Gesprächen der Gedanke entstand, einer breiteren Leserschaft einzelne Tiere in jenen brüderlichen Gesinnungen nahezubringen. Hierbei fiel das Wort, wir sollten versuchen, immer mehr Tiere aus ihrer heutigen Gefährdung, ja Ausrottung durch den Menschen in eine Arche Noah, welche sich in der Menschenseele selber bilden sollte, hineinzuretten.

In der Arbeit über das Bärengeschlecht fällt das Wort von der «eigenen Würde», welche jeder Tiergruppe zukomme. Es ist eine Würde, welche eine frühe Menschheit – Königs mythologische Hinweise bestätigen es – dem Tierwesen voraussetzungslos zuerkannte, eine Würde, die aber der immer einseitiger intellektuell und egoistisch werdende Mensch zerstörte. König wollte helfen, sie durch ein neues Anschauen der Tiere wieder aufzubauen und so auch zu ihrer Erlösung beizutragen.

Vielleicht kann man das vorliegende, erstmalig von ihm Notierte mit Skizzen bezeichnen, Skizzen als Beiträge für eine «künftige Zoologie», die ihm vorschwebte, wofür die heutige Verhaltensforschung eine erste und «eine mehr spirituelle Interpretation ethnologischer Phänomene» eine weitere Tür sei in ein «Reich neuer Einsichten». Königs Gedankengänge und Verknüpfungen sind dabei oft kühn, zuweilen gewagt, aber selbst im Widerspruch noch anregend und in ihrem Grundbestreben unantastbar gerechtfertigt.

Die Herausgabe der vierzehn Tierbilder in der ursprünglichen Gestalt erfolgt um jener anregenden Wirkung willen, weiter aber, weil sie breiteren Kreisen, denen das gegenwärtige traurige Schicksal der Tierwelt nicht gleichgültig ist, neue Zugänge zu ihrem Wesen verschaffen können und nicht zuletzt auch deshalb, weil sie Erziehern einer heranwachsenden jungen Generation Stoff und Motive zu bieten vermögen, damit in ihr – anders als bei den im Geiste des Materialismus und der nackten Nützlichkeit aufgewachsenen Vorausgegangenen – früh- und rechtzeitig eine begründete Liebe zu ihren Brüdern im Tierreich sich bilden kann.