falter 38

Wege der Seele – Bilder des Lebens

Iris Paxino

Leben mit dem Schmerz

Verlag Freies Geistesleben

INHALT

Cover

Titel

Impressum

SCHMERZ, WER BIST DU?

DER SCHMERZ IM WANDEL DER ZEIT

Die Welt der Antike

Der christliche Kulturraum

Der Schmerz in der Neuzeit

IM GESPRÄCH MIT DEM SCHMERZ

PHÄNOMENOLOGISCHES

Der physische Schmerz

Der seelische Schmerz

Der geistige Schmerz

IM UMGANG MIT DEM SCHMERZ

DER CHRONISCHE SCHMERZ

THERAPIEANSÄTZE BEIM CHRONISCHEN SCHMERZ

Verhaltenstherapeutische Schmerzbehandlung

Anthroposophische Therapien

SCHMERZ UND SINN

ANMERKUNGEN UND LITERATUR

Leseprobe: A. Limbrunner – Tumoresken. Am Rande der Lebenszeit

WIR SIND ALLE BETROFFENE.

Wir sind betroffen, auf Erden zu leben und die
ungeheure Aufgabe durchzuführen, diesen
Stern zu durchschmerzen – zu durchlieben –,
bis er durchsichtig wird, von unserem
gesagten und ungesagten Wort durch
zogen – dieser Geheimschrift, mit der wir ein
unsichtbares Universum lesbar machen für ein
göttliches Auge.

NELLY SACHS

SCHMERZ, WER BIST DU?

Schmerz ist nicht die Wahrheit.

Schmerz ist, was man durchmachen muss,
um die Wahrheit zu finden.

MERLIN

Kaum ein menschliches Wesen wird sagen können, dass es den Schmerz nicht kennt. Ob Feind oder Freund des Menschen, ob gefürchtet oder gemieden, auf jeden Fall ist er, der Schmerz, ein Begleiter unseres Lebensweges, der sich in den unterschiedlichsten Daseinsformen zeigt und uns in den verschiedensten Gewändern erscheint. Unser Leben beginnt im Schmerz und endet oft darin, er kann uns existenziell bedrohen, uns aber auch die tiefsten Geheimnisse des Menschseins offenbaren.

Leiblich ergreift er uns, mal überraschend, mal nicht, mal warnend und zwickend, mal dumpf oder sprechend, mal uns ganz überwältigend und niederreißend. Und wer kennt nicht den seelischen Schmerz, die leise Melancholie, in die er sich süßlich verbergen kann; die Trauer der Abschiedsstimmungen, die uns auf der Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft dem Gewesenen zuwinken lassen; oder die Enttäuschung und Resignation, die uns das Leben so bitter schmecken lassen? Auch gibt es kaum ein irdisches Schicksal, das den beinahe vernichtenden, herzzerreißenden Schmerz beim Verlust eines geliebten Menschen nicht kennt. Doch nicht genug, die Begegnung mit Schuld und Versagen, mit eigenen Fehlern und Versäumnissen, die erschütternde Stimme des Gewissens, die aufwühlende Einsicht in die unausweichliche Notwendigkeit der Selbstveränderung sprechen sich in der Sprache des Erkenntnisschmerzes aus.

Doch was ist Schmerz? Warum bezeichnen wir die Empfindung, die man hat, wenn man sich in den Finger schneidet, genauso wie das seelische Erleben von Kränkung oder Verzweiflung, Verlust oder Heimweh? Und ist der Schmerz des erschöpften Bergsteigers mit dem Schmerz einer gebärenden Frau zu vergleichen? Was unterscheidet «Schmerz» von «Schmerz», wie viele Arten von Schmerz gibt es? Und wo ist die Abgrenzung zwischen leiblichem und seelischem Schmerz, wo wiederum beginnt der Mensch, einen geistigen Schmerz zu erleben?

Haben alle Menschen Schmerz, gehört er unabdingbar zu jedem menschlichen Lebenslauf dazu? Was trennt uns im Schmerz von der Welt, und was verbindet uns durch ihn mit dem anderen Menschen? Kann ein anderer meinen Schmerz fühlen, erleben, erleiden, oder hat ein jeder von uns seinen ganz eigenen Schmerz?

Allgemein betrachtet ist Schmerz erst einmal die Fähigkeit zu spüren, dass etwas wehtut. Das Innewerden eines Geschehens, das mir wehtut, ist das Erleben des Schmerzes. In der Regel geht es uns auch nicht gut, wenn wir Schmerzen haben. Schmerz ist also zunächst ein Indikator, genauer gesagt sowohl ein Grund als auch ein Anzeichen für das eigene Missbefinden. Hinsichtlich der Empfindung des Schmerzes verbindet uns alle die eine Ansicht: Schmerz tut weh, also etwas «tut», es ist eine Tätigkeit, die geschieht; und sie ist unangenehm, denn Schmerz bedeutet Leiden. Er ist etwas, was wir im Normalfall als unangenehm erleben und möglichst schnell los sein wollen. Die unmittelbare Bereitschaft, zu seiner Beendigung beizutragen, ist uns allen eigen. Durch den Schmerz erleben wir, dass da etwas ist, was so nicht sein sollte, was unangenehm ist, ja irritiert, als würde in einer merkwürdigen Weise die Ordnung des eigenen Menschseins gestört werden.

Wenn wir ihn genauer betrachten, stellen wir fest, dass er auf eine gewisse Grenzverletzung unseres Daseins hinzeigt, sei es physisch durch das Eindringen der Messerklinge in die eigene Haut, sei es psychisch durch die kränkenden Worte eines Freundes. Auch der Tod eines geliebten Menschen wird als Grenzverletzung empfunden, hier wird die eigene seelische Verbundenheit als Einheit zerstört. Schmerz wird also durch Hineinschneiden oder durch Herausschneiden als Trennung einer zuvor bestehenden Einheit erlebt, einer Einheit mit sich selbst, mit einem anderen oder mit etwas anderem. Diese Einheit muss nicht nur leiblicher oder seelischer Natur sein, auch im Bereich des Geistigen kann sich der Mensch von einem größeren Sinnzusammenhang abgeschnitten fühlen.

Doch der Schmerz ist auch etwas Notwendiges, gar Überlebensnotwendiges für den Menschen. Wie gefährdet wir doch bei jeder Berührung mit der Außenwelt wären, wenn uns der Schmerz nicht die Grenzen unseres eigenen physischen Vermögens aufzeigen würde! Reflexartig ziehen wir zum Schutz unseres Körpers die Hand vor einem heißen Gegenstand zurück. Eine zu heiße Herdplatte, ein zu kaltes Eisbad, ein zu scharf geschliffenes Messer würden alltäglich zu Verletzungen führen, können sogar zu einer lebensbedrohlichen Gefahr werden. Das Fehlen von Schmerz würde ein Fehlen des Selbstschutzes bedeuten. Schmerz ist also auch dazu da, um Schaden von uns abzuhalten. Er dient uns, vereinfacht gesagt, als Warnsignal und kann als ein Anzeichen dafür verstanden werden, dass etwas nicht stimmig ist.

Das Eigentümliche am Schmerz ist, dass er etwas ganz Subjektives und Persönliches ist: Schmerz ist kein Gegenstand unserer Wahrnehmung, den wir außerhalb unseres Seins empfinden können. Ein Mitempfinden, ein Nachempfinden des Leids eines anderen Menschen ist möglich, doch das reale Erleben des Schmerzes eines anderen Wesens ist nicht möglich. Nur ich kann meinen Schmerz empfinden. Ein Erleben wie Schmerz existiert also nicht «unempfunden». Gewebeverletzungen und die damit verbundene Reizung der Schmerzrezeptoren, oder die Aktivitätsveränderungen im Gehirn können objektiv gemessen werden. Doch das Erleben des Schmerzes kann nicht quantifiziert werden. Kein Arzt der Welt kann den Schmerz seines Patienten messen oder selbst empfinden. Die Erfahrung des Schmerzes weiß also nichts von Rezeptoren und Nervenimpulsen, sie bleibt unmittelbar mit dem eigenen Wesen verbunden. Mein Schmerz kann nur meiner sein, ich «bin» in gewisser Weise mein Schmerz. So kann ich einem anderen gegenüber mein Schmerzempfinden auch verschweigen.

Der Umgang mit Schmerz kann sehr unterschiedlich sein. Üblich ist eine Hinwendung zum Schmerzgeschehen, d. h. eine Bewusstwerdung der Schmerzempfindung und ein Umgehen damit. Das Verbinden einer Wunde, die Versorgung einer Verletzung, das Weinen am Grab des gerade verstorbenen Freundes sind Formen der Zuwendung hin zum eigenen Weh. Man nimmt den Schmerz wahr, versucht ihn zu lindern. Man geht also auf ihn ein oder mit ihm um.

Der Schmerz kann aber auch abgelehnt und verdrängt werden. Man kann versuchen, ihn nicht zu beachten oder ihn auszuschalten. Die Abwendung von ihm gelingt durch unterschiedlichste Abwehrtaktiken und Verdrängungsmechanismen, grobe oder subtile, physische oder psychische. Auch diese Vorgehensweisen stellen ein Umgehen mit dem Schmerz dar, doch es handelt sich hier um einen abtrennenden, den Schmerz nicht integrierenden Umgang.

Die Lebenswirklichkeit zeigt meist eine situativ abwechselnde und individuell gestaltete Kombination von annehmender und ablehnender Haltung gegenüber Leid und Schmerz: Man versorgt die blutende Wunde, findet aber das verursachende Geschehen sinnlos. Man ist bereit, den schmerzenden Rücken physiotherapeutisch behandeln zu lassen, will aber das Leid, das einem schwer auf den Schultern lastet, nicht ablegen. Wegen der Herzrhythmusstörungen geht man besorgt von Arzt zu Arzt und nimmt dann pflichtbewusst die verschriebenen Medikamente ein, doch den Lebensdruck, in dem man seit Jahren lebt, will man nicht wahrnehmen.

Im Persönlichen wie im Gesellschaftlichen, im Alltäglichen wie im Menschheitsgeschichtlichen ist das Verhältnis zum Schmerz ambivalent und hat sich über die Jahrtausende verändert. Priester und Ärzte, Heiler und Schamanen, Philosophen und Wissenschaftler, Künstler und Dichter haben sich der Frage gewidmet, wie Schmerz entsteht, welche Bedeutung er hat und wie mit ihm umgegangen werden soll. Die Menschheitskulturen haben in sehr unterschiedlicher Weise eine schmerzbejahende oder -ablehnende Haltung gehabt. Schmerz und Leid wurden verschiedenste Ursachen und Bedeutungen zugesprochen, der damit verwobene Sinn veränderte sich von Kultur zu Kultur und von Jahrhundert zu Jahrhundert.

Bereits bei der ersten Betrachtung wird es offensichtlich, dass der Schmerz sowohl ein individuell-menschliches als auch ein menschlich-soziales Phänomen ist. Das Unumgängliche seiner Natur und seine unabdingbare Präsenz rufen den Menschen auf, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Das überwältigende Gefühl des Ausgeliefertseins und das Empfinden des im Leid enthaltenen Schicksalshaften prägen zutiefst unsere Beziehung zum Schmerz. Er ist ein Urphänomen der Menschheit, ein «Aufrüttler» des ganzen Seins und ein Uranlass für die Medizin, helfend und heilend einzugreifen. Und in seiner stets individuellen Erscheinung und Ausprägung ist er einer der entscheidenden Impulsgeber in der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst.

Du aber, o Mensch

In allen Dingen der Welt

dunkelt die Schwere.

In allen Dingen ist Schmerz.

Leid lastet dem Kern zu

inmitten der Erde.

Du aber, o Mensch,

lernst aus der Trauer

die Schwingen in Demut

wieder zum Lichte

erheben:

Leichte erlöst dir

aus lastender Dichte

Gesang –

Singen entzaubert dir

Duft

aus enttrauerten Dingen –

Liebe beflügelt

zum Flug in die Sonne

dein Herz.

ERIKA BELTLE

Der Schmerz hat unsere Welt, so wie sie heute ist, miterschaffen und mitgestaltet. Als Architekt menschlicher Biografien und Baumeister aller Kulturen hat er das Werden der Menschheit geprägt und geformt. Er hat alle Kriege unserer Erde begleitet und die größten Weltreiche zerstört. Er hat einer jeden Gesellschaft als Baugrund gedient und ist Lebenssubstanz einer jeder Religion und jeder Weltanschauung. Er steht nicht nur auf der Seite der Geschlagenen und Eroberten als Zeichen für Untergang, sondern auch auf der Seite der Sieger als Preis für das neu Errungene. Er hat der Unterdrückung als Werkzeug gedient und den Märtyrern Erlösung versprochen, er hat Ungerechtigkeit geschmückt und Opferbereitschaft gekrönt. Er hat das Verhältnis des Menschen zum Göttlichen geprägt wie auch die Beziehung des Menschen zu seinem Nächsten. Neue Eroberungen, neue Erkenntnisse, neue Erfindungen, alles Neue hat auch ihn zur Grundlage in Form von Verzicht und Entbehrung, von Qual und Selbstüberwindung, von Hingabe und Mut. An allen Übergängen von einer alten zu einer neuen Welt ist er zugegen gewesen, mal mächtig und Furcht einflößend, mal innerlich schulend und lehrend. Was er immer gewesen ist und stets noch ist: bewusstseinsbildend – und somit anstoßend, aufweckend und gestaltend.

DIE WELT DER ANTIKE

Der Schmerz verleiht dir erst ein Recht,

dem Leben zu gehören.

OTTO ROQUETTE

Wenn wir den Blick in die Menschheitsgeschichte zurückwerfen und das sich wandelnde Verhältnis des Menschen zum Schmerz betrachten, stellen wir fest, dass der Mensch der Antike ein ganz anders geformtes Verhältnis zum Leben und zu seinem eigenen Wesen hat. In dieser vorchristlichen Zeit empfindet er sich zwar als lebensgestaltenden Erdenbürger, doch gleichzeitig auch noch ganz in einer Einheit mit den Göttern. Er weiß, dass die Götterwelt seine wahre Heimat ist, und alles, was ihn auf Erden umgibt, ist für ihn von einer lebendigen geistigen Wirklichkeit durchdrungen. In allen Natur- und Lebenserscheinungen erkennt er Abbilder göttlicher Wesenheiten, Materie ist für ihn nicht leblos, sondern ein Ausdruck des Göttlich-Lebendigen.

Das menschliche Bewusstsein ist eher ein dämmerhaftes, Traum- und Wachzustand sind keinesfalls in dem Maße voneinander abgetrennt, wie wir es heute kennen. Darin ist jedoch die Präsenz des Göttlichen in allen Seinsebenen und Welterscheinungen erlebbar. Göttlicher und menschlicher Bereich sind also noch nicht scharf voneinander geschieden, der Mensch erlebt diese zwei Welten innig miteinander verwoben, genau wie er auch die Schlaf- und die Tageswelt ganz miteinander verbunden erlebt.

Als Einheit erlebt sich der Mensch auch in seinen eigenen leiblichen und seelischen Eigenschaften. Was ihn seelisch ausmacht, bedingt unmittelbar seine Körperlichkeit; sein Physisches wiederum ist veräußerter Ausdruck des Seelischen. Zu Homers Zeiten verfügt der griechische Mensch gleichermaßen über innere und äußere Eigenschaften, die sich in einer selbstverständlichen Symbiose darstellen. Das äußere Schöne und das innere Edle sind nicht voneinander zu trennen; das Gute findet für den damaligen Menschen gleichzeitig stets Ausdruck in der Schönheit. Ein wahrer Held, mutvoll und mit einem edlen Charakter, kann unmöglich äußerlich unansehnlich sein. Die wohlgebauten Gestalten der griechischen Helden sind also zugleich Abbild ihrer inneren Kraft und ihres Mutes. Die Physiognomie des Leibes wird unmittelbar als Spiegel der Seele verstanden. Daher bedeutet das Hässliche auch charakterlich etwas Schlechtes. Wir sehen, dass die Ineinanderverflechtung von Innen und Außen, von Mensch und Welt demnach weit stärker ausgeprägt ist als für uns heute vorstellbar.

Das menschliche Erleben mit all seinen Dimensionen von Freude und Leid, Glück und Schmerz wird als Geschenk oder als Strafe der Götter empfunden. Obwohl Schmerz durch menschliches Vergehen, durch Ausschweifungen und Ungehorsam erzeugt wird – Leid und Krankheit sind also von der Lebensweise des Menschen abhängig –, sind es doch die Götter, die über das menschliche Schicksal entscheiden und urteilen. Eigenschaften und Fähigkeiten, Handeln und Schicksalserleben sind zu dieser Zeit noch götterverwandt und göttervermittelt. Der Mensch erlebt sich als Bürger einer Welt, in der die Götter über sein Los richten.

Die Griechen der frühen Antike haben noch keine unterschiedlichen Begriffe für äußeren und inneren Schmerz. In den vorhomerischen Zeiten findet man noch nicht einmal einen Begriff für den menschlichen Leib. «Soma» (Leib) ist der Ausdruck für «Leichnam», also für den leblosen Körper. Für den lebendigen Leib gibt es zu dieser Zeit noch keinen Ausdruck; lediglich der Begriff «Demas» (Gestalt) beschreibt den Menschen als einheitliche, lebende Gestalt. Die Begriffe «Soma» (Leib), «Psyché» (Seele) und «Noos» (Geist), die uns heute noch aus dem Altgriechischen bekannt sind, wurden erst in den späteren Jahrhunderten der Antike differenziert.

Auf den Spuren des Schmerzes begegnen wir in der griechischen Mythologie einer einzigartigen Gestalt, die durch das Ringen mit einer unheilbaren schmerzlichen Verwundung eine bemerkenswerte Verwandlung des eigenen Wesens durchmacht. Es geht um den Zentauren Chiron.

Chirons Eltern sind der olympische Titan Kronos und die irdische Nymphe Philyra. Der Mythos führt uns ins liebliche Thessalien, wo Kronos gerade auf der Suche nach seinem neugeborenen Sohn Zeus ist. Kronos’ Frau Rhea hält das göttliche Kind vor dem Vater versteckt, da sie es nicht länger erträgt, dass Kronos stets ihre Sprösslinge verschlingt. Auf dieser Suche entdeckt Kronos die wunderschöne Nymphe Philyra, die sein Begehren erweckt. Doch Philyra flieht verängstigt vor dem aufdringlichen Titan, und um seiner leidenschaftlichen Verfolgung zu entkommen, verwandelt sie sich in eine Stute. Kronos jedoch verwandelt sich seinerseits in einen Hengst und erobert durch diese List die Angebetete.

Aus dieser Vereinigung gebiert Philyra ein Kind, den Zentauren Chiron, als Wesen halb göttlich und halb tierisch, leiblich halb Mensch und halb Pferd. Doch Philyra erschrickt fürchterlich, als sie das kleine, unförmige Geschöpf sieht. Voller Abscheu davor, es anzunehmen und zu stillen, bittet sie flehend die Götter darum, selbst in etwas anderes verwandelt zu werden, ganz gleich in welche Art von Kreatur. Da erhört der Himmel ihre Bitte und verwandelt sie in einen Lindenbaum. Auf diese Weise bleibt Chiron als Waise zurück.

Die Sage erzählt uns weiter, dass Apollo, der Gott des Lichts, der Weissagung und der Künste, das verlassene Kind findet. Er nimmt es in seine Obhut und wird ihm ein fürsorglicher Ziehvater. Er unterweist es in all seinen Künsten: Musik und Poesie, Prophetie und Heilkunst. So erlangt Chiron mit den Jahren im ganzen Land den Ruf eines weisen Arztes und Lehrers. Obwohl er körperlich den wilden und unbeherrschten Zentauren gleicht, ist er seinem Wesen nach ihnen allen überlegen. Er gilt als Freund der Götter und als der weiseste und gerechteste unter den Zentauren. Die Könige Griechenlands vertrauen ihm ihre Söhne an, damit er sie in den Künsten des Lebens und der Menschenführung unterweist. Er wird zum Lehrer zahlreicher berühmter griechischer Helden, so des Jason, Achilles und Herakles. Auch Asklepios, der Gott der Heilkunst und der berühmteste Arzt der griechischen Antike, wird von ihm in die Geheimnisse der Natur und der Heilkunst eingeführt.

Doch das Leben Chirons nimmt eine unerwartete, schicksalshafte Wendung. Bei einem Festmahl der Zentauren, die, anders als Chiron, nach dem Genuss von Wein zu Gewalttätigkeiten neigen, kommt es zu einem wilden Handgemenge. Herakles, der bei diesem Fest als Gast anwesend ist, greift ins Kampfszenarium ein und schießt einen vergifteten Pfeil. Versehentlich trifft dieser mit Hydrablut getränkte Giftpfeil ausgerechnet Chiron, der mitten unter den anderen Zentauren sitzt. Tief bestürzt von der unbeabsichtigten Verwundung, die er seinem früheren Lehrer zugefügt hat, zieht Herakles den Pfeil aus Chirons Knie wieder heraus. Mehr kann er jedoch nicht für ihn tun, das Gift ist tödlich. Die halb göttliche Abstammung Chirons verhindert zwar, dass dieser stirbt, doch die vergiftete Wunde ist nicht heilbar, und die Schmerzen bleiben für immer unerträglich.