Das Verbrechen kriecht beunruhigend nah an Flint und Cavalli heran: Ein Junge aus der Kita ihrer Tochter ist verschwunden. Während Flint die Eltern im Verdacht hat, muss Cavalli in einem anderen Fall hart gegen einen Kollegen vorgehen. Erstmals dürfen die beiden sich nicht austauschen, und schon bald steht Cavalli allein da.
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Petra Ivanov verbrachte ihre Kindheit in New York. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz absolvierte sie die Dolmetscherschule und arbeitete als Übersetzerin, Sprachlehrerin sowie Journalistin. Ihr Werk umfasst zahlreiche Kriminalromane, Jugendbücher und Kurzgeschichten.
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Stumme Schreie
Flint & Cavalli ermitteln hinter verschlossenen Türen
Kriminalroman
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Lektorat: Susanne Gretter
© by Petra Ivanov 2021
© by Unionsverlag, Zürich 2021
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Umschlag: Raggedstone (Alamy Stock Photo)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31092-6
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Für Annelene
»Manchmal träume ich davon, Konditorin zu sein.
Ich stelle mir vor, wie schön es wäre, den Menschen
wunderbar dekorierte Kuchen zu backen.
Ihnen mit meiner Arbeit Freude zu bereiten.«
Staatsanwältin in Zürich
Das Fenster steht offen. Davor sitzt ein kleines Mädchen und klopft mit einem Löffel gegen den Heizkörper. Seine Windeln sind schwer, durchtränkt mit Urin. Es lauscht dem metallenen Echo, die Stirn vor Konzentration gerunzelt. Unermüdlich holt es aus, schlägt zu, holt wieder aus, schlägt zu. Da entdeckt es unter dem Heizkörper eine Banane. Der Löffel fällt zu Boden, das Mädchen greift nach der Banane und schiebt sie sich in den Mund. Es verzieht das Gesicht. Die Schale schmeckt bitter.
Aus dem Treppenhaus dringt Gelächter. Schritte ertönen, eine Tür geht zu. Mit der Banane in der Hand geht das Mädchen im Zimmer umher. Es versucht, eine Puppe unter dem Bett hervorzuziehen, doch sie steckt fest. Frustriert reißt es am Bein. Die Banane rutscht ihm aus der Hand, das Mädchen tritt mit dem nackten Fuß darauf. Fruchtfleisch quillt aus einem Riss in der Schale. Das Mädchen geht in die Hocke und drückt die Finger in den Matsch.
Der Raum ist klein. Der Linoleumboden ist abgenutzt, die Wände sind fleckig. Es gibt ein Bett, einen Sitzsack, aus dem Füllung rieselt, und mehrere aufeinandergestapelte Kisten, die mit Kleidern gefüllt sind. Auf einem zerschlissenen Teppich liegen ein vollgekleckertes Lätzchen und eine leere Medikamentenpackung. Das Mädchen leckt sich die Finger ab. Die Spange, die sein Haar zurückhält, löst sich, und feine Strähnen fallen ihm ins Gesicht. Es trägt ein Pyjamateil mit rosaroten Herzen. Draußen fährt ein Krankenwagen vorbei. Sirenengeheul. Das Mädchen hebt ein leeres Fläschchen auf und saugt daran. Es beginnt zu weinen.
Die Frau, die auf dem Bett liegt, regt sich nicht. Ein dünner Speichelfaden rinnt ihr aus dem Mundwinkel. Ihr Haar ist dunkel vor Schweiß, ihre Wangen sind gerötet. Nackte Beine schauen unter der Decke hervor, ein Arm baumelt über den Rand der Matratze. Das Mädchen steigt hoch und schmiegt den Kopf an den der Mutter, schaukelt sanft hin und her. Die Frau holt kurz Luft, dann atmet sie weiter. Irgendwann richtet sich das Mädchen wieder auf. Es geht zu den Kisten und fängt an, sie auszuräumen. Eine fällt polternd herunter. Das Mädchen schiebt sie über den Boden, es kann kaum Schritt halten. Die Kiste prallt gegen den Heizkörper. Darüber bauscht sich der Vorhang im Wind. Das Mädchen hält inne, entzückt von dem Ballon, der entstanden ist. Es versucht, ihn zu berühren, doch der Ballon tanzt davon, als wolle er das Mädchen necken. Es streckt die Hand noch einmal aus. Der Wind dreht, und der Vorhang wölbt sich nach außen. In den Anblick versunken, klettert das Mädchen auf die Kiste. Der Vorhang schlägt ihm entgegen wie ein lebendiges Wesen. Plötzlich ist er weg, und die Sonne scheint dem Mädchen ins Gesicht. Geblendet wendet es den Blick ab. Auf der Straße bewegen sich Autos, Radfahrer, Menschen. Ein Bus fährt vorbei, hinter dem Stromabnehmer sprühen Funken. Eine Katze räkelt sich auf einem Container. »Miau«, sagt das Mädchen. Der Wind trägt den Laut davon. Die Katze wölbt den Rücken, springt vom Container. Mit erhobenem Schwanz streift sie der Hauswand entlang. Das Mädchen beugt sich vor, um sie besser sehen zu können. »Miau«, wiederholt es. Die Katze verschwindet um die Ecke. Das Mädchen lehnt sich aus dem Fenster und starrt dorthin, wo die Katze eben noch war. Die Haut unter der nassen Windel juckt und brennt. Das Mädchen windet sich, es hat Durst, die Mittagssonne ist warm. Ein Klebeband löst sich, und die Windel rutscht herunter. Kühle Luft auf der feuchten Haut. Befreit zieht das Mädchen das Bein hoch und steigt auf das Fensterbrett. Ein erneuter Windstoß erfasst den Vorhang, der Stoff wickelt sich um den Kopf des Mädchens. Es hebt den Arm, um ihn wegzuschieben, und verliert das Gleichgewicht.
Die Mutter schläft.
Polizei! Aufmachen!«
Im Haus bellte ein Hund, hoch und schrill. Der Einsatzleiter klingelte ein zweites Mal. Schritte erklangen, und die Tür ging auf. Vor ihnen stand eine Frau mit einem Chihuahua auf dem Arm. Sie trug dunkle Leggins, darüber eine Bluse mit Leopardenmuster und einen breiten Gürtel. Obschon erst sechs Uhr morgens, war sie sorgfältig geschminkt.
»Eva Kulova?«, fragte der Einsatzleiter.
»Ja?«
Er hielt ihr einen Durchsuchungsbefehl hin. Eva Kulova trat beiseite, ohne ihn sich genauer anzusehen. Ruhig strich sie über den Kopf des Hundes. Der Einsatzleiter betrat das Haus. Auf den weißen Steinplatten lag eine Hundeleine, an der Wand hing das Bild eines Clowns. Von der Diele gelangte man durch einen Rundbogen ins Wohnzimmer, in dem ein weißes Ledersofa und ein Glastisch mit Goldeinfassung standen. Es roch nach abgestandenem Rauch, Hund und Duftspray.
Die Polizisten teilten sich auf. Zwei gingen nach oben, zwei durchsuchten den Garten. Der Einsatzleiter blieb bei Eva Kulova. Er wunderte sich über ihre Gelassenheit, fast kam es ihm vor, als hätte die Frau sie erwartet.
»Die Zwinger sind leer«, hörte er einen der Kollegen draußen rufen.
Kurz darauf kamen die Polizisten zurück, die das Schlafzimmer und das Bad im oberen Stock durchsucht hatten.
»Nichts«, sagten sie.
In der Diele gab es eine Tür, die in den Keller führte. Der Einsatzleiter folgte den Polizisten nach unten, er rechnete mit Hundegebell, doch kein Laut war zu hören. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne, die nur spärlich Licht spendete. Die Polizisten leuchteten den Raum mit ihren Taschenlampen aus. Die Regale waren leer, der Boden wirkte frisch geputzt. Nur die dunklen Flecken auf dem Beton zeugten davon, dass vor nicht allzu langer Zeit Hundeboxen hier gestanden hatten.
Der Einsatzleiter starrte auf die Abdrücke. Eva Kulova musste von der geplanten Durchsuchung gewusst haben. Anders konnte er es sich nicht erklären, dass kein einziger Hund mehr hier war. Er nahm sein Telefon hervor und rief die Kollegin in Zürich an, wo die Wohnung von Kulovas Komplizen durchsucht wurde.
»Sie sind weg«, sagte er.
»Hier ist auch alles sauber«, berichtete die Kollegin am anderen Ende.
Der Einsatzleiter fluchte leise. »Jemand muss sie gewarnt haben.«
Monatelange Arbeit umsonst. Was mit einem Zufallstreffer an einem unbewachten Grenzübergang begonnen hatte, hatte sich bald zu einer kantonsübergreifenden Ermittlung wegen illegalen Hundeschmuggels ausgeweitet, in deren Fokus Eva Kulova stand. Die Slowakin besaß zwar eine Handelsbewilligung für fünfzig Tiere pro Jahr, darüber hinaus führte sie jedoch noch Hunde mit gefälschten Papieren ein, vermutlich aus der Ukraine, einem Land mit Tollwutrisiko.
Der Einsatzleiter ging nach oben. Im Arbeitszimmer durchsuchten die Polizisten Schreibtisch und Archiv. Die Ordner auf dem Regal waren sorgfältig beschriftet, die Papiere, die sie enthielten, nach Datum abgeheftet. Im laufenden Jahr hatte Eva Kulova achtundzwanzig Chihuahuas, fünfzehn französische Bulldoggen und sieben Zwergspitze verkauft. Exakt fünfzig Tiere. Alle erforderlichen Unterlagen waren vorhanden, jede Einreise war lückenlos dokumentiert. Nun wusste der Einsatzleiter, dass Kulova sie erwartet hatte.
Sie saß in der Küche vor einer Tasse Kaffee, den Chihuahua hielt sie immer noch in den Armen.
»Was haben Sie nun vor?«, fragte er.
Sie sah ihn verständnislos an. »Wie meinen Sie das?«
»Sie haben Ihr Kontingent bereits ausgeschöpft. Es ist aber erst September.«
Die Frau seufzte. »Meine Mutter ist krank. Ich reise übermorgen in die Slowakei, um ihr mit den Welpen zu helfen.«
Der Einsatzleiter lächelte verdrossen ob der offensichtlichen Lüge. »Die familieneigene Hundezucht, ja. Harte Arbeit für eine achtzigjährige Frau, die an Parkinson leidet.«
»Deshalb braucht sie meine Hilfe.«
Der Einsatzleiter ahnte, was Eva Kulova in ihrer Heimat vorhatte. Inserate unter einem anderen Namen schalten, neue Absatzkanäle erschließen, den Handel umstrukturieren. Er war kein Hundenarr, doch wenn er sich die Zustände vorstellte, unter denen die Welpen gehalten wurden, und die langen Reisewege in den engen Transportboxen, wurde er von Wut erfasst. Kopfschüttelnd drehte er sich um. So einfach käme sie nicht davon. Die erfolglose Hausdurchsuchung war zwar ein Rückschlag, doch der Staatsanwalt hatte genug gegen Kulova in der Hand, um die Untersuchung weiterzuführen. Bevor sie sich an die Arbeit machten, mussten sie wissen, wer die Frau gewarnt hatte. Ein zweites Mal würden sie sich nicht zum Narren halten lassen.
Bruno Cavalli stand in seinem neuen Büro und starrte an die Wand. Er versuchte zu begreifen, wie er hier hatte landen können. Vor acht Monaten war er noch Chef des Dienstes Leib/Leben gewesen. Er hatte ein Team von Ermittlern geführt, wichtige Fälle selbst geleitet und am Schweizerischen Polizei-Institut unterrichtet. Er gehörte mehreren Fachgremien an und fungierte als Ansprechperson für die Staatsanwaltschaft IV, die sich auf Gewaltdelikte spezialisiert hatte. I, korrigierte er sich in Gedanken. Die Behörde war umstrukturiert worden, die Staatsanwaltschaft IV hieß jetzt I. Noch eine Änderung, die er kaum mitbekommen hatte. War er tatsächlich nur sieben Monate weg gewesen? Seine Tochter scheute vor ihm zurück, seine Stelle war neu besetzt worden, und die neumodischen Elektro-Scooters hatten Zürich erobert.
Irgendwo klingelte ein Telefon, ungewohnt leise. Der Teppichboden dämpfte die Geräusche, die Mauern erschienen Cavalli dicker als im Kripogebäude. Vielleicht bildete er es sich nur ein, weil er wusste, wie viele Geheimnisse sie bargen. Verschwiegenheit gehörte zur Arbeit eines Polizisten, hier an der Lessingstraße aber hatte sie eine tiefere Bedeutung. In diesem Gebäude war der Dienst Besondere Ermittlungen/Amtsdelikte untergebracht.
Er hätte die Stelle nicht annehmen müssen, doch die Alternativen hatten ihn noch weniger gereizt. Wenigstens würde er seine Fähigkeiten als Ermittler einsetzen können, nun allerdings gegen die eigenen Kollegen. Cavalli rieb sich den Nacken. Ausgerechnet er, der es nie genau genommen hatte mit Vorschriften.
Es klopfte.
»Ja?« Cavalli bemühte sich gar nicht erst um einen freundlichen Tonfall.
Die stellvertretende Dienstchefin Diana Da Silva kam herein. Sie hatte ihn am Vormittag in die Arbeit einführen wollen, war dann aber kurzfristig verhindert gewesen. Nun griff sie nach der Akte auf seinem Schreibtisch. Die Finger, die auf dem Deckblatt ruhten, waren lang und schmal, die Nägel gepflegt.
»Es geht um eine Amtsgeheimnisverletzung«, sagte sie und zog einen Stuhl heran. »Der Ermittlungsauftrag kommt vom Staatsanwalt. Das Obergericht hat der Eröffnung schon stattgegeben.«
Cavalli schwieg.
Da Silva fuhr fort: »Der Beschuldigte arbeitet bei der Stadtpolizei. Eine Polizistin hat beobachtet, wie er mit einem Mann sprach, gegen den wegen Hundeschmuggels ermittelt wird. Kurz darauf …« Sie verstummte und beugte sich vor.
Die Art, wie sie sich bewegte, erinnerte Cavalli an Schilf, das sich im Wind wog. Er fragte sich, warum sie ihm noch nie aufgefallen war. Vermutlich, weil die internen Ermittler unter sich blieben. Sie waren nirgends willkommen, zu stark war das Unbehagen, das sie auslösten.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Ihre Augen blitzten verärgert. »Ich weiß, dass du nicht freiwillig hier bist. Aber wir haben einen Job zu erledigen. Wenn du nicht bereit bist, ihn seriös auszuführen, bist du am falschen Ort.«
Cavalli verschränkte die Arme. »Kurz darauf fanden parallel Hausdurchsuchungen in Zürich und im Thurgau statt, der Einsatzleiter vermutet, dass die Verdächtigen gewarnt wurden. Es hätten elf Hunde im Haus sein sollen, doch man hatte sie offensichtlich rechtzeitig weggebracht. Daraufhin hat der Kommandant der Stadtpolizei den Fall untersuchen lassen und Anzeige erstattet. Im Grundrapport wird ein Polizist der Regionalwache Aussersihl beschuldigt, Informationen weitergegeben zu haben. Möglicherweise liegt eine Amtsgeheimnisverletzung vor, vielleicht aber auch Amtsmissbrauch oder Begünstigung. Steht alles in den Unterlagen.«
Da Silva räusperte sich. »Ich würde zuerst – «
»Die Auskunftsperson einvernehmen«, unterbrach Cavalli. »Dann den Beschuldigten mit der Aussage konfrontieren. Ich habe beide schon vorgeladen.«
Da Silva stand auf. »Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, wo du mich findest.«
Eine Mischung aus Sanddorn und Schuhpolitur wehte an Cavalli vorbei. Er blickte nach unten. Glänzende Lederschuhe mit Absätzen. Ob ihre Zehen auch so schlank waren wie ihre Finger?
Sie verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich.
Cavalli sah auf die Uhr. Noch zweieinhalb Stunden bis Feierabend. Punkt halb fünf fuhr er seinen Computer herunter, zog seine Joggingsachen an und ging. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal auf die Minute genau achteinhalb Stunden gearbeitet hatte. Zwischen Arbeit und Privatleben hatte es nie eine Grenze gegeben.
Die Spezialabteilung der Sicherheitspolizei, der die Besonderen Ermittlungen/Amtsdelikte angehörten, war in einem Achtzigerjahrebau aus Betonfertigelementen mit vorgehängter Fassade untergebracht. Cavalli stand vor der Drehtür und starrte auf die Sihl, die unter der Autobahnbrücke dahinfloss. Die Betonpfeiler im Flussbett bedrückten ihn. Um nach Hause zu gelangen, hätte er eigentlich den Hügelzug überqueren müssen, der den Fluss vom See trennte, aber er lief ganz automatisch der Sihl entlang. Am Autobahnende stauten sich die Fahrzeuge, es roch nach Abgas und Abwasser. Die Sportanlage Sihlhölzli tauchte vor ihm auf, eine einsame, grüne Insel inmitten des Verkehrs. Dann war er am Kasernenareal angelangt. Seine Vergangenheit zog an ihm vorbei. Unter den Platanen parkten die Fahrzeuge der Kollegen, hinter einem Zaun, der mit Stacheldraht gesichert war, befand sich das provisorische Polizeigefängnis. Bald würde die Kantonspolizei in das neue Polizei- und Justizzentrum auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofs umziehen. Cavalli war immer davon ausgegangen, dass auch er irgendwann dort arbeiten würde. Nun fragte er sich, ob die internen Ermittler überhaupt mit umziehen würden. Hinter der räumlichen Distanz zu den Kollegen steckte Absicht, man wollte verhindern, dass sich herumsprach, wer vorgeladen wurde.
Er kam zum Kripogebäude. Zwei Wochen waren seit seiner Rückkehr vergangen, in dieser Zeit hatte er seine alten Kollegen weder angerufen noch besucht. Es hatte sich einfach nicht ergeben, er war vollends damit beschäftigt gewesen, sein Leben wieder aufzunehmen. Nicht alle würden sich freuen, ihn zu sehen. Er beschloss, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, und lief weiter.
Eine Stunde später schloss er die Tür zu seiner Wohnung auf. Die Tagesmutter begrüßte ihn zurückhaltend. Cavalli gefiel es nicht, dass Paz Rubin auf Lily aufpasste. Sie hatte ihre eigene Tochter auf tragische Weise verloren, Cavalli hielt sie für instabil und unberechenbar. Doch Regina hatte ihm klar zu verstehen gegeben, dass die Entscheidung bei ihr lag. Schließlich hatte er sie auch vor vollendete Tatsachen gestellt, als er beschlossen hatte, im Auftrag des FBI in die USA zu reisen, um einen Serienmörder aufzuspüren. Von einem Tag auf den anderen hatte sie sich allein um Lily kümmern müssen. Als Staatsanwältin rückte sie zu allen Tages- und Nachtzeiten aus. Eine Tagesmutter war die einzige Lösung gewesen. Paz war mit Tobias Fahrni verheiratet, einem Sachbearbeiter beim Leib/Leben, dem Regina vertraute.
»Lily ist auf der Terrasse«, sagte Paz in gebrochenem Deutsch.
Cavalli durchquerte das Wohnzimmer. Die Tür zur Terrasse stand weit offen, Lily saß auf einer Matte und zeichnete. Cavalli ging neben ihr in die Hocke.
»Was zeichnest du?«, fragte er in seiner Muttersprache Tsalagi.
Lily wich zurück.
Cavalli zeigte auf ein Strichmännchen mit langen, schwarzen Haaren. »Bin ich das?«
Lily schwieg.
»Das ist Chris«, erklärte Paz, die hinter ihn getreten war.
»Kiss?«, fragte Lily hoffnungsvoll und sah sich um.
Sein erwachsener Sohn war für Lily zur Vaterfigur geworden. Cavalli stand auf, kehrte in die Wohnung zurück und stellte sich im Bad unter die Dusche. Er fühlte sich seltsam leer. Als er noch beim Leib/Leben gearbeitet hatte, waren seine Gedanken unentwegt um die Gewaltdelikte gekreist, die er untersuchte. Ob ihn seine neuen Fälle irgendwann genauso beschäftigen würden? Er konnte es sich nicht vorstellen. Er drehte das kalte Wasser auf und blieb eine Weile reglos unter dem Strahl stehen. Danach rieb er sich mit einem Frotteetuch trocken, das nach Zitrusfrüchten roch. Regina hatte das Waschmittel gewechselt.
Paz hatte ihre Sachen bereits zusammengepackt und wartete neben der Tür auf Fahrni, der sie nach der Arbeit immer abholte. Lily war in ihrem Zimmer verschwunden. Cavalli hörte, wie sie leise vor sich hinsang. Er streifte in der Wohnung umher, schließlich rief er Chris an, erreichte jedoch nur den Anrufbeantworter. Er ging in die Küche. Regina würde sich über eine warme Mahlzeit freuen, wenn sie nach Hause kam. Er öffnete den Kühlschrank und entdeckte ein Reisgericht sowie eine Schüssel Salat. Paz hatte das Essen schon vorbereitet.
Ein Wagen fuhr vor.
»Häuptling!«, rief Fahrni, als Cavalli ihm die Tür öffnete.
Sein Gesicht war etwas runder geworden, stellte Cavalli fest, der Bauchansatz unter dem Hemd deutlicher.
»Du hast uns gefehlt.« Fahrni strahlte.
Cavalli machte sich nichts vor. Sein Team hatte ihn respektiert, mehr nicht. Nur Fahrni, der mit fast allen Kollegen klarkam, hatte in ihm mehr als einen Vorgesetzten gesehen.
»Du bist jetzt … an der Lessingstraße?« Fahrni sprach das Wort behutsam aus.
»Ja.«
Betroffen senkte Fahrni den Blick.
Lily kam auf Fahrni zugelaufen. »Tobi! Vamos a montar?«
Hatte sie eben Spanisch gesprochen? Eigentlich hätte Cavalli sich nicht wundern dürfen. Paz stammte aus Paraguay.
»Bald«, versprach Fahrni.
Als er ihren enttäuschten Blick sah, kniete er sich hin und ließ sie auf seinen Rücken steigen. Sie galoppierten durchs Wohnzimmer und hinaus auf die Terrasse. Lily kreischte vor Vergnügen. Nach einer weiteren Runde ging Fahrni in die Hocke, damit Lily von seinem Rücken rutschen konnte. Paz reichte ihr eine Haarbürste. Verblüfft beobachtete Cavalli, wie Lily Fahrnis kurzes, blondes Haar bürstete. Da begriff er. Sie striegelte das Pferd. Es war klar, dass sie das Spiel nicht zum ersten Mal spielten.
Als Paz und Fahrni kurz darauf davonfuhren, winkte Lily ihnen vom Fenster aus nach. Cavalli stand hinter ihr. Ein Zuschauer des eigenen Lebens.
Mein Sohn ist entführt worden, Herrgott noch mal!« Werner Ochsner schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Und ihr tut nichts, ihr verdammten Sesselfurzer. Steht ihr den ganzen Tag vor dem Kaffeeautomaten, oder was?«
Stefan Guth war seit vierzehn Jahren Polizist. In dieser Zeit hatte er Schlimmeres über sich ergehen lassen müssen als Beschimpfungen. Erst kürzlich hatte ihm eine Frau ins Gesicht gespuckt, weil er ihren Ausweis kontrollieren wollte. Einem Kollegen wurde von einem Hooligan mit einer Flasche eine Platzwunde am Kopf zugefügt. Richtig brenzlig war es vor einigen Jahren geworden, als Vermummte die Wache mit Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen beschossen hatten. Die Polizisten hatten sich mit Gummischrot gewehrt, trotzdem waren mehrere Kollegen verletzt worden. Den Menschen fehlte es an Respekt, vor anderen und auch vor sich selbst.
»Wie wir Ihnen bereits erklärt haben, tun wir alles, was in unserer Macht steht, um Elias zu finden. Der Staatsanwalt – «
»Der Staatsanwalt!«, schnaubte Ochsner verächtlich. »Noch so ein Idiot! Er glaubt mir ja nicht einmal, dass Elias entführt wurde. Wie oft muss ich es noch sagen? Laeticia ist mit ihm abgehauen. Sie kommt nicht mehr zurück!«
»Sie ist seine Mutter«, erklärte Guth. »In diesem Fall spricht man nicht von einer Entführung, sondern – «
»Es ist mir wurst, wie ihr das nennt. Ich will meinen Sohn zurück!«, polterte Ochsner.
Ein Kollege stand von seinem Schreibtisch auf und sah Guth fragend an. Guth schüttelte kaum merklich den Kopf. Werner Ochsner hatte in der Vergangenheit zwar schon Polizisten angegriffen, im Moment aber ging keine Gefahr von ihm aus, das spürte Guth. Er kannte den Mann von früheren Fällen.
Ochsner ballte die Fäuste. Sein schütteres Haar war nach hinten gekämmt, um die kahlen Stellen zu verbergen, die Haut am Hals schlaff. Rote Äderchen in seinem Gesicht zeugten von jahrelangem Alkoholkonsum. Was hatte Laeticia Ochsner bei seinem Anblick empfunden? Dass die junge Brasilianerin ihn nicht aus Liebe geheiratet hatte, war Guth klar. Mehrmals war er mit seinen Kollegen ausgerückt, weil sich das Paar geprügelt hatte. Laeticia Ochsner war genauso gewalttätig wie ihr Ehemann. Statt Fäusten setzte sie ihre Fingernägel ein, einmal hatte sie ihrem Mann Deodorant in die Augen gesprüht.
»Es gibt keine Hinweise darauf, dass Ihre Frau nach Brasilien gereist ist«, sagte Guth.
»Natürlich ist sie das! Sie hockt am Strand und säuft Caipirinhas. Wo soll sie sonst sein?«
»Der Internationale Sozialdienst ist eingeschaltet worden, sobald es Neuigkeiten gibt, wird sich der Staatsanwalt bei Ihnen melden.«
»Und was tun Sie?«
Guth war nicht für den Fall zuständig, doch Erklärungen waren zwecklos. Ochsner holte Luft und ließ eine neue Schimpftirade los. Seine Augen waren schmal, Speichel klebte ihm am Mundwinkel. Guth richtete den Blick auf seinen Laptop. Er hatte ein Foto als Hintergrundbild ausgewählt, das ihn bei der ersten Polizei-Schweizermeisterschaft im Unihockey zeigte. Im Finale hatte die Stadtpolizei Zürich die Kollegen vom Kanton besiegt. Wie stolz er gewesen war! Auf sich, auf sein Team, auf sein Korps. Das Foto vermittelte den Eindruck, als sei seine Welt damals noch in Ordnung gewesen, aber es gab schon erste Anzeichen für seinen Stimmungswandel, er hatte sie nur nicht wahrhaben wollen. Ursprünglich hatte Guth Mechaniker gelernt, in der Ausbildung hatten sie sich ausführlich mit Verschleißerscheinungen beschäftigt. Prallverschleiß, Stoßverschleiß, Wälzverschleiß, Erosion. Die Begriffe könnten aus einem Handbuch der Polizeiarbeit stammen.
»Hören Sie mir überhaupt zu?«, blaffte Ochsner.
Guth seufzte. »Ich rede noch einmal mit dem Staatsanwalt, vielleicht hat sich Ihre Frau inzwischen bei ihrer Familie gemeldet.«
»Das bringt doch – «
»Auf Wiedersehen, Herr Ochsner.«
Stefan Guth stand auf und drängte den Mann aus dem Raum. Zu seiner Überraschung ließ Ochsner es geschehen. Als er fort war, ging Guth in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Anzeichen von Kopfschmerzen machten sich bemerkbar. Er traf auf Nadia Tolusso, eine junge Kollegin, die erst kürzlich bei der Regionalwache Aussersihl begonnen hatte. Er dachte an Ochsners Vorwurf.
»Da trifft man sich also«, sagte er. »Beim Kaffeeautomaten.«
Sie senkte den Blick.
»So habe ich das nicht gemeint«, schob er rasch nach. »Ich musste mir vorhin nur anhören, dass wir den ganzen Tag vor dem Kaffeeautomaten verbringen.«
Tolusso murmelte etwas Unverständliches und ging. Perplex sah Guth ihr nach. Er hatte sich immer gut mit Tolusso verstanden, letzte Woche hatten sie nach Dienstschluss sogar zusammen ein Bier getrunken. Mit ihrem kecken Pferdeschwanz und dem durchtrainierten Körper war sie ein Hingucker, keine Frage, doch Guth hatte einfach nur nette Gesellschaft gesucht. Seit seine Frau mit den Kindern ausgezogen war, fühlte sich die Wohnung kalt und leer an. Er verbrachte die Freizeit lieber unter Leuten.
»Stefan?«, riss ihn der Wachtchef aus den Gedanken. »Hast du einen Moment Zeit?«
»Klar.« Guth sah ihn fragend an.
»Setzen wir uns lieber in mein Büro«, schlug der Wachtchef vor.
Guths Mund wurde trocken.
Staatsanwältin Regina Flint klappte die Akte zu, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag, und lehnte sich zurück. Die dringendsten Aufgaben waren erledigt, endlich konnte sie mit dem Inspektionsbericht beginnen. Dieses Jahr würde sie ihn nicht erst im letzten Moment verfassen, wie so häufig in der Vergangenheit. Sie nahm einen Teebeutel aus der Schublade und wollte gerade aufstehen, um heißes Wasser zu holen, als ihr Abteilungsleiter in der Tür erschien. Er schaute über ihren Schreibtisch. Er sah so aufgeräumt aus, dass Regina am liebsten schnell noch ein paar Akten ausgebreitet hätte, damit er nicht auf die Idee kam, ihr einen neuen Fall zuzuteilen.
»Ich habe da etwas für dich«, sagte er. »Vermutlich nur eine Entziehung, aber schau dir die Sache mal an.«
»Eine Entziehung? Das ist doch kein Fall für uns.«
»Der regionale Staatsanwalt ist der Meinung, dass mehr dahintersteckt, als es auf den ersten Blick den Anschein macht. Er hat versucht, Mutter und Kind ausfindig zu machen, doch sie sind weder bei der Familie in Brasilien noch bei Freunden in der Schweiz. Er hat ein ungutes Gefühl.«
»Weshalb?«
»Steht alles da drin.« Er tippte auf die Akte.
Widerwillig griff Regina danach.
»Da wäre noch etwas. Ich brauche dich für eine Einvernahme in einem Fall von sexueller Nötigung. Das Opfer möchte von einer Frau befragt werden.«
»Dazu ist die Assistenzstaatsanwältin da.«
»Hast du es noch nicht gehört? Sie hat sich das Handgelenk gebrochen.« Er verließ den Raum.
Verärgert ließ Regina den Teebeutel in die Schublade zurückfallen. Sie war im Laufe des Jahres schon mehrmals für ihre männlichen Kollegen eingesprungen, ohne dass man ihr im Gegenzug Arbeit abgenommen hatte. Sie fischte ein paar Kekse aus einer angebrochenen Packung. So viel zu ihrem Vorsatz, nicht aus Frust zu essen. Sie schlug die Akte auf.
Werner und Laeticia Ochsner waren seit fünf Jahren verheiratet, der gemeinsame Sohn Elias hatte im vergangenen Februar seinen dritten Geburtstag gefeiert. Genau wie Lily, schoss es Regina durch den Kopf. Einen Moment lang verweilte sie mit ihren Gedanken bei ihrer Tochter, dann las sie weiter. Vor drei Wochen waren Mutter und Sohn spurlos verschwunden. Gegenüber der Polizei hatte Werner Ochsner ausgesagt, dass er nach einem Kneipenbesuch nach Hause gekommen war und die Wohnung leer vorgefunden hatte. In der Vergangenheit war es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten gekommen, sie waren bekannt für ihren übermäßigen Alkoholkonsum und ihre mangelnde Selbstbeherrschung. Leidtragender war Elias. In der Kindertagesstätte fiel er auf, weil er kaum mit anderen spielte und regelmäßig Wutausbrüche hatte.
Regina betrachtete ein Foto des Jungen, das den Akten beigelegt worden war. Mit seinen dunkelbraunen Augen und dem runden Kopf glich er einem Teddybären. Mitleid stieg in ihr auf. Streitende Eltern waren für jedes Kind eine Belastung. Kam Gewalt hinzu, hinterließen die Konflikte tiefe Verletzungen. Kein Wunder, zeigte Elias Verhaltensauffälligkeiten. Waren die Eltern überhaupt in der Lage, sich um ihn zu kümmern? Offenbar war sie nicht die Einzige, die sich diese Frage stellte, denn in den Akten stand, dass vor einigen Monaten die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb eingeschaltet worden war. Diese hatte einen Kindeswohl-Abklärungsauftrag ausgelöst, der sich noch in Bearbeitung befand.
Der regionale Staatsanwalt hatte sowohl mit einer Mitarbeiterin der Kesb als auch mit der zuständigen Sozialarbeiterin gesprochen. Regina blätterte weiter und las, dass er sogar mit dem Internationalen Sozialdienst Kontakt aufgenommen hatte. Seine Gründlichkeit beeindruckte sie, ihr war jedoch immer noch nicht klar, warum er glaubte, die Staatsanwaltschaft I, die sich mit schwerer Gewaltkriminalität befasste, sei für den Fall zuständig.
In einer Aktennotiz stand, dass Laeticia Ochsner ein eigenes Nagelstudio besaß. Laut Unterlagen lief es so gut, dass sie ihrer Mutter jeden Monat tausendfünfhundert Franken überweisen konnte. Dem Staatsanwalt war es seltsam vorgekommen, dass sie weder die anstehenden Termine abgesagt noch Vorkehrungen für ihre Abwesenheit getroffen hatte. Außerdem hatte sie seit ihrem Verschwinden kein Geld von ihrem Konto abgehoben und nicht ein einziges Mal ihre Kreditkarte benutzt.
Regina versuchte, sich in die Frau hineinzuversetzen. Laeticia war eine Zweckehe eingegangen, vermutlich, damit sie in der Schweiz arbeiten durfte. Sie hatte ein Geschäft gegründet, das es ihr erlaubte, regelmäßig Geld nach Hause zu schicken. Das zeugte von der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und Risiken einzugehen. Eigenschaften, die es ihr auch ermöglichten, spurlos zu verschwinden. Oder hatte Werner Ochsner sie getötet, um eine hässliche Scheidung zu vermeiden? Elias versteckt, damit der Verdacht nicht auf ihn fiel?
Regina schaute aus dem Fenster. Ein voll besetzter Bus hielt vor dem Kanzleiareal, die Sonne war hinter den Häusern verschwunden. Überrascht stellte sie fest, dass es schon nach sechs war. Kopiermaschine und Drucker waren verstummt, ein Telefon klingelte lange. Seit Cavalli wieder da war, kümmerte er sich abends um Lily. Regina genoss es, sich in die Arbeit vertiefen zu können, ohne andauernd auf die Uhr schauen zu müssen. Sie nahm sich vor, die letzten Seiten der Akte kurz zu überfliegen und dann für heute Schluss zu machen. Sie war fast durch, als sie auf eine Aussage der Sozialarbeiterin stieß, die sie aufhorchen ließ.
Um die Tochter in Brasilien hat sie sich auch nicht gekümmert, sie wurde hauptsächlich von den Großeltern betreut.
Es gab noch ein Kind. Sprach das für oder gegen die Vermutung des Staatsanwalts, dass Mutter und Sohn etwas zugestoßen war? Die Frage beschäftigte sie auf dem Heimweg.
Als sie die Wohnungstür aufschloss, stürzte sich Lily auf sie. Regina ließ ihre Tasche fallen und fing ihre Tochter auf. Lily war klein für ihr Alter, sie wog kaum mehr als eine Zweijährige. Unter dem Stoff ihres Kleidchens spürte Regina die zarten Glieder. Sie schob ihr eine feine, schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, betrachtete die blauen Augen und dachte an Elias. Er hatte den hellen Teint und das sandfarbene Haar vom Vater, die dunklen Augen von der Mutter geerbt. Bei Lily war es genau umgekehrt. Die schwarzen Haare hatte sie Cavalli zu verdanken, der von Cherokee-Indianern abstammte, die Augen waren so blau wie ihre eigenen. Regina blickte auf. Wo war Cavalli?
Sie fand ihn auf der Terrasse. Er blätterte die Washington Post durch, auf dem Tisch stand ein unangetasteter Teller mit Apfelschnitzen. Bei seinem Anblick krampfte sich Reginas Herz zusammen. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass er unversehrt zurückgekehrt war. Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen. Seine Lippen waren weich und warm, seine Haut rau von den Monaten, die er in der freien Natur verbracht hatte. Er zog Regina näher an sich heran. Sie spürte die Muskeln in seinem Nacken, die Rundungen seiner breiten Schultern.
Lily zupfte an ihrem Ärmel. Widerwillig richtete sich Regina auf, hob Lily hoch und setzte sich zu Cavalli an den Tisch.
»Wie war dein Tag?«, fragte sie.
»In Ordnung.«
»Spannende Fälle?« Sie stellte die Frage beiläufig, es gelang ihr jedoch nicht, ihre Sorge zu verbergen.
Er schaute sie an. »Ich habe gewusst, was mich erwartete, als ich diese Stelle antrat. Nach der Aufregung der letzten Monate genieße ich den geregelten Alltag. Ganz abgesehen davon, dass ich mehr Zeit für euch habe.«
Die offensichtliche Lüge berührte sie. Er versuchte, das Beste aus einer unmöglichen Situation zu machen. Wie lange würde es ihm gelingen? Der Dienst Besondere Ermittlungen/Amtsdelikte wurde nicht umsonst Heldenfriedhof genannt.
»Und du? Bist du endlich dazu gekommen, den Inspektionsbericht zu schreiben?«, fragte er.
Sie erzählte ihm von den Ochsners. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie damit das Amtsgeheimnis verletzte. Früher hatten sie alle Fälle zusammen besprochen. Aber da hatte Cavalli noch beim Leib/Leben gearbeitet. Es waren auch seine Fälle gewesen.
»Warum glaubt die Regionale, dass der Frau und dem Kind etwas zugestoßen sein könnte?« Sein Blick ruhte auf ihr, intensiv und konzentriert.
Regina wich aus. »Es ist nur so ein Gefühl.«
»Gibt es Anzeichen für ein Gewaltdelikt?«, bohrte er.
»Eigentlich nicht.«
»Aber du machst dir Gedanken darüber?«
»Im Moment mache ich mir mehr Gedanken über das Essen«, sagte sie. »Hast du auch Hunger?«
Sie lächelte, wie um ihre Worte abzuschwächen, doch der Schaden war angerichtet. Genauso gut hätte sie ihn ohrfeigen können. Ein unergründlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht. Er rückte mit dem Stuhl kaum merklich von ihr ab und lehnte sich zurück.
»Cava, ich – «
»Paz hat etwas vorbereitet«, sagte er.
Lily richtete sich auf. »Pissa?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Einen Auflauf.« Cavalli berührte ihre Wange. »Möchtest du lieber Pizza? Wir könnten zusammen eine machen.«
Lily schüttelte vehement den Kopf.
Auf einmal erschien Regina das Familienglück viel zu fragil, um den Kräften, die auf sie einwirkten, standhalten zu können. Sie sah drei Glasfiguren vor sich, jede auf ihre eigene Art und Weise zerbrechlich. Ihre Bedürfnisse hätten nicht unterschiedlicher sein können. Während Regina sich nach Geborgenheit und Stabilität sehnte, brauchte Cavalli Abwechslung und Abenteuer. Je brenzliger die Situation, desto lebendiger fühlte er sich. Ein Dach über dem Kopf empfand er als einengend, für Regina war ihr Zuhause der Ort, an dem sie Kraft schöpfte. Trotzdem hatten sie es geschafft, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Nicht, weil ihre Liebe so stark war, dass sie allen Widrigkeiten trotzte. Auch die stärkste Liebe zerbrach, wenn der gemeinsame Boden fehlte. Das, was sie verband, war die Leidenschaft für ihren Beruf. Verband oder verbunden hatte? Ein kalter Schauer lief Regina über den Rücken.
Resolut stand sie auf. »Wir backen zusammen eine Pizza.«