Die resolute Ursula hat kurzerhand einen vermasselten Raubüberfall übernommen und sich die gesamte Beute unter den Nagel gerissen. Nur sind ihr jetzt die eigentlichen Verbrecher auf den Fersen. Aber Ursula ist in kriminalistischen Dingen verflucht begabt, und mit ein wenig Glauben an die Dummheit der anderen wird sie das Ding doch wohl schaukeln?
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Mercedes Rosende, geboren 1958 in Montevideo, Uruguay, studierte Recht und Integrationspolitik. Für ihre Romane und Erzählungen wurde sie mit dem LiBeraturpreis, dem Premio Municipal de Narrativa, dem uruguayischen Nationalliteraturpreis und dem Código Negro ausgezeichnet. Sie lebt in Montevideo.
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Peter Kultzen (*1962) studierte Romanistik und Germanistik in München, Salamanca, Madrid und Berlin. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer spanisch- und portugiesischsprachiger Literatur in Berlin.
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Der Ursula-Effekt
Kriminalroman
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Die Montevideo-Romane (3)
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 2019 bei Editorial Planeta, Montevideo.
Lektorat: Anne-Catherine Eigner
Originaltitel: Qué ganas de no verte nunca más
© by Mercedes Rosende 2019
Die deutsche Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit der Ampi Margini Literary Agency
© by Unionsverlag, Zürich 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Unter Verwendung eines Motivs von GeorgePeters (iStockphoto)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31101-5
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Meine Wut soll wachsen und wachsen, dafür sorge ich,
als würde ich einen Bonsai versorgen, der eingeht,
wenn man sich auch nur einen Tag
nicht um ihn kümmert.
Mein kleiner Hassbaum,
meine blutlose Guillotine,
der Altar
für den schlechten Menschen, der in uns allen steckt.
Kein Lüftchen regt sich,
Flimmern im lauernden Auge um Auge,
entstellter Körper der Rachsucht,
Rabe auf dem Ast der Friedhofszypresse,
in Erwartung
des grausam glücklichen Augenblicks,
in dem wir uns nichts mehr schulden.
JOSÉ EMILIO PACHECO, Der Wutbaum
Ursula zögert nicht, sie versetzt Luz einen Stoß, und beide dringen in den Tunnel ein, dessen Schlund sich hinter ihnen schließt. Zurück bleiben die hell erleuchteten Läden, die bunten Kleider, die Fernseher – die Welt der Menschen. Bleiben die Hintergrundmusik und das Stimmengewirr. Nur die Angst kommt mit. Aufgelöst in Ursulas Schweiß, durchtränkt sie ihre Kleidung, klebt an ihrem Körper, schnürt ihr die Kehle ab. Eine seltsame Angst, Schwindel mischt sich hinein, Erregung, unbekannte Lust.
Der Tunnel hat sein Maul hinter ihnen geschlossen, und die beiden versinken in umfassender Dunkelheit ohne jeden Bezugspunkt. In der undurchdringlichen Finsternis ist keinerlei Geräusch zu hören. Schwer vorzustellen, wenn man aus einer Welt voller Reize und blinkender Lichter kommt.
Auf den ersten Metern hat Luz noch ein wenig geweint, Tränen sind ihr übers Gesicht gelaufen, aber damit ist es vorbei. Ursula hat den Revolver in die rosafarbene Handtasche gesteckt, die unter ihrem Arm klemmt. Sie riecht die Erde, den Humus, die feuchten Wurzeln, sie riecht den Staub und die Minerale, das Eisen, die Kieselsäure.
Draußen ist Winter, ein herrlicher Tag, die strahlende Sonne scheint wunderbar warm, wiegt alle in dem trügerischen Glauben, der Frühling sei da, wenigstens bis vier Uhr nachmittags.
Die beiden sprechen kaum ein Wort, sie brauchen all ihre Kraft, um voranzukommen. Sie wissen, bis zum Ausgang sind es knapp fünfzig Meter.
Falls sie es bis zum Ausgang schaffen.
Falls die Erde sie nicht vorher verschlingt.
Schon komisch, dass Papa mir gegenüber in seinem Sessel sitzt, ein Glas von seinem Lieblingswhisky in der Hand, und obendrein in dem Anzug, in dem wir ihn beerdigt haben. Draußen gewährt die Wintersonne den Bewohnern Montevideos eine kleine Erholungspause, und die Mütter sind sofort auf die Straße raus, mit der einen Hand den Kinderwagen vor sich herschiebend, an der anderen Hand das schon größere Kind hinter sich herzerrend. Die Welt lebt auf, zeigt ihr schöneres Gesicht. Und ich sitze hier drinnen, in meine Wohnung eingeschlossen, und unterhalte mich mit einem Toten.
Wie konnte es so weit kommen? Ganz einfach, eines Tages habe ich gehört, dass sich der Schlüssel im Schloss dreht, und da war er. Die Beerdigung war nicht mal eine Woche her, ach was, keine drei Tage.
Ich weiß, gleich wird er aufstehen und noch einen Eiswürfel in sein Glas fallen lassen, um den Whisky zu strecken. Ich wende den Blick ab, ich will ihn nicht sehen, lieber die Sonne, die im Fluss versinkt und dabei die schönsten Rottöne hervorzaubert.
Er wird mich anschauen, sich räuspern, damit ich ihm meine Aufmerksamkeit zuwende, und schon jetzt spüre ich, dass ich nicht die Kraft habe, mir sein Gemäkel an meinem Verhalten anzuhören. Was für ein Verhalten? Völlig egal, er hat an allem etwas auszusetzen.
Ich kann machen, was ich will, ich kann mich noch so sehr anstrengen, um ihn zufriedenzustellen, Papa findet immer etwas, das er mir vorhalten, auf das er mich mit der Nase stoßen kann. Ob ich einen Preis für meine Übersetzung von Camus’ Die Pest bekommen oder mir die Beute aus einem Überfall auf einen Geldtransporter unter den Nagel gerissen habe – für ihn habe ich so oder so versagt.
Bloß nicht überrumpeln lassen, darum: Angriff ist die beste Verteidigung!
»Nur dass du es weißt, Papa, heute Morgen habe ich mir die Kohle von dem Überfall auf den Geldtransporter geschnappt. Ich bin hin, hab das Kommando übernommen, und zuletzt bin ich mit einem Auto mit der gesamten Beute drin abgehauen.«
Er wird sich wieder in seinem Sessel niederlassen und mich lange schweigend ansehen. Dann wird er den Blick auf die goldbraune Flüssigkeit in seinem Glas richten und leise die Eiswürfel klimpern lassen. Und dann wird er seufzend die Lider runterklappen.
Ich recke das Kinn und sehe ihn herausfordernd an, wie früher, als Teenager. Schildere ihm Einzelheiten, die er schockierend finden wird, ich weiß.
»Ich hatte meine .38er dabei, den Roto habe ich damit niedergeknallt, dann hab ich Germán in den Wagen gehievt und bin mit der ganzen Kohle abgehauen. Wie findest du das?«
Er wird mich nicht ansehen, wird versuchen, meinem Blick auszuweichen. Ich beschreibe weiter die grausigsten Details, bis mir irgendwann schlecht wird und ich Kopfschmerzen bekomme. So weinen Menschen wie ich, Menschen, die nicht weinen können. Dann wähle ich eine andere Taktik, senke die Stimme, versuche, seine Gefühle, sein Mitleid auszunutzen.
»Ich möchte nicht mehr so leben, Papa, ich möchte eine andere Frau sein.«
Er wird das Glas abstellen, bevor er aufsteht und an den Glasschrank mit den japanischen Figürchen tritt. Ich höre das bekannte Geräusch, das leise Schaben der Sohlen auf dem Boden, sehe das schwarz glänzende Leder.
Seit er tot ist, hat er wieder diesen jugendlich federnden Gang. Er wird vor dem Glasschrank stehen bleiben, Stück für Stück die dreihundertzweiundzwanzig japanischen Figuren aus Elfenbein, Porzellan, Steingut, Holz durchsehen, jede einzelne Prinzessin, Opernsängerin oder Gesellschaftsdame, alle Kaiser, Krieger und Mönche, alle Hunde und Kaninchen in die Hand nehmen. Und sagen, dass sie nicht gut gepflegt werden, dass sie nicht richtig sauber sind, dass er an vielen Stellen Staub entdeckt und dass ich öfter das Ledertuch und die Staubtücher, die er in der Schublade aufbewahrt, benutzen …
Ich falle ihm ins Wort: »Ich weiß, wo die Putzsachen sind, und ich wende sie genau so an, wie du es mir beigebracht hast.«
Er wird lächelnd den Kopf schütteln und damit zum Ausdruck bringen, dass ich unfähig bin, dass ich die Sachen nicht hinbekomme, dass ich seines Erbes nicht würdig bin.
»Nein, Papa, das stimmt nicht, die Figuren sind gut gepflegt. Ich säubere sie jeden Sonntag, mit Pinseln, Wattestäbchen, lauwarmem Seifenwasser und Natron. Fang jetzt bloß nicht an, rumzumäkeln, ich hör dir sowieso nicht zu. Hier in der Wohnung ist alles wie immer. Wenn ich nach Hause komme, die Tür aufmache und einatme, habe ich jedes Mal das Gefühl, ich sauge die ganze Vergangenheit mit ein, alles, was du mir hinterlassen hast, du und unsere anderen Toten.«
In meiner Wohnung seufzt es in den dunklen Ecken, der Parkettboden knarrt, und über die Marmorplatten streicht kalter Wind. Ich gehe hin und her und höre Stimmen, alte Echos, die sich zwischen den Wänden verfangen haben.
Er wird zu seinem Sessel und seinem Glas Whisky zurückkehren. Wenig später wird er sein goldenes Feuerzeug hervorholen und vielleicht seine Pfeife damit anzünden. Papa war sehr erfolgreich und erwartete das auch von mir, ich sollte seinem Ideal entsprechen, eine schlanke intelligente Frau an der Seite eines Mannes, der so war wie er, weltgewandt und kultiviert. Aber ich war nie schlank, und ich hatte auch nie einen Mann an meiner Seite, der Papas Vorstellungen entsprach.
Kleine Splitter von Montevideo dringen nachts durch die Fenster ins dunkle Wohnzimmer. Ich sehe Papa an und weiß, dass er gleich mit dem nächsten Vorwurf kommen wird.
»Nein, Papa, sag jetzt nicht wieder, ich würde die Hand beißen, die mich füttert. Unpassender kann man es gar nicht ausdrücken – die Hand, die mich füttert. Als ob du mich jemals gefüttert hättest! Als Kind hast du mich bestraft, indem du mich ohne Essen eingesperrt hast. Damit ich so schlank wie Luz und wie Mama werde. Von wegen gefüttert!«
Wieder könnte ich vor Wut und Hass platzen, wenn ich an die Vergangenheit denke. Nur zu, mir solls recht sein, gerne mehr davon. Die Wut hilft mir, das Leben zu ertragen. In wildem Durcheinander steigen die Bilder und Erinnerungen in mir auf, ganz wie es ihre Art ist, auf irgendwelche zeitlichen Ordnungen nehmen sie keine Rücksicht, sie walzen einfach über uns hinweg. Ich gieße Öl ins Feuer, rufe mir all die Vorwürfe ins Gedächtnis, die er mir gemacht, die Strafen, die er mir auferlegt hat, den Hunger und die Dunkelheit, die ich in meinem Zimmer durchmachen musste. Der Hass soll bloß nicht aufhören, sonst kehrt am Ende noch der Schmerz zurück, den ich nicht ertragen kann, das weiß ich genau. Lieber sollen tausend rasende Wespen in meinem Kopf umherschwirren.
Ja, im Lauf des Lebens ist unsere gegenseitige Verachtung immer größer geworden, und wir beide sind uns immer ähnlicher geworden. Jetzt, wo er tot ist und ich ihn in dieses Pantheon verbannt habe, hinter den Schutzwall aus Blumen, den meine Schwester immer wieder neu für ihn errichtet, sind wir beinahe ein und dieselbe Person.
Gleich wird er für einen Augenblick erstarren, zu meinem Schrecken auf jede Bewegung verzichten, nur sein Blick wird sich heben und auf mich richten. Dann wird sein Mund sich langsam zu einem Lächeln verziehen.
»Nein, Papa, Germán ist nicht mit meinem Geld abgehauen. Lass ihm ein bisschen Zeit, die Sache ist ja noch ganz frisch, er wird sich bei mir melden, du wirst schon sehen, er meldet sich. Er ist ein Feigling, das stimmt, aber er ist trotzdem ein guter Mensch, einer, der Wort hält. Für ihn ist das alles bestimmt ganz schön kompliziert, so viel Geld auf einmal verstecken und gleichzeitig mit den eigenen Ängsten zurechtkommen, das ist kein Kinderspiel. Aber früher oder später ruft er an, und dann gibt er mir meinen Teil von der Kohle. Da bin ich ganz ruhig. Du wirst schon sehen, Papa, früher oder später wird genau das passieren.«
Er wird mich weiter giftig anlächeln, reglos und ohne ein Wort zu sagen, bis er irgendwann das Glas an den Mund führen und gedankenverloren einen tiefen Schluck von seinem Whisky nehmen wird. Dabei wird er sich den nächsten aggressiven und verletzenden Satz zurechtlegen. Ich weiß, was er sagen wird.
»Nein, auf dieses Vermögen werde ich nicht verzichten. Kapiert? Das neue Leben, das mich erwartet, werde ich mir nicht entgehen lassen. Ich bin auf unrechtmäßige Weise an die Kohle gelangt? Kann schon sein, aber geraubt habe ich sie nicht. Ich hab sie nur dem Räuber geraubt und mich davongemacht. Und weißt du was? Es ist mir egal, es ist mir so was von egal, was du dazu sagst.«
Er wird mich misstrauisch ansehen und die nächste Attacke vorbereiten. Er wird den Mund öffnen, um etwas zu sagen, aber ich werde schneller sein.
»Worüber willst du sprechen, Papa? Egal. Ich will so oder so nicht mehr mit dir sprechen. Geh in dein Grab zurück, lass die Maden weiter ihre Arbeit erledigen, und bleib in deinem schwarzen Loch, und zwar für immer.«
Er wird den Kopf schütteln, den Blick senken, so tun, als leide er.
»Ja, Papa, stimmt, früher habe ich dir zugehört. Und früher hatte ich Angst vor dir, auch wenn es nicht so aussah, auch wenn du geglaubt hast, dass ich dich reizen will, aber diese Rebellenpose war nur eine Maske für meine Angst, so benimmt sich ein verletztes Tier, bevor es zum Gegenangriff übergeht.«
Ich sehe ihn an, er ist immer noch da, groß und schlank, jung und voller Tatkraft, obwohl er tot ist, sein stählerner Blick blitzt auf, der schwarze Glanz seiner Schuhe blendet mich. Wieder wird er sein goldenes Feuerzeug hervorholen, damit spielen, es auf- und zuklappen lassen, die Flamme wird aufleuchten und erlöschen, immer schneller. Sein Blick wird finster werden. Sein Blick, bei dem ich jedes Mal zu zittern anfing.
»Ich habe so unter der Angst gelitten, lieber Papa. Unter der Angst vor dir. Aber damit ist es vorbei, der Tod hat dich gezähmt. Jetzt bist du bloß noch ein Leichnam unter vielen, auf dem Friedhof, und deine andere Tochter, Luz, stellt dir an deinem Geburtstag Blumen aufs Grab.«
Ja, Luz hat es gut, sie braucht bloß ein paar Blumen in eine Vase zu stecken, und schon ist sie mit ihrem Gewissen im Reinen. Ich dagegen habe kein Gewissen, weder ein gutes noch ein schlechtes, und ich habe mit den Toten auch keine Rechnungen mehr zu begleichen, wir sind quitt, meine Schulden habe ich alle bezahlt, und für ihre Schulden bei mir habe ich sie bezahlen lassen.
Modert schön vor euch hin in der Hölle, meine geliebten Toten, für immer und ewig!
Da sitzt er immer noch, gleich kommt der nächste Vorwurf aus seinem Mund, und das Feuer in meinen Eingeweiden lodert wieder auf, das Hämmern in meinem Kopf beginnt von Neuem. Auch wenn das Ganze bloß eine Sekunde dauert, zeigt es, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt, von wegen! Der Schmerz ist immer da, für alle Zeit. Warum erben die Kinder diese bittere Last und schleppen sie mit sich herum, was haben sie damit zu tun?
Die Dunkelheit stört mich nicht, nur das Licht des Tages, denn der ist manchmal wie eine langsame Reise ans Ende der Nacht. Im Dunkeln gehe ich in der Wohnung herum, hier ändert sich nie etwas, hier finde ich mich blind zurecht. Ich gehe zu Papa, streiche zärtlich über den Bezug seines Sessels, seines leeren Sessels mit dem bordeauxroten Bezug, über die Stelle, wo sein Kopf eine Vertiefung hinterlassen hat, in dem Bezug, den ich nie erneuert habe, den ich nie erneuern wollte. Die Liebe ist ein ungeschliffener roher Diamant. Und obwohl er jetzt tot ist, müsste ich ihm sagen, wie sehr ich ihn vermisse.
Er wird in der Dunkelheit verschwinden. Ich sehe ihm hinterher, und wie immer sage ich nichts, kein Wort. Manchmal aber brechen die Dämme, und ich fange an zu weinen, weine die ganze Nacht, bis es draußen hell wird.
Der Mann erwacht in seinem Bett, klappt die Augen auf wie eine Bauchrednerpuppe. Alle Glieder tun ihm weh, die bleichen Wangen sind eingesunken, er wagt es nicht, sich umzusehen. Draußen ist noch finstere Nacht. Er dreht sich hin und her, liegt irgendwann auf dem Rücken, seine Augen sehen aus wie die Zwei Münzen im Tarot.
Ihm kommt ein bedrückender Gedanke, der ihn nicht mehr loslässt: Gestern war der schlimmste Tag seines Lebens. Schon viel zu lange ist jeder Tag der schlimmste Tag seines Lebens.
Er richtet sich auf, fasst sich an den Kopf, spürt ein klebriges Etwas zwischen den Augen. Wo hat er die Schmerztabletten hingelegt? Von draußen dringen gedämpft die Geräusche der noch schlafenden Stadt herein, der Schmerz verstärkt sie zu lautem Dröhnen.
In den letzten Stunden, der Nicht-Zeit der Morgenfrühe, ist er immer wieder aufgewacht, hat die Augen aufgeschlagen und gehofft, dass es hell wird, so schnell wie möglich, um wieder einzuschlafen und wenig später aus dem nächsten Albtraum hochzuschrecken.
Sein nächster Gedanke, als er bereits ein wenig wacher ist, gilt dem Geld von dem Überfall. Er erinnert sich, dass er die ganze Kohle im Auto gelassen hat, was einen Schwall Fragen auslöst, die er sich gestern lieber nicht gestellt hat. Ob immer noch überall in der Stadt Polizisten unterwegs sind, die nach der Beute suchen? Was soll er mit den sieben Geldsäcken machen? Wo soll er sie verstecken? Wie soll er sie von der Rückbank des Autos an einen sicheren Ort schaffen?
Die Bilder des Raubüberfalls steigen wieder in ihm auf, er kann nichts dagegen machen: eine Straße mit lauter grauen Häusern in einem Außenbezirk von Montevideo, ein Viertel mit niedrigen, teilweise unverputzten Gebäuden. Der weiße Toyota und der Nissan stehen bereit, in Erwartung des großen Augenblicks. Die Stimmung ist angespannt, gleich muss der Transporter um die Ecke kommen, die Nervosität steigt, die Gesichtszüge verhärten sich. Ricardo el Roto hat das Kommando, er beschimpft ihn, schreit ihn an, droht ihm, warum, weiß Germán nicht mehr. Stumm senkt er den Kopf. Er hat Angst.
Da ist auf einmal das Geräusch eines sehr starken Motors zu hören, das zwischen den stillen Häusern anschwillt. Germán und Ricardo sehen sich an und drehen dann so synchron den Kopf in dieselbe Richtung, dass es wirkt, als folgten sie einer anmutigen Choreografie.
Ricardo lässt ein Grunzen vernehmen, es hört sich an, als säße er, den Mund voll Watte und chirurgischer Instrumente, auf einem Zahnarztstuhl und versuchte, eine Frage zu beantworten. Germán versteht zunächst kein Wort, bis Ricardo losbrüllt: »Der Transporter, verdammte Kacke, die kommen ja viel zu früh!«
Was danach kommt, sind bloße Erinnerungsfetzen – Roto rennt, Schüsse fallen, es gibt eine Explosion, der Geldtransporter steht in Flammen. Ein Schrei, noch mehr Schreie, unbestimmte Geräusche, Gemurmel, lauter werdendes Stöhnen. Stimmen im Inneren des Geldtransporters. Daran erinnert er sich noch genau: Ricardo, in der einen Hand die Calico, in der anderen die .38er, geht zur Fahrerkabine, steckt den Revolver in den Hosenbund und ballert mit der Maschinenpistole drauflos. Eine Salve, dann noch eine und noch eine. Mit seltsam dumpfem Geräusch durchschlagen die Kugeln die Tür, als träfen sie auf eine Daunendecke. Bereits die erste Salve hat genügt, um das Metall zu zerfetzen, den Fahrer zu zerlegen und das Gesicht des Beifahrers in Brei zu verwandeln.
Er weiß, dass es danach eine zweite Explosion gab, und dass er und Roto das Geld in den weißen Toyota geladen haben. Vom Rest des Massakers hat er nur noch wirre Bilder in Erinnerung, die sich vermischen.
Jetzt springt seine Erinnerung zu dem Moment, in dem Roto vor ihm steht und auf ihn anlegt, ihn beschimpft, kurz davor ist, abzudrücken, ihn kaltblütig hinzurichten. Er hat Angst, in Wellen steigt die Übelkeit in ihm auf, im Mund spürt er einen metallischen Geschmack. Er bemüht sich, nicht ohnmächtig zu werden, vielleicht wird er trotzdem für einen Augenblick ohnmächtig, als er die Augen wieder aufschlägt, sieht er jedenfalls, dass Roto nicht mehr mit dem Revolver auf ihn zielt. Taumelnd weicht Roto zurück. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er erstaunt auf einen Punkt hinter Germán. Und stürzt zu Boden.
Wie bei einer Sonnenfinsternis verdunkelt sich auf einmal der Himmel. Germán dreht sich in die Richtung, in die Ricardo starrte, und erblickt Ursula. Sie hat einen Revolver in der Hand. Jetzt steckt sie ihn in ihre Handtasche, holt eine kleine Wasserflasche hervor und trinkt daraus. Anschließend sagt sie: »Germán, stehen Sie da nicht so rum. Schnell, wir müssen hier weg.«
»Ricardo …«
»Der ist tot, bestimmt, oder bestimmt ganz bald. Er wollte Sie erschießen, Germán, haben Sie das nicht gemerkt? Er war ein Verräter, ein Verräter und Mörder. Ich hab ihn ein bisschen gekannt, und ich sage Ihnen, er war ein schlechter Mensch.«
»Tot, sagen Sie?«
»Mausetot, würde ich sagen.«
»Und Sie haben ihn gekannt?«
»Nur ein bisschen, eigentlich so gut wie gar nicht. Er war der Freund der Hausangestellten meiner Tante Irene.«
Dann wird sie ihm in den Wagen helfen, in dem schon die Geldsäcke liegen. Sie wird sich ans Steuer setzen, und gemeinsam werden sie den Schauplatz verlassen und entkommen.
Später werden sie die Säcke an einem weit entfernten Ort in Ursulas Auto umladen, einen VW Golf mit getönten Scheiben, und sich trennen. Um ihre Spuren zu verwischen, wird Ursula den weißen Toyota irgendwo in der Stadt stehen lassen, während Germán mit ihrem Auto und dem Geld weiterfährt. Sie werden einen Treffpunkt ausmachen.
An dem er nicht erscheinen wird.
Er weiß noch, dass er stundenlang starr vor Angst herumgefahren ist. Dabei hat er eine Panikattacke nach der anderen durchlitten, kaum Luft bekommen und bei der Vorstellung gezittert, die Polizei könne ihn erwischen und wieder ins Gefängnis stecken. Als er es schließlich nicht mehr aushielt, hat er das Auto samt Ladung einfach abgestellt, nur wenige Hundert Meter von seiner Wohnung entfernt, wo er soeben aufgewacht ist.
So weit die Ereignisse des gestrigen Tages.
Er betrachtet die grünen Ziffern auf dem Display des Weckers, es ist 05.01 Uhr. Er spürt ein Kribbeln am ganzen Leib, gleichzeitig schließt sich eine Klammer immer fester um seinen Kopf.
Von der Straße sind quietschende Reifen zu hören, splitterndes Glas, empörte Schreie eines Betrunkenen.
Er muss aufstehen und etwas unternehmen. Er muss das Geld holen. Oh Gott, bloß nicht, sagt er sich bei der Vorstellung, die Geldsäcke könnten nicht mehr im Auto sein, wo sie nur von einer Plane verdeckt werden, und das schon seit … Seit wann eigentlich?
Als er gestern trotz unzähliger Beruhigungstabletten irgendwann nicht mehr weiterfahren konnte und außerdem der Benzintank fast leer war, schaffte er es, vor Angst wie gelähmt, nur noch, zu parken, das Auto abzuschließen und, so schnell er konnte, in seine Wohnung zu gehen, wo er sich ins Bett legte und zehn Stunden wie ein Toter schlief.
Überlegen konnte er in diesem Zustand nicht mehr, sein Kopf war erfüllt von einem ohrenbetäubenden dumpfen Brummen. Hat er das Auto tatsächlich abgeschlossen? Und hat er die Alarmanlage eingeschaltet? Verzweifelt macht er sich klar, dass inzwischen zehn Stunden vergangen sind, mindestens! In dieser Zeit kann alles Mögliche passiert sein.
Und wer einem Räuber etwas raubt, der seinerseits einen Räuber beraubt hat, kann zweifellos mit größter Nachsicht rechnen.
Nein, lieber gar nicht daran denken. Eine Art Nebel macht sich in seinem Hirn breit, die Gedanken lösen sich auf – das Geld ist noch da, das Geld ist weg, nein, das Geld ist noch da, nein, das Geld ist doch weg … Zum Verrücktwerden. Zum zweiten Mal sieht er auf die Uhr, legt sich dann erneut auf den Rücken, zieht die Decke bis übers Kinn, um sie gleich darauf abzustreifen. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn.
Wieder quälen ihn die Fragen von vorhin: Wie soll er die sieben Geldsäcke aus dem Auto holen, ohne aufzufallen? Wie soll er sie allein transportieren? Und wohin? Was wäre ein sicherer Aufbewahrungsort? Vor allem aber – wie soll er der versammelten Polizei Uruguays entkommen?
Schwindel befällt ihn. Ein unermesslicher Abgrund tut sich auf. Die Panik wächst. Wo hat er die Tabletten hingetan? Mutlos, sich seiner Schwäche bewusst, würde er am liebsten losheulen. Ein wütendes Bellen ganz in der Nähe lässt ihn erschrocken hochfahren.
Diese Wohnung ist nicht sicher, sagt er sich, die Polizei weiß, dass er hier lebt. Und der Anwalt, der den Überfall organisiert hat, dieser Antinucci, weiß es auch, und es wird nicht lange dauern, bis er ihn aufsuchen wird, um aus ihm herauszuquetschen, wo sich das Geld befindet. Wieso hat er nicht früher daran gedacht?
Er muss aufstehen und verschwinden, das Geld an einen anderen Ort bringen, noch bevor es hell wird. Falls die Zeit dafür überhaupt reicht. Er versucht, sein Gehirn in Gang zu setzen, sich zu konzentrieren.
Er springt aus dem Bett, bleibt dann jedoch wie angewurzelt stehen und sieht sich im Zimmer um. Schließlich zwingt er seinen Körper, sich in Bewegung zu setzen, gibt den Beinen den entsprechenden Befehl. Er geht los, stützt sich mit der einen Hand an der Wand ab, mit der anderen hält er sich die Stirn. So wandert er durch die Wohnung. Er muss sich etwas einfallen lassen.
Wo sind die Autoschlüssel? Immer noch von der Wirkung der Tabletten benommen, tappt er von einem Zimmer ins andere. Die Schlüssel liegen im Bad, auf dem Kleiderhaufen, den er letzte Nacht dort auf dem Boden hinterlassen hat.
Jetzt sucht er die Schmerzmittel, wirft eine Tablette in ein Glas Wasser, leert es auf einen Zug. Dann steigt er in die Dusche.
Das Wasser spült den Schweiß und den Staub weg, lindert den Kopfschmerz.
Als er das Auto abstellte, hat er sich keine Gedanken über Kriminelle, eingeschlagene Fenster oder aufgebrochene Schlösser gemacht. Auch die Obdachlosen, die nur wenige Schritte von dort hausen, wo er parkte, kamen ihm nicht in den Sinn, ebenso wenig die Cracksüchtigen, die in dieser Gegend verzweifelt auf der Suche nach Stoff umherirren. Eine himmlische Heerschar, die hier mitten im Winter unter freiem Himmel oder in Hauseingängen übernachtet.
Er war ausschließlich mit der Frage beschäftigt, wie er der Polizei entkommen solle, den Straßensperren, den Hubschraubern am Himmel. Stimmt nicht, an Ursula hat er auch gedacht, daran, dass er nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen war. Dass er sie in ihrer Garage hatte warten lassen. Jetzt denkt er wieder an sie, an diese seltsame Frau mit dem eigenwilligen Humor, der von einem Augenblick zum anderen in Wut umschlagen kann. Am liebsten würde er sich sofort zu ihr auf den Weg machen.
Er fängt an zu zittern, das heiße Wasser aus der Dusche kommt ihm eiskalt vor. Er versucht, sich vorzustellen, ein köstlicher Sommerregen gehe auf ihn nieder, das hat er oft erlebt und jedes Mal sehr genossen, eine Zeit lang hilft das, also schließt er die Augen und lässt das warme Regenwasser an sich hinablaufen.
Schließlich steigt er aus der Dusche, rasiert sich den Zweitagebart, betrachtet seine Augenringe, die schlaffen Lider und die ebenso schlaffe Haut am Kinn, das immer lichter werdende Haar oberhalb der Stirn. Seit seiner Rückkehr aus Spanien vor wenigen Monaten scheint er um zehn Jahre gealtert. Er überlegt, ob er Kaffee und Milch im Haus hat, ob er gestern, bevor er zu dem Überfall aufbrach, ein bisschen Brot und Butter übrig gelassen hat.
Er muss unbedingt einen Ort finden, wo er das Geld verstecken kann. Er sieht zum Fenster hinaus. Derselbe düster graue Himmel wie seit Tagen, dieselben nass glänzenden Straßen, das Artigas-Denkmal, der Platz, den gerade die letzten Leute überqueren, die nach dieser Nacht nach Hause zurückkehren, und die ersten, die an diesem Tag zur Arbeit gehen.
Da fällt ihm etwas ein, er denkt eine Weile nach, klappt dann den Laptop auf und schaltet ihn an.
Ja, das ist eine gute Idee, geradezu eine Offenbarung, was da in seinem Hirn aufleuchtet und seinem Blick neuen Glanz verleiht. Er sucht nach einer Webseite, geht verschiedene Möglichkeiten durch, er muss sich schnell entscheiden, bevor ihn jemand aufspürt. Er muss hier raus. Als er das Erhoffte gefunden hat, klickt er es an und überweist anschließend eine bestimmte Geldsumme. Eine gleich darauf eintreffende E-Mail bestätigt ihm den erfolgreichen Abschluss der Transaktion, und er verspürt große Erleichterung, ja, geradezu ein Gefühl des Triumphs. Jetzt aber los, er zieht sich an, macht sich fertig zum Rausgehen.