Cover

Paul Collier

Gefährliche Wahl

WIE DEMOKRATISIERUNG
IN DEN ÄRMSTEN LÄNDERN
DER ERDE GELINGEN KANN

Aus dem Englischen von
Klaus-Dieter Schmidt

Siedler

Die englische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »Wars, Guns, and Votes. Democracy in Dangerous Places« bei The Bodley Head, London und HarperCollins, New York.


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Copyright © Paul Collier 2009

All rights reserved

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009

by Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-28505-0
V001

www.siedler-verlag.de

Für John Githongo und seinen Kampf

Inhalt

VORWORT
Demokratie an gefährlichen Orten

TEIL I
Die Realität verleugnen
Demokratie im Delirium

KAPITEL 1
Wahlen und Gewalt

KAPITEL 2
Ethnopolitik

KAPITEL 3
Friedenssicherung und Wiederaufbau

TEIL II
Die Realität akzeptieren
Schmutzig, brutal und lang

KAPITEL 4
Waffen – Öl ins Feuer

KAPITEL 5
Kriege – Die Politökonomie der Zerstörung

KAPITEL 6
Putsche – Eine unkontrollierbare Waffe

KAPITEL 7
Kernschmelze an der Elfenbeinküste

TEIL III
Die Realität verändern
Verantwortlichkeit und Sicherheit

KAPITEL 8
Staatenbildung und Nationenbildung

KAPITEL 9
Lieber sterben als sich helfen lassen?

KAPITEL 10
Über die Veränderung der Realität

Dank

Anhang

Die unterste Milliarde

Bibliographie

Register

VORWORT

Demokratie an gefährlichen Orten

MÖGLICHERWEISE WIRD MEIN SOHN DANIEL, der jetzt sieben Jahre alt ist, das Ende aller Kriege erleben. Aber er könnte auch auf dem Schlachtfeld sterben. Warum beide Szenarien für Kinder von heute eine realistische Aussicht darstellen, ist Thema dieses Buchs. Wie Krankheiten begleiten Kriege die Menschheit seit ihrer Entstehung. Krankheiten werden heute besiegt: Dank des wissenschaftlichen Fortschritts und staatlicher Programme wurden die Pocken 1977 ausgerottet. Was den Krieg angeht, sieht es so aus, als wäre die Weltwirtschaft zum ersten Mal in der Geschichte in der Lage, die für den Weltfrieden nötigen materiellen Voraussetzungen zu schaffen. Aber der globale Wohlstand erhöht auch die Risiken: Eine vernetzte Welt ist anfälliger für die Reste chaotischer Gewalt. So wie bei der Ausrottung der Pocken wissenschaftliche Erkenntnisse von der Öffentlichkeit umgesetzt wurden, muss der wachsende Wohlstand genutzt werden, um der ganzen Welt Frieden zu bringen.

Das vorliegende Buch handelt von Macht. Warum Macht? Weil in den kleinen, armen Ländern am unteren Ende der Weltwirtschaft, in denen eine Milliarde Menschen leben, Gewalt der bevorzugte Weg zur Macht ist. Politische Gewalt ist sowohl ein Fluch an sich als auch ein Hindernis für ein verantwortungsvolles und rechtmäßiges Regieren. Denn wo Macht auf Gewalt beruht, zieht sie die arrogante Annahme nach sich, eine Regierung habe zu herrschen und nicht zu dienen. Zum Beweis genügt ein Blick auf die offiziellen Porträts politischer Führer. In gefestigten Demokratien lächeln sie bei dem Versuch, ihren Herren, den Wählern, zu gefallen. In den Gesellschaften der untersten Milliarde lächeln die Regierenden nicht: Ihre offiziellen Porträts starren mit einer drohenden Grimasse von jedem öffentlichen Gebäude und jeder Schulzimmerwand. Nach dem Abzug der Kolonialmächte sind sie nun die Herren ihres Landes. Dieses Buch wird der Frage nachgehen, warum politische Gewalt in den Ländern der untersten Milliarde so verbreitet ist und was getan werden kann, um sie einzudämmen.

Seit dem Ende des Kalten Krieges sind zwei außergewöhnliche Veränderungen eingetreten, die dazu führen könnten, dass wir uns endgültig von der politischen Gewalt abwenden. Beide Veränderungen haben ihren Ursprung im Untergang der Sowjetunion. Zum einen darf heute ein immer größerer Teil der untersten Milliarde wählen. Die Bilder der Volksaufstände in Osteuropa verstärkten in den Entwicklungsländern den Wunsch nach politischen Veränderungen. In Westafrika konstituierten sich Anfang der 1990er Jahre überall Nationalversammlungen. 1998 überwand Nigeria, der bevölkerungsreichste Staat Afrikas, die Militärdiktatur. So wie an der Wende des ersten Jahrtausends die Führer der europäischen Kleinstaaten plötzlich allesamt zum Christentum übertraten, konvertierten an der zweiten Jahrtausendwende die Führer der Kleinstaaten der untersten Milliarde zum Glauben an Wahlen. Vor dem Ende des Kalten Krieges waren die meisten Führer der untersten Milliarde durch Gewalt an die Macht gekommen – durch einen erfolgreichen bewaffneten Kampf oder einen Staatsstreich. Heute sind die meisten Staatsoberhäupter aufgrund eines Wahlsiegs an der Macht. Wahlen sind die institutionelle Technologie der Demokratie. Sie besitzen das Potential, Regierungen sowohl verantwortungsvoller als auch legitimer zu machen. Wahlen sollten der politischen Gewalt den Todesstoß versetzen.

Die zweite ermutigende Veränderung ist die Verbreitung des Friedens. In den dreißig Jahren vor dem Ende des Kalten Krieges brachen gewalttätige Konflikte schneller aus, als sie beendet wurden, so dass nach und nach immer mehr Bürgerkriege tobten. Hatten diese Konflikte einmal begonnen, erwiesen sie sich als äußerst langlebig. Bürgerkriege dauerten in der Regel zehnmal länger als zwischenstaatliche Kriege. Doch dann endeten diese grausamen, sich hinziehenden Bürgerkriege einer nach dem anderen. Im Südsudan und in Burundi wurden Friedensabkommen ausgehandelt, in Sierra Leone schlichteten internationale Friedenstruppen den Konflikt. Nach dem Ende des Kalten Krieges konnte sich die internationale Gemeinschaft endlich dafür stark machen, die ständigen gewaltsamen Machtkämpfe zu beenden.

Eine Welle von Friedensabkommen verstärkte die Welle der Wahlen und schien eine schöne neue Welt zu versprechen: ein Ende des gewaltsamen Machtstrebens. Aber woher sollen wir wissen, wie sich diese Veränderungen langfristig auswirken werden? Können wir mehr tun, als spekulieren? Ich glaube, ja. Obwohl das Zusammentreffen dieser tiefgreifenden Veränderungen beispiellos ist, können sie anhand von Erfahrungen aus der Vergangenheit analysiert werden, denn es gab in der untersten Milliarde bereits Wahlkämpfe und Postkonfliktsituationen. Im Folgenden werden diese historischen Erfahrungen genutzt, um die gegenwärtig stattfindende Geschichte zu analysieren. Beim Lesen dieses Buchs werden Sie vielleicht verwundert feststellen, wie schnell sich die Forschungsfront vorwärts bewegt. Ich habe dieses Gefühl jeden Morgen, wenn ich mich auf dem Weg zur Arbeit frage, ob Pedro, Anke, Dominic, Lisa, Benedict oder Marguerite das Problem, auf das wir am Vorabend gestoßen waren, vielleicht schon gelöst haben. Ich hoffe, auch Sie werden einen Eindruck davon bekommen.

Politische Gewalt ist eine Form des Machtkampfs. Heute betrachten wir sie jedoch als unzulässig: Macht soll kein Recht setzen. In den Gesellschaften mit hohem Einkommen hat man im Lauf des vergangenen Jahrhunderts die Prinzipien der Demokratie verinnerlicht und sie in zunehmendem Maß als universale Maßstäbe anerkannt. Der Weg an die Macht sollte durch Stimmzettel und nicht durch Schüsse erkämpft werden. Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die einkommensstarken Demokratien sogar noch einen Schritt weiter gegangen: Statt die Prinzipien der Demokratie nur als allgemein gültig anzusehen, werden sie nun aktiv gefördert und verbreitet. Trotz des Streits über den Irak und der Frage, ob die aktive Förderung der Demokratie bis zur Erzwingung eines Regimewechsels gehen darf oder ob man es bei gewaltloser Ermutigung und Anreizen belassen sollte, stimmt die internationale Gemeinschaft in Bezug auf das Ziel überein. Und sie hat beachtliche Erfolge vorzuweisen: In der kurzen Zeitspanne von weniger als zwei Jahrzehnten hat sich die Demokratie in der gesamten einkommensschwachen Welt verbreitet. Aber welche Folgen hat dies für den Frieden?

Die gute Nachricht lautet, dass die Welt sicherer geworden ist. Tatsächlich ist das ein Prozess, der trotz der Katastrophen der Weltkriege schon seit Beginn der Menschheitsgeschichte voranschreitet, wenn auch mit einigen Rückschlägen. Im Gegensatz zum Bild des edlen Wilden waren die frühen Gesellschaften mörderisch. Einen friedlichen Garten Eden, aus dem wir vertrieben wurden, hat es nie gegeben: Der Frieden ist nach und nach geschaffen worden, Jahrtausend um Jahrtausend, Jahrhundert um Jahrhundert und Jahrzehnt um Jahrzehnt. Der Wunsch, vor politischer Gewalt geschützt zu sein, war stets ein grundlegendes Bedürfnis der menschlichen Gemeinschaft. Die großen archäologischen Hinterlassenschaften des Altertums, wie die Chinesische Mauer und das von den alten Jüten quer über Jütland zur Abwehr anderer germanischer Stämme errichtete massive Bollwerk, sind beeindruckende Beweise für die überragende Bedeutung, die eine Gemeinschaft ihrer Verteidigung beimaß. Dies gilt bis in die jüngste Zeit, immerhin wendete die reichste Gesellschaft der Welt, die der Vereinigten Staaten, vierzig Jahre lang bis zu neun Prozent ihres Nationaleinkommens auf, um sich gegen die von der Sowjetunion ausgehende Bedrohung zu verteidigen.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist eine Ära zu Ende gegangen. Auch wenn es anders wirkt: Das letzte Jahrzehnt ist recht friedlich gewesen. Gemessen wird das in einer gruseligen wissenschaftlichen Nische anhand der Todesfälle im Zusammenhang mit Kampfhandlungen (»battle-related deaths«). Die Datenbank »Armed Conflict Dataset« führt Buch sowohl über die wirklich großen Konflikte, diejenigen, die mindestens tausend solcher Todesfälle pro Jahr verursachen, als auch über die kleineren, in denen immerhin noch mehr als fünfundzwanzig Menschen zu Tode kommen. Aufgrund dieser Daten kommt man zu folgenden Ergebnissen: In der Periode des Spätkolonialismus – von 1946 bis 1959 – gab es in jedem Jahr rund vier große Krieg und elf kleinere Konflikte. Zwischen der Entkolonialisierung und dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1991 fand eine gnadenlose Eskalation statt. 1991 waren sage und schreibe 17 Kriege und 35 kleinere Konflikte im Gang. Wäre die Gewalt weiterhin in diesem Tempo eskaliert, wäre unser Leben heute ein Alptraum. Stattdessen erwies sich das Jahr 1991 als Wendepunkt. Die Welt ist heute nicht so friedlich wie zur Zeit des Spätkolonialismus, aber es wird nur noch in fünf großen Kriegen und 27 kleineren Konflikten gekämpft. Diese Trendwende hängt scheinbar mit dem Sieg der Demokratie zusammen: Wo die Menschen eine (Wähler-)Stimme haben, greifen sie nicht zum Gewehr.

Ich bin mittlerweile zu der Überzeugung gelangt, dass dieser beruhigende Glaube eine Illusion ist. Unsere Betrachtung der politischen Gewalt beruht auf einer Verleugnung der Realität. Dies führt unter anderem dazu, dass es eine schöne neue Welt von Wahlkämpfen in ethnisch gespaltenen Gesellschaften gibt, von denen einige erst kürzlich einen jahrelangen Bürgerkrieg überstanden haben. Seit 1991 ist es immer mehr in Mode gekommen, sich mit Wahlen als sichtbarem Zeichen von Demokratie zu schmücken. Präsidenten, die nicht gewählt worden waren, begannen wie Auslaufmodelle auszusehen und sich vermutlich auch so zu fühlen. Aber es war mehr als eine Mode: Viele Geldgeber wandten sich von nicht gewählten Regierungen ab. Deshalb fasste sich so mancher amtierende Präsident ein Herz und stellte sich zur Wahl, wobei sich einige in dem sicheren Gefühl wähnten, dass sie vom Volk geliebt würden. Manchmal jedoch entschieden sich die Wähler anders als erwartet.

Angesichts solcher Undankbarkeit lernten die Präsidenten mit der Zeit, sich den neuen Umständen anzupassen. Ein oder zwei Staatschefs kamen allerdings bei dem Versuch zu Fall. Der Erste war der anständige Autokrat Kenneth Kaunda in Sambia, der sich 1991 zur Wahl stellte und mit Pauken und Trompeten verlor. Während ich dies schreibe, sind die aktuellsten Wahlen in einem Land der untersten Milliarde diejenigen in Kenia im Dezember 2007, und in Kürze wird in Simbabwe gewählt werden. In den Jahren nach Kaundas Abwahl lernten die amtierenden Präsidenten, wie man eine Wahl gewinnt. In der kenianischen Wahl gewann der amtierende Präsident Kibaki, was im Land jedoch nicht als Triumph der Demokratie gefeiert wurde. Koki Muli, der Chef des kenianischen Instituts für Erziehung zur Demokratie, hat Kibakis Wahlsieg vielmehr als Staatsstreich bezeichnet.* Was die Wahl in Simbabwe angeht, sind Sie mir gegenüber im Vorteil, da Sie das Ergebnis kennen. Ich habe keine Ahnung, wer die Wahl in den Vereinigten Staaten im November 2008 gewinnen wird, aber vom Ausgang des simbabwischen Urnengangs habe ich eine recht genaue Vorstellung: Ich bin mir sehr sicher, dass Präsident Mugabe wiedergewählt wird. Die Präsidenten haben ein ganzes Arsenal von Techniken entdeckt, die es ihnen ermöglichen, an der Macht zu bleiben, auch wenn sie zur Durchführung von Wahlen genötigt sind. Diese Wahlen finden in einem Umfeld statt, das geprägt ist von schwachen demokratischen Kontrollen, ethnischen Spaltungen und den nach Konflikten üblichen Spannungen.

Der große Erfolg der internationalen Gemeinschaft nach dem Ende des Kalten Krieges, die Beendigung der Bürgerkriege der postkolonialen Ära, ist zugleich eine beunruhigende Schwachstelle. Die Zeit nach einem Konflikt ist immer gefährlich. In der Vergangenheit ist in solchen Fällen oft innerhalb eines Jahrzehnts die Gewalt erneut ausgebrochen. Seit den 1990er Jahren verlässt sich die internationale Gemeinschaft in zunehmendem Maß auf Wahlen als Heilmittel für Spannungen und Hassgefühle in Nachkriegszeiten. Tatsächlich besteht sie sogar auf ihrer Durchführung. Immerhin wird eine Wahl dem Sieger Legitimität verleihen, und aufgrund der Notwendigkeit, möglichst viele Wähler für sich zu gewinnen, wird sich der Sieger wahrscheinlich an breite Bevölkerungsschichten gewendet haben. Diese beruhigende Strategie beruhte allerdings auf der Verleugnung einer immer offensichtlicher werdenden Tatsache.

Wenn man sich mit dem Problem der politischen Gewalt beschäftigt, muss man begreifen, warum kleine und arme Länder so gefährlich sind. Will man sich der Realität der politischen Gewalt stellen, muss man ihre Mechanismen kennen: Waffen, Kriege und Putsche. Ich weiß, dass Schusswaffen keine Menschen töten; Menschen töten Menschen. Eine Regierung kann ohne den Einsatz von Gewehren ein sehr wirkungsvolles Pogrom durchführen. Bei dem Gemetzel in Ruanda wurden Macheten benutzt. Aber in einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen organisierten Gruppen gewinnt in der Regel diejenige, die über mehr Schusswaffen verfügt: Mit ihnen lässt sich wesentlich leichter Gewalt ausüben. Deshalb werde ich mit den Gewehren beginnen, mit dem absurden Bild, das beide Seiten, Angebot wie Nachfrage, bieten. Einerseits sorgt ein Schwarzhandel mit Kalaschnikows für das Angebot, andererseits verstärken Rüstungswettläufe im Kleinformat die Nachfrage.

Noch gibt es Kriege auf der Welt, aber sie finden heute »anderswo« statt. Reiche Länder kämpfen nicht mehr gegeneinander und zerfleischen sich nicht mehr selbst. Auch bei den Ländern mit mittlerem Einkommen sind Kriege praktisch verschwunden. Sogar die großen armen Länder sind heute relativ sicher: China und Indien besitzen zwar große Armeen, aber sie haben sie seit über vierzig Jahren nicht mehr gegeneinander eingesetzt. Es mag der Welt nicht gelingen, die Verbreitung von Atomwaffen einzugrenzen; im Lauf der Zeit verspüren immer mehr Mittelmächte den Wunsch, auf der Weltbühne mitzuspielen, indem sie Nuklearwaffen erwerben. Aber in den vergangenen sechzig Jahren ist ein Erstschlag mit Atomwaffen zu einem regelrechten Tabu geworden, das, soweit ich sehen kann, kein Staat brechen wird.

Seit zwischen den mächtigsten Staaten Frieden eingekehrt ist, hat sich das Ausmaß der Kriegführung verringert. Heute kommt es allenfalls zu kleinen Kriegen in kleinen Ländern. Für gewöhnlich ist die Gewalt nach innen gerichtet: Das jeweilige Land zerfleischt sich selbst, während die übrige Welt zuschaut. Gelegentlich werden andere Staaten hineingezogen, meistens Nachbarn und manchmal Regionalmächte. Gelegentlich intervenieren ausländische Mächte – um ein Chaos im Land zu verhindern wie in der Demokratischen Republik Kongo, Invasoren zu vertreiben wie im ersten Irakkrieg oder einen Regimewechsel zu erzwingen wie im zweiten Irakkrieg. Anlass zur Sorge gibt die Tatsache, dass eine große Gruppe kleiner Länder strukturell gefährlich bleibt. Kriege der untersten Milliarde sind schmutzig, brutal und lang. Es sind Bürgerkriege, deren Opfer überwiegend Zivilisten sind und die zehnmal länger dauern als internationale Kriege. Die Häufigkeit von Bürgerkriegen hat zwar abgenommen, aber nur aufgrund von Friedensabkommen; die Ursachen für neue Konflikte sind weiterhin vorhanden. Neben den nicht beigelegten Konflikten brachen 2004 vier neue Kriege aus. Im folgenden Jahr sah es mit nur einem neuen Krieg etwas besser aus. Doch es war alles andere als ein friedliches Jahr, denn es begannen acht neue kleine Konflikte. 2006 wurde es mit drei neuen Kriegen wieder ungemütlicher.

Politische Gewalt muss nicht in der Form von Kriegen (mit den dazugehörigen »Todesfällen im Zusammenhang mit Kampfhandlungen«) ausgeübt werden, um ihr Ziel, die Machtergreifung, zu erreichen. Tatsächlich ist die verbreitetste und effektivste Form politischer Gewalt, das gleichsam chirurgische Mittel des Staatsstreichs, oft erfolgreich, ohne einen einzigen Todesfall zu verursachen. Das Militär, dessen Aufgabe der Schutz der Bevölkerung vor organisierter Gewalt ist, befindet sich manchmal in der bequemen Lage, sie selbst auszuüben. Seit 1945 haben weltweit rund 357 erfolgreiche Militärputsche stattgefunden. Und auf jeden erfolgreichen Putsch kamen mehrere gescheiterte. In Afrika, für das eine umfassende Zählung vorliegt, gab es neben 82 erfolgreichen 109 gescheiterte Staatsstreiche sowie 145 geplante, die bereits im Keim erstickt wurden. Das sind rund sieben chirurgische Eingriffe pro Land. In vielen Staaten ist es für einen Präsidenten wahrscheinlicher, sein Amt durch das Militär zu verlieren, als auf irgendeine andere Art abzutreten.

Waffen, Kriege und Putsche prägen das Leben der Menschen in der untersten Milliarde und zerstören Gesellschaften, die auf eine positive Entwicklung hoffen. Der Staatszerfall der Elfenbeinküste, des afrikanischen Landes, das einst in höchsten Tönen gepriesen wurde, ist eine Folge des über ein Jahrzehnt andauernden, ruinösen Zusammenwirkens aller drei Mechanismen.

Ist es denn wichtig, ob politische Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen das wichtigste Mittel für den Weg an die Macht bleibt? Vielleicht war ja das ganze Konzept der Verbreitung unserer demokratischen Werte in diesen Gesellschaften bloß eine Selbsttäuschung, und man sollte diese Staaten besser sich selbst überlassen. Aber natürlich ist es wichtig, und zwar aus mehreren Gründen.

Zum einen sind unsere demokratischen Werte universell: Regierungen sind nicht dazu da, um ihre Bürger zu unterdrücken; sie sollen ihnen dienen. Aber unsere Gesellschaften haben lange gebraucht, um vom dienenden Bürger zum dienenden Staat zu gelangen, und in den Gesellschaften der untersten Milliarde wird dieser Wandel vermutlich ebenfalls lange dauern. Wir haben offenbar die Schwierigkeiten unterschätzt und die falschen Merkmale der Demokratie in den Vordergrund gestellt: die Fassade anstelle der grundlegenden Infrastruktur. In diesem Buch werde ich zeigen, dass man dort, wo sich der Aufbau der demokratischen Infrastruktur als unmöglich erweist, durch die Errichtung reiner Fassaden die Entstehung von politischer Verantwortung nicht etwa beschleunigt, sondern untergräbt.

Außerdem ist es wichtig, ob in den gespaltenen Gesellschaften der untersten Milliarde politische Macht durch Gewalt gewonnen wird, da die Folgen dessen in der Regel furchtbar sind. Die politisch starken Männer in gespaltenen Gesellschaften sind selten visionäre Führer; vielmehr handeln sie zumeist eigennützig oder im Interesse einer eng begrenzten Gruppe an Unterstützern. Visionäre Führung ist wichtig, aber ihre Aufgabe besteht darin, Staaten in Nationen zu verwandeln. Der grundsätzliche Fehler, den wir bislang bei der Staatenbildung gemacht haben, war die fehlende Einsicht, dass gut funktionierende Staaten nicht nur auf gemeinsamen Interessen, sondern auf einer gemeinsamen Identität basieren. Eine solche Identität ensteht nicht von selbst; sie wird politisch erzeugt, und dies ist die Aufgabe politischer Führung.

Und es spielt eine Rolle, weil gewaltsame Machtkämpfe enorm kostspielig sind. Kriege und Staatsstreiche sind kein Kaffeekränzchen, sondern kehren die Entwicklung von Staaten um. Kriege können hinsichtlich der Opferzahlen klein sein, aber die zunehmende Einbeziehung der Zivilbevölkerung – tatsächlich verwischt die Trennlinie zwischen Zivilisten und Kombattanten zusehends – bedeutet, dass auch kleine Kriege höchst nachteilige Folgen haben können. Aber politische Gewalt ist nicht nur ein Fluch für die Gesellschaft, in der sie ausgeübt wird, sondern auch ein internationales Übel. Insbesondere schädigt sie die unmittelbaren Nachbarn, was tiefgreifende Folgen für die staatliche Souveränität hat.

Das übergreifende Problem der untersten Milliarde besteht darin, dass ihre Gesellschaften in der Regel zugleich zu groß und zu klein sind – zu groß in dem Sinn, dass sie zu unterschiedlich sind, um bei der Erzeugung öffentlicher Güter zusammenzuarbeiten, und zu klein in dem Sinn, dass sie bei der Bereitstellung des wichtigsten öffentlichen Guts, der Sicherheit, keinen Größenvorteil nutzen können. Diese Probleme zu erkennen, sollte jedoch vor allem dem Zweck dienen, bei der Suche nach wirksamen Lösungen zu helfen. Besteht das Problem darin, dass Gesellschaften zu groß sind, um eine gleichsam angeborene Identität zu besitzen, dann geht es beim Aufbau des Staats nicht in erster Linie um die Schaffung von Institutionen, wie es das heute bevorzugte Patentrezept vorsieht. Grundlegend ist vielmehr die Schaffung einer Nation, was mehr visionäre Führerschaft erfordert, als in den meisten dieser Gesellschaften geleistet wurde.

Besteht das Problem darin, dass Gesellschaften zu klein sind, um die wichtigsten öffentlichen Güter bereitzustellen, dann ist es sinnlos, die nationale Souveränität für unantastbar zu erklären. Angesichts der strukturellen Defizite ihrer Staaten haben die Menschen, die zur untersten Milliarde gehören, kaum eine andere Wahl, als internationale Hilfe in Anspruch zu nehmen, um die Versorgung mit grundlegenden öffentlichen Gütern zu gewährleisten. Bis zu einem gewissen Grad könnten diese Staaten dies auch tun, indem sie ihre Souveränitäten vereinen, was diese Länder jedoch bislang auffälligerweise nirgendwo getan haben. Dieses Ausbleiben von Kooperation ist seinerseits symptomatisch: Ein großer Teil der internationalen Hilfe für die unterste Milliarde wird von Ländern geleistet werden müssen, die bereits gelernt haben, bei der Bereitstellung von öffentlichen Gütern zu kooperieren, das heißt von den einkommensstarken Ländern. Die eifersüchtige Verteidigung der Souveränität durch die Regierungen der untersten Milliarde beschränkt jedoch das Ausmaß dessen, was internationale Hilfe realistischerweise leisten kann. Der Hauptvorschlag, den ich in diesem Buch unterbreite, ist eine Strategie, bei der durch eine kleine Intervention der internationalen Gemeinschaft die politische Gewalt im Innern der Gesellschaften der untersten Milliarde im Zaum gehalten wird. Diese mächtige, bisher so zerstörerische Kraft kann in ihr Gegenteil verkehrt und zum Schutz der Demokratie genutzt werden anstatt zu ihrer Verhinderung.

Um die den Gesellschaften der untersten Milliarde innewohnende politische Gewalt in eine nützliche Kraft zu verwandeln, wird eine internationale Schutztruppe von sehr begrenztem Umfang nötig sein. Seit der Intervention im Irak sind internationale Missionen zur Friedenssicherung mit Truppen aus einkommensstarken Ländern sowohl bei den Wählern dieser Länder als auch bei den beunruhigten Regierungen der untersten Milliarde verpönt. Aber begrenzte militärische Interventionen erfüllen eine wichtige Aufgabe, indem sie sowohl die Sicherheit als auch die Verantwortlichkeit der jeweiligen Regierung den Bürgern gegenüber gewährleisten, also zwei wesentliche Voraussetzungen für eine positive Entwicklung bieten.

Mir ist bewusst, dass ich einen Drahtseilakt vollführe. Diejenigen, in deren Augen sich die Staaten der untersten Milliarde in einer unheilbaren Malaise befinden, werden die Vorschläge in diesem Buch vermutlich als kostspieligen Idealismus betrachten. Diejenigen, nach deren Ansicht diese Gesellschaften Opfer eines Neoimperialismus sind, werden meine Vorschläge als verkappten Imperialismus ansehen. Vor allem aber werden diejenigen, die innere politische Gewalt jeglicher Art als illegitim ablehnen, den Gedanken, sie nutzbar zu machen, als Bruch mit einer fundamentalen Überzeugung zurückweisen. Aber die Vorschläge, die ich in diesem Buch machen werde, entspringen keinem kostspieligen Idealismus; sie beruhen auf Analysen und Tatsachen. Genauso wenig öffnen sie dem Imperialismus eine Hintertür. Die unterste Milliarde hat die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen, einschließlich des legitimen Anspruchs auf eine nationale Identität. Auch die Grundfesten der Demokratie werden durch meine Vorschläge nicht erschüttert. Ich sage lediglich, dass auf dem Weg, den wir gegenwärtig verfolgen, weder ein Nationalgefühl noch Demokratie geschaffen werden können. Dieser Weg führt in eine Sackgasse. Denn die Souveränität für unantastbar zu erklären, hat nur zur Folge, dass unechte Demokratien geschützt werden. Genauso, wie die einkommensstarke Welt der untersten Milliarde einen Malaria-Impfstoff zur Verfügung stellen sollte, sollte sie in den dortigen Gesellschaften für Sicherheit und Verantwortlichkeit der Regierungen sorgen. Alle drei Dinge sind öffentliche Güter, bei denen andernfalls eine chronische Unterversorgung besteht. Doch erst wenn diese Güter in ausreichendem Umfang vorhanden sind, können die Gesellschaften der untersten Milliarde ihren Anspruch auf wahre Souveränität erfüllen.

Im Kampf gegen die politische Gewalt sind unsere Illusionen am unauflöslichsten mit unseren Hoffnungen und Strategien verknüpft, und hier erweisen sich unsere Fehler, die in diesen Illusionen begründet sind, am kostspieligsten. Jede der von mir untersuchten Veränderungen besitzt ein enormes Hoffnungspotential. Aber jede von ihnen ist ein zweischneidiges Schwert: Sie alle können auch Entwicklungen auslösen, die zu einem wesentlichen Anstieg der Gewalt führen. Doch es geht in diesem Buch nicht darum, dass auch alles schiefgehen könnte. Soweit es die modernen Forschungsmethoden erlauben, glaube ich zeigen zu können, was darüber entscheidet, ob die Demokratie transformativ oder destruktiv sein wird. Beunruhigender ist, dass sie in den Gesellschaften der untersten Milliarde das Ausmaß der politischen Gewalt bisher nicht verringert, sondern vergrößert hat. Mit meinen Schlussfolgerungen will ich jedoch keinesfalls jene mutigen Menschen verunglimpfen, die für ihre demokratischen Rechte kämpfen. Ich bin kein Verteidiger der Diktatur. Aber wir müssen uns von unseren Illusionen verabschieden, um herausfinden zu können, durch welche Maßnahmen wir das zweifellos vorhandene Potential der Demokratie als Kraft des Guten freisetzen können.

* »Kibaki Win Spurs Kenya Turmoil«, in: The Financial Times, 31. Dezember 2007, S. 6.

TEIL I

Die Realität verleugnen
Demokratie im Delirium