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Deutsche Erstausgabe (ePub) Mai 2021

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by H.J. Welch

Titel der Originalausgabe:

»Reign or Shine«

Published by Arrangement with H.J. Welch

 

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

 

 

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Bernd Frielingsdorf

 

ISBN-13: 978-3-95823-884-8

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

 


 

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Aus dem Englischen
von Katie Kuhn

 

 


 

Liebe Lesende,

 

vielen Dank, dass ihr dieses eBook gekauft habt! Damit unterstützt ihr vor allem die*den Autor*in des Buches und zeigt eure Wertschätzung gegenüber ihrer*seiner Arbeit. Außerdem schafft ihr dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der*des Autor*in und aus unserem Verlag, mit denen wir euch auch in Zukunft erfreuen möchten.

 

Vielen Dank!

Euer Cursed-Team

 

 

 

 

Klappentext:

 

Prinz Cassander van Rosavia gönnt sich eine Auszeit von seinen Pflichten als Zweiter in der Thronfolge. Eine Weile lang will er einfach nur Cas sein und nicht ständig das schwere Gewicht der Verantwortung auf den Schultern spüren. Gleich zu Beginn stolpert er über Matty, der mit seiner kleinen Nichte als Besucher in der fremden Hauptstadt ziemlich verloren zu sein scheint. Cas bietet den beiden seine Hilfe an und fühlt sich sofort zu Matty hingezogen. Bei ihm kann er sein, wie er wirklich ist, weil Matty in ihm nicht nur ein Mitglied der königlichen Familie sieht. Doch ihre gemeinsame Zeit ist begrenzt. Und was passiert, wenn Matty herausfindet, mit wem er da flirtet? Können die aufkeimenden Gefühle zwischen ihnen ihre unterschiedlichen Welten miteinander verbinden?

 


 

Kapitel 1

 

 

Matty

 

»Ich kann das«, murmelte Matty Doyle vor sich hin, als er das Flugzeug verließ, das ihn zum ersten Mal in seinem Leben in ein fremdes Land gebracht hatte. Er hielt die kleine Hand, die sich mit aller Kraft an seine klammerte, und schaute seine Nichte an. Die Zöpfe ihrer fast schwarzen Haare lösten sich langsam auf. Nach zwölf Stunden im Flugzeug standen ihre Haare in alle Richtungen ab.

Sie waren in der Hauptstadt von Rosavia, einem kleinen Land in Europa, gelandet. Seine Nichte starrte stur geradeaus, während sich die anderen Passagiere bei der Crew bedankten, bevor sie die Treppe hinabstiegen. Matty unterdrückte die Panik, die in ihm aufzusteigen drohte. Er atmete tief durch. »Ich kann das.«

Eine Frau mit zwei kleinen Kindern an der Hand lächelte ihm freundlich zu. Die Kinder sprangen aufgeregt auf und ab und quietschten vergnügt. Die Frau hatte kurz gelockte Haare und trug einen Rucksack, der vollgestopft war mit Saftpäckchen und feuchten Wischtüchern. Offensichtlich war sie im Reisen mit Kindern erfahren und wusste genau, was sie tat. Sie sah Matty an. »Sie hören sich an, als kämen Sie von weiter her als London«, sagte sie mit britischem Akzent.

Normalerweise wäre Matty einem Plausch mit Fremden aus dem Weg gegangen, wie es sich für einen echten New Yorker gehörte. Er hatte erwartet, in London die gleiche Haltung vorzufinden, aber vielleicht kam diese Familie aus einem der Vororte. Außerdem machte die Frau einen netten Eindruck und es würde noch einige Zeit dauern, bis sie dem Gedränge im Alpina International Airport entkommen konnten. Etwas Abwechslung war also genau das Richtige, um Matty von seiner Angst abzulenken.

»Ja.« Er nickte und drückte Finleys Hand. Sie sah ihn mit ihren ängstlichen blauen Augen, die seinen so sehr glichen, ängstlich von unten herauf an. »Wir kommen vom JFK und sind in London nur umgestiegen. Ich bin froh, endlich wieder frische Luft atmen zu können.«

Die Frau lachte. »Stimmt. Ich könnte schwören, meine beiden hier sind Pupser auf Beinen.« Sie kamen von der Gangway in einen Korridor mit Glaswänden.

Die Kinder kicherten, schürzten die Lippen und machten Pupsgeräusche. Matty war schockiert, aber die Frau nahm es gelassen hin. Vielleicht war das ja normal bei kleinen Kindern? War Finley auch so? Er hätte seine Schwester Reghan danach fragen sollen, bevor sie von zu Hause aufgebrochen waren.

»Sind Sie das erste Mal in Rosavia?«

Matty sah die Frau blinzelnd an. Sie lächelte. Sie ließ sich offensichtlich weder von dem anstrengenden Flug noch dem Lärm im Flughafen oder ihren lebhaften Kindern aus der Ruhe bringen. »Äh…«, stammelte Matty. »Ich bin überall das erste Mal«, gab er verlegen zu. Zum Teufel auch – er hatte für diese Reise extra seinen ersten Pass beantragen müssen.

Er war hier sehr, sehr weit weg von Queens.

Die Frau lächelte strahlend. »Oh, dann wird es Ihnen und Ihrer Tochter in Alpina gefallen. Rosavia ist ein Land wie aus dem Märchenbuch. Wir verbringen den Sommer hier. Meine Schwester ist vor einiger Zeit nach Rosavia gezogen und wir besuchen sie sehr oft. Stimmt's?«

Der Junge und das Mädchen fingen sofort an, von Eiscreme mit Rosengeschmack, dem Labyrinth im Königlichen Garten und einem Vergnügungspark am See zu erzählen. Matty blendete sie aus. Er hatte seit 24 Stunden nicht geschlafen, außer Erdnüssen nichts gegessen und außer einem Energydrink nichts getrunken. Er war einfach zu erschöpft, den Irrtum der Frau zu korrigieren.

Aber dafür meldete sich Finley sofort zu Wort.

»Onkel Matty ist nicht mein Daddy«, erklärte sie der Frau. »Ich habe keinen Daddy. Meine Mommys mussten daheimbleiben, weil Mama krank geworden ist und Mommy sich um sie kümmern muss. Onkel Matty ist mit mir nach Europa gekommen und jetzt sind wir endlich hier und ich dachte, es wäre hier viel grüner.«

Sie machte eine Pause, um Luft zu holen. Dann biss sie sich auf die Lippen und Tränen glänzten in ihren Augen. Das war in den letzten Wochen schon viel zu oft passiert. Die Kleine gab sich Mühe und hielt gut durch. Aber sie war erst acht Jahre alt und die Last viel zu schwer für ihre jungen Schultern.

Deshalb war Matty eingesprungen.

Hoffentlich fing die Frau jetzt nicht an, Finley dafür zu tadeln, dass sie zwei Moms hatte. Oder Matty anzuzeigen, weil sie nicht glaubte, dass er Finleys Onkel war. Bevor seine Ängste wieder mit ihm durchgehen konnten, lächelte er. Weil Finley es brauchte.

»Ja«, sagte er fröhlich. »Wir sind auf einer Abenteuerreise.«

Und natürlich lächelte die Frau zurück. Er musste sich wirklich keine Sorgen machen. »Wie schön!«, sagte sie und zog gerade noch rechtzeitig den Jungen hoch, der beinahe über seine eigenen Füße gestolpert und gefallen wäre. Matty nahm an, dass sie die Mutter der beiden Kinder war. Er bewunderte sie für ihre Gelassenheit. Vielleicht lag es an der Übung. Vielleicht würde er seine Nervosität mit der Zeit auch verlieren, wenn er länger mit Finley allein war. Oder eines Tages ein eigenes Kind hatte.

Nachdem er der Panik glücklich ausgewichen war, stolperte er jetzt über ein anderes Hindernis: Melancholie. Eine kleine Stimme in seinem Kopf erinnerte ihn nämlich daran, dass er am besten gar nicht erst über eigene Kinder nachdachte, bevor er verheiratet war. Und das war in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten, nicht wahr?

Matty biss die Zähne zusammen. Er musste diese lästige Stimme loswerden und sich darauf konzentrieren, sein Lächeln nicht zu verlieren – und zwar möglichst ungezwungen, damit er nicht wie ein kompletter Idiot wirkte. Er musste noch durchhalten, bis sie ihr Gepäck abgeholt und ihr Hotel erreicht hatten. Dann konnte er eine Dusche nehmen, ausschlafen und seine Sorgen abschütteln. Er war schließlich ein erwachsener Mann.

Und Finley verließ sich auf ihn.

»Oh, schauen Sie«, sagte die Frau, drehte sich um und zog die Kinder mit sich. »Da ist unser Band. Holt ihr uns einen Trolly für die Koffer, ihr Rangen?«

Die Kinder rannten los und stritten sich darüber, wer den Wagen schieben durfte. Die Passagiere, die an dem Band standen und warteten, nahmen ihre Koffer und gingen. Matty atmete erleichtert aus, als sich das Gedränge langsam auflöste. Er vermutete, dass die Frau auf ihn Rücksicht nehmen wollte, als sie ihn auf das Gepäckband hinwies. Sie hatte wahrscheinlich bemerkt, wie nervös er war. Matty war ihr dafür dankbar. Er hatte nichts dagegen, gelegentlich verhätschelt zu werden – im Gegenteil. Wenn jetzt jemand auftauchen würde, um ihm diesen Stress zu ersparen, würde er sich mit einem herzlichen Kuss bedanken.

Na ja, nicht bei jedem… Jeremy konnte ihm gestohlen bleiben. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Matty begriffen hatte, dass es einen Unterschied gab zwischen Liebe und Fürsorge auf der einen Seite und… Kontrolle und Manipulation auf der anderen.

Leider war die Super-Mom nicht sein Typ, aber er lächelte sie trotzdem strahlend an, als sie zum Gepäckband kamen. »Wie halten Sie die beiden nur aus?«, fragte er lachend.

Sie trommelte sich mit den Fingern ans Kinn und summte nachdenklich. »Mit ausreichend Wein«, sagte sie dann augenzwinkernd.

Als die beiden Kinder zurückkamen, zog Finley ihn lächelnd an der Hand. Es war seit langer Zeit das erste Lächeln, das Matty in ihrem Gesicht sah. »Kommt meine Tasche mit dem Bogen auch bald raus?«, flüsterte sie aufgeregt.

Die Frau zog überrascht eine Augenbraue hoch, aber sie hatte sich nicht verhört, auch wenn Finley nicht Violine spielte, wie die Frau wahrscheinlich vermutete.

»Finley ist eine hervorragende Bogenschützin. Sie hat schon Preise gewonnen«, erklärte er stolz. »Sie nimmt hier an einem Programm für junge Talente teil.«

Zu seiner Überraschung verstummten die beiden Kinder und starrten Finley mit offenem Mund an. »Du kannst mit Pfeil und Bogen schießen?«, wollte der Junge wissen.

»Wie… wie im Film?«, fragte das Mädchen bewundernd.

Es war, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Finley kam hinter Mattys Beinen hervor und fing sofort an, nonstop über ihre Leidenschaft zu erzählen. Sie wedelte mit den Armen, als sie ihre Bögen beschrieb und die Kurse, die sie schon besucht hatte.

Die Frau schmunzelte. »Kann ich sie als Babysitter anheuern?«, scherzte sie. »Ich habe die beiden nicht mehr so still erlebt, seit das Spiel Animal Crossing herausgebracht wurde.«

Matty beobachtete seine Nichte voller Stolz – nicht nur auf Finley, sondern auch auf sich selbst. Er war erleichtert, dass sie endlich wieder sie selbst war. Ich kann das, rief er sich in Erinnerung. Er wollte es nicht vermasseln. Er konnte für sie da sein und alles das tun, was erwachsene Menschen tun mussten, die für Kinder verantwortlich waren.

Wen kümmerte es da schon, dass Jeremy ihn im Stich gelassen hatte, als der Krebs seiner Schwester wieder zurückkam? Dass dieser Idiot ihn als egoistisch bezeichnet hatte, weil ihm seine Familie wichtiger war als sein Freund? Ja, die Welt konnte manchmal verdammt ungerecht sein, aber Matty war ein erwachsener Mann. Er konnte Verantwortung übernehmen. Das musste er auch. Um Finleys willen.

»Sie will eines Tages an der Olympiade teilnehmen«, flüsterte er. Finley war noch so jung und hatte trotzdem schon so hohe Ziele. Das hatte sie von ihrer leiblichen Mutter – Mattys Schwester Reghan – geerbt. Sie waren beide sehr willensstark und zielstrebig. Matty hatte im Vergleich zu ihnen nur sehr wenig Ehrgeiz.

Und Reghan würde wieder gesund werden. Matty musste nur dafür sorgen, dass seine Reise mit Finley so glatt wie möglich verlief. Dann konnte sich seine Schwester auf die Chemotherapie konzentrieren. Ihre Frau würde ihr zur Seite stehen. Es war alles ganz einfach. Ein Schritt nach dem anderen. Matty musste jetzt nur ihr Gepäck einsammeln, den Taxistand finden und im Hotel einchecken. Früher hatte sich Jeremy um solche Dinge gekümmert, aber das hieß noch lange nicht, dass Matty es nicht auch konnte.

Und – nein – er wünschte sich nicht, dass dieser Idiot jetzt hier wäre. Sicher, er mochte sich jemanden wünschen, der ihm die Verantwortung abnahm. Aber ganz bestimmt nicht Jeremy. Außerdem war er stolz darauf, sich und seine Nichte ganz ohne Hilfe heil nach Europa gebracht zu haben. Und Reghan wäre auch stolz auf ihn.

Ein Schritt nach dem anderen. Ich kann das.

»Also…«, sagte die Frau bedauernd, als sie einen Koffer vom Laufband nahm und zu dem großen Koffer und der Reisetasche stellte, die sie schon auf ihren Wagen gepackt hatte. »Das war alles. Kommt, Kinder. Viel Glück beim Bogenschießen.« Sie lächelte Finley zu.

»Können wir Finleys Wettkampf besuchen, Mum?«, fragte der kleine Junge und klatschte in die Hände. »Sie hat gesagt, wir dürfen kommen! Er ist in zwei Wochen.«

Die Frau nickte Matty lächelnd zu. »Vielleicht. Wir werden sehen«, sagte sie unverbindlich und reichte ihm die Hand. »Ich heiße übrigens Shommie«, sagte sie.

»Matty«, erwiderte er.

»Äh, sorry«, mischte sich Finley mit ihrer resoluten Stimme ein. Matty fand das süß. Meistens jedenfalls. »Aber Onkel Matty ist schwul.«

Matty und Shommie prusteten vor Lachen. Shommie schlug sich die Hand vor den Mund. »Und ich bin verheiratet«, versicherte sie Finley und wackelte mit dem Ringfinger. »Aber Erwachsene können manchmal auch einfach Freunde werden.« Finley nickte zufrieden. Shommie schüttelte lächelnd den Kopf und fischte eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. »Falls du mal Lust auf ein Glas Wein hast, kannst du dich melden. Meine Schwester und ich zeigen dir gern die besten-aber-billigen Bars der Stadt.«

Matty schaute baff auf die Visitenkarte. War das normal? Konnten sich Menschen im richtigen Leben wirklich so schnell anfreunden?

Es war ein tröstlicher Gedanke, in den nächsten beiden Wochen gelegentlich ein freundliches Gesicht zu sehen. »Danke«, stammelte er. »Ich nehme das Angebot gerne an.«

Shommie grinste und schaute auf ihre Kinder, die am Gepäckwagen hingen und so taten, als wären sie mittelalterliche Ritter. »Also gut, ihr Helden!«, rief sie und zeigte zum Ausgang. »Auf in den Kampf!«

Die beiden rannten sofort los. Shommie lächelte Matty und Finley noch einmal zu und ging ebenfalls.

Matty fiel erst jetzt auf, dass die meisten Passagiere ihres Flugs schon gegangen waren.

Er runzelte die Stirn und drehte sich wieder zu dem Band um. Nur noch wenige Koffer und Taschen drehten sich im Kreis und… seine und Finleys waren nicht darunter. Er hatte extra kleine Regenbogenbändchen an die Griffe gehängt, um die Koffer, die er sich von Reghan und ihrer Frau Lola ausgeliehen hatte, gleich zu erkennen. Finleys kostbare Bogentasche war zusätzlich noch mit Einhorn-Aufklebern verziert, sodass sie unverwechselbar war. Die Tasche mit dem Bogen und den Pfeilen war viel Geld wert.

»Onkel Matty?«, sagte Finley beklommen. Sie fragte sich vermutlich schon, was mit Matty los war.

Wo zum Teufel war ihr Gepäck?

Matty lächelte seine Nichte an. »Keine Sorge«, sagte er fröhlich. »Ich wette, unser Gepäck kommt als Letztes, weil wir aus New York kommen und den weitesten Weg hatten. Hilfst du mir, Ausschau zu halten?« Er hob sie hoch und setzte sie sich auf die Hüfte, obwohl sie dazu eigentlich schon zu groß war. Sie wickelte ihm die Beine um den Leib und hielt die Hand über die Augen wie ein Späher, der im Mastkorb saß und nach anderen Schiffen Ausschau hielt.

Es waren jetzt kaum noch Leute hier und die meisten sahen genauso beunruhigt aus, wie Matty sich fühlte. Auf dem Band kreisten nur noch wenige Taschen. Matty atmete tief ein und aus. Kein Grund zur Sorge. Wir brauchen nur etwas Geduld und dann…

In diesem Moment ruckelte das Förderband und kam mit einem lauten Quietschen zum Stehen.

Finley versteifte sich in seinen Armen. Sie hatte jetzt auch Angst um ihr Gepäck.

All ihre Kleidung. Die Toilettenartikel. Finleys unersetzbarer Bogen. Wo war das alles?

»Onkel Matty?«, flüsterte Finley mit zitternder Stimme.

»Es ist alles okay«, sagte er. »Alles wird gut.«

Aber er hatte den Verdacht, sich in seinem Optimismus getäuscht zu haben. Nein, er konnte das doch nicht.

Er hatte alles vermasselt.


 

Kapitel 2

 

 

Cas

 

Prinz Cassander Fabian Ivor van Rosavia war ein erwachsener Mann von 29 Jahren. Man konnte ihn sogar als sehr fähigen und gut ausgebildeten erwachsenen Mann bezeichnen, der viel reifer war und mehr Verantwortung übernahm, als ihm selbst guttat.

Und doch gab es zwei Worte, bei denen er sofort zusammenzuckte und Schuldgefühle bekam. Besonders dann, wenn diese zwei Worte von einer ganz bestimmten rothaarigen Frau ausgesprochen wurden.

»Eure Hoheit?«, rief Valentina Roth. Ihre Worte hallten durch den Korridor des Palasts und das Klackern ihrer bleistiftdünnen Absätze wurde von den Marmorwänden zurückgeworfen. Cas verzog das Gesicht und setzte ein Lächeln auf, dem man sein schlechtes Gewissen nicht ansah. Dann drehte er sich zu seiner Kammerdienerin um.

Er liebte diese Frau, wirklich. Aber sie hatte ihn gerade auf frischer Tat ertappt, und das wusste sie auch.

»Hi«, sagte er und versuchte sich in einem Tonfall, der normalerweise ausländischen Würdenträgern vorbehalten war. Es hörte sich eher wie ein Quieken an.

Valentinas rote Lippen zuckten, als sie ihn über den Rand ihres schwarzen Brillengestells musterte. Sie blieb direkt vor ihm stehen. Obwohl sie gut 30 Zentimeter kleiner war als er selbst, sah Cas sie kleinlaut an. Valentina hielt eine dünne Aktenmappe aus Leder unterm Arm, deren Deckel mit dem königlichen Siegel bedruckt war. Die andere Hand hatte sie in die Hüfte gestemmt. Ihre roten Locken wippten, als sie den Kopf neigte.

»Eure Hoheit«, wiederholte sie freundlich. »Ich dachte mir schon, dass ich Sie hier finde.«

Natürlich hatte sie das. Diese Frau wusste alles. Immer. Cas seufzte und schob die Hände in die Tasche seines alten Hoodies, in dem er sich unter normalen Umständen nie hätte blicken lassen. Er schaute sich im Korridor um. Sie befanden sich in einem abgelegenen hinteren Teil des Palasts, in den sich nicht sehr viele Menschen verirrten. Normalerweise.

»Ich wollte gerade…«, fing er an und suchte nach einer Entschuldigung. Aber Valentina hatte schon einige Blätter Papier aus ihrer Mappe gezogen und fischte in der Brusttasche ihres Jacketts nach einem Federhalter.

»Ich brauche Ihre Unterschrift. Einige der Papiere sind eigentlich für Leo gedacht, aber Sie wissen ja, wie er ist.« Ja, das wusste Cas. Und es war einfacher, sich selbst um solche Angelegenheiten zu kümmern, als sich auf die Suche nach seinem Bruder zu begeben.

»Selbstverständlich«, sagte er und fing an, die Papiere zu unterschreiben. Seine Pläne schienen sich in Luft aufzulösen. Warum musste er ständig das Chaos ausbaden, das seine Brüder anrichteten?

Valentina lächelte ihn an, als er ihr die Papiere zurückgab. »Hervorragend. Sie können dann wieder gehen.«

Cas blinzelte ungläubig. Der Korridor führte zu einer kaum benutzten Hintertür des Palasts, vor der sein Auto geparkt war und auf ihn wartete. Natürlich ohne Fahrer. Nur mit einer gepackten Tasche im Kofferraum.

»Kann ich das?«, fragte er stirnrunzelnd. »Gehen, meine ich?« Normalerweise ließ sie ihn nicht so schnell wieder aus den Klauen.

Cas konnte nicht sagen, wann es damit angefangen hatte. Irgendwann während der letzten fünf Jahre vermutlich. Er wusste nur, dass er diesem Wahnsinn ab und zu entfliehen musste, und sei es nur für eine kurze Zeit.

Es war nicht sehr verantwortungsbewusst, sich einfach davonzuschleichen, ohne zu hinterlassen, wo er sich aufhielt. Aber Valentina und seine Leibwächter schienen auch so immer genau zu wissen, wo in der Stadt er sich gerade befand. Außerdem war bisher noch nichts passiert. Für Cas war es ein aufregendes Erlebnis, in ganz normaler Kleidung durch die Stadt zu laufen und von niemandem erkannt zu werden. Die Leute, denen er begegnete, schauten durch ihn hindurch, als gäbe es ihn gar nicht.

Von Zeit zu Zeit war das alles, wonach er sich sehnte. Er war es leid, ständig Verantwortung tragen zu müssen. Ständig die verrückten Eskapaden seiner Brüder im Auge zu behalten und – was unvermeidlich war – für sie einzuspringen und alles wieder in Ordnung zu bringen. Genug war genug.

»Ich habe mit Leo gesprochen, nachdem er gestern dieses verdammte Dinner geschwänzt hat«, sagte er und rieb sich die Augen. Er wollte sich deswegen nicht schuldig fühlen, aber diese Botschaft schien bei seinem Magen noch nicht angekommen zu sein. Ihm war flau. »Ich will nicht ständig für ihn einspringen müssen. Er muss lernen, selbst Verantwortung zu übernehmen. Es ist mir egal, ob er mich für besser geeignet hält oder nicht. Schließlich ist er der Thronfolger, nicht ich.«

Und das war Cas auch nur recht. Für den Job geeignet zu sein, hieß noch lange nicht, dass er ihn übernehmen wollte. Ganz im Gegenteil. Im Moment wollte er nur noch unsichtbar sein.

»Ich weiß«, erwiderte Valentina selbstgefällig. Es hätte ihn nach all der Zeit nicht überraschen sollen, aber er zog trotzdem eine Augenbraue hoch.

»Ist das so?«

Sie nickte. »Ich habe Ihr Apartment heute früh reinigen und Lebensmittel liefern lassen. Es ist alles für Sie bereit.« Sie schaute die Unterlagen durch und schob sie wieder in die Ledermappe zurück. Dann hielt sie ihm den Federhalter und ein Dokument hin, das er noch nicht unterschrieben hatte. »Ihre Eltern haben sich sehr darüber gefreut, dass Sie jetzt die Vereinigung der jungen Bogenschützen unterstützen wollen. Sie verstehen sehr gut, dass Sie damit in den nächsten beiden Wochen beschäftigt sein werden und deshalb weniger Zeit haben.«

»Werde ich das?«, fragte er zweifelnd. Dann fiel ihm auf, was sie damit sagen wollte. »Oh. Natürlich. Der Königliche Ball.« Der Feier zum 500. Jahrestag Rosavias konnte er nicht entkommen. Aber er hatte sich wirklich eine kurze Pause gewünscht.

Valentina zwinkerte ihm zu. »Oh nein, Eure Hoheit. Sie haben bisher den Hauptteil der Arbeit für den Ball übernommen. Jetzt wird es Zeit, dass andere für Sie einspringen. Ihre Eltern haben zugestimmt, dass Sie diese Sportorganisation unterstützen und…« Sie nahm das unterschriebene Papier lächelnd zurück. »… die Vereinigung der jungen Bogenschützen freut sich schon sehr darauf, dass Sie in zwei Wochen als Richter an ihrem Wettbewerb teilnehmen. Sie erwarten nicht, Sie vor diesem Ereignis wieder hier zu sehen.«

Cas atmete erleichtert aus, als er verstand, was sie damit meinte. Sie hatte ihm gerade offiziell zwei Wochen Urlaub genehmigt. Er hätte sie vor Dankbarkeit beinahe geküsst, aber sie war erstens nicht sein Typ und zweitens hatte er einen Heidenrespekt – der gelegentlich schon an Angst grenzte – vor seiner winzigen Kammerdienerin. Gott segne sie.

»Stets zu Diensten«, sagte er, als sie das Dokument wegsteckte.

Valentina klappte die Mappe zu, nahm ihren Federhalter zurück und steckte ihn mit einem lauten Klicken in die Kappe. »Und genau das ist Ihr Problem, Eure Hoheit.«

Cas sah ihr mit einem schwachen Lächeln nach, als sie mit laut klackernden Absätzen davonstolzierte.

Sie hatte natürlich recht. Das war sein Problem. Er liebte es, gebraucht zu werden. Er war gut darin. Es gab ihm eine gewisse innere Ruhe, seinen Mitmenschen eine Last abzunehmen und ihre Probleme zu lösen. Trotzdem – er musste eine Grenze ziehen.

Seine Brüder – und der Rest des Haushaltes – benutzten ihn ständig als Stütze. Es war nicht so, dass er sich darüber nicht freuen würde, aber es reichte ihm nicht. Es war ihm schon seit einigen Jahren nicht mehr genug und er konnte sich selbst nicht recht erklären, woran das lag.

Es war auch für seine Brüder nicht gut, dass er ständig für sie in die Bresche sprang. Besonders für Leo nicht, der endlich sein Rebellenimage ablegen und seine Rolle als Kronerbe Rosavias akzeptieren sollte. Es gab für Cas nur eine Möglichkeit, sich und seine Brüder von dieser gegenseitigen Abhängigkeit zu befreien – er musste für eine Weile verschwinden.

Er hätte das Weingut der Familie in Zasfer besuchen können. Dort war es friedlich und ruhig. In dem kleinen Schloss war nur ein Minimum an Personal beschäftigt. Aber Cas brauchte mehr Abstand.

Er musste ein anderer Mensch werden. Wenigstens für kurze Zeit. Er wollte für eine Weile kein Prinz sein, obwohl es nicht ungefährlich war, sich für allzu lange in die Anonymität zu begeben. Jetzt, kurz vor dem Ball, waren die Augen des ganzen Landes auf den Palast gerichtet. Das galt besonders für die Klatschpresse und diese entsetzliche Ida von Tarr. Sie war immer auf der Suche nach einem Aufhänger, um die königliche Familie in den Schmutz ziehen zu können. Cas durfte also nicht unverantwortlich handeln. Er konnte nicht einfach davonlaufen, den normalen Bürger spielen und so tun, als ginge ihn das alles nichts an. Aber seine geheimen Ausflüge in die Stadt waren wie eine Droge. Sie machten süchtig und die Vorstellung, zwei ganze Wochen so leben zu können, war unwiderstehlich.

Hier war er Sander, der Bruder, der auf alles eine Antwort wusste und jedes Problem lösen konnte. Für das Volk von Rosavia war er Prinz Cassander, der Zweite der Thronfolge – jedenfalls so lange, bis Leo einen Erben bekam. Und für die Welt… war er niemand. Nur die direkten Nachbarn Rosavias, beispielsweise Grechzen oder Thedes, kannten das kleine Königreich in Europa. Für den Rest der Welt spielten sie kaum eine Rolle. Dort würde ein Mitglied der königlichen Familie nicht erkannt werden. Selbst König Alphonse war vermutlich nur wenigen Menschen bekannt.

Diese Erkenntnis hatte Cas ursprünglich ermutigt, in die Stadt zu gehen und herauszufinden, ob er damit durchkommen konnte, einfach nur… Cas zu sein. Und es war ihm tatsächlich gelungen. In dem alten Hoodie und den ausgetretenen Turnschuhen ging er in der Menge unter.

Es war der wahre Segen.

Allerdings hatte er auch angenommen, dass es im Palast niemandem aufgefallen wäre. Er hatte zwar den Verdacht gehegt, dass Valentina ihm auf die Schliche gekommen sein könnte, aber sie hatten nie darüber gesprochen. Cas hätte sich denken können, dass sie auch über sein geheimes Apartment Bescheid wusste. War es wirklich vernünftig, einfach so aus dem Palast zu verschwinden?

Er biss sich auf die Lippen und dachte darüber nach. Es hieß, dass man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen sollte. Er hatte die kleine Wohnung anonym gemietet. Im Schrank hing Kleidung, und Kühlschrank und Speisekammer waren – wie Valentina ihm versichert hatte – auch gefüllt worden.

Er konnte seinen Urlaub also jederzeit antreten. Er war frei.

Na ja, nicht ganz. Wenn er hier gebraucht wurde, musste er natürlich sofort zurückkommen. Vermutlich würde er mehr als einmal zwischen dem Apartment und dem Palast pendeln müssen. Aber das änderte nichts daran, dass er in den nächsten beiden Wochen ein ganz normaler Mensch sein konnte.

Und Cas war fest entschlossen, das Beste daraus zu machen.

 

***

 

Er hatte mittlerweile eine Routine entwickelt. Eine Reihe kleiner Rituale, die ihm halfen, sich von Prinz Cassander in den ganz gewöhnlichen Cas zu verwandeln. Als er die Tür öffnete und sein bescheidenes, aber doch sehr hübsches Apartment betrat, ließ er sofort die Reisetasche fallen und sah sich kurz um. Alles in Ordnung. Er ging wieder nach draußen, um einen kleinen Spaziergang um den Block zu machen. Langsam fühlte er sich schon wie ein normaler Mensch. Er ging in sein Lieblingscafé, bestellte seinen üblichen Cappuccino und einen Muffin mit Heidelbeeren. Als die Bedienung ihn erkannte und mit Cas ansprach, freute er sich und hätte beinahe mit einem überschwänglichen Das bin ich! geantwortet. Er nahm den Kaffee und den Muffin und steckte zehn Euro in das Glas für die Trinkgelder. Dann ging er nach draußen, um sich an einen der Tische vor dem Café zu setzen und den Sonnenschein zu genießen.

Er hätte es besser wissen müssen.

Als er vor die Tür trat, sah er an einem der kleinen Tische einen Mann sitzen, den er kannte. »Typisch«, grummelte er lächelnd.

Sein jüngerer Bruder Benedict wackelte mit den Augenbrauen, als Cas sich zu ihm setzte. »Hallo, Cas«, sagte er amüsiert. »Du hier? Was für ein Zufall aber auch.«

Cas seufzte ergeben. Ben war der Einzige in seiner Familie, der genauso aufmerksam war wie Cas selbst. Sie waren sich auch sonst sehr ähnlich – ruhig und besonnen, aber schnelle Denker, wenn sie ein Problem lösen mussten. Cas war als Jugendlicher ausgebildet worden, in den Geheimdienst des Landes einzutreten, der von ihrer Tante Geraldine geleitet wurde. Dazu war es allerdings nie gekommen, weil er in der Thronfolge direkt nach Leo kam und Spione gefährlich lebten. Ben, der noch bessere Noten erzielt hatte als Cas, musste auf die Thronfolge keine Rücksicht nehmen und liebte das spannende Leben beim Geheimdienst.

Das wusste auch Cas, obwohl er sich manchmal Sorgen um seinen jüngeren Bruder machte. In den letzten Monaten war ihm in Bens Augen allerdings eine Traurigkeit aufgefallen, die ihm neu war und die er sich nicht erklären konnte.

Er gab sich einen Ruck und lächelte Ben an. Dass sein Bruder ihn nicht Sander, sondern Cas genannt hatte, zeigte ihm, dass er genau wusste, was los war. Nämlich, dass Cas sich hier vor der Welt versteckte.

Und es zeigte ihm auch, dass Ben auf seiner Seite stand.

Cas' Lächeln wurde noch freundlicher. Ben war nicht ganz das Baby der Familie, aber immerhin sieben Jahre jünger als er selbst. Cas wollte ihn immer noch beschützen, obwohl er genau wusste, dass sein kleiner Bruder sein Geld damit verdiente, sich in Gefahr zu begeben und Kugeln auszuweichen.

Aber außer ihm selbst und Tante Geraldine wusste das in ihrer Familie niemand. Guter Gott, es gab so viele Geheimnisse, wenn man zu dieser Familie gehörte. Cas wünschte manchmal, dass er nicht über so viele von ihnen Bescheid wüsste.

Ben und er standen sich daher aber sehr nahe. Nur das war der Grund, warum Cas an manchen Tagen nicht aus Sorge um Gott und die Welt den Verstand verlor.

»Wie lange hast du dieses Mal Urlaub?«, fragte er und nippte an seinem Kaffee. Sein Bruder nahm einen Zahnstocher aus dem rosenförmigen Schälchen, das auf dem schmiedeeisernen Tisch stand. Er schob sich den Zahnstocher in den Mund und kaute darauf herum.

»Du weißt doch, wie es ist«, sagte er. »Sie versprechen mir zwei Wochen und beordern mich dann ohne Vorwarnung wieder zurück, weil es angeblich einen Notfall gibt.«

»Fast wie beim Militär«, meinte Cas trocken.

Ihre Brüder glaubten, dass Ben beim Militär wäre. Nur Cas wusste, dass es nicht stimmte. Er überließ es Ben, ihm über seine Arbeit zu erzählen – oder auch nicht –, wenn Ben Urlaub hatte und sie sich sahen. Um ehrlich zu sein, genoss er es sogar, dieses kleine Geheimnis über Bens Doppelleben mit ihm zu teilen. Cas verbrachte so viel Zeit damit, für Leo, Jules und Wren die Kastanien aus dem Feuer zu holen, dass er manchmal etwas Distanz von ihnen brauchte. Bei Ben war das nicht der Fall. Obwohl Bens Leben von Geheimnissen umgeben war, hatten sie eine sehr enge und offene Beziehung.

»Und wie geht es dir?«, lenkte Ben vom Thema ab und warf den zerkauten Zahnstocher auf einen kleinen Teller. »Warum treffen wir uns hier in der Stadt, anstatt gemeinsam im Palast zu Mittag zu essen?«

Cas kniff die Augen zusammen. Ben wusste, dass er sich aus dem Palast schlich, um den Normalbürger zu spielen. Aber wusste er auch, warum Cas das tat? Oder hatte er nur eine Ahnung und fischte jetzt nach mehr Informationen?

»Es ist wichtig, dass wir den Alltag und das Leben unserer Landsleute verstehen«, sagte Cas. Es war die Standardantwort, die er sich schon vor Jahren für den Fall zurechtgelegt hatte, eines Tages erwischt zu werden. »Und wie sollten wir mehr darüber erfahren, wenn wir den Palast nicht verlassen?«

Cas war ziemlich sicher, dass Ben – wie Valentina – nicht nur über alles Bescheid wusste, sondern ihn auch unterstützte. Es war schon komisch, dass sie ihn ausgerechnet heute beide darauf angesprochen hatten.

Vielleicht hörten seine Brüder jetzt endlich auf ihn und nahmen seinen Entschluss ernst, nicht mehr ständig ihre Ärsche zu retten.

»Ich werde nie Herrscher aller Miezen sein«, sagte er und benutzte absichtlich den Codenamen für ihren Vater, den derzeitigen König von Rosavia. Der Name war hängen geblieben, weil Wren, ihr jüngster Bruder, Katzen über alles liebte. »Und ich will es auch gar nicht werden. Leo muss lernen, seine Rolle zu akzeptieren.« Er biss sich auf die Lippen und spielte gedankenverloren mit einem Zuckertütchen. »Ich hätte das schon vor Jahren merken und entsprechend handeln sollen.«

Er hob den Kopf. Bens Blick war in die Ferne gerichtet.

Cas zog eine Augenbraue hoch, teils amüsiert, teils aber auch irritiert. Diese Sache war für ihn sehr wichtig. Es fiel ihm nicht leicht, Leo absichtlich im Stich zu lassen.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte er seufzend.

»Ich höre immer zu«, erwiderte Ben trocken. Dann klingelte das Handy in seiner Hosentasche. »Einen Moment.«

Cas trank einen Schluck Kaffee, um sich wieder zu beruhigen. Der Anruf hatte ihn nervös gemacht. Aber Benedict war ein erwachsener Mann und ein ausgebildeter Agent. Cas musste ihn seinen Job erledigen lassen und darauf vertrauen, dass Benedict wusste, was er tat.

So, wie es umgekehrt auch der Fall war.

Trotzdem – niemand konnte ihm verbieten, sich um seinen Bruder zu sorgen.

»Lass mich raten…«, sagte er. »Du sollst deinen Urlaub unterbrechen? Was ist an deinem Job beim Militär eigentlich so wichtig, dass sie nicht auf dich verzichten können?« Natürlich meinte er den Geheimdienst, als er Militär sagte. Das war ihnen beiden bewusst. Aber Cas war wirklich neugierig. Er hätte gern mehr über Bens Tätigkeit gewusst. Schließlich war sein Bruder erst 22 Jahre alt.

Ben sah ihn verschmitzt an. »Oh, du weißt schon… Den Vorgesetzten in den Arsch kriechen. Sie haben ein sehr fragiles Ego. Da brauchen sie das.«

»Aha«, kommentierte Cas trocken.

Ben las die Nachricht grinsend durch und tippte schnell eine Antwort. Dann rollte er theatralisch mit den Augen und seufzte. »Sorry«, sagte er, aber seine Entschuldigung hörte sich nicht sehr überzeugend an. Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Es sieht aus, als hättest du recht gehabt. Ich muss meinen Urlaub unterbrechen und mit dem Arschkriechen weitermachen.«

»Viel Spaß«, sagte Cas amüsiert. Solange er sich über Ben amüsieren konnte, hatte er weniger Angst um ihn. Das wusste Ben natürlich auch und machte deshalb seine kleinen Scherze.

»Wünsch mir Glück.« Ben warf ihm eine Kusshand zu. Seine schnodderige Art konnte Cas' Sorgen nicht ganz vertreiben. Er stand auf und umarmte seinen kleinen Bruder zum Abschied, um ihm viel Glück zu wünschen.

Zu seiner Überraschung erwiderte Ben die Umarmung. »Sei vorsichtig, ja?«, sagte er. Und das kam für Cas nun wirklich unerwartet.

Er lehnte sich zurück und sah Ben stirnrunzelnd an. »Vorsichtig sein? Bei was?«

»Bei allem.« Ben zwinkerte ihm zu, drehte sich um und ging davon. Kurz darauf war er in der Menge verschwunden.

Cas blieb frustriert zurück. Er hasste diese vagen Antworten seines Bruders. Seufzend setzte er sich wieder an den Tisch. Als er nach einer Weile seinen Kaffee ausgetrunken hatte, ging es ihm schon wieder besser. Der Sinn seines Urlaubs war schließlich, eine Pause einzulegen und sich ausnahmsweise keine Sorgen um seine Brüder zu machen. Was also hätte er jetzt getan, wäre er Ben nicht begegnet?

Er klopfte mit den Fingernägeln an die leere Tasse und überlegte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.

Typisch Valentina.

Cas hatte sich noch nie für Bogenschießen interessiert, schon gar nicht für das Nachwuchsprogramm der Bogenschützen. Doch plötzlich fand er die Idee gar nicht so schlecht. Rosavia war so verdammt besessen von Lacrosse, dass es schon nicht mehr auszuhalten war. Cas hatte während seiner Schulzeit Lacrosse gespielt – mehr oder weniger gezwungenermaßen – und wenn im Sommer die Saison anfing, kam alles andere zum Erliegen. Im Oktober, nach der Meisterschaft, waren die Straßen mit feiernden Menschenmassen gefüllt. Cas hatte die Begeisterung nie nachvollziehen können.

Aber Bogenschießen? Das war romantisch. Ritterlich. Und es war ihm vollkommen neu, dass Rosavia ein Trainingslager für junge Talente ausrichtete.

Er wollte unbedingt mehr darüber erfahren.

Pflichtbewusst brachte er sein Geschirr wieder ins Café zurück. Die Kellnerin lächelte ihm freundlich zu, als sie ihn sah. »Ich habe dir doch gesagt, dass du das nicht tun musst, Cas«, sagte sie mit einem leisen Seufzen.

Cas salutierte ihr. »Ich kann es nicht ändern, Elina. Einen schönen Tag noch!«

Er setzte die Sonnenbrille auf und kam sich vor wie auf einem fremden Planeten, als er durch die geschäftigen Straßen Alpinas schlenderte. Er war wie unsichtbar. Es war wunderbar.

Cas hatte die Schönheit des Landes und seiner Heimatstadt erst zu schätzen gelernt, als er älter geworden war. Er hatte schon oft in offizieller Mission fremde Länder und Städte besucht, aber Alpina war Alpina. Die Stadt hatte etwas ganz Besonderes. Sie war die größte Stadt in einem sehr kleinen Land und vereinte die besten Eigenschaften Rosavias in sich.

Als aus Sander Cas geworden war, hatte er die Schönheiten Alpinas neu für sich entdeckt. Er sah die Stadt jetzt mit anderen Augen. Das galt auch für die Berge im Norden, den wunderschönen Bergsee im Süden und das Heideland mit seinen Wildrosen, das sich dazwischen ausbreitete. Cas holte tief Luft und lächelte glücklich. Er tat, als wäre er ein Tourist, der zum ersten Mal eine unbekannte Stadt erkundete.

Nach einer Weile kaufte er sich ein Eis, weil zu einem Muffin auch der passende Nachtisch gehörte. Dann kam er in die Coniston Street, Alpinas edelste Einkaufsstraße. Normalerweise wäre ein Aufenthalt hier für ihn die Hölle gewesen, besonders an einem warmen Sommertag. Aber heute war er ein freier Mensch und konnte selbst über seine Zeit verfügen. Er musste nirgends sein und niemandem gefallen. Er schob die Ärmel seines Hoodies hoch, zog ihn aber nicht aus, um seine Anonymität zu wahren. Gelegentlich wich er Familien von Touristen aus oder Paaren, die Arm in Arm und mit Einkäufen bepackt unterwegs waren. Ab und zu kam er auch an Leuten vorbei, die sich aufgeregt unterhielten oder auf dem Handy hektisch Nachrichten eintippten. Ihre Anzüge verrieten ihm, dass es sich um Büroangestellte handeln musste.

Das hier war das wahre Leben – nicht die Glasglocke, unter der er im Palast lebte. Cas war so aufgeregt wie ein Kind im Süßwarenladen.

Er sah sich um und sein Blick fiel – an der Ecke Coniston/Lowther Street – auf einen Sportartikelladen.

Und es gab dort Ausrüstungen zum Bogenschießen. Im Sonderangebot.

Cas dachte nicht lange nach. Seine Füße trugen ihn wie von selbst in einen der wenigen Läden, denen er immer absichtlich ausgewichen war, seit er seine geheimen Ausflüge in die Stadt unternahm. Die Lacrosse-Ausrüstung auch nur zu sehen, bereitete ihm Schmerzen. Er berührte vorsichtig seine Nase. Schnell ging er weiter in die Abteilung mit den Bögen. Sie wirkte verdächtig neu. An der Wand hingen Poster, die auf einen Wettbewerb hinwiesen, den er – als Sander – offensichtlich auch besuchen würde. Auf einem Regal lagen Prospekte, die Ratschläge für Anfänger gaben und auf Kurse hinwiesen, die in Alpina angeboten wurden.

Cas nahm das alles nur oberflächlich wahr. Weil er nämlich nicht der Einzige war, der die vielen Bögen studierte, die an einer der Wände hingen. Cas hätte nie gedacht, dass es so viele unterschiedliche Modelle geben könnte.

»Siehst du einen Bogen, der dir gefällt, Schätzchen?«, fragte ein Mann ein kleines Mädchen, das neben ihm stand. Der Mann mochte einige Jahre jünger sein als er selbst. Mit Kindern kannte Cas sich nicht so gut aus und schätzte das Mädchen auf ein unbestimmtes Alter zwischen fünf und fünfzehn. Die beiden hatten pechschwarze Haare und blasse Haut. Der Mann sprach Englisch mit amerikanischem Akzent.

Cas fühlte sich von den beiden angezogen, wollte sich aber nicht aufdrängen. Wirklich, er sollte einfach weitergehen. Die beiden waren sichtlich gestresst. Man sah es ihrer Haltung an. Die Blicke des Mannes blieben immer wieder an den Preisschildern der kleineren Bögen hängen. Cas' Herz schlug schneller. Er tat so, als würde er sich für einen Satz Pfeile interessieren.

Das Mädchen seufzte unglücklich. »Onkel Matty«, sagte sie, den Tränen nahe. »Ich… ich denke, wir sollten einfach wieder nach Hause fahren. Ich brauche meinen Bogen. Ich kann nicht…«

Cas schnürte es die Kehle zu, als er die Kleine sah. Sie war kurz davor, in bittere Tränen auszubrechen. Der Mann – hatte sie ihn Matty genannt? – sah sie so unglücklich an, als ginge es ihm nicht viel besser. Dann blinzelte er einige Male, setzte ein breites Lächeln auf und hob das Mädchen hoch, obwohl sie fast halb so groß war wie er selbst.

»Hey, mein Schätzchen… Auf gar keinen Fall, ja?« Es fiel Cas schwer, die beiden nicht anzustarren. Er beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie strahlten ein solches Unglück aus, dass man es beinahe mit Händen greifen konnte. »Du hast dir deinen Platz in dieser Schickimicki-Akademie redlich verdient. Die Airline hat sich schon mit dem Flughafen in London in Verbindung gesetzt. Dort sind wir umgestiegen, erinnerst du dich? Unser Gepäck ist noch dort. Ganz bestimmt. Es dauert nur eine kleine Weile, bis es bei uns ankommt. Es gibt noch viel mehr Passagiere, die auf ihr Gepäck warten. Und sie sind alle in unterschiedliche Länder weitergeflogen. Wir müssen nur den Tag morgen überstehen, dann… hmm.«

Sein Blick fiel auf einen Bogen, der aussah, als wäre er der billigste im Laden. Er zitterte am ganzen Leib.

»Schätzchen? Ich rede mit der netten Verkäuferin und frage sie, ob man die Bögen auch ausleihen kann, ja? Alles wird gut. Du wirst schon sehen. Onkel Matty sorgt dafür, dass du morgen an dem Kurs teilnehmen kannst. Dann kannst du den Lehrern dort zeigen, wie gut du bist!«

Er stellte das Mädchen vorsichtig wieder ab, biss sich auf die Lippen und drehte sich zur Kasse um.

Und irgendwie setzten Cas' Beine sich in Bewegung und er stellte sich dem Mann in den Weg.

Sie starrten sich an und… oh Gott. Cas hatte sich den Mann noch nicht richtig angesehen. Nicht ansatzweise. Ihm fielen erst jetzt das kantige Kinn und die Augen auf, die so blau waren wie das Meer. Er musste sich schon mehr als einmal mit den Fingern durch die lockigen Haare gefahren sein, so verstrubbelt waren sie. Wahrscheinlich aus Stress.

Cas juckte es in den Fingern, es ihm nachzumachen. Aber aus ganz anderen Gründen.

Sie starrten sich immer noch an.

Cas räusperte sich und lächelte routiniert. »Es tut mir so leid«, sagte er auf Englisch. Er beherrschte mehrere Sprachen fließend, aber Englisch benutzte er – von seiner Muttersprache abgesehen – am häufigsten. »Ich habe zufällig gehört, worüber Sie gesprochen haben. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Matty blinzelte. Es dauerte einige Sekunden. Er schaute kurz auf das kleine Mädchen an seiner Seite und hob dann wieder den Kopf. »Sie… Sie wollen uns helfen?«, fragte er. »Wie?«

Cas hätte beinahe laut gelacht. Wie er diesem wunderbaren Mann und dem liebenswerten kleinen Mädchen helfen wollte?

Wie immer er nur konnte.