Gunter Gerlach
Ein falsches Wort und du bist tot
Erzählungen
Literatur Quickie Verlag
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Illustration Buch-Cover: Jim Avignon
E-Book-Herstellung: CulturBooks Verlag
ISBN 978-3-95988-197-5
„Mit Vorliebe denke ich gerne an Dinge,
von denen ich denke,
dass andere nicht an sie denken.“
Boris Vian
„'Wenn ich schreibe', so sagte Gunter Gerlach einmal, 'verschwinde ich in meinen Büchern. Ich lebe in einer Welt, die ich selbst geschaffen habe. Das ist das Paradies.' In dieses Paradies können wir dem Autor folgen und uns an seinen höchst eigenwilligen, verschmitzt-absurden Geschichten erfreuen. Zu Recht wurde Gerlach als Meister des Grotesken bezeichnet; in seinen mehrfach preisgekrönten Kurzgeschichten ebenso wie in seinen Romanen, wie etwa Irgendwo in Hamburg, Der Haifischmann oder Ich bin nicht, hat er sich zudem als Meister eines knappen, lakonischen Stils erwiesen. Eine grausame Krankheit hat uns den lieben Freund und geschätzten Kollegen geraubt. In den hier versammelten Stories kommt er uns noch einmal entgegen.“ Regula Venske, Autorin und Präsidentin des PEN Zentrum, Deutschland, April 2021
Gunter Gerlach wurde noch im letzten Weltkrieg in Leipzig geboren. Die ersten Jahre verbrachte er im Luftschutzkeller. Bei seinem Fluchtversuch zu Fuß in den Westen, wurde er von russischen Soldaten gefangengenommen. In Bremen wohnte er anfangs in einer Ruine, die als Bordell genutzt wurde. In Hamburg- Barmbek bekam er Kontakte zu einer kriminellen Bande und zur Kunst. Während einer Lehre als Elektromechaniker, begann er sich der Fotografie zu widmen. Es gelang ihm, nach Abschluss der Lehre, Fotografie auf der Hochschule für bildende Künste in Hamburg zu studieren. Gleichzeitig kam es zu ersten Schreibversuchen. Auf der Hochschule wechselte er die Fachrichtung und gründete mit Dirk Zimmer, Dieter Glasmacher, Hermann Prigann und Werner Nöfer ein Syndikat für Kunstbetrieb. Schließlich verließ er die Hochschule und arbeitete als Texter in verschiedenen Werbeagenturen und selbständig als Fotograf. Mit Beginn der achtziger Jahre erschienen erste literarische Veröffentlichungen. Mit Lou A. Probsthayn, Reimer Eilers und Nicolas Nowack gründete er die Autorengruppe PENG, deren Programm es war, Literatur in den öffentlichen Raum zu bringen. Regelmäßige Veröffentlichungen und Auszeichnungen führten zu dem Versuch, das Dasein ausschließlich als Schriftsteller auszuhalten. Seit 1993 gelingt es ihm, und er gewann einige Literaturpreise – unter anderem den Deutschen Krimi Preis und mehrmals den Friedrich-Glauser-Preis. Ende der neunziger Jahre stellte er mit Michael Weins Überlegungen an über eine dem 3. Jahrtausend angemessene Schriftsprache. Mit weiteren Autoren (u. a. Sven Amtsberg, Alexander Posch, Gordon Roesnik, Lou A. Probsthayn) entstand das puristische Regelwerk „Hamburger Dogma“. Er begründete die Veranstaltungsreihe „Betrunkene Autoren lesen vor“ und war auch Veranstalter des wöchentlichen Literatur-Quickies.
Zu den meisten seiner Lesungen hat Gunter Gerlach immer einen seiner Hunde, oft sind es schwarze gewesen, mitgebracht, denen der Autor dann vorgelesen hat. Immerhin ein Lesewesen, das ihm aufs Wort folgte auf seinen stets ungewöhnlichen Lesungen. Das lässt sich nicht vorstellen, das Unvorstellbare dieser ‚poetischen’ Situation. Und wenn der Leser schließlich noch dem Unvorstellbaren seiner phantastischen Prosa folgt, hat er sich längst in einer seiner grotesken Geschichten verirrt. Noch während man versucht, das Wahre und das Unwahre zu unterscheiden, ist man längst in Gunter Gerlachs Kopf eingeschrieben und selbst zu seinem Protagonisten geworden, zu einer Abschrift seiner abstrusen Absichten. So ist es schon vielen Lesern*innen ergangen. Gunter Gerlach versteht es, alle auf einfachen sprachlichen Wegen ex abrupto in zwei- oder auch dreifache Welten
zu transferieren. Wehe dem, der dann behauptet, er würde dort unter anderem mit den Gegenständen – z.B. Schrank, Tisch und Stuhl – in den Geschichten sprechen können.
Wir behaupten an dieser Stelle, dass Gunter Gerlach der legitime und literarische Epigone des französischen Autoren Boris Vian ist, was wir mit diesem Erzählband „Ein falsches Wort und du bist tot“ beweisen werden. Ob wir das wirklich können, wissen wir nicht so genau. Aber wer will das schon!? Gunter Gerlach hat 1984 seinen ersten phantastischen Roman „Das Katzenkreuz“ im Eco Verlag, Zürich, veröffentlicht. Ihm folgten weitere 30 Bücher, die mal krimiesk oder auch kafkaesk unter die Leser kamen. Für sein Schaffen erhielt der Autor diverse Auszeichnungen und Stipendien. „Ein falsches Wort und du bist tot“ ist sein zweiter Erzählband.
„Ins Kino mit Sarah“, „Paarweise“, „Der Chef“, „Kein Platz“, „Zu schnell“, „Nachbarn“, „Dinger wegschaffen“, „Fleisch“ und „42 Millimeter“ (alle 2010), erschienen im Erzählband Von Mädchen und Mördern im Ellert & Richter Verlag, Hamburg.
„Neue Töne“ (2008), erschienen in schokoladige Kurzkrimis Killerkakao, KBV Verlag, Hildesheim.
„Lügen in Lünen“ (2012), erschienen im Kalendarium des Todes, Mord am Hellweg VI, Grafit Verlag, Dortmund.
Mittwochs Fensterputzen. Aber von der Straße aus sehen meine Scheiben doch nicht so blank aus wie die anderen. In der Hauptstraße werden die Fußwege gebohnert und die Häuser gewaschen.
Alles glänzt. Der Himmel ist frisch gestrichen. Die Menschen tragen weiße Kleidung, das ist jetzt Vorschrift. Aus der Tür meiner Lieblingskneipe quillt Seifenschaum.
„He, halt!“, brüllt der Wirt. Ich bleibe stehen, folge mit dem Blick der Richtung seines ausgestreckten Arms. Meine Schuhe. Sie hinterlassen klebrige Abdrücke auf dem feuchten Fußboden. Der Wirt wirft mir einen Lappen zu, und ich verwische meine Spuren, putze meine Schuhe ab. Der Wirt ist nicht zufrieden, sein Blick ist Verachtung. Blitz sitzt am Tresen. Er heißt so, weil die blonden Haarsträhnen im Zickzack von seinem Kopf abstehen. Er betreibt eine chemische Reinigung.
„Du siehst fertig aus“, stellt er fest.
„Ja, ich schaffe es nicht, meine Wohnung sauber zu halten. Kaum bin ich fertig, kann ich schon wieder von vorn anfangen.“ Ich ziehe mich auf einen Barhocker hinauf. In einer Ecke sitzt ein letzter Raucher unter einer Glaskuppel.
„Du brauchst eine Putzfrau“, sagt Blitz. Der Wirt grinst. Freie Putzfrauen gibt es schon lange nicht mehr. Er beugt sich über den Tresen und schnüffelt in meine Richtung. Dann stellt er den Luftreiniger auf eine höhere Stufe.
„Ein Bier, bitte“, sage ich.
Zögernd nimmt der Wirt ein Glas. Er schnippt mit dem Fingernagel dagegen. „Muss ich dann wieder abwaschen und polieren.“ Er stellt es trotzdem unter den Zapfhahn. Blitz neigt sich mir zu.
„Ich hätte vielleicht eine Putzfrau für dich“, flüstert er.
„Ehrlich? Was muss ich tun?“ Der Wirt klopft auf das blank gewienerte Messing des Tresens.
„Hier wird nicht geflüstert. Keine dreckigen Witze, keine schmutzigen Gedanken! Ist das klar?“ Wir nicken. Ich kriege mein Bier. Wir wagen nicht mit den Gläsern anzustoßen, heben sie nur hoch, nicken uns zu.
„Sauber bleiben.“ Das ist der offizielle Trinkspruch.
An der Außenseite unserer Gläser laufen eilig Tropfen herab. Mit einem Lappen, den uns der Wirt dafür gegeben hat, fangen wir sie auf. Im Radio kommt eine Durchsage der Stadtreinigung. Namen und Adressen. Mein Name ist dabei. Mir rutscht das Glas aus der Hand.
Ich komme zu spät. Der Wirt bestand darauf, dass ich das Bier aufwische, mein Glas abwasche und poliere. Zum Glück war es heil geblieben.
Vier Männer in leuchtend orangefarbenen Uniformen sind schon in meiner Wohnung. Sie gucken unter das Bett, fahren mit dem Finger an der Oberkante der Türen entlang, klopfen Staubwolken aus den Sesselpolstern, holen kleine dunkle Teile aus den Fußbodenritzen, nehmen Proben für Laboruntersuchungen. Die Bedenken lassen ihre Köpfe schwanken. Plötzlich entdecken sie meine im Schritt nasse Hose.
„Bier“, erkläre ich mit ausgebreiteten Händen und hochgezogenen Schultern.
Ekel treibt ihnen die Magensäfte in den Mund. Sie zücken die roten Kontrolllisten für Kleidung und Körper. Am Ende ihrer Untersuchung zahle ich Bußgelder und bekomme einen Termin zur Nachkontrolle.
Kaum sind sie gegangen, steht Blitz in der Tür. Er presst einen Finger gegen die Lippen, dann winkt er jemandem, der auf dem oberen Treppenabsatz wartet. Es ist ein junges Mädchen in diesen modernen weißen Overalls, deren Ärmel als Putzlappen enden.
„Sie kommt aus dem Regenwald“, sagt Blitz. „Da gibt’s ja keine Arbeit.“ Sie beginnt sofort zu putzen. Wir sitzen auf dem Sofa, sehen ihr zu und bewundern ihre Beweglichkeit.
„Kann ich mir die leisten? “
„Taschengeld, Unterkunft und Verpflegung.“
„Die wohnt bei mir?“
„Ab sofort.“ Als Blitz gegangen ist, zieht mich das Mädchen aus, stopft, meine Kleidung in die Waschmaschine und lässt Wasser in die Badewanne. Dann schrubbt sie mich, schneidet meine Haare ab, rasiert meinen Körper vom Kopf bis zu den Füßen. Schließlich bringt sie mich ins Bett. Sie kommt mit einem Saft, in den sie ein weißes Pulver schüttet.
„Trinken für sauber innen.“ Die Worte gleiten ihr von der glatten Zunge. Ich hebe die Bettdecke für sie an, aber sie will nicht mit hinein.
„Sauber bleiben“, sagt sie. „Noch Arbeit.“
Ich bin müde von ihrer Behandlung.
Tage später wache ich wieder auf. Die Wohnung ist leer. Kein Mädchen mehr, kein Fernseher, kein Computer. Kein einziges Möbelstück. Selbst das Bett hat sie unter mir abgebaut. Ich liege nur noch auf der Matratze.
Ich schnuppere an meinen Achselhöhlen, dann betrete ich die Kneipe. Ein künstlicher Sonnenstrahl quer durch den Raum zeigt die Staubdichte der Luft an. Praktisch Null. Der Wirt hat den Schädel rasiert. Er grinst, poliert mit dem Ärmel die Bierfilze. Auch Blitz hat eine Schädelrasur hinter sich. Ich streiche mir selbst über den blanken Kopf.
„Mal ehrlich, Haare sind doch bloß Staubfänger“, sagt der Wirt. Ich kriege ein Bier ohne Schaum. „Schaum ist doch ekelhaft“, beantwortet der Wirt meinen Blick. In der Ecke sitzt der letzte Raucher unter einer Glasglocke, aber er raucht nicht mehr. Der Wirt zieht die Mundwinkel herab, öffnet seine Hand in Richtung des Rauchers.
„Der dunstet nur noch aus.“
„Das Mädchen ist weg“, sage ich zu Blitz. Er nickt. „Ich weiß. Die ist auch nichts für immer.“
„Sie hat aber alle meine Möbel und Wertsachen mitgenommen.“
„Ich weiß“, sagt Blitz.
„Musst du so sehen“, sagt der Wirt. „Die haben da ja auch nichts im Regenwald. Wir tun ein gutes Werk.“
Draußen marschiert ein Trupp in orangefarbenen Uniformen vorbei. Schichtwechsel.
„Hat auch Vorteile“, sagt Blitz. Ich nicke. Der Gedanke an meine leere Wohnung gefällt mir. Leicht sauber zu halten.
Ich laufe die drei Treppen zu Sarahs Wohnung hinauf. Immer zwei Stufen auf einmal. Die Tür steht offen.
„Welchen Film?“, frage ich schon im Flur.
Dienstag ist unser Kinotag.
„Ich weiß nicht“, sagt Sarah. Sie sieht mich nicht an, sitzt am Rand der Couch, als wäre sie bei sich selbst zu Besuch. Ihre Schminksachen sind auf der Sitzfläche verstreut. Hosen und T-Shirts liegen über den Lehnen. In ihrem Wohnzimmer gibt es nur die Couch und den Fernseher.
„Was meinst du damit, du weißt es nicht?“ Ich betrachte meine Schuhe. Sie sind schwerer als sonst. Ich wachse aus ihnen heraus in die Höhe. Ich gehe zum Fenster. Auf dem Fensterbrett steht eine Azalee, die ich einmal für Sarah an einer Tankstelle geklaut habe. Sie ist vertrocknet.
„Ich weiß nicht“, sagt Sarah. Sie bemalt ihre Lippen. In einem kleinen Spiegel betrachtet sie ihren Mund. Sie presst die Lippen aufeinander. Dann küsst sie ein Papiertaschentuch. Ein Abdruck wie Blut.
Sie legt den Spiegel weg, lehnt sich zurück und guckt den Fernseher an, aber der ist aus.
Ich hebe die Zeitung vom Fußboden auf. Meine Schuhe knurren. Ich lese Sarah die neuen Filme vor.
„Ich weiß nicht“, sagt Sarah bei jedem Film. Sie legt den Kopf schräg und betrachtet ihr Spiegelbild auf der dunklen Bildröhre des Fernsehers. Sie zieht die Mundwinkel einmal kurz hoch.
Wenn wir uns nicht über Filme unterhalten, weiß ich nie, was ich mit Sarah reden soll. Vielleicht liegt es daran, dass ich sie im Kino kennengelernt habe.
Wir gehen immer dienstags ins Kino, weil es da billiger ist. Und meist auch noch freitags. Und wenn viele neue Filme anlaufen, dann gehen wir auch schon dreimal in der Woche.
„Wir können uns auch einen Film zum zweiten Mal ansehen“, sage ich.
„Ich weiß nicht“, sagt Sarah. Sie feilt ihre Fingernägel. Immer wenn sie mit einem Finger fertig ist, hält sie ihn in die Höhe, betrachtet ihn, als wolle sie ihn loben oder beschimpfen. Ihre Finger sind faltig wie Hühnerbeine.
„Wir können auch was anderes machen“, sage ich.
„Ach, ich weiß nicht“, antwortet Sarah. Mit ihren Fingern formt sie eine Vogelkralle auf ihrem Oberschenkel und schabt über den Stoff ihrer Jeans. Ich betrachte meine Schuhe. Etwas stimmt nicht mit ihnen. Ich weiß nicht mehr, warum ich sie gekauft habe. Meine Füße sind darin eingesperrt.
„Der Fernseher ist auch kaputt“, sagt Sarah. „Kein Bild mehr.“ Sie ist fertig mit den Fingern und bindet ihr Haar nach hinten zusammen. Ihre Ohren kommen zum Vorschein.
„Ich finde“, sage ich, „der Mensch sähe ohne Ohren besser aus. Der Kopf wäre dann glatt an den Seiten.“
„Das ist doch blöd“, sagt sie.
„Wir gehen einfach los“, sage ich. „Wir gehen doch immer ins Kino.“
„Das ist doch total blöd“, sagt sie. Sie zieht die Beine auf die Couch und verschränkt die Arme.
Meine Füße jucken. Wahrscheinlich staut sich das Blut am Rand der Schuhe. Ich müsste sie ausziehen. Ich gehe durch den Raum und schiebe die Sachen auf der Couch zur Seite.
„Oh Mann, muss das sein?“, sagt Sarah. Ich setze mich trotzdem neben sie.
„Wir bleiben einfach hier und reden über die Filme, die wir gesehen haben“, schlage ich vor und lege meine Hand auf ihren Schenkel. Sie zieht ihre Beine von mir weg und sagt: „Nicht.“
„Was nicht?“
„Das.“
Ich weiß nicht, wohin mit meinen Händen. Ich versuche sie in die Hosentasche zu stecken. Im Sitzen passen meine Hände nicht in die Taschen.
Ich stehe wieder auf und gehe zur Azalee zurück. Meine Schuhe machen den Lärm von schwarzen Kohlen, die über den Boden rollen. Ich versuche mich an einen Film zu erinnern, den wir beide gut fanden. Die braunen Blätter der Pflanze zerbröseln zwischen meinen Fingern.
„Die braucht mal Wasser“, sage ich.
„Kann sein“, sagt sie. Sie guckt den Fernseher an mit Augen aus Glas. Ich sehe aus dem Fenster. Ich denke, wenn ich mich wieder umdrehe, ist sie weg, hat sich einfach aufgelöst, ist nur noch eine Schleimpfütze auf dem Sofa, wie in einem Film mit Außerirdischen.
Wir gehen immer ins Kino, weil wir dann anschließend über den Film reden können. Über andere Dinge können wir nicht so gut reden. Zum Beispiel über Möbel. Zu Möbeln fällt mir nichts ein.
Wenn wir Sarahs Freundinnen treffen, reden wir auch über Filme. Manchmal reden Sarah und ihre Freundinnen auch über Hosen, die sie sich kaufen wollen. Ich kann nicht über Hosen reden. Was soll man auch zu Hosen sagen? Das ist doch kein Thema.
Sarah wackelt mit den nackten Zehen. „Ich lackiere mir doch lieber die Zehennägel.“ Sie langt nach der Nagellackflasche auf dem Fußboden. „Wie findest du die Farbe?“
„Gut“, sage ich.
„Gut oder sehr gut?“
„Was weiß ich“, sage ich. Ich mag es nicht, wenn sie ihre Zehennägel bemalt. Ihre Zehen sehen aus wie Glieder von Außerirdischen im Kino.
„Eigentlich sind wir Außerirdische“, sage ich.
„Du spinnst“, sagt Sarah.
Sarah besitzt ein Videogerät. Es funktioniert seit einem halben Jahr nicht mehr. Als es noch in Ordnung war, haben wir manchmal Filme ausgeliehen. Aber es ist nicht dasselbe. Wenn wir einen Film auf Video gesehen haben, können wir nicht darüber reden. Wenn Filme auf Video erscheinen, sind sie immer schon im Kino gelaufen, was soll man dann noch darüber reden. Kino ist besser. Nach dem Kino kommt Sarah auch oft noch mit in eine Kneipe.
Sarah tuscht sich die Wimpern. Sie spuckt in einen kleinen Kasten mit schwarzem Schlamm. Mit einer winzigen Bürste überträgt sie die Farbe. Kleine Farbklumpen hängen an den Wimpern.
„Das sieht nicht gut aus“, sage ich. „Wie Schuhcreme.“
„Was weißt denn du“, sagt Sarah.
„Und wenn wir ein Bier trinken gehen?“, frage ich.
„Ich weiß nicht“, sagt Sarah, „ohne vorher Kino?“
„Wir könnten so tun, als ob wir im Kino gewesen wären.“
„Das ist doch blöd“, sagt Sarah.
Sarah probiert eine neue Jeans an. Ihre Füße bleiben nackt. Sie stellt sich auf Zehenspitzen. Ich erzähle ihr, welche Szene mir im letzten Film am besten gefallen hat. Sarah sagt, sie wüsste nicht, ob das die beste Szene wäre, und wenn man etwas nicht genau wüsste, dann wäre es auch nicht gut. Sie zieht eine neue Bluse an und geht ins Bad. Ich gehe hinterher.
Im Bad tupft sich Sarah etwas Rouge auf die Wangen und verreibt es. Rote Flecke, als käme sie aus einem Actionfilm.
„Geh doch allein“, sagt sie.
Ich krame in den Hosentaschen nach meinem Feuerzeug, gehe zurück ins Wohnzimmer und probiere es an der Azalee aus. Sie brennt ein bisschen, aber dann verlöschen die Flammen. Meine Schuhe verlieren ihre Form. Sie sind schwarze Klumpen am Ende meines Körpers.
„Ich gehe dann mal“, sage ich. Aber ich bleibe am Fenster stehen.
„Wie riecht das hier?“, fragt Sarah.
„Die Azalee“, sage ich. „Ich hab die Azalee angezündet. Aber sie ist wieder ausgegangen.“
Sarah tupft sich etwas Parfüm aus einer grünen Flasche auf den Hals. Dann geht sie den Flur entlang und öffnet mir die Tür. Im Treppenhaus schickt mein Magen etwas Säure bis in die Mundhöhle.
Meine Schuhe sind geschwollen, finden kaum Halt an den Stufen. Unten vor dem Haus setze ich mich auf den Boden und warte darauf, dass Sarah die Azalee aus dem Fenster wirft.
Auf dem Monitor des Bildtelefons erscheint das Titelmädchen einer Zeitschrift. Sie hat eine tiefe Männerstimme: „Du wolltest doch heute Abend Kuchen backen?“
Es ist das vereinbarte Stichwort. Ich weiß, wer sich hinter der Zeitschrift verbirgt. Er riskiert seinen Job.
„Ja. Komm doch vorbei.“
„Gut, zwischen sechs und acht, genauer kann ich es nicht sagen.“
Ich lege auf. Es würde also wieder mal eine Kontrolle stattfinden. Mein Problem ist, ich lebe allein.
Jeder findet das Gesetz gut. Ich auch. Jeder sieht ein, dass es eine gute Sache ist, gemeinsam mit einem Partner zu leben. Nicht nur wegen der Steuer. Nicht nur, weil man Energie und Geld spart. Der Mensch ist ein Paartier. Erst zwei zusammen entsprechen der Natur. Und schließlich ist es ja egal, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Man hat die Wahl. Nur ein Hund genügt vor dem Gesetz nicht.
Mein Problem ist, ich finde niemanden, der zu mir passt. Ich habe es wahrhaftig oft genug probiert. Es waren über dreißig Paarungen. Manche sogar mit Sex. Wenn jemand es so oft und so exzessiv versucht hat, für den sollte es im Gesetz Ausnahmen geben. Aber ich begreife, dass man das nicht machen kann. Das wäre Anarchie, Chaos. Alles, was mir jetzt bleibt, ist die Vortäuschung von Gesetzestreue. Ich beginne zu telefonieren.
„Hallo, Bernd, ich bin’s. Ich wollte heute Abend einen Kuchen backen. Meinst du, Anja hat Lust, mir dabei zu helfen?“
„Oh, das tut mir leid. Wir haben Gäste.“
Ich verabschiede mich. Mein Telefonverzeichnis ist im Laufe der Jahre dünner geworden. Ich habe nicht mehr viele Freunde.
Gut, ich bin auch kein einfacher Mensch.
„Du bist überhaupt keiner menschlichen Regung fähig. Du bist eiskalt“, hatte Henrike, mein letzter Versuch, mir vorgeworfen. „Und ruf mich ja niemals wieder an.“ Ihre letzten Worte, schon im Treppenhaus. Mit Koffern.
Ich vermisse sie nicht. Jede Nacht warf sie sich in ihrem Bett hin und her, grunzte, stöhnte und schwitzte. Wer kann das aushalten?
Früher habe ich mir bei Kontrollen den Partner meines Nachbarn in der Wohnung unter mir geliehen. Ein Sportstudent. Bei Bedarf kletterte er über eine Strickleiter von Fenster zu Fenster. Dann stürzte er ab. Ich wohne im achten Stock. Bei dieser Höhe haben auch Sportstudenten keine Chance. Der Nachbar leiht mir nichts mehr. Neuerdings werden die Kontrollen in allen Wohnungen der Mietshäuser gleichzeitig durchgeführt. Da haben Sportstudenten auch gar keinen Sinn mehr. Man braucht jemanden, der möglichst über Nacht bleibt – falls sie wiederkommen.
„Hallo, Thorsten. Ich bin’s. Habt ihr heute was vor?“
„Warum?“
„Ich wollte einen Kuchen backen.“
„Oh, wir auch.“
Pech, denen steht selbst eine Überprüfung bevor. Wen habe ich noch? Vielleicht Hanna. Obwohl sie mich ständig mit ihren klebrigen Händen berühren will. Es kostet mich Überwindung, sie anzurufen.
„Hallo, Hanna, hast du Lust, mit mir einen Kuchen zu backen?“
„Oh, ich bin selbst gerade unterversorgt.“ Dieses leichtsinnige Huhn vergisst die Codierung.
„Dann komm doch rum.“
„Nee, ich habe eine Verabredung. Drück mir die Daumen.“
Die Zeit wird allmählich knapp. Noch eine Stunde. Wen sie als Single erwischen, der verliert seine Wohnung und wird zur Partnersuche sofort auf die Straße geschickt. Meist schließt sich dann eine Odyssee durch fremde Betten an.
„Warte mal, Hanna, hast du vielleicht eine Idee für mich?“
„Ja, ruf doch Ralf an.“
Bei Ralf geben sich die Partner alle paar Tage die Klinke in die Hand. Ich mag ihn nicht.
Ralf ist irgendwo unterwegs, ich erreiche ihn nur über Mobiltelefon. Er lacht, als ich ihm das Stichwort nenne. Aber er sagt, es wäre kein Problem, er hätte eine Speziallösung. Ich solle ganz ruhig bleiben. Er käme gleich vorbei.
Er kommt mit einem großen Paket über der Schulter. Es ist ein Mädchen darin. Sie ist tot. Er legt sie in mein Bett, macht sie zurecht und kassiert einen großen Schein. Die Verpackung nimmt er wieder mit.
„Bis morgen früh“, sagt er. „Dann muss sie wieder in die Kühltruhe. Ich brauche sie selbst noch.“
Sie sieht aus, als ob sie schliefe. Sie ist nackt und schön. Wunderbares glänzendes Haar. Keinerlei Verletzungen. Ich decke sie nur halb zu und lasse eine kleine Lampe im Schlafzimmer brennen, die ich zusätzlich mit einem Tuch verdunkle. In der Küche gieße ich ein Glas Wasser ein. Mit dem Glas neben dem Bett wird es noch überzeugender aussehen. Ich bringe es ihr, küsse sie auf die Stirn und wünsche ihr eine gute Nacht. Alles ist perfekt. Ich setze mich ins Wohnzimmer und öffne eine Flasche Wein. Es geht mir gut. Ich bin ganz ruhig. Das Bild des schlafenden Mädchens im Nachbarzimmer lässt mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ernsthaft über eine Zweierbeziehung nachdenken. Vielleicht habe ich ja immer nach dem falschen Partnertyp Ausschau gehalten.
Die Wohnungsklingel schreckt mich auf. Ich war eingenickt. „Partnerpolizei, bitte öffnen Sie.“
Ich lächle die Männer an und lege den Finger an die Lippen. „Sie schläft gerade. Sie ist ziemlich krank und erschöpft.“
Die Männer nicken. „Wir sind leise.“
Ich führe sie zum Schlafzimmer. Auf Zehenspitzen nähern sich zwei von ihnen dem Bett mit dem toten Mädchen. Sie beugen sich über sie und kommen lächelnd zu mir zurück. Leise unterrichten sie ihre Kollegen und verschwinden.
Ich trinke noch ein Glas Wein und sehe dem Fernsehprogramm zu, ohne es wahrzunehmen. Ich denke daran, dass die Mitarbeiter der Partnerpolizei eigentlich glücklich sein müssen, weil sie einen Dienst am Menschen leisten. Weil es schön ist zu sehen, wie zwei Partner friedlich zusammenleben. Es ist gut, dass der Staat sich darum Sorgen macht. Weil es richtig ist, dass es Gesetze und Regelungen gibt. Natürlich muss man noch einmal darüber diskutieren dürfen, wer als Partner gilt. Kann zum Beispiel ein Hund von einer bestimmten Größe an, ein Reh oder meinetwegen ein Barsch nicht auch genügen?
Gegen Mitternacht lösche ich das Licht, ziehe mich aus und gehe ins Bett. Ich lege meinen Arm um ihren Körper. Er ist wunderbar kühl. Ich küsse ihre Brüste, ihren Bauch und streichle ihre blassen Wangen.
„Ich liebe dich“, flüstere ich. Sie widerspricht nicht. Sie lacht nicht über mich. Sie stöhnt nicht. Sie schwitzt nicht. Sie kühlt meine Hitze. Am Morgen warte ich vergeblich auf Ralf. Sein Telefon ist abgestellt. Nach ein paar Stunden wird mir klar, dass er das Mädchen gar nicht wieder abholen will. Ich werde sie behalten müssen. Aber das will ich inzwischen sowieso. Alles, was ich benötige, ist eine Kühltruhe. Gegen Mittag ziehe ich mich an, um eine zu besorgen. Hoffentlich können die schnell genug liefern. Ich gehe gerade aus dem Haus, als Ralf vorfährt. Ich tue so, als sähe ich ihn nicht. Es nützt nichts, er winkt mir. Dann holt er die Verpackung vom Rücksitz des Wagens. Er kommt zu mir, hebt die Schultern.
„Konnte nicht schneller, tut mir leid.“
Ich mag ihn nicht.
Ich bin ihr auf einer der Felstreppen zum Oberland begegnet. Ich kam von unten. Zuerst gerieten nur ihre nackten Füße in meinen Blick. Ihre Zehen waren kleine Würmer. Mit hoher Beweglichkeit wuchsen sie aus einem breiten Knochen. Schnell senkte sie den Vorhang ihres Rocks. Bleiches Blau.
Sie ging vorbei und drehte sich um. Ihre Augen ein bleiches Blau. Meine Hand verfehlte das hölzerne Geländer, griff ins Leere. Ich stürzte, überschlug mich und lag am Ende der Treppe mit schmerzenden Knien und Ellbogen vor ihr.
Die von den Baugerüsten gestohlenen Schrauben für unser Bohrgestänge hüpften aus meinen Taschen, sprangen um mich herum. Flöhe. Sie lachte und stieg über mich hinweg.
Wir sind fünf. Wir bohren nur montags. Wir sind sicher, dass es der richtige Tag ist. Mit einem Montag hat die Welt angefangen. Von morgens bis abends bohren wir ein Loch in einer schmalen Senke. Diese Arbeit haben wir uns selbst ausgedacht. Je nach unserer Tätigkeit haben wir uns neue Namen gegeben: Drehwurm, Klopfer, Schmierer und Schrauber. Ich heiße Dieb. Ich besorge die notwendigen Werkzeuge.
Unsere Idee ist, so lange zu bohren, bis uns der Chef nicht mehr übersehen kann. Wir glauben, er kommt nur an einem Montag. Wir können uns nicht vorstellen, dass er an einem anderen Tag seine Kontrolle macht. Wenn er vor uns steht, wollen wir ihm unsere Fragen stellen.
An den ersten Montagen hat sich niemand um uns gekümmert. Heute steht plötzlich ein Bauer am Rand der Senke und sieht uns zu. Nach einer Weile stemmt er die Arme in die Hüften und zieht den Schleim durch die Nase hoch. „Was macht ihr da?“
„Ach, wir bohren“, sagt Drehwurm. „Nur so.“
Drehwurms Kopf schaukelt auf seinem Hals wie bei einem gefangenen Tier. Der Bauer nickt.
Schmierer wirft mir einen Blick zu.
„Es funktioniert“, murmelt er.
Der Bauer geht wieder. Vielleicht holt er den Chef.
Doch den ganzen Tag kommt niemand mehr. Manchmal fürchten wir, der Chef ist tot. So lange haben wir nichts mehr von ihm gehört. Am Nachmittag balanciert ein alter Mann am Rand entlang.
„Gut macht ihr das“, sagt er.
Wir stellen uns vor, wenn wir tief genug gebohrt haben, bricht Licht aus unserem Bohrloch. Dann muss der Chef kommen. Das kann er nicht zulassen.