rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2021
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Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier
Diagramme zu den «Revolutiones» Sammlung des Autors
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Covergestaltung any.way, Hamburg
Coverabbildung ullstein bild (Nikolaus Kopernikus. Anonymer Holzschnitt, 16. Jahrhundert)
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ISBN 978-3-644-01024-6
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-01024-6
Aus Gründen der Vereinheitlichung wird durchgängig die kopernikanische Schreibweise caelestium verwendet (statt wie in manchen Ausgaben coelestium).
Friedrich Nietzsche. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. V. Colli u. Montinari. Bd. 12, München 1980, S. 126
Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt 1967, S. 266
Mann, a.a.O. S. 271, 272
Mann, a.a.O. S. 272
Mann, a.a.O. S. 273
Mann, a.a.O. S. 274
Jean Paul, Vorschule der Ästhetik. Zit. bei Blumenberg, Genesis. S. 627
Zit. bei Herbert Pietschmann. Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters. Wien 1983. S. 111
Nietzsche, Bd. 12, S. 126
Nietzsche, Bd. 5, S. 404
«Der Spiegel» 8/1978, S. 188
Pietschmann, Ende, S. 86 (u.a.)
Carl Sagan, Unser Kosmos. München 1982, S. 266
Zit. bei Jochen Kirchhoff, Schelling (rowohlts monographien 308). Reinbek 1982, S. 67
Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Hg. v. R. von Koeber. Bd II. Berlin 1891, S. 130
Rev. S. 9
Blumenberg, Genesis. S. 640
Zit. bei Blumenberg, a.a.O. S. 618
Zit. bei Blumenberg, a.a.O. S. 709
Zit. bei J. Manthey (Hg.), Nietzsche. Literaturmagazin 12. Reinbek 1980, S. 379
ebd.
Blumenberg, Genesis.S. 694
Zit. bei Blumenberg, a.a.O. S. 336
Zit. bei Blumenberg, a.a.O. S. 339, 340
Kuhn, Kop. Revolution. S. 135
Blumenberg, Genesis. S. 416
Rev. S. 6. Übersetzung von G. Klaus in der zweisprachigen Ausgabe von 1959. Zit. bei Kuhn, Revolution. S. 144
Kuhn, Revolution. S. 175
Kuhn, ebd. S. 186
Crombie, Von Augustinus bis Galilei. S. 72, 73
Jammer, Problem des Raumes. S. 18
Zit. bei Kuhn, Revolution. S. 83, 84
Koyré, Geschlossene Welt. S. 46
Zit. bei Kuhn, Revolution. S. 85
Rev. S. 17. Übers. zit. bei Kuhn, a.a.O. S. 154 (im Folgenden nur: Kuhn, mit Seitenzahl)
Rev. S. 18. Kuhn S. 154, 155
Rev. S. 18
Kuhn S. 88
Kuhn S. 66
Kuhn S. 68
Kuhn S. 72
Theimer, Relativitätstheorie. An mehreren Stellen des Buches, u.a. S. 168ff.
Kuhn S. 98
Zit. bei Schmeidler, Kopernikus. S. 210, 211
Rev. S. 3, 4. Kuhn S. 137, 138
Zit. bei Blumenberg, Genesis.S. 151
Rev. S. 404
ebd. Übers, bei Schmeidler, Kopernikus.S. 142
Schmeidler, a.a.O.S. 144
Blumenberg, Genesis.S. 36
Zit. bei Schmeidler, Kopernikus.S. 80
Blumenberg, Genesis.S. 243
Schmeidler, Kopernikus.S. 85
Rev. S. 4, 5. Kuhn S. 138, 139
Kuhn S. 140
Kuhn S. 141
Blumenberg, Genesis.S. 206
Zit. bei Schmeidler, Kopernikus.S. 208, 209
Zit. bei Kuhn, S. 185
Zit. bei Blumenberg, Genesis, S. 269
Rev. S. 5–7. Kuhn S. 143, 144
Blumenberg, Genesis.S. 141
Rev. S. 14, 15. Kuhn S. 152, 153
Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. W. Capelle. Stuttgart 1962, S. 486
ebd. S. 487
Kuhn S. 49, 50
Platon. Sämtliche Werke. Bd. 5. In der Reihe Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft. Hg. von Ernesto Grassi. Hamburg 1959. S. 161, 162. In der Stephanus-Numerierung 39 b
Blumenberg, Genesis. S. 275
Aristoteles, Vom Himmel. Zitiert in: Fragmente der Vorsokratiker, a.a.O. S. 488
ebd.
Rev. S. 30
Kuhn S. 279ff.
Zit. bei Fölsing, Galilei. S. 141
Zit. bei Blumenberg, Genesis. S. 24
Zit. bei Blumenberg, a.a.O. S. 281
Rev. S. 22. Kuhn S. 181
Rev. S. 23. Kuhn S. 182
Rev. S. 24. Kuhn S. 182
Blumenberg, Genesis. S. 286
Zit. bei Blumenberg, a.a.O. S. 293
Rev. S. 24–26. Kuhn S. 183–185
Zit. bei Schmeidler, Kopernikus.S. 210
Rev. S. 195
Rev. S. 195, 196
Rev. S. 375
Zit. bei Rosenberg, Copernicus.S. 72
Albert Einstein, Leopold Infeld, Die Evolution der Physik. Von Newton zur Quantentheorie. Hamburg 1956 (rowohlts deutsche enzyklopädie). S. 160
Rev. S. 19. Kuhn S. 156
Rev. S. 15, 16
Kuhn S. 164
ebd.
Rev. S. 10. Kuhn S. 147
ebd.
Platon, Werke. A.a.O. S. 161
Rev. S. 12, 13. Kuhn S. 149, 150
Rev. S. 14. Kuhn S. 151, 152
Rev. S. 18–20. Kuhn S. 155–157
Rev. S. 21. Kuhn S. 158, 159
Koyré, Geschlossene Welt. S. 12
Rev. S. 13. Kuhn S. 150
Blumenberg, Einleitung zum Aschermittwochsmahl. S. 21
Krause, Baustoff der Welt. S. 58, 59, 60
Zit. bei: Hoimar von Ditfurth, Giordano Bruno. In: Epochen der Weltgeschichte in Biographien. Die Konstituierung der neuzeitlichen Welt. Philosophen. Frankfurt 1984. S. 14
ebd.
Blumenberg, Einleitung zum Aschermittwochsmahl. S. 39
Blumenberg, a.a.O.S. 11
Bruno, Aschermittwochsmahl. S. 127, 128
Bruno, Opera Latine I, 1, S. 74
Bruno, Aschermittwochsmahl. S. 145
Bruno, a.a.O.S. 161
Bruno, a.a.O.S. 111
Bruno, a.a.O.S. 70, 71
Bruno, Vom Unendlichen. S. 64
Schelling, Schriften 1801–1804. Darmstadt 1976. S. 349
«Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x.»
(Nietzsche)[1]
Der Großbürger und Humanist Serenus Zeitblom, fiktiver Erzähler von Thomas Manns Faustus-Roman, weiß auch von einem Gespräch mit seinem Freund Adrian Leverkühn zu berichten, in welchem dieser, seltsam engagiert, die Eigenarten der modernen Kosmologie skizziert. Mit Befremdung muss Zeitblom zur Kenntnis nehmen, dass sich Leverkühn gedanklich «in das Unermeßliche» gestürzt habe, «das die astrophysische Wissenschaft zu messen sucht, nur um dabei zu Maßen, Zahlen, Größenordnungen zu gelangen, zu denen der Menschengeist gar kein Verhältnis mehr hat, und die sich im Theoretischen und Abstrakten, im völlig Unsinnlichen, um nicht zu sagen: Unsinnigen verlieren»[2]. Besonderen Wert legt Leverkühn auf die Erwähnung der Winzigkeit und Nebensächlichkeit des Planetensystems im Gesamtgefüge der ungeheuren Sternenwelten und -weiten. Die von den Astronomen errechneten Zahlenwerte, die jedweder Anschaulichkeit entbehren, erscheinen Zeitblom als ein «Angriff auf den Menschenverstand». «Ich bekenne, so geartet zu sein, daß mir nichts als ein verzichtendes, aber auch etwas verächtliches Achselzucken übrigbleibt für das Unrealisierbar-Überimposante … Die Daten der kosmischen Schöpfung sind ein nichts als betäubendes Bombardement unserer Intelligenz mit Zahlen, ausgestattet mit einem Kometenschweif von zwei Dutzend Nullen, die so tun, als ob sie mit Maß und Verstand etwas zu tun hätten.»[3] Er, Zeitblom, könne «keinerlei Grund» sehen, «anbetend vor der Quinquillion in den Staub zu sinken».[4] Schließlich verlangt er, aus der Empörung des Humanisten heraus, von Leverkühn «das Eingeständnis, daß dieser ganze ins Nichts entweichende Zahlenspuk unmöglich das Gefühl von Gottes Herrlichkeit erregen, irgendwelche sittliche Erhebung schenken könne». «Nach einem Teufelsjux viel eher sähe das alles ja aus.»[5] Es sei «amüsant zu sehen», entgegnet Leverkühn, wie sehr des Freundes Humanismus, «und wohl aller Humanismus, zum Mittelalterlich-Geozentrischen neigt, – mit Notwendigkeit offenbar». «Das Mittelalter war geozentrisch und anthropozentrisch … Du siehst, dein Humanismus ist reines Mittelalter.»[6]
In der Kontroverse Leverkühn–Zeitblom hat Thomas Mann das nachkopernikanische Dilemma der Fremdheit und Isolierung des Humanen innerhalb des entgrenzten Universums dargestellt, das Unvermögen des Menschen, die Überwindung der erdzentrierten Welt bewusstseinsmäßig zu verarbeiten. In eigentümlichem Rückzug auf das Geozentrisch-Überschaubare wird der «ins Nichts entweichende Zahlenspuk» der modernen Astronomie der humanistischen Verachtung anheimgegeben, wobei der natürliche Kosmos in seiner ‹Eigentlichkeit› letztlich gleichgesetzt wird mit jenem von der Wissenschaft propagierten Bild des Universums. Diese Gleichsetzung ist bewusstseinsgeschichtlich wirksam geworden, und zwar bis in unsere Zeit hinein. Der Mensch sieht sich herausgebrochen aus einer hierarchisch geschichteten Ordnung der Seinsbereiche, wie sie noch im geozentrischen Weltbild der Antike und des Mittelalters unterstellt wurde. Der «stille Geist», heißt es bei Jean Paul, sei «gleichsam in die Riesenmühle des Weltalls» geraten.[7] Die mittelalterliche Seinsordnung war kosmographisch fassbar und stellte derart einen überirdischen Bezugsrahmen der irdischen Existenz dar. Der Schauplatz der erlösungsbedürftigen Menschheit war im Zentrum des Weltalls angesiedelt und das christliche ‹Heilsgeschehen› auf die Einzigartigkeit der endlichen Welt ausgerichtet. Die erkenntnismäßige Überwindung der Geozentrik, die gemeinhin mit dem Kopernikanismus verbunden wird, musste früher oder später zu einem fundamentalen Umdenkungsprozess hinsichtlich der Stellung des Menschen im Kosmos führen. Diesen Umdenkungsprozess hat Kopernikus selbst nicht gesehen und auch nicht gewollt; er war angetreten, das aristotelisch-ptolemäische Weltgebäude mathematisch zu reformieren, nicht aber mittels eines revolutionären Gewaltaktes zu zerstören. Zwar musste er das Fehlen der Fixstern-Parallaxe – also der scheinbaren Kreisbewegung jedes einzelnen Fixsterns als Abbild der Jahresbewegung der Erde um die Sonne – mit einer erheblichen Ausweitung der Sternenkugel begründen, doch war diese vergleichsweise bedeutungslos in Ansehung der schwindelerregenden Dimensionen der mit Giordano Bruno eingeleiteten Kosmologie, innerhalb derer auch die Fixsternsphäre als Illusion erkannt wurde. Giordano Brunos Unendlichkeitskosmologie bedeutete einen radikalen Bruch mit dem Christentum (was ihn als Ketzer auf den Scheiterhaufen brachte). Die bloße Möglichkeit eines derartigen Gedankens hätte Kopernikus mit Entschiedenheit von sich gewiesen.
Der nachkopernikanische Nihilismus ist eine Folge der weltanschaulichen Konsequenzen, die aus der dogmatisierten und verallgemeinerten Newton’schen Himmelsmechanik gezogen wurden. Innerhalb der atomistisch gedachten und von mechanischen Gesetzen bestimmten Welt war die Gottheit entbehrlich; man denke an die berühmte Aussage von Laplace über die «Hypothese Gott» (gegenüber Napoleon). Derselbe Laplace, maßgeblich beteiligt an der mechanistisch-mathematischen Erklärung der Bewegungsvorgänge im Sonnensystem, schuf die monströse Fiktion eines «Weltdämons», der das gesamte Geschehen im Kosmos in seiner kausalen Verknüpfung zu überblicken und vorherzusagen vermag. Newtons Vorbehalte gegen die pure Immanenz mechanischer Gesetzlichkeit im Universum, die ihm von den Cartesianern und von Leibniz als Inkonsequenz ausgelegt wurde, geriet schnell in Vergessenheit. Die Disproportion zwischen der irdischen Heimstatt und den nicht zu bewältigenden oder zu vermessenden Weiten des Alls bzw. der grauenvollen Leere des absoluten Raumes ließ die metaphysische Würde und Einzigartigkeit der menschlichen Existenz zerrinnen. Auch der stets wiederholte Rückbezug auf die neuplatonischen Bestrebungen Galileis, Keplers und Newtons, der noch bei Einstein und Heisenberg zu beobachten ist, vermochte lediglich eine philosophisch fragwürdige Theologie der mathematischen Abstraktion zutage zu fördern, verbunden mit dem Hinweis auf die allein mathematisch erfassbare Einheit der Natur. Giordano Brunos Radikalisierung des Kopernikanismus in der Lehre vom unendlichen und unendlich belebten Universum (seit dem «Aschermittwochsmahl» von 1584) konnte zwar in der Aufklärungsepoche eine gewisse Wirksamkeit entfalten, wenn auch vereinseitigt zu dem rationalistischen Postulat von der Allgegenwart der Vernunft im Kosmos, büßte aber im 19. Jahrhundert zunehmend an Überzeugungskraft ein. Die meinungsbildenden Persönlichkeiten der Aufklärung waren gleichwohl keine Bewunderer des großen Renaissancephilosophen; eher scheint das Gegenteil zuzutreffen. Innerhalb des schon damals ausgeprägten Wissenschaftsmythos wurden Kopernikus jene Attribute eines revolutionären Geistes zugesprochen, nach denen man im kopernikanischen Werk selbst vergeblich sucht. Kopernikus geriet zur Symbolfigur der neuzeitlichen Bewusstseinsgeschichte, zum kühnen Neuerer und unerschrockenen Verkünder kosmischer Wahrheit gegen den düsteren Dogmatismus der Scholastik. Bei Lichtenberg etwa kommt dies unmissverständlich zur Ausdruck. – Von dem, was später Jacques Monod die «totale Verlassenheit» und «radikale Fremdheit» des Menschen im Weltall nennen wird, der «wie ein Zigeuner am Rande des Universums» seinen Platz hat, «das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden und Verbrechen»[8], ist im 18. Jahrhundert noch nichts zu verspüren. Zwar wird das Leben aus dem mechanistisch verstandenen Weltsystem gedanklich herausgenommen, die geistig-transzendente Herkunft des Menschen betont, doch verliert dieser auf Descartes zurückgehende Dualismus mit der fortschreitenden ‹Naturalisierung› des Menschen seine Wirkungskraft. Im Darwinismus schließlich werden die metaphysischen Zweckursachen des organischen Lebens gänzlich negiert.
Auch Friedrich Nietzsche, der große Diagnostiker der modernen Seele und des abendländischen Nihilismus, sieht in Kopernikus eine Symbolfigur des neuzeitlichen Bewusstseins. Das eingangs gebrachte Zitat aus dem Nachlass (von 1885/86) steht im Zusammenhang mit Überlegungen zur Genesis des Nihilismus; Nietzsche spricht hier von den «nihilistischen Konsequenzen der Naturwissenschaft»[9], als deren Urheber und Ausgangspunkt Kopernikus erscheint. In der «Genealogie der Moral» (erschienen 1887) heißt es analog: «Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein Wille zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist Tier geworden, Tier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott (‹Kind Gottes›, ‹Gottmensch›) war … Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene geraten, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin? ins Nichts? ins ‹durchbohrende Gefühl seines Nichts›? … Alle Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demütigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswertes Geständnis gemacht hat, ‹sie vernichtet meine Wichtigkeit› …), alle Wissenschaft … ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung vor sich auszureden, wie als ob dieselbe nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen ist.»[10] Unter den Auspizien dieser Aussage wird der Rückzug des Humanismus aus der Wissenschaft verständlich, wie ihn die Worte Zeitbloms aus dem Faustus-Roman andeuten. Wenn die Wissenschaft das schlechthin Inhumane enthüllt, sei es als Wirklichkeitsabbild oder als bloße Fiktion, sich im «Unsinnigen» ergeht und derart die metaphysische Würde des Menschen verleugnet, erscheint die ‹geozentrische› Orientierung humanistischer Geistigkeit als konsequente Antwort. Dies bedarf der näheren Bestimmung, auch um die Fragestellung der vorliegenden Studie in der gebotenen Schärfe zu umreißen.
Thomas Manns unverhohlene Geringschätzung des nihilistischen «Zahlenspuks» der Astronomie unter dem Signum des humanistischen Protests muss gemessen werden an den zunehmend sinnloseren und lebensfeindlicheren Zügen des modernen Weltbildes. «Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch», bekennt Steven Weinberg, einer der führenden theoretischen Physiker unserer Zeit und Autor eines mathematisch-spekulativen Werkes über den «Ursprung des Universums». Zugleich räumt er «einen Anflug von Unwirklichkeit» bei derartigen Gedankengängen ein.[11] Es erscheint fraglich, ob es der mathematischen Naturwissenschaft in ihrer Anwendung auf den Kosmos gelingt, so etwas wie ‹Wirklichkeit› überhaupt zu erreichen. Die häufig postulierte Metaphysik der mathematischen Form und der Invarianz der sogenannten Naturgesetze – das heißt ihrer absoluten Unveränderlichkeit in Zeit und Raum – ist platonisch-pythagoreischen Ursprungs. Auf dieser Prämisse beruht die gesamte abstrakte Naturwissenschaft seit Galilei; naturgemäß ist sie unbeweisbar. Die in den letzten Jahrzehnten florierenden Bemühungen der theoretischen Physiker, mathematische Modelle für das Universum zu entwerfen, meist in Weiterführung und auf der Grundlage der Einstein’schen Fiktionen, haben eine bemerkenswerte Breitenwirkung erzielt, nur verstehbar durch die bekannte Flut der Popularisierungen, unter anderem in den Massenmedien. In diesem Rahmen werden die Postulate und Fiktionen von Relativitäts- und Quantentheorie unkritisch absolut gesetzt, wobei die Übergänge zur puren Science-Fiction fließend sind. In der Welt der mathematischen Abstraktion werden selbst Raum und Zeit zu veränderbaren Größen. – Die allgemeine Wissenschaftsgläubigkeit ist nach wie vor groß, und die mathematischen Naturwissenschaften haben längst jene Rolle eingenommen, die einst der christlichen Religion zukam. Der Absolutheitsanspruch der Kirche ist ersetzt worden durch den Absolutheitsanspruch der abstrakten Naturwissenschaft, wenn dieser auch nicht durchgängig offen zutage tritt. Dogmen und Tabus verstellen allenthalben die Sicht, und fortwährend werden beweisbare Teilwahrheiten und deren technologische Ausläufer herangezogen, um das schlechterdings Unbeweisbare plausibel zu machen. Seriöse Grundlagenkritik tritt kaum an die Öffentlichkeit; die einschlägigen Fachzeitschriften bringen fast ausschließlich Modifizierungen der etablierten Lehrmeinungen. Strukturell ähnelt dies dem scholastischen Dogmatismus.
Um der nachkopernikanischen Selbstgefälligkeit der Wissenschaft zu entgehen, tun wir gut daran, die Kosmosmodelle der abstrakten Naturwissenschaft mit einem hohen Maß an Skepsis zu betrachten und sie nicht vorschnell mit der ‹Wahrheit› des Universums zu identifizieren. Schon der erkenntnistheoretische Ansatz der mathematischen Naturwissenschaft müsste zu höchstem Misstrauen herausfordern, wenn es um die Realitätserfassung lebendiger Ganzheiten geht. Bekanntlich besteht die Wissenschaftsmethodik seit Galilei darin, unter Negierung der unmittelbaren Erfahrung nur dasjenige als ‹objektiv› anzuerkennen, was sich quantifizieren lässt, und hieraus, unter weitgehender Beschränkung auf beobachtbare Größen, ein in sich widerspruchsfreies Bild der Wirklichkeit zu konstruieren. Naturgemäß kommt das Leben darin nicht mehr vor. Zur Wissenschaftsmethodik gehört ferner die eigentümliche Ontologisierung der mathematischen Erkenntnismittel, das heißt die Gleichsetzung von Mathematik und objektiver Realität. Physikalische Widersprüche und Unverträglichkeiten werden mittels der Mathematik ausgeschaltet und für ‹aufgehoben› erachtet. – Mit einigem Recht kann der abstrakt-mathematischen Betrachtungsart eine lebensfeindliche Tendenz unterstellt werden, wie dies selbst in den Reihen der Physiker wiederholt geschehen ist. Wenn die Naturwissenschaft letztlich auf eine Welt hin konstruiert ist, in der mit den Widersprüchen des Lebendigen auch der Mensch eliminiert wird, wie jüngst der Physiker Herbert Pietschmann betonte[12], dann ist von einer derartigen Betrachtungsart, wenn sie sich der Kosmologie zuwendet, kaum etwas anderes zu erwarten als die Behauptung, der Kosmos kenne das Prinzip Leben nur als Ausnahme und Zufallsprodukt.
Was ‹wissen› wir über den Kosmos, seine Gesetze und sein inneres Gefüge, die ihn konstituierenden Prinzipien und Kräfte? Sind wir ‹weiter› als Kopernikus, jedenfalls was die kosmischen Regionen außerhalb des Planetensystems anlangt? Die Beantwortung dieser Fragen hängt letztlich von erkenntnistheoretischen Grundsatzentscheidungen ab, die erheblich ‹tiefer› und schwieriger sind, als zumeist angenommen wird. Wir registrieren die Fixsterne auch mit Hilfe der größten Fernrohre nur als strukturlose Punkte; präzise Aussagen über Dichte, Temperatur und Entfernung entbehren der experimentellen Nachprüfbarkeit. Die Legitimität der Extrapolation physikalischer ‹Naherfahrung› in die abgründigen Weiten des Alls bleibt unbeweisbar. Die spekulativen Schlussfolgerungen der ‹Kosmologen› basieren auf der Interpretation spektralanalytischer Untersuchungen im Rahmen bestimmter physikalischer Postulate. Was als die «zweite astronomische Revolution» zu hohem Ansehen kam, die wissenschaftliche Kosmologie der letzten Jahrzehnte (innerhalb derer die Fiktion des «Urknalls» und der «Expansion des Universums» zu besonderer Popularität gelangte), beruht auf der unbewiesenen Anwendung des sogenannten Dopplereffektes auf die Rotverschiebung der Spektrallinien ferner Galaxien.[13] Andere Interpretationsmöglichkeiten scheinen keinerlei ‹Kurswert› zu besitzen.
Die neuzeitliche Physik ist entstanden aus dem Bemühen um eine naturwissenschaftliche Fundierung der astronomischen Reform des Kopernikus; es galt, verständlich zu machen, wie der eindrucksvolle Schein der Ruhe und Unverrückbarkeit des irdischen Standortes mit der ‹rasenden› Bewegung des Gestirns Erde zu vereinbaren ist. Kopernikus selbst hat die physikalische Dimension des Problems weit unterschätzt, da sein Augenmerk vornehmlich auf die Korrektur der mathematischen Astronomie gerichtet war. Die ungeheure Zumutung einer bewegten Erde für die unmittelbare Sinneserfahrung und die irdische Physik hat er offensichtlich nur unzulänglich erkannt. Dass die aristotelische Physik durch eine radikal andere Physik zu ersetzen sei, haben erst Giordano Bruno, Kepler und Galilei gesehen. Aus der Herausforderung der kopernikanischen Reform erwuchs das Trägheitsprinzip als eine Art Leitfiktion der mathematischen Physik; das nie Beweisbare (jedenfalls in der behaupteten Universalität und Absolutheit) geriet zum abstrakten Ersatz für die verborgenen Bewegungsursachen der Planeten. Seit Newton, mit Vorformen bei Galilei, Descartes und Gassendi, wurden Ruhe und geradlinig-gleichförmige Bewegung als dynamisch gleichwertige Zustände aufgefasst; so bedurfte es fortan keiner die Planeten vorantreibenden Kraft mehr. Die Unanschaulichkeit des Trägheitsgesetzes wurde richtungweisend für die Vorgehensweise der Physik, für die abstrakte Überschreitung und Relativierung der Sinnenwelt. Die mathematisch-‹platonische› Abstraktion wurde als das einzige Mittel gewertet, die irdisch-sinnliche Winkelperspektive zu überwinden. Giordano Bruno, in der ihm eigenen lebendigen Ganzheitsbetrachtung, hatte dies anders gesehen; seine Radikalrelativierung der Sinnenwelt verzichtet auf das Instrument der Mathematik, und innerhalb der Bruno’schen Vision eines unendlichen und unendlich belebten Kosmos erscheint die mathematische Abstraktion als ‹vorkopernikanisches Relikt›, geeignet, die Notwendigkeit eines radikalen Umdenkens der Daseinsprämissen zu verdecken.
Der nachkopernikanische Nihilismus tritt seit dem 19. Jahrhundert zunehmend unverhüllter zutage, und auch die großen Triumphe der Newton’schen Himmelsmechanik, etwa die Entdeckung des Planeten Neptun im Jahre 1846, haben hieran nichts zu ändern vermocht. Der Philosoph Schelling bezichtigt die «mathematische Naturlehre» des «leeren Formalismus», «in welchem von einer wahren Wissenschaft der Natur nichts anzutreffen ist» (1803)[14]. Und Schopenhauer etikettiert die Astronomen rundweg als «bloße Rechenköpfe» von ansonsten «untergeordneten Fähigkeiten». «Vom Standpunkte der Philosophie aus», heißt es in den «Parerga» (1851), «könnte man die Astronomen Leuten vergleichen, welche der Aufführung einer großen Oper beiwohnten, jedoch, ohne sich durch die Musik, oder den Inhalt des Stücks, zerstreuen zu lassen, bloß achtgäben auf die Maschinerie der Dekorationen und auch so glücklich wären, das Getriebe und den Zusammenhang derselben vollkommen herauszubringen.»[15] Kopernikus hatte die mathematische Astronomie als die Königin aller Wissenschaften bezeichnet, ja ihr göttliche Qualitäten zugesprochen (eine mehr göttliche als menschliche Wissenschaft nennt er sie in seinem Hauptwerk[16]) und ihre moralisch läuternde Kraft herausgestellt. Und noch im 18. Jahrhundert, im Bezugsfeld der «Lieblingsidee der Aufklärung von einem überall bewohnten und rational verwalteten Universum» (Blumenberg)[17], ist das kopernikanische Pathos spürbar: das der Suche nach der mathematisch fassbaren Ordnungsstruktur des Weltalls, nunmehr bezogen auf den noch immer rätselhaften und rationalem Zugriff entzogenen Fixsternhimmel. Man denke an Johann Heinrich Lamberts Suche nach einem absoluten kosmischen Zentralkörper, der geeignet sein sollte, das scheinbare Chaos der Sternenwelt zur rationalen Einheit zu fügen. «Wir erwarten noch die Copernicus, Keplers und Newtons für den ganzen Weltbau», heißt es bei Lambert.[18] Einem Denker der Aufklärung wäre die Vorstellung glühender Gasbälle in Räumen eisiger Leere absurd erschienen; selbst Sonne und Fixsterne – also nicht nur deren Planeten – wurden für bewohnt gehalten.
Man kann den Idealismus, und zwar schon in der Leibniz’schen Vorform, als das Bestreben interpretieren, der aktualen Unendlichkeit des Universums mittels eines erkenntnistheoretischen ‹Tricks› zu entfliehen: Indem Raum und Zeit zu Formen der Sinnlichkeit erklärt werden, zu bloßen Idealitäten ohne eigenständigen Realitätswert, wird die Antinomie von Endlichkeit und Unendlichkeit zum bloßen Schein. Der Mensch wird erneut ins Zentrum des Universums gesetzt (wenn auch nicht im Sinne kosmischer Topographie); insofern muss der Bewertung der Kantischen Vernunftkritik durch Bertrand Russell – als «ptolemäische Gegenrevolution»[19] – eine gewisse Berechtigung zuerkannt werden. So wäre der Idealismus, auch derjenige der Kant-Nachfolge, eine Art Rückzugsgefecht vor dem Nihilismus, vielleicht in dem klaren Bewusstsein seines unaufhaltsamen Voranschreitens? Merkwürdig bleibt, dass die geschichtlich fassbare Erstverwendung des Wortes Nihilismus gerade von der gegenteiligen Überzeugung ihren Ausgang nimmt: von der Kennzeichnung der Kantischen Vernunftkritik als Ausdrucksform nihilistischen Geistes. Kant glaubte das menschliche Denken ausschließen zu müssen von der erkenntnismäßigen Teilhabe an der Sphäre der Metaphysik: Die Welt in ihrem eigentlichen Wesen («Ding an sich») sei unerkennbar; den Anschauungs- und Denkformen, mittels derer sich die Dinge in der Vorstellung abbilden, könne der Mensch nicht entfliehen. In dieser Sichtweise werden die Naturgesetze zur ‹Selbstbespiegelung› des erkennenden Subjekts. Dies erschien D. Jenisch (im Jahre 1796) «als der offenbarste Atheismus und Nihilismus», wobei in einer Klammerbemerkung betont wird, dass Nihilismus «das eigentliche Wort für die Sache» sei.[20] Der Idealismus Kants, dessen mögliche antinihilistische Motivation angedeutet wurde, war für Jenisch eine nihilistische Sackgasse, «etwas Ungeheures, Schauerliches», «etwas höchst Niederschlagendes und alle höhere Kraft-Anstrengung Lähmendes»[21].
Die bis dato präziseste und umfassendste Diagnose des Nihilismus, diejenige Nietzsches, bezieht beide Ansätze mit ein: die unüberbrückbare Fundamentaltrennung von Erscheinung und Wirklichkeit bei Kant und die nachkopernikanische Herabwürdigung des Menschen zur gleichsam insektenhaften Winzigkeit und Banalität angesichts des unermesslichen Alls. Nihilismus ist nach Nietzsche primär die Entwertung oder «Ver-Nichtsung» aller metaphysischen und religiösen Werte, der «Tod» des christlich-moralischen Gottes. Heute, im Zeitalter der Atombombe und der drohenden ökologischen Katastrophe, müsste auch die lebensferne Totalmathematisierung der Erde als Symptom des Nihilismus gewertet werden, wie dies zum Beispiel durch Martin Heidegger geschehen ist. In seiner Studie «Die Genesis der kopernikanischen Welt» (1975) hat der Wissenschaftshistoriker Hans Blumenberg den Weg in die Enttäuschung der an die neuzeitliche Astronomie geknüpften Erwartungen aufgezeigt, die Zerstörung der Hoffnung auf einen alllebendigen und -vernünftigen Kosmos als Heimstatt des Humanen. Der von Blumenberg artikulierte Ansatz zu einer Überwindung des nachkopernikanischen Nihilismus mündet in eine neue Form der Geozentrik, erwachsen aus dem beklemmenden Verdacht, dass «die Euphorie des astronautischen Aufbruchs» einer Illusion entspringe und dass die Erde eine «kosmische Oase» sei, ein «Wunder von Ausnahme … inmitten einer enttäuschenden Himmelswüste». Die Erde sei «nicht mehr ‹auch ein Stern›, sondern der einzige, der diesen Namen verdient».[22] Die Metapher von der «Himmelswüste» findet sich bezeichnenderweise bereits in jener Albtraumvision aus Jean Pauls «Siebenkäs»-Roman (1796/97), welche die Heraufkunft des Nihilismus ankündigt: «Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei.»