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ACHIM BÜHL

DIE SHOAH

VERFOLGUNG UND ERMORDUNG
DER EUROPÄISCHEN JUDEN

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INHALT

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Einleitung

1. Die Shoah im »Altreich«

1.1 Die Ausgrenzung der Juden Deutschlands 1933–1938

1.2 Die Entrechtung der Juden Deutschlands 1938–1941

1.3 Die Ermordung der Juden Deutschlands 1941–1945

1.4 Die Ermordung der Juden Österreichs

1.5 Die nationalsozialistische Planung der »Endlösung«

1.6 Zusammenfassung

2. Die Shoah in West- und Nordeuropa

2.1 Die Niederlande – Warum so viele?

2.2 Belgien – Ein Brüsseler Bürgermeister sagt »Nein!«

2.3 Luxemburg – »Judenlisten« für die Deutschen

2.4 Frankreich – Der Mythos von Casablanca

2.5 Dänemark – Die Flucht über den Öresund

2.6 Norwegen – Ein Kollaborateur namens Quisling

2.7 Finnland – Waffenpartner »Ja«, Rassenbiologie »Nein«

2.8 Zusammenfassung

3. Die Shoah in Osteuropa

3.1 Tschechoslowakei – Faschistische Vlajka und Hlinka-Garden

3.2 Polen – Ein Land deutscher Vernichtungslager

3.3 Sowjetunion – Einsatzgruppen im Blutrausch

3.4 Ukraine – Eine Schlucht namens Babi Jar

3.5 Estland – »936«, »judenfrei«

3.6 Lettland – Verharmlosung der Mittäterschaft

3.7 Litauen – Ein Mörder namens Jäger

3.8 Zusammenfassung

4. Die Shoah auf dem Balkan, in Südeuropa und Nordafrika

4.1 Bulgarien – Die Rettung der Sofioter Juden

4.2 Rumänien – Der Todeszug von Iași

4.3 Griechenland – Das Schicksal der Juden in drei Zonen

4.4 Albanien – Einfache Leute helfen selbstlos

4.5 Ungarn – Täter nicht Opfer

4.6 Jugoslawien – Wehrmacht und Ustascha

4.7 Italien – Ein Papst schweigt wider besseren Wissens

4.8 Der Maghreb – Die Macht von Vichy in Nordafrika

4.9 Zusammenfassung

5. Die Rolle der Alliierten und der neutralen Länder

5.1 Die Alliierten – Stopp der Shoah kein Kriegsziel

5.2 Schweden – Der doppelte Wallenberg

5.3 Die Schweiz – Der Banker der Nazis

5.4 Spanien – Repatriierung unerwünscht

5.5 Portugal – Eine Gedenkplakette für Sousa Mendes

5.6 Die Türkei – Die verlorenen Auslandstürken

5.7 Zusammenfassung

Resümee

Literaturverzeichnis

EINLEITUNG

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Die Geschichte der Shoah ist untrennbar mit der Frage verbunden »Warum die Deutschen?«. Die Erforschung der Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden ist nicht zuletzt eine Erforschung des Haupttäters, ja von Millionen deutscher Täter und Mittäter. Was unterscheidet, so ist zu fragen, die deutsche Geschichte von der west- und osteuropäischen, was differenziert den deutschen Antisemitismus von der Judenfeindschaft anderer Länder, zumal sich der Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, während des Ersten Weltkriegs sowie in den 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre in zahlreichen Ländern qualitativ verstärkte. Eine erste Antwort liegt im Kampf relevanter deutscher Bevölkerungsteile gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden, die in den Jahren 1811/1812 auf erbitterte Gegenwehr stieß, als der preußische Kanzler Hardenberg die »Judenemanzipation« auf den Weg brachte. Zwar blieb den Juden der Staatsdienst verwehrt, gleichwohl umfasste die Liste der Gegner der Judenemanzipation die Crème de la Crème der preußischen Gesellschaft. Gewiss war die Gegnerschaft gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden auch in anderen Ländern erheblich, die deutsche Spezifik lag indes darin, dass bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bedingt durch die späte deutsche Nationalstaatsbildung das Völkische einen hohen Stellenwert einnahm und in der zweiten Hälfte zum Rassischen mutierte. Im ideologischen Konstrukt der Judenhasser nahm »der Jude« die Rolle der »Gegenrasse« ein, des kulturellen Zerstörers wie biologischen Verunreinigers deutschen Blutes. Auf Basis einer biologistisch-völkisch orientierten Nationalstaatszugehörigkeit war der Jude der »Nicht-Deutsche«, ein »fremdes Element«, das im historischen Kontext des Imperialismus den Volkskörper im »Kampf ums Dasein« schwäche.

Der Kampf gegen die »Judenemanzipation« blieb in der jüngeren deutschen Geschichte ein Kontinuum. Gegnerische Stimmen einer rechtlichen Gleichstellung der Juden ebbten nicht ab, als das Deutsche Kaiserreich im Jahr 1871 den Juden die volle Gleichberechtigung gewährte und diese nunmehr auch zum Staatsdienst zuließ. Nichtakzeptanz der Juden als Deutsche mischte sich von nun an hochgradig mit Sozialneid sowie der Bereitschaft, den Juden Akzeptanz wie gesellschaftliche Anerkennung schuldig zu bleiben. Die im Unterschied etwa zu Frankreich verspätete wie von oben erfolgte Gründung des Deutschen Reichs etablierte einen kapitalistischen Nationalstaat, der im Zeitalter des Imperialismus seinen »Platz an der Sonne« auch mit kriegerischen Mitteln wie dem Ersten Weltkrieg zu erringen gedachte und dessen Aggressivität im Vorfeld des Kriegsgeschehens im kolonialen Völkermord an den Herero und Nama zum Ausdruck kam. Im wilhelminischen Kaiserreich mischten sich Rassenlehre, Sozialdarwinismus, Eugenik, Kolonialrassismus, Antislawismus und Antisemitismus zu einem integralen, sich wechselseitig verstärkenden Gemisch. Die Gewaltförmigkeit dieses »ideologischen Gebräus« richtete sich gegen den imaginierten »Fremden« und suggerierte die Unausweichlichkeit eines »Rassenkampfs«, die Notwendigkeit einer »Ausmerzung rassisch Minderwertiger«, die Unverzichtbarkeit von »Zwangssterilisierung«, »Euthanasie« und »Aufnordung« sowie das Gebot der Führung eines »Kampfs um Lebensraum«, damit die höherwertige »arische Rasse« vor dem Untergang bewahrt werde.

Der deutsche Antisemitismus unterschied sich von der Judenfeindschaft anderer Länder dadurch, dass er zur Zeit der Romantik und erst recht ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in entscheidendem Maß eliminatorischer Antisemitismus war, wenngleich zu diesem Zeitpunkt noch maßgeblich Judenhass des Wortes. Für völkische Autoren wie Ernst Moritz Arndt (1769–1860) waren Juden »Ungeziefer« und »Pest«, für Hartwig Hundt-Radowsky (1780–1835) ein »physisches und moralisches Gift« sowie »beschnittene Vampyre«, die »zusammen getrieben, und wie Raubthiere todt geschossen« werden sollten, für den Philosophen Jakob Friedrich Fries (1773–1843) war »das wichtigste Moment in dieser Sache, dass diese Kaste mit Stumpf und Stiel ausgerottet werde«. Richard Wagner (1813–1883) sprach von »gewaltsamer Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes« und faselte von einer »großen Lösung« der »Judenfrage«, der Philosoph Eugen Dühring (1833–1921) sah die »völkerrechtliche Internierung« der Juden vor und präferierte eine »Lösung der Judenfrage«, die in »Einschränkungen von Ausnahmenatur bestehen« müsse, der Theologe und Orientalist Paul de Lagarde (1827–1891) vertrat die Ansicht, dieses »wuchernde Ungeziefer« sei »zu zertreten« und brachte mit folgendem Satz das Wesen des eliminatorischen Antisemitismus auf den Punkt: »Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt. Trichinen und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.« Der junge Adolf Hitler stand in dieser Traditionslinie des Vernichtungsantisemitismus als er am 16. September 1919 in einem Brief schrieb: »Der Antisemitismus muss führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte des Juden (…). Sein letztes Ziel aber muss unverrückbar die Entfernung des Juden überhaupt sein.« Der Vorsatz die Juden zu vernichten, der in Hitlers Denken das Zentrum bildet, war keineswegs singulär, sondern spiegelte die Spezifik des deutschen eliminatorischen Antisemitismus, der nach dem Ersten Weltkrieg das Vakuum politischer wie ideologischer Desorientierung relevanter Bevölkerungsschichten füllte.

Radikale Antisemiten gab es unstrittig auch in anderen Ländern wie etwa ein Édouard Drumont (1844–1917) in Frankreich. Im Unterschied zu Westeuropa verankerte sich der eliminatorische Antisemitismus indes in Deutschland in weiten Teilen der Gesellschaft und verfügte in Gestalt namhafter Publizisten, Wissenschaftler und Schriftsteller über eine umfangreiche Trägerschaft. Nahezu endlos ist die Liste der Zitate, die angeführt werden könnten, um den Sachverhalt zu belegen, dass am Ende des 19. Jahrhunderts große Teile der deutschen Zivilgesellschaft vom Vernichtungsantisemitismus erfasst waren und um den Nachweis zu führen, dass dieser gerade in ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Elite weite Verbreitung fand. Gewiss gab es auch in Frankreich einen Kreis entschiedener Judenfeinde, die sich nicht zuletzt bei der Dreyfus-Affäre Gehör verschafften, doch es ist kein Zufall, dass am Ende des Hergangs der jüdische Offizier rehabilitiert wurde, während am Beginn der Weimarer Republik die Ermordung von Rosa Luxemburg und ihre Beschimpfung als »Judenhure« stand. Einwenden ließe sich, dass in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Antisemitismus in Gestalt zahlreicher Pogrome mit Abstand gewalttätiger war als in Deutschland, sodass die Wahrscheinlichkeit eines antijüdischen Genozids hier viel größer war. Im russischen Zarenreich existierte indes keine starke, etablierte Zivilgesellschaft, während die Judenfeindschaft im wilhelminischen Deutschland in Vereinen, Verbänden, in akademischen Zirkeln sowie in der Mitte der Gesellschaft sowohl in der Breite wie in der Tiefe präsent war.

Gleichwohl der »Weg nach Auschwitz« nicht zwangsläufig war, existierte in Deutschland eine lange, antisemitische Welle, deren Judenfeindschaft sich in ihrer eliminatorischen Radikalität wie in ihrer gesellschaftlichen Verankerung von allen anderen Ländern abhob. Ihre Schärfe setzte bereits mit Martin Luther (1483–1546) und seinem antisemitischen Maßnahmenkatalog ein, der vom Verbrennen jüdischer Synagogen, Gebetsbücher und Talmudschriften über die systematische Beraubung bis hin zum Hinausjagen aus dem Lande reichte; ein bis dato einmaliges, existenzielles Vernichtungsprogramm jüdischen Lebens, das in programmatischer Hinsicht dem Juden einzig und allein noch seine nackte Existenz zu lassen gedachte und den deutschen Protestantismus hochgradig antisemitisch formte. Die Millionen deutschen Täter und Mittäter kamen nicht aus dem Nichts, sondern standen bedingt durch das antijüdische Ressentiment, das seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer größere Teile der deutschen Bevölkerung erfasste, gewissermaßen schon Gewehr bei Fuß als der deutsche Nationalsozialismus im Januar 1933 die Macht übernahm und auch die heranwachsenden, jüngeren Generationen durch den diktatorischen Zugriff auf das staatliche Schul- und Bildungssystem judenfeindlich konditionierte. Wenn auch die Shoah keineswegs unabwendbar war, so war sie gleichwohl in der langen Welle des Antisemitismus angelegt, die in Deutschland über spezifische Charakteristika verfügte. Die eliminatorische Rigorosität sowie die Breitenverankerung des Antisemitismus in der Elite eines Landes, dessen hochimperialistischer, gewaltbereiter Staat nach einer kurzen Phase der Demokratie zur Diktatur mutierte, liefern eine Antwort auf die Frage »Warum die Deutschen?«. Die Radikalisierung des Sozialdarwinismus in Gestalt der deutschen Rassenhygiene, ihre praktische Umsetzung in Form von Patientenmord und Zwangssterilisierung seitens des Nazi-Regimes sowie die Führung des Zweiten Weltkriegs als Vernichtungskrieg trugen im weiteren historischen Verlauf maßgeblich dazu bei, die Judenfeindschaft zum eliminatorischen Antisemitismus der Tat in Gestalt eines systematischen Völkermords zu transformieren.

Die Ermordung von sechs Millionen europäischen Juden sowie die Verfolgung der Opfer in über 20 Ländern sowie an zahllosen Orten des Geschehens wären indes auch mit Hilfe von Millionen deutscher Täter und Mittäter allein nicht durchzuführen gewesen. Zwar darf die Verantwortung der Deutschen für die Shoah nicht relativiert werden, doch es bleibt Fakt, dass die Singularität des Genozids auch dem Sachverhalt geschuldet bleibt, dass der Völkermord des Haupttäters in seinem ganzen Ausmaß nur möglich war durch ein Heer europäischer Mittäter, die bereitwillig in deutscher Verantwortung oder gar eigenständig mordeten, Konzentrations- und Vernichtungslager bewachten, Deportationszüge bereitstellten, Grenzen schlossen, Flüchtlinge zurückwiesen oder aber ihre eigenen jüdischen Staatsbürger nicht vor der Deportation bewahrten. Dergestalt betrachtet war und ist die Shoah ein deutscher, ein europäischer sowie ein weltweiter Tatbestand.

Der vorliegende Band beabsichtigt in Form von Länderdarstellungen das Zusammenwirken des deutschen Haupttäters und seiner europäischen Mittäter zu schildern, wie zu analysieren sowie einen länderbezogenen Überblick über das ganze Ausmaß und die menschliche Tragödie der Shoah zu vermitteln.

1. DIE SHOAH IM »ALTREICH«

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Bereits wenige Wochen nach der Machtübernahme im Januar 1933 ließen die Nazis keinen Zweifel daran aufkommen, dass der Antisemitismus ein Kernstück ihres staatlichen Handelns bildete. In den Jahren zwischen 1933 und 1938 nahmen die soziale Ausgrenzung und die Diskriminierung der Juden in Form zahlreicher Gesetze und Verordnungen des Staates Gestalt an. Einen ersten Scheitelpunkt auf dem Weg zum Genozid stellte die Polenaktion dar, insofern die erzwungene Auswanderung durch eine Massendeportation begleitet wurde. Die Novemberpogrome des Jahres 1938 stellen bereits den Beginn der zweiten Phase des nationalsozialistischen Staatsantisemitismus dar, weil sie die Vertreibung durch Massenterror forcierten. Der Überfall der deutschen Wehrmacht auf das Nachbarland Polen und damit der Beginn des Zweiten Weltkriegs war unmittelbar von antisemitischen Ausschreitungen begleitet, an denen Einsatzgruppen, deutsche Wehrmachtssoldaten, »Volksdeutsche« wie nichtjüdische Polen beteiligt waren. Die Besetzung großer Teile des polnischen Territoriums sowie die Angliederung westlicher Teile an das Deutsche Reich ermöglichten dem Nazi-Regime erstmals die Planung eines »bevölkerungspolitischen Austauschs« größten Ausmaßes. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 leitete die dritte Phase der Verfolgung ein.

1.1 Die Ausgrenzung der Juden Deutschlands 1933–1938

Wenige Wochen nach der Machtübernahme verdeutlichte die Gesetzgebung des Regimes, dass der Antisemitismus das Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie darstellte und zur Tat drängte. Bereits in den ersten Tagen kam es zwar zu Gewalttätigkeiten gegen Juden, noch stand jedoch zumeist deren Mitgliedschaft in einer politischen Partei im Vordergrund der Übergriffe. Nach dem deutschlandweit durchgeführten Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 wurde am 7. April 1933 das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen. Das erste rassistische Gesetz des Nazi-Regimes führte den sogenannten »Arierparagraphen« ein, der sogleich ohne Zwang von Vereinen und Verbänden sowie in der Privatwirtschaft übernommen wurde. Beamte, die »nicht arischer Abstammung sind«, so heißt es im Gesetzestext, seien in den Ruhestand zu versetzen. Da die Begrifflichkeit des Ariers ohne definitorischen Rückgriff auf den Terminus des Juden nicht zu spezifizieren war, bestimmte die Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, dass als nichtarisch zu gelten habe, wer über einen oder mehrere jüdische Großelternteile verfüge. Ebenfalls am 7. April 1933 wurde das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft erlassen, das es gestattete, Rechtsanwälten mit einem oder mehreren jüdischen Großelternteilen die Zulassung zu entziehen. Am 22. April 1933 folgte die Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen, die den »nichtarischen« Ärzten die kassenärztliche Zulassung entzog. Drei Tage darauf erfolgte am 25. April 1933 das Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen, das die Definition des »Nichtariers« aus dem »Berufsbeamtengesetz« übernahm und festlegte, dass der prozentuale Anteil der »Nichtarier« im Schul-sowie im Hochschulbereich den Anteil der »Nichtarier« an der reichsdeutschen Bevölkerung nicht übersteigen dürfe.

Eine Verschärfung der sozialen Ausgrenzung und Diskriminierung leiteten die »Nürnberger Rassengesetze« ein, darunter das am 15. September 1935 verabschiedete Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre (»Blutschutzgesetz«). Das »Blutschutzgesetz« verbot die Eheschließung sowie den außerehelichen Sexualverkehr zwischen »Juden« und »Nichtjuden«. Die dadurch erfolgte Einführung des juristischen Tatbestands der »Rassenschande« führte im Zeitraum zwischen 1935 und 1943 zu über 2000 Verurteilungen. Das ebenfalls auf dem »Nürnberger Reichsparteitag der NSDAP« verabschiedete »Reichsbürgergesetz« machte die Juden zu Bürgern zweiter Klasse indem es zwischen Reichsbürgern (»Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes«) und Reichsangehörigen (»Angehörige rassefremden Volkstums«) mit geringeren Rechten unterschied. Da zu diesem Zeitpunkt keine juristische Definition vorlag, wer als Jude gelten sollte, und auch das Reichsbürgergesetz dies noch offen ließ, erfolgte am 14. November 1935 eine Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Als Jude galt im Deutschen Reich künftig, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großelternteilen abstammte (sogenannter »Volljude«). Als Jude zählte ebenso, wer von zwei jüdischen Großeltern abstammte und der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörte oder mit einem jüdischen Ehepartner verheiratet war (sogenannter »Geltungsjude«). Als »jüdischer Mischling« galt fortan eine Person, die von zwei (»jüdischer Mischling ersten Grades«) oder von einem Großelternteil (»jüdischer Mischling zweiten Grades«) abstammte und über keinerlei Bindungen zum Judentum verfügte. Die Einstufungen entschieden im weiteren Verlauf über Leben und Tod und wurden in Deutschland, in den besetzten Gebieten sowie von den verbündeten Ländern in definitorischer wie in praktischer Hinsicht höchst unterschiedlich gehandhabt.

Das Bestreben des Nazi-Regimes, die Juden zu erfassen verdeutlichte mehrere Monate nach der Machtübernahme die Volkszählung vom 16. Juni 1933, die noch nicht die spätere »Juden-Definition« des deutschen Nationalsozialismus zugrunde legte, d. h. im Sprachgebrauch der Statistik »Glaubensjuden« auswies. Bei einer Anzahl von 499 682 Personen betrug der Anteil der »Glaubensjuden« an der Gesamtbevölkerung knapp 0,8 %, wobei sich die jüdische Bevölkerung vor allem in den Großstädten konzentrierte. Noch vor Berlin mit einem jüdischen Anteil von 3,8 % lag an erster Stelle Frankfurt mit 4,7 %. Aus der Sicht des deutschen Nationalsozialismus waren die Ergebnisse der Volkszählung höchst unbefriedigend, da die Nazis Entrechtung und Verfolgung der Juden nicht auf das Merkmal der »Andersgläubigkeit« bezogen, sondern auf das Konstrukt der »Andersrassigkeit«, welche biologische Minderwertigkeit postulierte. Das Ideologem vom Juden als »Gegenrasse« suggerierte eine »volkskörperzersetzende Gefahr«, behauptete den drohenden Untergang der »arischen Rasse« und beschwor einen endzeitlichen Kampf zwischen dem rassisch wertvollen »Arier« und dem »vorderasiatischen Rassengemisch« des Israeliten hinauf.

Im Unterschied zur Volkszählung vom Juni 1933, die konzeptionell noch von der Weimarer Republik geplant wurde, verfolgte Reinhard Heydrich (1904–1942) als Chef des Geheimen Staatspolizeiamtes (»Gestapo«) das Ziel einer »restlosen Erfassung« der Juden auf Basis der nationalsozialistischen »Rassentheorie«. Bereits vor den »Nürnberger Gesetzen« wies Heydrich die örtlichen Stellen der Gestapo an, »Judenkarteien« anzulegen, welche die Mitgliederlisten jüdischer Gemeinden, Vereine und Verbände nutzen sollten. Die für 1938 geplante Volkszählung, die wegen des »Anschlusses Österreichs« auf den 17. Mai 1939 verschoben wurde, legte im Unterschied zur Erhebung von 1933 erstmals die »Nürnberger Gesetze« zugrunde. Die Volkszählung von 1939 fragte folglich: »War oder ist einer der vier Großelternteile der Rasse nach Volljude? (Ja oder nein)« und erfasste die Angaben in einer »Ergänzungskartei« für Großvater und Großmutter väterlicher- wie mütterlicherseits. Bei einer Gesamtbevölkerung von 69 316 846 Personen im sogenannten »Altreich« wurden 233 846 Personen als »Volljuden« eingestuft, 213 930 als »Glaubensjuden«, 8500 als »Geltungsjuden«, 52 005 als »Mischlinge 1. Grades« sowie 32 669 als »Mischlinge 2. Grades«. Der Anteil der auf Grundlage der Nürnberger Gesetze als Juden geltenden Personen betrug 0,35 %. Die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 17.8.1938, die am 1. Januar 1939 in Kraft trat, stellte einen ersten Versuch dar, Juden öffentlich zu markieren. Juden wurden zur zusätzlichen Annahme des Vornamens »Israel« gezwungen, Jüdinnen mussten als zweiten Vornamen »Sarah« tragen. Die Namensänderung war sowohl beim Standesamt als auch bei der Ortspolizeibehörde des Wohnsitzes anzuzeigen. Am 5. Oktober 1938 erfolgte die Verordnung über Reisepässe von Juden, welche die Pässe von Juden für ungültig erklärte und deren Einziehung vorsah. Die Reisepässe sollten mit Geltung für das Ausland erst wieder gültig werden, »wenn sie von der Passbehörde mit einem vom Reichsminister des Innern bestimmten Merkmal versehen werden, das den Inhaber als Juden kennzeichnet«. Als entsprechende Kennzeichnung wurde ein in roter Farbe gestempeltes »J« vorgesehen (sogenannter »Judenstempel«).

Die Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden zwischen 1933 und 1938 verdeutlicht alleine die Vielzahl antisemitischer Gesetze, Verordnungen und Erlasse, die bereits vor 1939 in Kraft traten, von denen einige exemplarisch aufgelistet seien: »Juden werden aus dem großdeutschen Schachbund ausgeschlossen (9.7.1933)«, »Juden werden aus Gesangsvereinen ausgeschlossen (16.8.1933)«, »Badeverbot für Juden am Strandbad Wannsee (22.9.1933)«, »Berufsverbot für jüdische Musiker (31.3.1935)«, »Die Taufe von Juden und der Übertritt zum Christentum hat keine Bedeutung für die Rassenfrage (4.10.1936)«, »Mit Jüdinnen verheiratete Postbeamte werden in den Ruhestand versetzt (8.6.1937)«, »Nur ehrbare Volksgenossen deutschen oder artverwandten Blutes können Kleingärtner werden (22.3.1938)«. Am 25. Juni 1938 wurde es Juden verboten als Ärzte zu praktizieren mit Ausnahme der Versorgung jüdischer Patienten, am 27. September untersagte eine Verfügung jüdischen Rechtsanwälten ihre Tätigkeit. Zur Beraubung der Juden trug das bereits am 18. Mai 1934 erlassene Gesetz über Änderung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer bei, das sich in den kommenden Monaten zu einem Instrument entwickelte, um jüdische Emigranten teil zu enteignen. Um den Zugriff auf jüdische Vermögen weiter zu erhöhen, sah eine Verordnung vom 26. April 1938 eine Anmeldung des Besitzes vor.

Im Herbst 1938 wurden Tausende Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die zumeist schon seit etlichen Jahren in Deutschland lebten, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ausgewiesen. Hintergrund der Aktion bildete die Ankündigung der Regierung Polens, im Ausland lebenden polnischen Bürgern, die bis zum 31. Oktober ihre Pässe nicht erneuerten, die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Am 28. und 29. Oktober 1938 wurden daraufhin 17 000 polnische Juden aus verschiedenen deutschen Städten von der Polizei abgeholt und nach Polen abgeschoben, unter ihnen auch die Familie Grynszpan. Ihr 17-jähriger Sohn Herschel Grynszpan (1921–1942/45), der in Paris lebte, fasste daraufhin den Plan, seine Eltern durch die Ermordung des Legationssekretärs der deutschen Botschaft, Ernst Eduard vom Rath (1909–1938), zu rächen. Als vom Rath an den Folgen des Attentats starb, nutzte das Nazi-Regime den Vorfall, um die staatlicherseits inszenierten Novemberpogrome auszulösen. Über die sogenannte »Polenaktion« berichtet Marcel Reich-Ranicki (1920–2013), der 1938 in Berlin seine Abiturprüfung mit Erfolg bestand:

»Am 28. Oktober 1938 wurde ich frühmorgens, noch vor 7 Uhr, von einem Schutzmann (…) energisch geweckt. Nachdem er meinen Pass genauestens geprüft hatte, händigte er mir ein Dokument aus. Ich würde, las ich, aus dem Deutschen Reich ausgewiesen. Ich solle mich, ordnete der Schutzmann an, gleich anziehen und mit ihm kommen. Aber vorerst wollte ich den Ausweisungsbescheid noch einmal lesen. Das wurde genehmigt. Dann erlaubte ich mir, etwas ängstlich einzuwenden, in dem Bescheid sei doch gesagt, ich hätte das Reich innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen – und überdies könne ich auch Einspruch einlegen. Für solche Spitzfindigkeiten war der auffallend gleichgültige Schutzmann nicht zu haben. Er wiederholte streng: ›Nein, sofort mitkommen!‹ Dass ich alles, was ich in dem kleinen Zimmer besaß, zurücklassen musste, versteht sich von selbst.« (Reich-Ranicki 1999: 157)

Polen schloss daraufhin seine Grenzen, sodass die Deportierten sich unter elenden Bedingungen im Niemandsland wiederfanden. Die »Polenaktion« war ein »Scheitelpunkt«, der zu einer neuen Phase der Judenverfolgung überleitete. Die Radikalisierung im Laufe des Jahres 1938 ist nicht zuletzt daran ersichtlich, dass es bereits vor den Novemberpogromen zur Schändung sowie zur Zerstörung von Synagogen kam, so beispielsweise am 9. Juni 1938 in München und am 10. August 1938 in Nürnberg. Die Münchner Hauptsynagoge wurde bereits kurze Zeit später abgerissen. Wenig bekannt ist die sogenannte »Juni-Aktion«, die bereits vor den Novemberpogromen am 15. Juni 1938 zur Verhaftung von 1500 Juden und ihrer Einlieferung in deutsche Konzentrationslager führte.

1.2 Die Entrechtung der Juden Deutschlands 1938–1941

Die Novemberpogrome in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sowie die in den Tagen darauf einsetzende Verhaftungswelle von über 30 000 Juden, die in Konzentrationslager wie Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt wurden, markieren einen deutlichen Einschnitt und den Beginn der zweiten Phase des nationalsozialistischen Staatsantisemitismus. Im Zeitraum zwischen November 1938 und dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 sahen sich die deutschen Juden neben der Beraubung ihrer Rechte einer unmittelbaren physischen Gefährdung ausgesetzt, die zwar noch nicht den Charakter eines geplanten Genozids besaß, gleichwohl diesen bereits erahnen ließ. Die verschärfte Gefahrenlage erkannten viele Juden, sodass die Flüchtlingszahlen in den Wochen und Monaten nach den Pogromen sprunghaft anstiegen. Viele versuchten jetzt nur noch, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Angesichts der restriktiven Aufnahmepolitik vieler Länder erwies sich das Unterfangen indes als äußerst schwierig. Es begann das Ringen um Visa, Affidavits und Schiffspassagen, um die Aktivierung von Bekannten oder Verwandten im Ausland, die bereit waren zu bürgen, sowie um das Auftreiben benötigter Gelder angesichts der wachsenden finanziellen Verelendung der deutschen Juden. In den Jahren zwischen 1933 und 1939 verließen über 250 000 Juden das Deutsche Reich. Nach den Novemberpogromen erreichte die Massenflucht mit ca. 80 000 Juden ihren Höhepunkt.

Die Novemberpogrome offenbarten, dass sich die nationalsozialistische Judenpolitik in Richtung einer Existenzbedrohung genozidalen Ausmaßes wandelte. In der Reichspogromnacht sowie in den Tagen darauf wurden bis zu 1500 Juden ermordet oder starben an den Folgen der Übergriffe sowie der KZ-Haft. Im November verschärften die Nazis gleichfalls ihre Maßnahmen zur Beraubung der Juden. Am 12. November 1938 unterzeichnete Hermann Göring die Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit, die den Juden eine Kontributionszahlung von einer Milliarde Reichsmark (»Judenvermögensabgabe«) auferlegte. Der groß angelegte staatliche Diebstahl jüdischer Vermögen wurde begleitet von einer Beschlagnahmung der Versicherungsansprüche der Schäden, die jüdische Geschäfte wie Privatwohnungen durch die Novemberpogrome erlitten. Als weitere Maßnahme wurde am 12. November 1938 die Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben verabschiedet, die Juden u. a. das Führen von Einzelhandelsgeschäften sowie von Handwerksbetrieben ab dem 1. Januar 1939 untersagte. Diverse weitere Verordnungen, wie die vom 21. Februar 1939, welche den Juden die Ablieferung von Schmuck, Gegenständen aus Gold, Silber, Platin und Perlen auferlegte, erschwerten die ökonomische Lage der Juden zusehends, zumal angesichts des Tatbestands, dass eine berufliche Existenz für Juden ohnehin immer schwieriger geworden war.

Die soziale Isolation der Juden wurde vor Kriegsbeginn durch weitere Anordnungen verschärft, wie u. a. durch die Verordnung, dass jüdische Kinder keine öffentlichen Schulen mehr besuchen durften (15.11.1938) oder im April 1939 durch das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden, das den Kündigungsschutz für Juden aushebelte, die nunmehr auch in wohnungspolitischer Hinsicht von der nichtjüdischen Bevölkerung getrennt wurden.

Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 war der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die Verordnung »Juden dürfen nach 8 Uhr abends (im Sommer 9 Uhr) ihre Wohnungen nicht mehr verlassen« vom selben Tag spiegelt bereits den »Polenfeldzug«. Den Überfall auf Polen nutzten die Nazis dazu, Juden überlebenswichtige Informationen vorzuenthalten sowie Kommunikationswege mit der nichtjüdischen Bevölkerung einzuschränken. Per Verordnung vom 23. September 1939 mussten Juden ihre Rundfunkgeräte abliefern. Einige Monate später kündigte die deutsche Post per Erlass vom 29. Juli 1940 den Juden ihre Telefonanschlüsse.

Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941 ging mit der völligen Entrechtung der deutschen Juden einher. Es war folglich kein Zufall, dass nur wenige Wochen nach dem Überfall auf die Sowjetunion die Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden festlegte, dass ab September 1941 alle Juden, die nach den »Nürnberger Gesetzen« als solche galten, vom vollendeten sechsten Lebensjahr an, einen »Judenstern« sichtbar auf der linken Brustseite des Kleidungsstücks in Nähe des Herzens fest aufgenäht zu tragen hatten. Inge Deutschkron berichtet:

»Es war der 19. September 1941, der erste Tag, an dem wir dazu gezwungen waren. Am Abend zuvor hatte ich diesen gelben Lappen wie vorgeschrieben an der linken Brust in Herzhöhe fest an den Mantel genäht. Die jüdischen Wohlfahrtsämter hatten jedem Juden vier solcher Sterne gegen ein Entgelt abgeben müssen. (…) Wie auch andere Juden hatte ich gelegentlich sehr erfreuliche Erlebnisse. Ich erinnere mich, wie Unbekannte in der Untergrundbahn oder auf der Straße, meist im dichten Gewühl der Großstadt, ganz nahe an mich herantraten und mir etwas in die Manteltasche steckten, während sie in eine andere Richtung schauten. Manchmal war es ein Apfel, ein anderes Mal Fleischmarken, Dinge, die Juden offiziell nicht erhielten. Dennoch, der ›Judenstern‹ schuf eine diskriminierende Isolation. Ich hatte das Gefühl, eine Maske vor dem Gesicht zu tragen. Es gab Menschen, die mich mit Hass ansahen; es gab andere, deren Blicke Sympathie verrieten, und wieder andere schauten spontan weg.« (Deutschkron: o.J.: 85/87)

Am 18. Oktober untersagte ein Erlass Heinrich Himmlers (1900–1945) den Juden die Auswanderung mit Wirkung vom 23. Oktober. Zum Zeitpunkt des »Himmler-Erlasses« lebten noch ca. 150 000 Juden im sogenannten »Altreich«. Der Krieg mit der Sowjetunion führte zu einer neuerlichen Welle antijüdischer Verordnungen, die nahezu alle Lebensbereiche umfassten. Exemplarisch seien an dieser Stelle aufgeführt: »Juden sollen keine Seife und Rasierseife mehr erhalten (26.6.1941)«, »Juden dürfen allgemeine Leihbüchereien nicht benutzen (2.8.1941)«, »Juden dürfen keine Zeitungen und Zeitschriften mehr kaufen (17.2.1942)«, »Kennzeichnungszwang für Wohnungen jüdischer Familien durch den Judenstern (26.3.1942)«, »Juden erhalten keine Zigaretten oder Zigarren mehr (11.6.1942)«, »Juden müssen ihre elektrischen und optischen Geräte, Fahrräder, Schreibmaschinen und Schallplatten abliefern (12.6.1942)«, »Juden dürfen keine Bücher mehr kaufen (9.10.1942)«. Am 26. Juni 1942 schreibt Victor Klemperer (1881–1960) in sein Tagebuch:

»Bisher durften Juden im Arbeitseinsatz [gemeint sind die zur Zwangsarbeit verpflichteten Juden, d. Verf.] ihre Fahrräder behalten. Neueste Verordnung: Fahrräder sind nur zu behalten, wenn der Arbeiter einen längeren Weg als 7 km hat. Gleichzeitig: Wer noch die Tram benutzen darf (Arbeiter jenseits der 7 km-Grenze), darf nicht mehr Zwölferkarten oder Umsteigehefte lösen, sondern nur noch die teuren Einzelbillette.« (Klemperer 1995: 145)

Insgesamt erließ das Nazi-Regime ca. 2000 antijüdische Gesetze und Ergänzungsverordnungen. Die Flut der Erlasse endete mit der 13. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom Juli 1943, welche die Juden als Rechtlose dem direkten Zugriff der SS unterstellte.

1.3 Die Ermordung der Juden Deutschlands 1941–1945

Ende September 1941 stimmten sich die Nazis über die systematische Deportation der deutschen Juden ab, die im Oktober begann. Für viele Züge aus Deutschland war das Ghetto von Łódź anfänglich der Ort ihrer Ankunft, so auch für den ersten Deportationszug aus der deutschen Hauptstadt, der Berlin am 18. Oktober 1941 vom Bahnhof Grunewald verließ. Aus Berlin wurden über 50 000 deutsche Juden deportiert. Züge in Richtung Osten verließen die Hauptstadt auch vom Güterbahnhof Moabit sowie vom Anhalter Bahnhof. Zielorte waren anfangs u. a. die Ghettos von Riga, Kowno und Minsk im militärisch eroberten Teil der Sowjetunion. Anfang Dezember 1941 fanden in der litauischen Stadt Kowno (»Kaunas«), die am 24. Juni 1941 besetzt worden war, sowie in Riga, der am 1. Juli 1941 besetzten lettischen Hauptstadt, die ersten Massenmorde an deutschen Juden statt. In den Jahren 1942 und 1943 war der hauptsächliche Bestimmungsort für deutsche Juden das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. Von den im »Altreich« lebenden deutschen Juden wurden 131 154 deportiert.

Im »Altreich« existierten im Unterschied zu den meisten anderen besetzten europäischen Ländern keine Ghettos. Der Krieg mit der Sowjetunion verschärfte die Lage der Juden indes auch bezüglich ihrer Wohnungssituation. Juden wurden gezwungen, ihre Wohnungen aufzugeben und unter beengten Verhältnissen in sogenannte »Judenhäuser« zu ziehen. Eine Maßnahme, welche die »Volksgemeinschaft« mit neuerlichem »Beutegut« versorgen sowie die Deportation unterstützen sollte. Der Kreis derjenigen Juden, die Zwangsarbeit leisten mussten, wurde ausgeweitet und führte zu Rückstellungen der fast ausnahmslos in Rüstungsbetrieben beschäftigten Juden, deren Hoffnung von der Deportation verschont zu bleiben sich als trügerisch erwies. Im Februar/März 1943 lebten noch 75 816 Juden im »Altreich«. Am 27. Februar 1943 umstellten Gestapo und SS-Einheiten über 100 kriegswichtige Betriebe, verhafteten die jüdischen Zwangsarbeiter und brachten sie zu Sammelstellen, von denen sie Anfang März 1943 in fünf Transporten nach Auschwitz deportiert wurden.

Von den ca. 500 000 deutschen Juden des Jahres 1933 wurden mindestens 165 000 Opfer des Vernichtungswahns des deutschen Nationalsozialismus, was einer Prozentzahl von 33 % entspricht, wobei es sich um eine statistische Untergrenze handelt. Wie auch bei anderen Ländern ist die Zahl nur annähernd zu bestimmen, da insbesondere viele deutsche Juden nicht von Deutschland aus deportiert wurden, sondern von denjenigen Ländern aus, in die sie 1933 geflohen waren, die aber im weiteren historischen Verlauf in den Machtbereich des deutschen Nationalsozialismus gerieten. Die nach Holland geflohene Familie Frank verdeutlicht die Problematik der Opferzählung. Zu den unmittelbaren Opfern zählen nicht nur die in Vernichtungslager Deportierten, sondern ebenso diejenigen, die während der Novemberpogrome ermordet wurden, in deutschen Konzentrationslagern auf deutschem Boden den Tod fanden oder wie Martha Liebermann (1857–1943), die Witwe des Malers Max Liebermann (1847–1935), Suizid begingen als sie ihren Aufruf zur Deportation erhielten. Zu den unmittelbaren Opfern zählen auch diejenigen Juden, die im Rahmen des sogenannten »Euthanasie-Programms« ermordet wurden. Präziser zu differenzieren wäre schließlich zwischen den deutschen Juden und den Juden Deutschlands, insofern sich zum Zeitpunkt der Deportationen auch fremdstaatliche Juden in Deutschland befanden. Die Dimension der Shoah stellt auch die Opferstatistik vor kaum zu bewältigende Aufgaben, sodass abweichend von der zuvor genannten Angabe auch Opferzahlen von knapp 200 000 Personen genannt werden. Im Rahmen einer Überblicksstudie wie hier kann darauf nicht näher eingegangen werden. Von den in Deutschland verbliebenen Juden überlebten 15 000 Juden in »Mischehen«, als sogenannte »U-Boote« im Untergrund wie der Berliner Fernsehmoderator Hans Rosenthal (1925–1987) oder weil sie von nicht immer uneigennützigen nichtjüdischen Deutschen versteckt wurden.

1.4 Die Ermordung der Juden Österreichs

Die Zerschlagung der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn führte im Jahr 1918 zur Bildung der eigenständigen Republik Österreich. Im Jahr 1937 belief sich die Bevölkerung auf 6 725 000 Einwohner. Zum Zeitpunkt des Einmarsches der deutschen Truppen im März 1938 lebten 206 000 Personen in Österreich, die auf Basis der »Nürnberger Gesetze« als Juden galten. Rechtlich gleichgestellt waren die Juden seit 1867. Das Zentrum der jüdischen Kultur bildete die Hauptstadt Wien, die nach 1918 hohe Zuwachsraten jüdischer Migranten zu verzeichnen hatte, die sich zumeist der deutschsprachigen Kultur verbunden fühlten und aus vormaligen Gebieten der Doppelmonarchie zuwanderten. Aufgrund blutiger Pogrome kamen bereits während des Ersten Weltkriegs zahlreiche galizische Flüchtlinge nach Wien. Der Antisemitismus war in Österreich spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu allgegenwärtig und fand seine Resonanz in den Wahlerfolgen der antisemitischen Christlichsozialen Partei, deren Führer Karl Lueger (1844–1910) Karriere als Bürgermeister Wiens machte. In den 1920ern gewannen in Österreich klerikal-faschistoide sowie nationalsozialistische Kräfte an Boden, für die Hitler bereits vor 1933 zum Idol avancierte. Am 13. März 1938 wurde der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich verkündet. Unmittelbar danach kam es zu antisemitischen Übergriffen österreichischer Nationalsozialisten, die Juden demütigten und diese zwangen öffentliche Gehwege und Plätze zu reinigen. In den ersten Wochen nach dem Anschluss Österreichs flohen Tausende Juden in die Schweiz sowie nach Italien.

Bereits wenige Tage nach der Proklamation des Anschlusses verschärfte sich der Terror. Büros der jüdischen Gemeinde sowie jüdischer Organisationen mussten schließen, zahlreiche jüdische Persönlichkeiten, Gemeindeführer und Aktivisten wurden verhaftet und in den Monaten April und Mai nach Dachau verschleppt. Die Gestapo plünderte jüdische Wohnungen und beschlagnahmte Kunst- und Wertgegenstände. Am 26. März 1938 folgte die Entlassung jüdischer Professoren und Lehrer. Noch im selben Monat wurden alle Juden aus der Armee entlassen. Die kollektive Beraubung der Juden erreichte einen ersten Höhepunkt durch die Auferlegung einer Kontribution in Höhe von 500 000 Reichsmark. In nur wenigen Wochen nach dem Anschluss sahen sich die österreichischen Juden mit antisemitischen Maßnahmen und Aktionen konfrontiert, die in Deutschland zwischen 1933 und dem Frühjahr 1938 erfolgten. Noch im März 1938 wurden die »wilden Plünderungen« von einer staatlicherseits organisierten »Arisierungswelle« abgelöst. Da sich Juden auch im privatwirtschaftlichen Sektor Entlassungen größeren Ausmaßes ausgesetzt sahen, standen sie innerhalb kürzester Zeit unter hohem ökonomischen Druck.

Über das auch in Österreich eingeführte Kinoverbot für Juden berichtet die im Jahr 1931 in Wien geborene Ruth Klüger (1931–2020), die als Kind nach Theresienstadt sowie nach Auschwitz verschleppt wurde, und als Achtjährige so gerne »Schneewittchen« von Walt Disney sehen wollte:

»Als es im Saal hell wurde, wollte ich die anderen vorgehen lassen, aber meine Feindin stand und wartete. Ihre kleinen Geschwister wurden ungeduldig, die Große sagte ›Nein, seid’s stad‹, und sah mich streng an. Die Falle war, wie gefürchtet, zugeschnappt. Es war der reine Terror. Die Bäckerstochter zog noch ihre Handschuhe an, pflanzte sich endlich vor mir auf, und das Ungewitter entlud sich. Sie redete fest und selbstgerecht, im Vollgefühl ihrer arischen Herkunft, wie es sich für ein BDM-Mädel schickte, und noch dazu in ihrem feinsten Hochdeutsch: ›Weißt du, dass deinesgleichen hier nichts zu suchen hat? Juden ist der Eintritt ins Kino gesetzlich untersagt. Draußen steht’s beim Eingang an der Kasse. Hast du das gesehen?‹« (Klüger 1992: 57)

In Wien und anderswo kam die Aneignung jüdischer Vermögen einem »Beutezug« großer Teile der nichtjüdischen Bevölkerung gleich, deren aufgestauter Neid und Hass sich nunmehr entluden. Neben der Verteilung der Beute an die neuen »Volksgenossen« sollte die gezielte Beraubung gleichfalls den Zwang auf Juden zur Auswanderung erhöhen, die organisatorisch unter der Kontrolle von Adolf Eichmann (1906–1962) stand. Die Zentralstelle für Jüdische Auswanderung in Wien wurde im August 1938 eröffnet. Während deutsche Juden, die unmittelbar nach 1933 auswanderten, noch einen Teil ihrer Habe retten konnten, wurden die österreichischen Juden im Jahr 1938 bereits vollständig um ihr Vermögen gebracht. Wenige Monate nach dem Anschluss führten die Novemberpogrome auch in Österreich zur Zerstörung von Synagogen sowie zur Verhaftung zahlreicher Juden und ihrer Internierung in Konzentrationslagern. In Wien blieb von den größeren Synagogen lediglich die Hauptsynagoge in der Seitenstettengasse wegen der Brandgefahr der umliegenden Gebäude erhalten. Die Konzentrationslagerhaft diente häufig einer neuerlichen Beraubung sowie einer Verstärkung des Drucks auf die Auswanderung. Zahlreiche jüdische Gemeinden lösten sich bereits Ende des Jahres 1938 aus finanziellen Gründen auf.

Von den 206 000 Juden im März 1938 wanderten 126 445 Juden noch vor Kriegsbeginn aus. Bevor den Juden die Auswanderung am 10. November 1941 vollständig verboten wurde, kamen noch weitere 2000 hinzu. Nicht allen Ausgewanderten boten ihre neuen Länder eine sichere Zuflucht, so gelangten im Verlauf des Krieges 15 000 Juden Österreichs erneut unter die deutsche Herrschaft. Bereits Anfang 1939 wurden 1048 staatenlose Juden, polnische Juden sowie kranke oder behinderte Juden nach Buchenwald verschleppt und dort umgebracht. Im Oktober 1939 wurden im Rahmen des sogenannten Nisko-Plans 1584 jüdische Männer nach Polen deportiert. Im Frühjahr 1941 verschleppten Massentransporte österreichische Juden nach Lublin. Der systematische Massenmord an den österreichischen Juden begann als im Oktober 1941 ca. 5000 Juden in das Ghetto Litzmannstadt (Łódź) des Generalgouvernements deportiert wurden. Von den Verschleppten waren bereits ein Jahr später nur noch 600 Menschen am Leben. Es folgten Deportationen nach Riga und Minsk, wo die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD mordeten. Bis Oktober 1942 fanden weitere Deportationen in die Vernichtungslager des Generalgouvernements statt. Ende 1942 lebten von den 206 000 Juden des Jahres 1938 nur noch 8102 Juden in Österreich, darunter zumeist Personen in sogenannten »Mischehen«. Von den ehemals 206 000 österreichischen Juden wurden ca. 65 000 ermordet, was einer Prozentzahl von über 30 % entspricht. Im April 1945 lebten 1000 bis 2000 Juden in Wien, im Jahr 1934 waren es einst 176 000.

1.5 Die nationalsozialistische Planung der »Endlösung«

Die nationalsozialistische Judenfeindlichkeit war ihrem Wesen nach ein eliminatorischer Antisemitismus. Die Eliminatorik umfasste die soziale Elimination der Juden, d. h. die systematische Ausgrenzung sowie Markierung der Juden als »nichtzugehörige Fremde«, die räumliche Elimination durch erzwungene Auswanderung, Abschiebung oder Deportation, die physische Elimination in Form von körperlicher Gewalt, Inhaftierung, Folterung und Mord sowie die genozidale Elimination als kollektive Vernichtung der Juden im Sinne eines Völkermords. Zwar war das genozidale Element von Anfang an im Wesen des nationalsozialistischen Antisemitismus als Option angelegt und spiegelte sich beispielsweise in der ideologischen Konstruktion eines weltumspannenden, endzeitlichen Kampfes zwischen dem »Arier« und dem »Semiten«, gleichwohl war der »Weg nach Auschwitz« nicht vorprogrammiert, sodass unterschiedliche Planungen und Konzepte bezüglich der Frage existierten, wie denn die sogenannte »Endlösung der Judenfrage« auszusehen habe und was darunter zu verstehen sei. Als verbindendes Element dieser Entwürfe erwies sich die Vorstellung von einem »Deutschland ohne Juden«, welche anfangs die räumliche Elimination zum Dreh- und Angelpunkt nationalsozialistischer Politik machte, indes bereits die Entscheidung zugunsten eines Genozids einschloss, falls sich ein »judenfreies Deutsches Reich« sowie ein »nationalsozialistisches Europa« nicht durch Auswanderung oder Deportation erreichen ließen.

Die vom Nazi-Regime unmittelbar nach 1933 eingeleiteten Schritte sollten die rechtliche Gleichstellung der Juden rückgängig machen, dem eigenen Wählerklientel in Form von Berufsverboten und »Judenboykott« unliebsame Konkurrenten vom Halse schaffen sowie erste Schritte einleiten, um den Druck in Richtung Auswanderung beziehungsweise Austreibung aufzubauen. Nach dem Anschluss Österreichs diente ursprünglich diesem Zweck die Reichszentrale für jüdische Auswanderung. Die »Polenaktion« im Herbst 1938 stellte einen ersten konzeptionellen Wendepunkt dar. »Es handelte sich um die erste von den Behörden organisierte Massendeportation von Juden«, schreibt Reich-Ranicki und sodann: »Verglichen mit späteren Transporten waren es noch menschliche, ja nahezu luxuriöse Bedingungen.« Zwar ist der Aussage zuzustimmen, dass eine Parallele zu späteren Vernichtungsdeportationen noch nicht vorlag – wenngleich die humanitäre Situation der Ausgewiesenen auch nicht verharmlost werden darf –, die neue Qualität der »Polenaktion« war indes dem Sachverhalt geschuldet, dass die nationalsozialistische Judenpolitik erstmals den Weg von der (erzwungenen) Auswanderung zur staatlich organisierten Vertreibung beschritt. Die sich mit der »Polenaktion« ankündigende Ablösung der forcierten Auswanderung durch Deportation warf dergestalt betrachtet ihre Schatten voraus. Die »Polenaktion« wies zugleich darauf hin, dass umfangreichere, effektive wie administrativ problemlose Abschiebungen beziehungsweise Vertreibungen die Verfügungsgewalt des Deutschen Reichs über das jeweils anvisierte Territorium der Abschiebung erforderlich machten.