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Irene, Elvira, Elisabeth und die anderen

Michaela E. Bennett

Die Handlung dieses Buches ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen ist rein zufällig.

© 2021 Michaela E. Bennett

Umschlaggestaltung: Ingrid Teply-Baubinder

Verlag: myMorawa von Dataform Media GmbH, Wien www.mymorawa.com

ISBN:

978-3-99125-787-5 (Paperback)

978-3-99125-785-1 (Hardcover)

978-3-99125-786-8 (E-Book)

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Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

1. Mädchenabend

2. Ein privates Abendessen in Wien

3. Ein kurzer Aufenthalt in New York

4. Sankt Petersburg

5. Elvira

6. Lea und Tina

7. Die Wahrheit ist subjektiv

8. New York im Rückblick

9. Ein gutes Gespräch

10. Das Bistro

11. Déja-vu

12. Elvira und Viktor

13. Martha

14. Lea und Tom

15. Eine Geburtstagsparty

16. Ein Urlaub in Mexiko

17. Eine seltsame Geschichte

18. Eine Lesung mit Fotos

19. Der Besuch bei der alten Dame

20. Craigs Entscheidung

21. Eine nachträgliche Besichtigung

22. Das Ende eines langen Tages

Epilog

Für alle, die mich zu diesem Buch inspiriert haben, und die hoffentlich niemals davon erfahren warden

1. Mädchenabend

»Und wo trefft ihr euch?« rief Paul aus dem Arbeitszimmer, als Irene sich gerade im Badezimmer fertigmachte.

»Vor der Oper, ganz einfach«, sagte sie.

»Warum nicht gleich im Restaurant?« fragte Paul.

»Bitte finde ein Restaurant für vier Frauen, von denen eine Hunger hat, eine noch nicht weiß, ob sie überhaupt etwas essen möchte, eine, die sich hauptsächlich vegetarisch ernährt und auf jeden Fall einen Jasmintee trinken möchte, und eine, nämlich ich, der das Lokal relativ egal ist, solange sie sich gut unterhält. Dann bestell einen Tisch und ruf alle an.«

»Wieso ich? Ich gehe doch gar nicht mit.«

»Eben.«

»Aber wo geht ihr hin, nachdem ihr euch getroffen habt?«

»In irgendein Restaurant, in dem es einen freien Platz gibt, und auf das mindestens ein Kriterium zutrifft.«

»Frauen .« sagte Paul, enthielt sich aber jedes weiteren Kommentars.

»Und wer kommt aller?«

»Auf alle Fälle Elisabeth, und wahrscheinlich auch Bobby und Alex.«

»Bobby und Alex? Was sind denn das für Namen?«

»Roberta und Alexandra, warum?«

»Nur aus Interesse, das klingt nämlich recht kindisch für zwei erwachsene Frauen mittleren Alters.«

»Ich glaube ich höre nicht recht, was heißt hier mittleren Alters? Du bist so ein A.«

Irene wollte gerade weiter ausholen, als ihr Telefon läutete.

»Klaus?« sagte sie, und fürchtete bereits, dass ihre beste Freundin nicht kommen konnte und ihr Mann für sie absagte.

»Nein, Elisabeth. Ich rufe von Klaus‘ Handy an.«

»Wieso? Hast du dein Handy wieder einmal verlegt?«

»Ja, macht nichts.«

»Warum rufst du nicht einfach deine Nummer an, und wenn du es läuten hörst, dann findest du es vielleicht auch?«

»Das nützt nichts, ich habe den Ton ausgeschaltet. Und ich habe keine Zeit mehr, zu suchen. Eigentlich wollte ich dich nur fragen, ob ich dich mitnehmen kann.«

»Nein danke, lieb von dir, aber ich fahre öffentlich, das ist einfacher.«

»O.k., dann bis nachher«, sagte Elisabeth.

Es ist immer dasselbe, dachte Irene, sie wird nie organisiert sein. Sie kannte Elisabeth seit vielen Jahren, und es verband sie nicht nur eine enge Freundschaft, sondern es bestand zwischen ihnen auch ein echtes gegenseitiges Verständnis und eine tiefe Verbundenheit trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere und gelegentlichen Differenzen, oder vielleicht gerade deswegen.

»Ich gehe dann«, sagte Irene und kam ins Arbeitszimmer, um sich von Paul zu verabschieden.

Paul sah kurz von seiner Arbeit auf und sagte: »Du hast dich aber schick gemacht, bist du sicher, dass Alex und Bobby wirklich zwei Frauen sind?«

»Ziemlich sicher«, antwortete Irene, »und wenn nicht, wirst du es wahrscheinlich nie erfahren!«

»Na dann gute Unterhaltung!« rief Paul als Irene schon in Richtung Eingangstüre verschwunden war.

Irene wusste, Paul würde den Abend gerne allein am Computer verbringen, und vielleicht auch irgendeine Sportsendung im Fernsehen ansehen. Sie würde ihm nicht fehlen, aber er würde sich auch freuen, sie später wiederzusehen. Paul hatte zwar nach seiner Scheidung eine kleine Wohnung in der Innenstadt gekauft, er hatte es sich aber zur Gewohnheit gemacht, seine Wochenenden mit Irene zu verbringen und nach seiner Arbeit bei ihr vorbeizukommen, und mit der Zeit nutze er seine Wohnung immer seltener und blieb immer öfter bei ihr. Irene war das recht; sie arbeitete tagsüber freiberuflich zu Hause, und war froh, wenn Paul die Abende mit ihr verbrachte. Paul war für sie in vieler Hinsicht ein idealer Partner - und ein sehr lieber, mit dem sie gerne zusammenlebte.

Irene, Elisabeth, Bobby und Alex hatten einander bei der Oper begrüßt und waren weiter stadteinwärts gegangen. Die Wiener Innenstadt war voll von Touristen, die alle nach einem geeigneten Lokal suchten. Normalerweise hätte Irene einen Vorschlag gemacht und auch freiwillig die Reservierung vorgenommen, doch sie hatte beschlossen, sich diesmal aus der Planung des Abends herauszuhalten, denn schließlich war es Elisabeth gewesen, die das Treffen mit den beiden anderen vereinbart hatte, und die Irene überredet hatte, mitzukommen. Und da Irene wusste, wie schwierig es sein würde, einen Kompromiss zu finden, ging sie völlig unbeteiligt neben den anderen her, was den Nachteil hatte, dass sie alle vier nun ziemlich ziellos durch die Stadt irrten. Schließlich schlug Alex ein Café-Restaurant vor, das sie kannte, und mangels eines besseren Vorschlags gab es keine Einwände.

Das Lokal war gesteckt voll und sehr laut. Sie hatten gerade noch einen Tisch ergattert, nicht weit von der Toilette, was sowohl Vor- als auch Nachteile hatte, aber da es der einzige freie Tisch war, erübrigte sich jede Debatte. Das Essen war mäßig, aber die Stimmung gut, und das Gespräch kam nie ins Stocken, ganz im Gegenteil. Irene kannte Alex und Bobby nicht so gut wie Elisabeth, die schon jahrelang mit ihnen befreundet war, aber beide waren sympathisch, auf ihre eigene Art und Weise. Alex war lange Hausfrau und Mutter gewesen und hatte später in einer pharmazeutischen Firma als Vertreterin gearbeitet. Sie hatte bereits ein Enkelkind, war aber taktvoll genug, keine Kinderfotos auf ihrem Handy herumzuzeigen; und Bobby, eine erfolgreiche Ernährungsberaterin, machte auch keine langweilige Propaganda für gesundes Essen. Beide interessierten sich für Kultur, Kunst, sowie für alle aktuellen Themen, auch wenn sie dabei ziemlich unterschiedlicher Meinung waren. Sie diskutier- ten heftig, lachten, waren relativ laut, schon um das Stimmengewirr des Restaurants zu übertönen, und unterhielten sich ausgezeichnet. Wie zu erwarten gewesen war, hatte Irene einen griechischen Salat gegessen, Bobby einen Spinatstrudel, und Elisabeth und Alex Pasta gefolgt von einem Tiramisu. Dazu hatten sie verschiedene Weine zu überhöhten Preisen verkostet, und sogar Bobby hatte diesmal nicht auf ihrem obligaten Tee bestanden. Wahrscheinlich wollte sie sich auf keine diesbezügliche Diskussion einlassen, obwohl zwischen ihnen eine unausgesprochene Vereinbarung darüber bestand, dass persönliche Präferenzen sowie politischen Ansichten in dieser Runde zwar diskutiert, aber nicht kritisiert werden sollten. Irene lehnte sich entspannt zurück, sie war von diesem Abend angenehm überrascht. Sie hatte die früheren Treffen in dieser Konstellation in keiner besonders guten Erinnerung, die Gespräche schienen ihr damals uninteressant und banal. Diesmal fühlte sie sich hingegen sehr wohl, und die Diskussionen waren anregend und witzig. Irene beschloss, ihre Vorurteile gegenüber der vielbeschäftigten Oma und der überheblichen Gesundheitsexpertin nochmals zu überdenken. Sie bewunderte Elisabeth, die in ihrer unvoreingenommen Art andere so akzeptierte wie sie waren.

Gegen elf Uhr wollte Elisabeth aufbrechen. Alle anderen waren ebenfalls bereit.

»Wen kann ich mitnehmen?« fragte sie. »Ich habe das Auto ein paar Gassen weiter in der Garage geparkt.«

Der Vorschlag wurde von allen dankend abgelehnt.

»Dich auch nicht, Irene?« Sie hätte gerne noch ein paar Worte mit ihrer besten Freundin allein gewechselt.

»Das ist so ein Umweg für dich, also nein danke«, sagte Irene, »ich rufe dich morgen an.«

Elisabeth war müde und wollte schnell nach Hause. Sie war froh, mit dem Auto gekommen zu sein, denn das Warten auf die öffentlichen Verkehrsmittel war ihr lästig, besonders am Abend. Sie versäumte nämlich immer eine U-Bahn oder eine Straßenbahn um genau 30 Sekunden, und es dauerte dann mindestens zehn Minuten, bis die nächste kam. Außerdem hätte sie mindestens einmal umsteigen müssen, und das war ihr einfach zu mühsam. Sie beeilte sich, ihr kleines Auto aus der Tiefgarage zu holen, und das war das einzig Unangenehme. Denn die Garage war relativ leer, schlecht beleuchtet, und um diese Zeit erschien sie ihr unheimlich. Sie konnte ihre eigenen Schritte hören. Sie fragte sich, ob sie deswegen so dringend jemanden mitnehmen wollte. Wahrscheinlich. Aber sie war nun einmal allein, also beeilte sie sich, beim Automaten zu zahlen, fuhr mit dem Aufzug ins Untergeschoß und blieb verwirrt stehen, als sie ihr Auto nicht dort fand, wo sie glaubte, es hingestellt zu haben. Sie musste sich in der Etage geirrt haben. Sie konnte sich nicht genau erinnern. Also ging sie nochmals zum Aufzug und fuhr einen Stock tiefer. Wieder war weit und breit niemand zu sehen, aber ihr Auto stand noch da. Erleichtert atmete sie aus. Sie konnte ihr Herz pochen hören. Sie ging rasch und ohne zurückzublicken zu ihrem Wagen, startete und fuhr schnell los. Als sie wieder auf der Straße war, atmete sie durch. Jetzt fühlte sie sich wieder sicher. Es war wenig Verkehr und sie kam schnell voran. Als sie schon in der Nähe ihrer Wohnung war, bog sie gedankenverloren in eine Nebengasse, und bemerkte sofort, dass es eine Einbahn war, und dass sie in die falsche Richtung fuhr. Sie kannte die Gegend genau, also hätte ihr das eigentlich nicht passieren dürfen. Sie war selbst überrascht, sie war einfach zu unkonzentriert gewesen. Sie überlegte einen kurzen Moment umzudrehen, beschloss aber weiterzufahren, da sie sowieso gleich in die nächste Straße abbiegen konnte und annahm, dass um diese Zeit niemand mehr unterwegs sein würde. Sie beschleunigte, um schneller zur Abzweigung zu gelangen; sie nahm zwar nicht an, dass sie von einer Verkehrskontrolle angehalten werden würde, aber es wäre ihr unangenehm gewesen, nicht so sehr wegen der paar Gläser Wein, die sie ganz gegen ihre Gewohnheit getrunken hatte, sondern weil es ihr lästig gewesen wäre, so kurz vor der Ankunft in ihrer Wohnung noch aufgehalten zu werden.

In diesem Augenblick kam ein anderer Wagen um die Ecke. Elisabeth war geistesgegenwärtig genug, um voll auf die Bremsen zu steigen, aber sie konnte nicht schnell genug stehenbleiben, und der andere Wagen auch nicht. Er rammte sie voll. Elisabeth hörte das Geräusch von Blech, das auf Blech trifft, laut und kreischend. Sie war vom Schock wie gelähmt, und reagierte ein paar Sekunden gar nicht. Sie hatte nur einen Gedanken: das kann nicht sein, bitte, lieber Gott, lass es nicht passiert sein. In ihrer aufkommenden Panik starrte sie weiter aus dem vorderen Fenster und sah, dass der andere Wagen einfach nach hinten in die Straße zurückschob, aus der er gekommen war, und mit Vollgas davonfuhr. Sie hatte weder die Zeit noch die Geistesgegenwart, auf die Marke, und schon gar nicht auf das Nummernschild zu achten; sie wusste nur, dass es ein ziemlich großes dunkles Auto war, also ein SUV, und sie war sich auch nicht sicher, wie viele Personen in dem Wagen gesessen sind. Sie glaubte gesehen zu haben, dass der Fahrer ein Mann war, vielleicht so ungefähr vierzig, und eventuell hat auch jemand auf dem Beifahrersitz gesessen, aber sicher war sie nicht.

Sie griff nach ihrem Handy. Es war nicht in ihrer Tasche. Sie erinnerte sich, es verlegt zu haben. Sie geriet in Panik und war kurz davor, gegen die klemmende Tür zu treten und laut zu schreien, als jemand aus dem Haus trat, vor dem ihr Auto zum Stehen gekommen war. Offensichtlich hatte das Geräusch einen Anrainer geweckt, oder jemand hatte gerade aus dem Fenster gesehen, oder war auf die Straße gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Der Mann, der zu ihrer Rettung gekommen war, versuchte, die Fahrertür zu öffnen, was ihm auch gelang. Er bat sie sitzen zu bleiben, was völlig unnötig war, denn Elisabeth war noch unter Schock und bewegte sich nicht. Der Mann versuchte, mit ihr zu sprechen. »Danke«, sagte sie, »es geht mir gut.« Durch die offene Wagentür konnte sie die frische Nachtluft einatmen, und fing langsam an, sich zu entspannen. Eine lange Weile geschah gar nichts. Sie wollte ihren Retter, der noch immer angespannt und abwartend neben ihr stand, bitten, ihr sein Handy zu borgen, doch dann sah sie Blaulicht, und alles ging ganz schnell. Sie wusste nicht mehr, wie sie in das Rettungsauto gekommen war. Vielleicht hatte sie für ein paar Minuten das Bewusstsein verloren. Jedenfalls spürte sie keine Schmerzen, nur eine unendliche Müdigkeit. Auf dem Weg ins Spital erinnerte sie sich, ein paar Fragen beantwortet zu haben, aber sie wusste nicht mehr, ob es der Sanitäter war, oder der Polizist, mit dem sie gesprochen hatte, oder beide, wahrscheinlich beide.

Klaus war nicht beunruhigt, er wusste, seine Frau würde den >Mädchenabend< nicht so schnell abbrechen wollen, und als sein Telefon läutete, sagte er, ohne auf sein Display zu sehen: »Hallo Schatz, bist du schon unterwegs?« Er hatte vergessen, dass sie das Handy gar nicht mitgenommen hatte.

Als er begriff, dass er mit der Polizei telefonierte, war er kurz wie gelähmt vor Schreck, fasste sich aber rasch wieder, und notierte alle notwendigen Informationen auf der Serviette, die er gerade vor sich liegen hatte. Er entschied, ein Taxi zu rufen; er war zu unruhig und auch zu vernünftig, mit dem eigenen Auto ins Spital zu fahren. Das Taxi war in ein paar Minuten vor seinem Haus, und brauchte bei dem wenigen Verkehr auch nur ein paar Minuten zum Krankenhaus. Trotzdem schien ihm die Fahrt unendlich lange zu dauern.

Als Klaus beim Portier nachfragte, wo sich seine Frau befand, wurde er an die Notaufnahme verwiesen. Es war ein kurzer Fußweg durch eine Reihe von tristen, grauen Spitalsgebäuden, die einen völlig ausgestorbenen Eindruck machten. Gut, es war schließlich schon weit nach Mitternacht, musste er zugeben. Als er bei der Notaufnahme ankam, war wenig Betrieb. Eine Rettung stand vor der Tür, einige Sanitäter standen gelangweilt herum, unterhielten sich leise, rauchten, und warteten auf den nächsten Transport. Die Eingangshalle war verwaist und strahlte das kalte, unpersönliche Licht einer veralteten Lagerhalle aus. Die Dame am einzigen offenen Schalter war hingegen freundlich, und bat ihn, Platz zu nehmen; er würde aufgerufen, wenn er seine Frau sehen kann. Nein, sie könne ihm keine Auskunft geben, die Voruntersuchungen seien noch nicht abgeschlossen, und nein, er dürfe nicht eintreten, sondern solle doch bitte im Wartezimmer Platz nehmen. Er nahm nicht Platz, sondern lief wie ein gefangener Tiger im Käfig auf und ab, verhielt sich sonst aber unauffällig.

Klaus verbrachte den Rest der Nacht im Spital, wo Elisabeth nach dem ersten Röntgen und anderen Untersuchungen endlich ein Bett auf irgendeiner Station zugewiesen wurde, das gerade frei war. Es hatte eine gefühlte Ewigkeit gedauert, und er konnte zwar keine konkreten Informationen über den ihren Zustand bekommen, aber sowohl die Ärzte als auch die Schwestern zeigten sich hilfsbereit und zuversichtlich. Elisabeth war ansprechbar, wirkte verunsichert und sagte wenig, er nahm an, sie hatte ein Beruhigungsmittel bekommen. Gegen fünf Uhr morgens verabschiedete sich Klaus von Elisabeth, die endlich einzuschlafen schien, und versprach, im Laufe des Vormittags wiederzukommen.

Als sich Klaus nach einer paar Stunden unruhigen Schlafs am nächsten Tag versichert hatte, dass Elisabeth keinen ernsten Schaden davontragen würde, rief er Irene an und erzählte ihr vom unglücklichen Ende eines glücklichen Abends. Auf Irenes Frage nach ihrem Befinden antwortete Klaus:

»Sie hat starke Rückenschmerzen, wahrscheinlich eine Prellung von dem Aufprall, aber es ist nichts Besorgniserregendes auf dem Röntgenbild zu sehen. Sie werden sie noch eine Nacht im Spital behalten, und morgen kann sie höchstwahrscheinlich wieder nach Hause gehen.« Irene wusste, dass Klaus sachlich und absolut ehrlich war, also konnte sie sich auf seine Auskunft unbedingt verlassen. Sie fragte:

»Kann ich sie sehen?«

»Ja natürlich«, antwortete Klaus und gab ihr die nötigen Informationen. »Sie wird sich sicher sehr freuen, wenn du sie besuchst.«

Und Elisabeth freute sich sehr. Sie lag im Bett, grübelte über die Vorkommnisse des letzten Abends nach und konnte jede Abwechslung gebrauchen. Als sie Irene erblickte und ihr zuwinkte, war Irene ungeheuer erleichtert. Sie hatte zwar nicht angenommen, Klaus hätte untertrieben, was den Gesundheitszustand seiner Frau betraf, aber sie musste sich trotzdem selbst davon überzeugen, dass es Elisabeth den Umständen entsprechend gutging. Sie nahm einen der Sessel, der im Zimmer stand, zog ihn zum Bett, setzte sich und sagte:

»Guten Tag, ich bin von der Sozialhilfe, kann ich irgendetwas für sie tun?«

»Sehr freundlich«, antwortete Elisabeth, »sollte ich sie kennen?«

Irene starrte sie einen kurzen Moment fassungslos an. Dann sah sie das schlecht unterdrückte Grinsen in Elisabeths Gesicht, und ein Stein fiel ihr vom Herzen.

»Du bist also in einer 30er-Zone mit vollem Tempo schwer alkoholisiert gegen die Einbahn gefahren?« fragte sie.

»Nicht ganz«, antwortete Elisabeth. »Erstens bin ich höchstens 40 gefahren, na vielleicht 50, und du erinnerst dich sicher, dass ich höchstens drei Gläser Wein getrunken habe.«

»Und ein Bier.«

»Ach ja, das habe ich vergessen. Außerdem habe ich wesentlich mehr gegessen als du.«

»Was hat die Polizei gesagt?«

»Grenzwertig. Jedenfalls behalte ich voraussichtlich meinen Führerschein, aber es war knapp.«

»Das hast du schon erfahren?« erkundigte sich Irene.

»Klaus hat nachgefragt. Jedenfalls muss ich mich noch einmal auf der Polizeistation melden, du weißt schon, nochmalige Befragung, Protokoll unterzeichnen, das Übliche eben. Außerdem darfst du nicht vergessen, dass der andere Fahrer Fahrerflucht begangen hat. Unterlassene Hilfeleistung, etc. Ich frage mich, warum er einfach davongerast ist, er war ja eigentlich im Recht. Ich fühle mich nicht wohl bei dem Gedanken, dass er plötzlich verschwunden ist, das ist ziemlich beunruhigend; es klingt wahrscheinlich unlogisch, aber vielleicht war es beabsichtigt .«

»Hör zu, Elisabeth, es ist unlogisch. Bitte rede dir nichts ein. Du wirst doch wohl nicht glauben, dass irgendjemand aus einem unerklärlichen Grund gewartet hat, bis du falsch in die Einbahn einbiegst, um dann frontal in dein Auto hineinzufahren? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Aber nehmen wir an, er ist abgebogen und hatte es eilig. Dann sah er mich und war verärgert, dass ich ihm widerrechtlich den Weg verstellte; er steuerte also voller Aggressivität auf mich zu, beschädigte mein Auto und fuhr davon.«

»Das wäre möglich, ist aber höchst unwahrscheinlich«, entgegnete Irene.

»Aber warum ist er dann nicht stehengeblieben?« fragte Elisabeth.

»Ganz einfach. Entweder er war mit einem gestohlenen Fahrzeug unterwegs, oder er war mit seiner Freundin im Auto, und seiner Frau durfte davon nichts wissen. Oder er hat einen riesigen Schrecken bekommen, vielleicht hat er auch geglaubt, er selbst ist falsch in die Einbahn abgebogen, oder er wollte nur keine Komplikationen. Lauter gute Gründe, abzuhauen, anstatt auf die Polizei zu warten.«

»Aber ich glaube, er hat mich äußerst irritiert angestarrt, bevor er plötzlich den Retourgang eingelegt hat.«

»Ja natürlich hat er dich angestarrt, schließlich war er nicht darauf vorbereitet, dass ihm eine Geisterfahrerin entgegenkommt, das kann schon ziemlich irritierend sein.«

»Er könnte mich auch erkannt haben, schließlich hat sich alles in unmittelbarer Umgebung unserer Wohnung abgespielt.«

Irene wusste ganz genau, dass Elisabeth zwar nicht an Verschwörungstheorien glaubte, aber trotzdem von ihnen fasziniert war. Sie hatte Fantasie und die Begabung, aus einer uninteressanten Begebenheit eine spannende Geschichte zu machen.

»Du liest zu viele Romane«, sagte Irene.

»Hast du schon vergessen, das ist mein Job!«

»Hör zu, Elisabeth«, sagte Irene »du kennst niemanden in deiner Umgebung, du kennst nicht einmal deine Nachbarn. Hör auf zu grübeln und werde gesund.«

»Du bist so schrecklich praktisch.«

»Das ist eine meine Stärken. Was hat Klaus sonst noch gesagt?«

»Er ist froh, dass ich nicht ernsthaft verletzt bin, jedenfalls soweit man das jetzt schon feststellen kann.«

»Und das Auto?«

»Klaus hat es bereits abschleppen lassen, er wird sehen, ob sich eine Reparatur lohnt. Wenn nicht bekomme ich ein neues.«

»Das ist aber großzügig!«

»Na ja, zahlen muss ich es schon selbst!«

»Klar, du bist schließlich eine gutverdienende Frau« stelle Irene fest.

»Das glaubt mein Chef auch«, erwiderte Elisabeth.

»Und wann genau wirst du aus dem Spital entlassen?« fragte Irene.

»Der Arzt sagt, ich kann morgen nach der Visite gehen, falls alle Befunde in Ordnung sind. Ich habe aber eine Rückenverlet- zung, du weißt schon, ein Peitschenschlagsyndrom oder so etwas Ähnliches, das behandelt werden muss. Also werde ich eine Physiotherapie verschrieben bekommen.«

»Kannst du gehen?«

»Ja, aber es tut verdammt weh.«

»Das bekommen die Therapeuten schon wieder hin, dafür werden sie schließlich bezahlt, und gar nicht schlecht, wie ich gehört habe!«

Elisabeth lachte das erste Mal, seit sie am Abend zuvor das Restaurant verlassen hatte.

2. Ein privates Abendessen in Wien

»Wir trinken zu viel«, sagte Irene als die Gäste gegangen waren. Wieso wir, dachte Paul. Er trank fast nie Alkohol, und an diesem Abend hatte er ein Glas Sekt und ein halbes Glas Wein zum Essen getrunken. Irene hatte wahrscheinlich ein paar Gläser zu viel, womit sie jedoch gut zurechtkam. Jedenfalls wirkte sie ziemlich nüchtern, als sie das Geschirr in die Küche trug. Das Essen war übrigens nicht besonders gut gewesen, aber Irene ließ es sich nicht nehmen, selbst zu kochen. Außerdem war die Hauptspeise zu lange im Backrohr gestanden, aber dafür konnte die Gastgeberin nichts, sie hatte nicht damit gerechnet, dass zwei ihrer Gäste verspätet eintreffen würden. Paul ließ Irenes Bemerkung im Raum stehen, er war müde und nicht mehr in der Stimmung, Stellung zu nehmen, was sie auch gar nicht von ihm erwartete. Es war ein langer Tag gewesen, und ein langer Abend. Das ungewöhnlich milde Wetter und die gemütliche Terrasse hatten die Gäste verleitet, länger zu bleiben als üblich. Irene werkte bereits in der Küche, sie konnte einfach nicht alles stehen lassen und sich am nächsten Tag darum kümmern, und unter dem Klappern der leeren Flaschen summte sie fröhlich vor sich hin. Die Nachbarn würden sicher munter werden, dachte Paul, und das gab er ihr auch zu bedenken. Doch Irene meinte, dass die Nachbarn das sie schon aushalten müssten, die wenigen Male, bei denen es bei ihnen etwas lauter war, denn schließlich bot sich nicht immer die Gelegenheit, den ganzen Abend im Freien zu verbringen - und räumte weiter den Geschirrspüler ein.

Paul hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, also wollte er keinesfalls mit Irene diskutieren. Er lehnte sich auf dem Balkonsessel zurück und ließ den Abend Revue passieren, er würde sowieso nicht sofort einschlafen können. Er hatte nicht unbedingt das Gefühl, dass es ein gelungenes Fest gewesen war. Sie waren zwar alle fröhlich gewesen und hatten auch viel gelacht, aber so richtig harmonisch hatte sich der Abend nicht gestaltet.

Peter hätte Elvira nicht mitnehmen dürfen. Peter hatte Paul am Nachmittag angerufen, um ihn zu fragen, ob er eine liebe Freundin mitbringen darf.

»Moment, ich gebe dir Irene«, sagte Paul.

Peter wusste, dass Irene keine ungeladenen Gäste wollte, und schon gar keine, die sie nicht kannte, und von denen sie noch dazu im letzten Augenblick erfuhr.

»Nein, bitte hör zu«, sagte Peter schnell. »Ich habe ihr schon gesagt, sie kann mitkommen ... Sie kommt aus Sankt Petersburg. Sie fühlt sich einsam. Ich glaube, ihre Tochter ist im Spital .«

»Ja, sicher kannst du sie mitnehmen«, sagte Paul. Es würde nicht leicht sein, Irene davon zu überzeugen.

»Hat jemand abgesagt?« rief Irene aus dem Badezimmer.

»Nein, es war Peter und er .«

In diesem Moment läutete es an der Eingangstüre und Paul rief »ich gehe schon.« Er nahm dem Postboten das Paket ab, das er erwartet hatte, und legte es ins Arbeitszimmer. Damit war das Thema für ihn erst einmal vertagt.

Knapp bevor die Gäste kamen, fragte Irene:

»Was wollte Peter eigentlich?«

»Er wollte fragen, ob er jemanden mitbringen kann.«

»Aha. Gut, dass ich das auch erfahre. Und wen?«

»Bitte Irene, mach jetzt kein Theater. Du kennst sie nicht, aber es ist eine liebe Freundin, sie ist allein und hat Probleme - ihre Tochter ist im Spital, glaubt er. Und ich nehme an, sie will das Thema nicht besprechen, also vielleicht machst du keine Erwähnung.«

»Glaubt er? Wie gut kennt er diese liebe Freundin eigentlich?«

»Da musst du Peter schon selbst fragen. Ich lege noch ein Gedeck auf. Ist ja genug Platz«, sagte er und eilte auf die Terrasse, um aufzudecken und damit jede weitere Debatte zu vermeiden.

Irene war etwas irritiert, aber froh, dass er die Organisation übernahm, den Tisch deckte und alles herrichtete, während sie in der Küche die Essensvorbereitungen traf, denn sie war keine erfahrene Köchin und hatte alle Hände voll zu tun. Sie hielt sich genau an die Anweisungen des Kochbuchs und gab sich große Mühe, was aber keine Garantie für ein gelungenes Gericht war. Das war ihr klar, also arbeite sie mit vollem Einsatz, und war dabei etwas überfordert. Sie sah kurz durch die Balkontür auf den gedeckten Tisch mit den schönen Gläsern und den bunten Servietten und war zufrieden. Paul hatte ein gutes Ambiente geschaffen, und das war wahrscheinlicher wichtiger als alles andere. Sie würde den Abend aber trotzdem erst nach dem Essen genießen können.

»Wir hätten nicht selbst kochen müssen«, sagte Paul als er wieder in die Küche kam und Irenes sorgenvolles Gesicht sah. »Es gibt Catering, und eine Käseplatte hätte auch gereicht.«

»Aber die anderen kochen doch auch jedes Mal«, entgegnete Irene.

»Ja, die können es aber auch«, meinte Paul.

»Es hat sich noch niemand über unser Essen beschwert.«

»Das würden sie nicht wagen!«

Irene lachte, sie war nicht leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Kurz nach 19:30 trafen Elisabeth und Klaus ein und setzten sich ungezwungen an ihren gewohnten Platz auf der Terrasse. Elisabeth lehnte ihre Krücken in eine Ecke, und sagte: »Bitte reden wir heute Abend nicht darüber, es gibt angenehmere Themen. Aber danke, es geht mir gut.« Paul und Irene waren damit voll einverstanden. Irene waren inzwischen aus der Küche gekommen und hatte sich zu ihnen gesetzt, denn sie war mit den Vorbereitungen praktisch fertig. Paul schenkte ihnen ein Glas Sekt ein und bereitete Elisabeth und Klaus darauf vor, dass Peter eine Bekannte mitbringen würde. Im Gegensatz zu Irene waren die beiden angenehm überrascht, denn sie meinten es wäre gut, wenn Peter eine neue Partnerin hätte. Irene mochte Peter zwar gerne, stand ihm aber weit kritischer gegenüber als Paul, und sie hätte sich gewünscht, diesmal keine weiteren Gäste mehr zu erwarten, denn die Gesellschaft von Elisabeth und Klaus war für sie durchaus abendfüllend. Sie machte jedoch keine Erwähnung von ihrer Verärgerung über Peters überraschende Ankündigung seiner neue Begleiterin. Sie begnügte sich damit, Elisabeth und Klaus darüber zu informieren, was Paul von Peter über sie erfahren hatte.

Peter und Elvira kamen ungefähr eine dreiviertel Stunde zu spät. Irene war bereits ungeduldig geworden und die anderen hatten nur Hunger. Als es endlich an der Türe läutete, waren alle erleichtert. Die beiden Neuankömmlinge begrüßten die Gastgeber herzlich, jedoch ohne auf ihre Verspätung Bezug zu nehmen oder sich dafür zu entschuldigen, und überreichten Irene einen kleinen, sehr dekorativen Blumenstrauß und Paul eine Flasche Cognac. Das können wir gelten lassen, dachte Irene und bat die beiden, ihr auf den Balkon zu folgen. Peter stellte Elvira vor. Sie war eine zarte Person, liebenswürdig, mit einem leichten osteuropäischen Akzent, geschmackvoll geschminkt, frisch vom Friseur und elegant gekleidet. Jeans hätten zwar auch gereicht, dachte Irene, denn das sollte eigentlich ein entspannter Abend unter engen Freunden werden, aber sie geht wahrscheinlich nie in Jeans aus, und vielleicht hat sie auch gar keine. Sie war sehr hübsch - und mindestens zehn Jahre jünger als Peter. Sie wirkte fröhlich und vermittelte nicht unbedingt den Eindruck einer besorgten Mutter.

Im Laufe des Abends fragte Klaus, der neben Elvira saß - eigentlich aus Höflichkeit, nicht aus wirklichem Interesse - ob sie Kinder hat. Irene unterbrach ihre Unterhaltung mit Elisabeth, die sich ebenfalls für Elviras Antwort zu interessieren schien, und sah gespannt zu den beiden hinüber.

»Ich habe eine Tochter«, sagte Elvira.

»Und, geht es ihr gut?« fragte Irene.

Paul war erleichtert. Er hatte befürchtet, Irene würde in ihrer direkten Art nach der Erkrankung ihrer Tochter fragen, aber das tat sie nicht, jedenfalls noch nicht. Er hoffte, das würde so bleiben, denn schließlich hatte er sie gewarnt, und sie respektierte seine Worte und zog sich normalerweise nicht gerne seinen Unmut zu.

Elvira war verwundert über das Interesse an ihrer Tochter.

»Ja, danke, sehr gut, sie richtet sich gerade eine kleine Wohnung ein.«

Was wusste Peter eigentlich von dieser Frau, fragte sich Irene, was Elvira erzählte klang nämlich gar nicht beunruhigend.

»Und wann kommt eigentlich deine Tochter zurück?« fragte sie Peter unvermittelt. Sie hatte keine Ahnung, wie weit Elvira über Peters Privatleben informiert war, aber es konnte nicht schaden, ein bisschen nachzuhelfen.

»Keine Ahnung«, sagte Peter, dem die Frage offensichtlich nicht ganz recht war. »Im Moment ist sie noch bei Carla in New Jersey oder so.« Peter hatte es schon längst aufgegeben, sich um das Privatleben seiner Tochter zu sorgen oder auch nur zu kümmern, es war ihm einfach zu kompliziert. Trotzdem hatte er ein schlechtes Gewissen, die Sorge um seine - wenn auch erwachsene - Tochter ausschließlich seiner Exfrau zu überlassen. Aber das war hier kein Thema, und er hatte auch nicht vor, näher auf seine Beziehung zu seiner Tochter einzugehen, und schon gar nicht in dieser Runde. Da Peter offensichtlich nichts hinzuzufügen hatte wandte sich Irene an Elvira und fragte:

»Und wie habt ihr beiden euch kennengelernt?«

Peter sah Elvira an, als ob er nicht wüsste, wie sie reagieren würde. Beide lächelten verlegen und schließlich sagte Elvira:

»Wir haben uns zufällig in einem Bistro getroffen.« Peter sah immer noch gespannt zu ihr hinüber, als wollte er abwarten, ob sie noch etwas hinzufügen würde. Eigenartig, dachte Irene. Aber sie stellte keine weiteren Fragen, denn keiner der anderen schien sich besonders für das geheimnisvolle Zusammentreffen zwischen Peter und Elvira zu interessieren. Elvira nippte abwechselnd an ihrem Glas Wasser und ihrem Glas Wein, und machte keine Anstalten, weiterzusprechen. Dann wurde das Thema gewechselt.

Peter hatte sich wieder einmal über seine hohe Steuernachzahlung beschwert. Irene hatte gemeint, er müsse aber schon sehr viel verdienen, wenn er so eine hohe Nachzahlung hatte, und außerdem zähle er sicher nicht zu den Ärmsten der Armen, also hätte er überhaupt keinen Grund sich zu beklagen. Das hatte zu einer Debatte über Verteilungsgerechtigkeit, Armut, Migration, die Rolle der wohltätigen Organisationen, und natürlich die Rolle der Politik geführt. Peter hatte zwar nicht sehr beeindruckt gewirkt, aber Irene hatte ihn - wie immer - ziemlich irritiert. Das war auch ihre volle Absicht gewesen. Die beiden verband eine lange Freundschaft, denn Irene kannte Peter schon etliche Jahre bevor sie Paul kennenlernte, und ihre gegensätzlichen Ansichten waren Teil einer gegenseitig akzeptierten Diskussionskultur. Elvira hatte gelächelt und geschwiegen. Eine angenehme Frau, dachte Paul. Er sah halb amüsiert, halb warnend zu Irene, die keinerlei Anstalten machte, sich wegen ihrer kritischen Aussagen auch nur im Geringsten betroffen zu fühlen. In Momenten wie diesen war ihm klar, dass er im Grunde keine angenehme Frau wie Elvira an seiner Seite wollte, sondern Irene mit all ihren Ecken und Kanten. Sie war eine Frau, die zwar nicht wirklich politisch interessiert war, aber feste Ansichten hatte, für die sie sich aufrichtig einsetzte, und die sie besonders nach ein paar Gläsern Wein sowohl kompetent als auch überzeugend vertreten konnte. Elisabeth grinste verstohlen. Sie kannte ihre Freundin nur zu gut und war keineswegs überrascht, eher belustigt. Sie liebte Irene und ihre direkte Art; sie war die Art von Freundin, die sie trotz ihrer Verletzung und der Krücken, die sie immer noch verwendete, nicht als behindert betrachtete, ihr keine übertriebene Anteilnahme schenkte, und sich jede Woche einmal abends mit ihr in einem kleinem Café bei Elisabeth um die Ecke traf. Das Café war ein Treffpunkt, an dem sie ungestört alles miteinander besprechen konnten, und dort konnte Elisabeth Irene auch von ihren Ängsten und Unsicherheiten erzählen, und von ihrer Panik, Klaus könnte sie einmal verlassen.

Klaus hatte keine Ahnung von den Ängsten seiner Frau. Die Idee, sie zu verlassen, war ihm noch nie gekommen. Er hatte nicht das geringste Interesse an anderen Frauen. Er liebte Elisabeth auf seine ruhige, bodenständige Art, und fühlte sich eher von ihr vernachlässigt. Er war bereits in Pension und hätte sich gewünscht, Elisabeth wäre auch zu Hause und nicht noch immer jeden Tag in ihrem Verlag beschäftigt und auch abends so oft unterwegs. Sie könnte sich ohne weiteres aus dem Berufsleben zurückziehen - ganz abgesehen von ihrer derzeitigen Verletzung, für deren Heilung sie wesentlich mehr Zeit investieren sollte. Andererseits wollte er sie nicht drängen, ihre Arbeit war wahrscheinlich für sie wichtig, um ihr - seiner Meinung nach unnötiger Weise - eine Art von Selbstbewusstsein und Stabilität zu verleihen. Er würde sich jedoch hüten, dieses Thema mit ihr zu diskutieren, denn er war sich nicht sicher, wie Elisabeth reagieren würde, und er wollte das harmonische Verhältnis, das sie miteinander hatten, auf gar keinen Fall gefährden.

Paul drängte schließlich darauf, die Nachspeise servieren, nicht so sehr um das Thema zu wechseln, als um den Abend zu einem Abschluss zu bringen. Irene goss sich ein weiteres Glas Wein ein und folgte ihm in die Küche. Sie waren sich einig, dass sie die Gäste höflich, aber bestimmt spätestens gegen ein Uhr verabschieden würden und es war bereits kurz vor Mitternacht. Irene stellte Kuchen (»keine Angst, der ist vom Supermarkt«, fügte sie hinzu) und Schlagobers auf den Tisch, und bat ihre Gäste, sich selbst zu bedienen. Die allgemeine Diskussion wurde während dessen noch weitergeführt, aber weniger emotionell, denn alle waren inzwischen müde geworden. Als Elisabeth und Klaus vorschlugen, aufzubrechen, protestierten die Gastgeber nicht. Sie hofften, die anderen würden ihnen folgen, und das taten sie, wenn auch recht zögerlich. Elvira machte nicht den Eindruck, als würde sie eine selbstständige Entscheidung treffen wollen, nicht einmal die, dass der Abend lang genug gewesen war, dass sie müde war und sich eigentlich in dieser Gesellschaft nicht wohlfühlte, was man ihr deutlich ansah, aber Peter hatte keine Eile. Schließlich ergriff Irene die Initiative und sagte: »Na gut, wenn alle gehen wollen, verstehen wir das, morgen ist für manche von uns wieder ein Arbeitstag.« Sie erhob sich, und ließ den beiden keine andere Wahl, als ebenfalls aufzustehen. Damit hatte Irene den Abend sozusagen beendet, wofür ihr Paul unendlich dankbar war.

Paul blieb länger auf der Terrasse sitzen, als er vorgehabt hatte. Seine Müdigkeit war verflogen, und er nahm sich - entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten - eine Zigarette. Er wollte nur abschalten. Eine anstrengende Frau und eine anstrengende Arbeit, dachte er. Und er wollte keine von beiden missen. Er war mit Irene auf seine Art und Weise glücklich, denn ihre Beziehung war wesentlich harmonischer und unkomplizierter als seine Ehe mit Monika, von der er in beiderseitigem Einverständnis geschieden war, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem seine Tochter Lea schon fast erwachsen war. Lea hatte mit beiden Eltern ein gutes Verhältnis, zeitweise wohnte sie sogar bei ihrer Mutter. Er selbst hatte den Kontakt zu Monika abgebrochen, und zwar mehr aus Zeitgründen als aus persönli- chen Gründen. Seine Beziehung mit Irene und seine Arbeit füllten ihn voll aus und ließen ihm wenig Zeit für sonstige Aktivitäten. Er liebte seinen Beruf, schätzte seine Kollegen, kam sowohl fachlich als auch privat gut mit ihnen aus, und trotzdem brauchte er eine Auszeit von seiner täglichen Routine. Vielleicht würde er ein paar Tage in seiner kleinen Innenstadtwohnung verbringen, in die er sich schon lange nicht mehr zurückgezogen hatte, und alles aufarbeiten, was im Laufe der letzten Monate liegengeblieben war. Danach könnte er eventuell mit Irene Urlaub machen, eigentlich eine gute Idee, er würde das Thema demnächst mit ihr besprechen. Paul war kein passionierter Urlauber, es machte ihm nichts aus, zu Hause zu bleiben und an seinen Projekten zu arbeiten, aber er wusste, dass Irene gerne verreiste und mit ihr war jeder der wenigen Urlaube, die sie gemeinsam verbracht hatten, wirklich schön gewesen.

Dann läutete sein Telefon. Paul war nicht in Stimmung, um diese Zeit noch mit irgendwelchen Klienten zu reden, sah aber dennoch auf sein Display. Gerade als er den Anruf wegdrücken wollte, las er den Namen seiner Tochter Lea und dachte: . eine anstrengende Frau, eine anstrengende Arbeit, und eine anstrengende Tochter. Dann hob er ab.

3. Ein kurzer Aufenthalt in New York

Lea hatte zum gewünschten Zeitpunkt keinen Direktflug von Wien nach New York bekommen, sondern nur mehr einen Flug mit Stopover in Zürich. Der Aufenthalt in Zürich war nicht besonders angenehm gewesen; sie hätte gerne einen Espresso getrunken, doch da sie dafür weder ihre Kreditkarte verwenden noch Schweizer Franken wechseln wollte, hatte sie nichts zu tun, als die Zeit totzuschlagen. Shoppen war ihr zu langweilig. Es waren immer dieselben Geschäfte, dieselben Artikel, dieselben Souvenirs. Lesen war zu anstrengend für die Augen, dazu war das Licht zu schlecht. Also blieb nur unsinniges Flanieren durch die langen Gänge des Flughafens oder sinnloses Herumsitzen und Warten. Sie entschied sich für das Letztere. Sie beobachtete die Menschen, die an ihr vorbeikamen. Geschäftsleute, klar zu erkennen. Anzug, Handy in der Hand oder am Ohr, gestresst, eiliger Schritt. Touristen, auch klar zu erkennen. Strandkleidung oder Jogger, manche in Gebirgsausrüstung, Mädchen mit Flip-Flops oder High Heels. Wie konnte man so reisen? Man musste sich zwar nicht gleich den Fuß brechen, aber es genügte schon, wenn man sich in den Flugzeugen auf den kalten Böden eine Blasenentzündung zuzog, dachte sie.

Der Weiterflug nach New York verlief ruhig, abgesehen von dem quengelnden Kind zwei Reihen vor ihr. Lea hatte einen Gangsitz gewählt, und der Platz in der Mitte war frei geblieben. Niemand versuchte, Konversation zu machen, und sie war froh darüber. Doch die Zeit wollte nicht vergehen, die Reise zog sich unendlich in die Länge. Sie sah immer wieder auf die Uhr, um enttäuscht festzustellen, dass kaum 20 Minuten vergangen waren. Der Bildschirm über den Sitzen war von ihrem Platz schwer zu sehen, und das Buch, das sie mitgenommen hatte, war nicht spannend genug, um sie abzulenken. Sie machte immer wieder die Augen zu, aber sie konnte in einem Flugzeug nicht schlafen, und schon gar nicht während eines Tagflugs.

Als sie endlich in New York ankam, war es schon später Nachmittag. Die Zollformalitäten waren lähmend, wie immer. Daumenabdrücke bei den Automaten. Der erste Versuch war erfolglos, also musste sie es nochmals versuchen, und dann noch ein drittes Mal. Es war eigentlich nichts falsch zu machen, aber es dauerte trotzdem endlos, bis das grüne Licht aufleuchtete und sie zu den Schaltern weitergehen konnte, soweit ein Weitergehen bei den vielen Menschen möglich war. Das hatte sie nicht bedacht, als sie sich kurzfristig entschlossen hatte, nach New York zu fliegen. Es war eine spontane Entscheidung gewesen, die sie getroffen hatte, als sie von ihrer - mehr oder weniger besten - Freundin Valentina erfuhr, dass sie sich gerade in New Jersey aufhielt, und diese ihr vorschlug, mit ihr ein paar Tage in New York zu verbringen. Lea hatte schon länger vorgehabt, einen kurzen Urlaub zu machen, und zwar möglichst nicht allein und möglichst an einem Ort, der sie schon immer fasziniert hatte, also war das die ideale Gelegenheit.

Die Schlange bei den Einreiseformalitäten bewegte sich nicht weiter. Endlose Diskussionen bei den Abfertigungsschaltern, und wieder warten. Zu viele Flugzeuge waren zugleich angekommen und die Beamten machten davon unbeeindruckt ihren Dienst nach Vorschrift. Eine Dame, die vor Lea in der Schlange stand, bat sie, ihr beim Ausfüllen des Einreiseformulars zu helfen. Sie war komplett überfordert, die Dame, nicht Lea. Doch auch für Lea war es schwierig, ihr Handgepäck und ihre Handtasche mit einer Hand festzuhalten und mit der anderen ein Formular von einer Person auszufüllen, deren Daten sie nicht kannte, und sich dabei langsam, aber doch auf den nächsten Schalter zuzubewegen. Hätte diese Person nicht schon im Flugzeug jemanden bitten können, ihr zu helfen? Doch >diese Person lächelte nur unbekümmert und machte sich offensichtlich keine Gedanken darüber, wie sie sich ohne jegliche englische Sprachkenntnisse in Amerika zurechtfinden würde. Na ja, vielleicht wird sie abgeholt, dachte Lea.