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Helmut Ortner

WIDERSTREIT

Über Macht, Wahn und Widerstand

Politische Essays

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1. Auflage 2021

Copyright © Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2021

Alle Rechte vorbehalten

www.nomen-verlag.de

Umschlaggestaltung: Stefanie Kuttig, München

Satz + Layout: BlazekGrafik, Frankfurt am Main

ISBN 978-3-939816-80-5

eISBN 978-3-939816-81-2

»Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen«

Hannah Arendt

INHALT

Gegen Demokratie-Verachtung

WUT UND WAHN

Verquerte Wutbürger, besorgte Demokraten

Lufthoheit über Deutschlands Stammtischen

Lob des Zorns

VOLK UND WIDERSTAND

Keine Stunde Null

Auschwitz in Detmold

Schuld, Schutt und Scham

»Widerstandskämpfer« Filbinger

Verkannte und »bequeme« Helden

GOTT UND STAAT

Glaube. Macht. Gott.

Kniefall des Rechtsstaats

Seid umschlungen, Milliarden

Allah und die Linke

LEBEN UND TOD

Auge um Auge

Ohne Gnade

Präsident »Death«

Wenn der Staat tötet

Handwerker des Todes

KRIEG UND FRIEDEN

Waffen-Wahn und Kriegs-Gewinn

Staatsdiener auf Wolke 7

Alles wird schlimmer, oder …?

Anmerkungen und Literatur

Quellenhinweise

GEGEN DEMOKRATIE-VERACHTUNG

Warum eine offene Gesellschaft Gegenrede und
Widerstreit braucht – und Demokratie vom ICH und vom WIR lebt.
Kurzer Prolog
.

Denken »gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse«, sagt Galileo Galilei bei Brecht. Und vor dem Schreiben kommt das Denken. Aber wie bei vielen Vergnügungen: zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie lieber ihre besten Freunde, nicht unbedingt ihren Arzt oder Apotheker, die helfen ihnen in Sinnfragen nicht weiter. Denken bedeutet Risiko. Der Denkende ist der Suchende, der Zweifelnde mitunter auch der Selbstzweifelnde. Gegen die Macht, die Mehrheit – die eigene Bequemlichkeit.

In unserer Konsensgesellschaft wird »eigenes« Denken zwar gerne propagiert, aber nicht immer geschätzt. In düsteren Zeiten wird freies, widerspenstiges Denken mitunter behindert, verleumdet, denunziert und verfolgt. Auch unsere Geschichte kennt diese dunklen Epochen. Das ist vorbei. Selbstständiges Denken ist hierzulande nicht gefährlich. Es eignet sich nicht als heroische Geste. Auch wer sich das Etikett eines »Quer-Denkers« anheftet, muss keinen Mut aufbringen.

Einigen wir uns darauf: Denken hat viele Facetten. Es kann nützlich, erheiternd und schön sein – aber auch schlicht, anmaßend und dreist. Denken ist in einer freien, demokratischen Gesellschaft »systemrelevant« (um diesen abgenützten Begriff zu bemühen). Also: ein Lob auf das freie, unzensierte, anarchische Denken.

Nach dem Denken kommt das Handeln. Es geht darum, die offene Gesellschaft gegen ihre falschen Freunde und richtigen Feinde zu verteidigen. Gleich ob von rechts oder links. Gegen politischen Fanatismus und religiösen Wahn. Gegen Geschichtsvergessenheit und Populismus.

Ich plädiere für plausible, rationale Argumente statt Bauchgefühl. Ideal, wenn beides wohl dosiert zusammenkommt, dann stehen die Chancen gut, die Wirklichkeit zu bewältigen. Die wichtigste Voraussetzung, um Wirklichkeit zum Besseren zu verändern, besteht darin, diese ungeschönt zur Kenntnis zu nehmen. Schlichte Hoffnung und naiver Optimismus sind die Totengräber vieler guter Ideen gewesen. Das Ernüchternde: es gibt keine schnellen Lösungen in diesem Wirklichkeitsgeflecht.

Nun gibt es Stimmen, die meinen, Politik müsse nicht nur Probleme lösen, sondern auch Sinn stiften. Ich bin da entschieden anderer Ansicht: dafür mag Religion zuständig sein (ich bin gottlos glücklich), nicht aber Politik. Am besten aber, man kümmert sich um die eigene Sinnstiftung. Wir müssen schon selbst mit uns zurechtkommen. Es braucht also eine gute Balance, einen moderaten inneren Dialog zwischen Selbst-Zweifel und Selbst-Bewusstsein. Ein Pakt zwischen dem ICH und dem WIR.

Eine offene Gesellschaft lebt von Veränderung. Es braucht immer wieder eine neue Aufklärung. Aber Aufklärung ist kein Selbstzweck, kein Dogma, sondern eine Haltung, ein »Ethos«, wie Michel Foucault es formulierte. Es braucht Menschen, die sich trauen, gegen tradierte Denkmuster und Polit-Schablonen anzudenken und neue Möglichkeiten und Perspektiven zu entwerfen. So sehr unsere Demokratie auf Konsens angelegt ist, es braucht Gegenrede und Widerstreit. Sie sind der Sauerstoff für die Demokratie.

WIDERSTREIT vereint Essays, Kommentare und verschiedene Texte, von denen einige bisher unveröffentlicht sind. Andere sind in den letzten Jahren verstreut in Tageszeitungen, Zeitschriften und auf Online-Magazinen erschienen. Die Angaben zu der jeweiligen Erstveröffentlichung finden sich am Ende des Buches. Hier wollen sie allesamt als Plädoyer gegen jede Form der Demokratie-Verachtung gelesen werden.

WUT UND WAHN

VERQUERTE WUTBÜRGER, BESORGTE DEMOKRATEN

Das Land in Zeiten von Corona: die Stimmung ist angespannt.
Die einen misstrauen dem Staat, die anderen rufen nach ihm.
Demokratie braucht Transparenz und Vertrauen.
Das ist die Währung der Demokratie
.

Leipzig, Samstag, 7. November 2020. Fast 40 000 selbsternannte »Querdenker« aus der gesamten Republik versammeln sich in der Stadt, um das Ende der Pandemie auszurufen beziehungsweise zu fordern. Esoteriker marschieren neben Hooligans, Regenbogen-Fahnen flattern neben Reichskriegs-Flaggen. Ohne Maske, ohne Abstand, weder zum Nachbarn noch zu den Hunderten Nazis. Eine neue deutsche Volksgemeinschaft trifft sich hier, die sonst kein Elend und keine Armut auf der Welt auf die Straße treibt, aber nun sich unterdrückt fühlt und zum Widerstand aufruft. Gegen die »Merkel-Diktatur«, gegen Bill Gates, George Soros und allerlei finstere Verschwörungen reicher Pädophiler, die im Hintergrund angeblich die Fäden ziehen.

Neben rechtsradikalen Plakaten und antisemitischen Spruchbändern sind Leute zu sehen, die sich als KZ-Häftlinge kostümieren, um sich als die wahren Erben, als Kämpfer der Freiheit gegen »Diktatur und Faschismus« auszugeben. Sie skandieren »Nie wieder!« und »Wehret den Anfängen!« So zieht die bunte Querfront-Polonaise, vollends von jeder Rationalität befreit, unter den Rufen von »Wir sind frei, Corona ist vorbei!« und allerlei anderen sinnfreien Spaß-Slogans durch das Zentrum der Stadt. Ein Volksfest des kollektiven Wahns.

Eine Woche später treibt es die verquerten Freiheitskämpfer wieder auf die Straße, diesmal in Hannover. Eine junge, ebenso naive wie narzisstische Jana aus Kassel, die nach eigenem Outing regelmäßig gegen Corona-Maßnahmen protestiert, vergleicht sich auf der Bühne mit der von den Nazis ermordeten Sophie Scholl. »Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde«, ruft sie mit brüchiger Stimme. Sie will niemals aufgeben, sich für »Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit« einsetzen. Beifall und Jubel aus dem Publikum. Das war sogar der New York Times einen Beitrag wert. Im Artikel hieß es, ihre Rede sei das »jüngste Beispiel« von Anti-Corona-Demonstranten und Verschwörungs-Erzählern, die ihren Protest mit der Unterdrückung und Ermordung der Juden durch die Nazis gleichsetzten. Erwähnung findet auch eine 11-Jährige, die sich bei einer »Querdenker«-Sause zuvor am Mikrophon mit Anne Frank verglich, weil sie ihren Geburtstag aus Angst vor den Nachbarn angeblich hatte geheim halten müssen.

Man fühlt sich in Zeiten zurückversetzt, als sich der nazi-kontaminierte Hitler-Durchschnittsdeutsche gerne selbst als Nazi-Gegner und Widerstands-Kämpfer eingestuft sehen wollte. Es scheint, dass in Pandemie-Zeiten viele Menschen sich selbst den Status eines Widerstandkämpfers anheften. Die Folge: »außer in Zeiten der Entnazifizierungs-Verhöre gab es noch niemals soviel Widerstandskämpfer wie in den letzten Jahren«, wie Karl-Markus Gauß in der Süddeutschen Zeitung konstatiert. Eine bizarre Wahrnehmung der Wirklichkeit. Bislang galt Geschichtsklitterung in der bundesrepublikanischen Nachkriegsrealität als Terrain rechtsradikaler Wirrköpfe und Ewig-Gestriger. Dann kam die AfD. Mit ihrem Einzug in Landesparlamente und den Bundestag bekam das Rechts-Milieu eine parlamentarische Bühne und ein öffentlichkeitswirksames Podium. Was folgte, waren kalkulierte Tabubrüche und gezielte Provokationen, etwa Björn Höckes Gerede von einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« oder Alexanders Gaulands »Fliegenschiss«-Verharmlosung der Nazi-Diktatur. Historische Demenz, Ignoranz oder böse Absicht? In jedem Fall eine trübe Melange aus allem. Die AFD findet nicht nur ihre Wähler – vor allem im Osten der Republik (bei der Landtagswahl in Sachsen 2019 beispielsweise 27,5 Prozent) –, sondern kann sich auch über flächendeckende Zustimmung jenseits von Wahlen freuen. Auch wenn der Verfassungsschutz Teile der Partei mittlerweile unter Beobachtung stellt, finden viele Deutsche diese Partei nicht gefährlich und unappetitlich, sondern fühlen sich von ihr und ihren Lautsprechern politisch angemessen vertreten. Ein irritierender Befund.

Was geht da vor sich, wenn sich ältere Ewig-Gestrige und Verblödet-Heutige als Retter der Demokratie aufspielen? Natürlich verharmlosen sie alle auf grässliche und beschämende Weise den Nationalsozialismus. Sie heften sich Judensterne an ihre modischen Anoraks – auf denen »Ungeimpft« oder »Jesund« steht. Dauerempörte »Kämpfer der Freiheit« beanspruchen, Opfer zu sein. Sie fühlen sich vom Staat getäuscht, reglementiert, verfolgt. Dabei haben sie mit keinerlei staatlicher Repression zu rechnen. Einzige, schwer erträgliche Gängelung: den genehmigten Demonstrationsweg durch die Innenstadt müssen sie einhalten, 1,5 Meter-Abstand plus Masken tragen. Ächtung droht allenfalls in milder Dosierung, womöglich müssen sie ertragen, »Covidioten« genannt zu werden. Tuchfühlung mit der Staatsmacht gibt es allenfalls, wenn ein Mob im Kampf gegen die »Corona-Diktatur« am Rande einer Demonstration versucht, ins Berliner Reichstagsgebäude einzudringen. Doch das gelang nur bis zur Aufgangstreppe, dann drängten Polizisten die militanten Wirrköpfe zurück.

Die Contra-Bürger: Auf dem Weg in die »Corona-Diktatur«

Es scheint, bei vielen Demonstranten ist in den düsteren Zeiten der Pandemie einiges verloren gegangen: erst die Vorsicht, dann die Vernunft – schließlich auch das Vertrauen in die Politik. Sie misstrauen einem Staat, von dem sie behaupten, er würde als nächstes eine »Corona-Diktatur« errichten, angeführt von der Putschistin Angela Merkel und dem Obristen Olaf Scholz. Wo aber Misstrauen im Überfluss produziert wird, grassiert rasch der Verdacht, die ganze Existenz staatlicher Institutionen könne am Ende vielleicht nur eine gigantische Täuschung sein, hinter welcher sich finstere Eliten verbergen. Seine extreme Ausformung in den psychopathologischen Bereich erleben wir in »Bewegungen« wie dem durchgeknallten »QAnon«-Glauben, wonach gewaltige geheime Mächte unter der Oberfläche der Gesellschaft ein Regime von Verbrechen betreiben. Das wiederum treibt Verwirrte, die alle möglichen Beschwernisse und Unglücke des Lebens stets irgendwelchen organisierten Mächten zuschreiben möchten, auf die Straße, eingenebelt. Sie wähnen sich moralisch absolut »auf der richtigen Seite«. Vielleicht liegt darin der Erfolg des »Querdenker«-Universums.

Die Mehrheit der Demonstranten, so hören wir immer wieder, seien zwar empörte, aber alles in allem doch friedliche Bürgerinnen und Bürger. Herr Biedermann und Frau Demeter seien eben besorgt und dies wollten sie auch öffentlich sichtbar machen. Niemand sollte dagegen Einwände haben. Demokratie lebt vom Widerspruch. Keine Frage: Das Virus hat viele Menschen in schwierige Situationen gebracht, wirtschaftlich und mental. Und je länger die Pandemie andauert, umso existentieller die Folgen. Aber muss es gleich dazu führen, dass es auch die objektive Faktenlage samt eigenem Verstand vernebelt?

Als das neuartige Corona-Virus im Dezember 2019 erstmals in Wuhan (China) auftauchte, hätten selbst die erfahrensten internationalen Gesundheitsexperten nicht damit gerechnet, dass es die schlimmste globale Gesundheitskrise seit über 100 Jahren verursachen würde. Das Virus habe die Welt »kalt erwischt« und es gibt »keine Kristallkugel, die uns verrät, was die Zukunft bringt«, sagten und sagen uns Wissenschaftler. Ein Ende ist nicht abzusehen, aber immerhin gibt es Hoffnung: neue Erkenntnisse, neue Strategien, neue Impfstoffe. Davon wollen »Querdenker« nichts wissen. Sie bleiben dabei: geheime Netzwerke, böse Drahtzieher, komplexe Komplotte beherrschen die Welt. Belege liefern die »Wahrheiten« aus den Echo-Kammern des Bösen. Verschwörungs-Erzählungen haben Charisma, sie sind Bestseller im Internet. Die Inhalte: ein buntes Sammelsurium aus Bildern, Videos, Screenshots, Sprachnachrichten und wüsten Textnachrichten, die allesamt eines beweisen sollen: Corona ist eine einzige universelle Verschwörung.

Man muss kein Anhänger der verquert-denkenden Verschwörungsbewegung sein, aber Tatsache ist: Die Balance zwischen Individuum und Kollektiv verändert sich markant zugunsten eines autoritären, dirigistischen Staates. Individual-Grundrechte werden einer Kollektiv-Volksgesundheit untergeordnet. Unter dem Vorwand der Pandemie-Bekämpfung beansprucht der Staat Rechte, die vor der Pandemie dem Einzelnen zustanden. Der Einzelne tritt zurück hinter dem Großen und Ganzen – zumindest temporär. Staatliche Ordnungspolitik diskreditiert Grundrechte als schnöden Egoismus.

Da drängen sich Fragen auf: Sind staatliche Einschränkungen nur so weit legitim, als sie die Freiheit der anderen (besser: aller!) sichern? Oder ist die Beschneidung des individuellen Rechts ein Deal, bei dem der Staat im Gegenzug als eine Art Lebensversicherung fungiert? Sind die massiven grundrechtlichen Einschränkungen (Ausgangssperren, Bannmeilen, aber auch Impfungen) überhaupt noch verhältnismäßig? Oder schon demokratiegefährdend? Einigkeit ist nicht herzustellen. Während die einen – nicht unbedingt allein bekennende Corona-Leugner – dem Staat misstrauen, rufen andere nach ihm. Demokratie heißt Pluralismus, der kleinste Nenner: Pro und Contra. Davon lebt eine offene Gesellschaft.

Die PRO-Bürger: Der Staat soll Vormund sein

Also blicken wir auf die andere Seite, auf die staatstreuen »Pro«-Bürger. Sie sehnen sich nach harten Maßnahmen, klaren Vorgaben. Je länger die Pandemie dauert, um so mehr erwarten sie starke Führung und Autorität. Der Staat soll Vormund sein. Selbst ansonsten kritische (oder gleichgültige) Bürger applaudieren hier den staatlichen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr, verteidigen Verbote, Ausganssperren, Schul- und Theaterschließungen – kurzum: akzeptieren die Einschränkungen ihrer Grundrechte. Sie opfern gerne etwas Freiheit für den Sieg über das Virus. Und klar, Sie sind unbedingt für Impfpflicht, und dass die Bundeswehr zur Pandemiebekämpfung im Innern eingesetzt wird, und für eine Corona-App, die noch mehr Informationen zur Verfügung stellt, auch wenn es auf Kosten des Datenschutzes geht. Sie haben keine Bedenken gegen einen Obrigkeitsstaat. Vorwärts! Regieren und Entscheiden, wenn es sein muss ohne Parlament.

Mit sehnsüchtigen Augen blicken sie nach Fernost, wo die Pandemie mit Big-Brother-Methoden bekämpft wird. Sie bewundern China: großartig! Totalüberwachung aller Handydaten, Drohnen, Gesichtserkennung, Polizeigewalt – all das spielt offenbar weniger eine Rolle.

Der Schriftsteller Thomas Brussig etwa plädiert in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung dafür, in der Krise doch »Mehr Diktatur!« zu wagen. Das sei das Gebot der Stunde, denn: in einer Ausnahmesituation bedürfe es eben Ausnahme-Regeln. Das Virus zwinge uns, die Grundrechte temporär nicht ganz so wichtig zu nehmen und auf liebgewonnene Rituale zu verzichten. Die Demokratie mit all ihren Freiheiten und Grundrechten bleibe selbstredend der Regelzustand, so Brussig. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen ergibt sich für ihn schlichtweg aus der Frage nach ihrer Wirksamkeit. Denn das Geschehen werde durch einen Akteur dominiert, dem das alles egal ist: das Virus.

Man will dem Schriftsteller Brussig, der bislang mit Bestellern wie »Sonnenallee« und »Helden wie wir« bekannt wurde, zurufen: Ja, das Virus kennt keine Staatsform, es ist nicht unbedingt dazu geeignet, die Abschaffung des Rechtsstaats zu fordern und eine Diktatur auszurufen. »Es braucht auch keinen diktatorischen ›Ausnahmezustand‹, von dem der Autor weder sagt, wer ihn ausruft, noch wer oder was ihn beenden kann. Von wem sollte die Macht denn ausgehen, vom Robert-Koch-Institut und dem Kanzleramt? Oder von der bayerischen Staatskanzlei«, fragt in einer Antwort – ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung – der Zeithistoriker René Schlott.

Brussigs Sehnsucht nach einer vorübergehenden, kurzfristigen Diktatur findet seine Entsprechung im populären Ruf nach dem starken Mann. Nach dem geltenden Infektionsschutzgesetz sind derzeit zwei Dutzend freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Kraft. »Welche weiteren diktatorischen Anordnungen sollte es geben? Haft für Quarantänebrecher, verdachtsunabhängige Personenkontrollen mit zwangsweisen Schnelltests, Sprechverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln, soziale Kontakte nur nach behördlicher Anmeldung oder gleich die Abriegelung ganzer Städte?«, fragt René Schlott in seiner Brussig-Replik. Wir wollen festhalten: Wer wie Brussig leichtfertig (oder ist es historische Ahnungslosigkeit?) nach autoritären Maßnahmen des Staates ruft, dem ist unbedingt die Lektüre des Grundgesetzes empfohlen oder (ganz in ihrem Sinne klarer Vorgaben) als Pflichtlektüre verordnet.

Die Verfassungs-Bürger: Grundrechte verteidigen, um Kompromisse kämpfen

Heribert Prantl, Publizist und Jurist bleibt da nur Kopfschütteln. Der ehemalige Politikchef der Süddeutschen Zeitung will die Wirklichkeit nicht verleugnen, aber elementare Grundrechte verteidigen: die Freiheit der Person, die Bewegungsfreiheit, das Recht auf Kommunikation. »Was wir brauchen, ist nicht noch mehr Härte beim Lockdown, sondern mehr Differenzierung«, fordert er. Denn: Demokratie heißt nicht, alles über einen Kamm zu scheren. Und noch etwas macht ihm Sorgen: es entscheiden Gremien, die im Grundgesetz gar nicht vorgesehen sind. »Es gibt in der deutschen Rechtsordnung kein ›Konzil‹ der Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin. Es kann nicht sein, dass Merkel, Laschet und Söder hinter verschlossenen Türen entscheiden und dann sagen: Hier geht es jetzt lang.«

Prantl ruft nicht nach staatlicher Autorität und ordnungspolitischem Übereifer, im Gegenteil: er ängstigt sich um unsere Grundrechte. »Ich habe die Sorge, dass wir die Grundrechte opfern, um so vermeintlich der Pandemie Herr zu werden. Das Wesen der Grundrechte ist jedoch, dass sie gerade in einer Krise gelten müssen. Deswegen heißen sie Grundrechte.« Prantl fürchtet, dass gravierende Einschränkungen zur Normalität werden. Diese könnten auch als Blaupause verwendet werden: für das nächste Virus, für den nächsten Katastrophenfall.

Demokratie braucht Transparenz und Vertrauen. Das ist die Währung der Demokratie. Mangelt es daran, schafft das ein Klima des Misstrauens, der Angst, der Aggression. Notwendig ist ein kollektives Einverständnis, eine breite Zustimmung etwa zu Maßnahmen, die unsere Grundrechte einschränken. Darüber kann nicht allein die Regierung entscheiden, darüber muss in einem Rechtsstaat im Parlament geredet werden. Die Parlamente vertreten den Souverän. Sie sollten eigentlich der Ort der Diskussion sein, der politischen Debatte und am Ende der demokratischen Entscheidung. Dass dies unzureichend und zu spät geschehen ist, hatte und hat ungute Auswirkungen. Und wirkte als Beschleuniger für die verwirrten Querdenken-Proteste gegen die staatliche Pandemiebekämpfung.

Die Auseinandersetzung ist giftig geworden. Wir merken es alle. Das Virusgift hat auch den gesellschaftlichen Diskurs erfasst, es betrifft die Befürworter der Maßnahmen genauso wie die Gegner. Es wird verbissen gestritten, nicht diskutiert. Nicht Hinhören und Austauschen, sondern Abgrenzen und Ausgrenzen. Spaltung und Radikalisierung ist die Folge. Ein Mix aus Hass, Hetze und Beleidigung macht sich breit, vor allem in digitalen Echo-Räumen. Auch wenn es mühsamer ist, als mit Gleichgesinnten das eigene Weltbild zu pflegen, eine offene Gesellschaft braucht diese Räume.

Keine Frage: Die Stimmung im Lande ist angespannt. Natürlich stimmt es, dass wir seit einem Jahr Zeugen und Betroffene einer alle Lebensbereiche umfassenden Politik der Grundrechtsbegrenzungen sind. Kaum ein Grundrecht des Grundgesetzes, das durch infektionsschutzrechtliche Interventionen nicht betroffen wäre: die allgemeine Handlungsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, die Freiheit der Person, die Religionsfreiheit, die Kunstfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Berufsfreiheit und die Eigentumsgarantie, das Asylgrundrecht. Prantls Warnrufe sollten gehört und diskutiert werden.

Dennoch: weder sind wir auf dem Weg in einen »faschistoiden Hygienestaat« (eine geschichtsvergessene Terminologie), noch entledigt sich das Parlament durch ein »Ermächtigungsgesetz« (auch dieses Wort ist ein Missgriff) seiner Verantwortung, aber den Bürgern wird viel zugemutet: Kontaktbeschränkung, Reisebeschränkung, finanzieller Ruin. Am Düsseldorfer Rheinufer durfte man nicht mal mehr stehen bleiben: »Verweildauerverbot« nannte sich diese Anordnung und Polizei und Ordnungsämter waren beauftragt, Verstöße mit einem Bußgeld zu ahnden. Bislang ertrug der disziplinierte Verfassungs-Bürger das alles meist stoisch. Er ist auch in Vorleistung gegangen: mit Hygienekonzepten, Disziplin, Verständnis. Im gleichen Zeitraum kann die Bundesregierung für sich allenfalls ins Feld führen, die schnelle Entwicklung von Impfstoffen wenigstens nicht aktiv verhindert zu haben.

Alle Instrumente, den Krisenzustand zu beenden, liegen mittlerweile auf dem Tisch: Impfen, Testen, digitale Kontaktverfolgung. Doch es herrscht eine organisierte Zuständigkeits-Diffusion zwischen Bund und den Ländern. In der Jahrhundertkrise wird die Republik von einem Siebzehner-Direktorium geleitet, das nirgendwo im Grundgesetz vorgesehen ist. Die Rollenverteilung zwischen Bund und Ländern, zwischen Regierung und Opposition, zwischen Exekutive und Legislative verschwindet zusehends. In diesem Verantwortungsnebel will keiner die Verantwortung dafür tragen, wenn etwas schief läuft. »Statt sich darauf zu konzentrieren, wie die Lockdown-Maßnahmen überflüssig gemacht werden können, streitet eine Ministerpräsidentenkonferenz darüber, wie sie gerechtfertigt und am besten verkauft werden. Das ist das eigentlich Ermüdende«, kommentiert der Berliner Tagesspiegel. Wenn die Pandemie uns nun noch immer beherrscht, ist das auch ein Staatsversagen. Die Frage drängt sich auf, wie lange, geduldig und diszipliniert der Verfassungs-Bürger diesen Zustand noch akzeptiert. In jedem Fall aber gilt: wir müssen die Krise mit den Mitteln der Demokratie bewältigen.

LUFTHOHEIT ÜBER DEUTSCHLANDS STAMMTISCHEN

Der Wut-Bürger setzt auf reflexhafte Empörung.
Mut-Bürger dagegen auf konstruktiven Streit.
Deshalb ist er für unsere Demokratie so unerlässlich
.

Wir kennen die Bilder: Immer wieder montags trafen sich in Dresden Tausende von »Wutbürgern«, um Rednern zu applaudieren, die für Volk und Vaterland den Notstand ausriefen, überall Gefahr und Verrat witterten und eindringlich vor Flüchtlingen und Lügenpresse warnten. Montag war Wut-Tag.

Deutsche, hört die Signale! Geschrei, Gegröle, Gezeter – der akustische Soundtrack aller Empörten und Enttäuschten von Sachsen bis in die Niederungen heimischer Mittelgebirge, ein Sound, jederzeit imstande, kollektive reflexive Handlungshysterie zu entfachen. Die Echo-Welle des Unappetitlichen und Unangepassten, von der sich der national-gesinnte Wutbürger gerne mitreißen und mittragen lässt, hält ungebrochen an.

Auch die gern zitierte »Mitte der Gesellschaft« ist von ihr erfasst. Flüchtlinge, Ausländer, Asylanten, kurzum »alles Fremde« – alles, was sich immer schon eignet als ideale Projektionsfläche für gesellschaftliche und politische Probleme im eigenen Planquadrat. Nationalistische Angst-Fantasien als Motor und Motivation, als Appell und Attacke. Es geht um die beschworene »nationale Identität« und besteht in der Abgrenzung nach außen. Das Motto: »Deutschland zuerst!«

Und so findet sich nun beinahe eine Hundertschaft von AfD-Abgeordneten im Bundestag, um die gefühlte Heimat zu verteidigen – wenn es sein muss, mit schriller Rhetorik. Es geht um »kulturelle Wurzeln«, um »Völkisches« und vor allem: gegen die »Altparteien«, die »Lügenpresse«, »die Volksverräter«. Die Frage lautet: Ist das noch in Ordnung, ist das noch verfassungsgarantierte Narretei – oder schon nazi-kontaminierter Wahn? Ignorieren, tolerieren oder aufregen? Ja, keine Frage: es gibt sie, die mediale und politische Tendenz, alles im Konsensabgleich zu erledigen, so als sei unsere demokratische Hausordnung gleich in höchster Gefahr, wenn Sprache und Begriffe mal pubertär rüpelhaft, mal politisch grenzdebil durchs Parlamentsplenum, über die Plätze der Republik – oder samstags durch die Stadionkurven – zu laut und zu schrill daherkommen. Das ist mitunter unangenehm, anmaßend, abstoßend, gar grenzdebil. Was tun?

Wir sollten solcherlei Entgleisungen einerseits nicht mit allzu übertriebener Empfindsamkeit begegnen, den Rest – so sieht es unser Rechtsstaat vor – klären Staatsanwaltschaften und Gerichte. Andererseits: Zu viel Verständnis und coole Toleranz gegenüber jeder Form politischer Dummheit und Devianz ist auch nicht immer die sinnvollste Reaktion. Vor allem die extreme Rechte provoziert gerne mit wirren Begriffen und lenkt damit ab von ihren noch wirreren Ideen. Wer das AfD-Führungsduo Gauland und Weigel einmal in Talkshows erlebt hat, findet hier eindrucksvollen Anschauungsunterricht, wie die AfD-Fraktion im Bundestag agiert. Verbaler Treibstoff für eine national-konservative – wenn es sein muss – auch rechte Identitätsmaschinerie, live aus dem Berliner Plenarsaal.

Da will auch die CSU als verlässlicher Begriffslieferant nicht hintenanstehen. Wie weiland schon Franz-Josef Strauß proklamierte, »dass rechts von der CSU nichts wachsen dürfe«, fordern nun auch dessen Nachkömmlinge pflichtschuldig ein AfD-grundiertes neues deutsches Heimatgefühl. Beispielsweise Alexander Dobrindt. In der Tageszeitung Die Welt, dem Leitmedium der bürgerlich-konservativen Mitte, fordert er einen längst überfälligen gesellschaftlichen Aufbruch, eine »konservative Revolution«. Unter »konservativen Revolutionären« versteht die Geschichtswissenschaft elitäre, antidemokratische und deutschnationale Kräfte, die gegen die »dekadente« Weimarer Republik gekämpft haben. Männer wie Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger, die zu Gewaltfantasien und Apokalyptik neigten, denen die Moderne und mit ihr die »Zivilisation« als Grundübel galten.

Stellt sich die Frage: Benutzt der CSU-Mann diesen Begriff bewusst? Der Berliner Journalist Michael Angele findet für den Geist, der aus Dobrindts Traktat spricht, den Begriff »Extremismus der Mitte« – und weil dieser neue Extremismus der Mitte alte Feindbilder braucht, verbindet der CSU-Frontmann seine rhetorische Kraftmeierei mit einem rabulistischen Gestus gegen die »68er«, die als die großen Zerstörer dastehen. »Linke Ideologien, sozialdemokratischer Etatismus und grüner Verbotismus« hatten ihre Zeit, skandiert Dobrindt und fordert eine »neue, konservative Bürgerlichkeit« für die Republik.

Vor allem will seine Partei bei der kommenden bayerischen Landtagswahl die verlorenen Stimmen ihrer Stammwähler zurück, die bei der Bundestagswahl bei der AfD ihr Kreuz gemacht haben. Grund genug, genauso zu sprechen wie die Rechtspopulisten. Nur nebenbei wollen wir festhalten: Dobrindts Partei ist in Bayern seit etwa sechzig Jahren durchgehend und im Bund 17 der vergangenen 25 Jahre an der Regierung beteiligt. Es bleibt also eher diffus, warum der proklamierte Aufbruch dort nicht stattfand. Christian Stöcker bringt in einer Spiegel-Kolumne das eigentliche Problem der Konservativen auf den Punkt: »Es fällt ihnen sehr schwer, den Wesenskern ihrer Weltanschauung klar zu formulieren. Vielleicht, weil sich Rassismus, Sexismus und Nationalismus nur die abgebrühtesten Rechtspopulisten zu formulieren trauen.« So ist es.

Es geht um die Lufthoheit über Deutschlands Stammtischen, um die Deutungsmacht von Begriffen: um Heimat und Vaterland, Familie und »christliche Werte«. Das gehört nun einmal zur DNA der Bayern-Partei. Vor allem aber geht es um eines: um Machtgewinn oder Machtverlust. In Abwandlung des großen Volksphilosophen Sepp Herberger, der einst verlautbarte, dass das nächste Spiel immer das schwerste sei, gilt für die neuen Eiferer des Konservativen: Die nächste Wahl ist immer die wichtigste. Der Kampf um »den Wähler draußen im Lande« ist also entbrannt. Lautstarke Empörungs-Rhetorik und eingespielte Leerformeln sind der Sound der Wahlkampfzeiten. Keine Partei pocht auf besondere Alleinstellungsmerkmale. Alle mischen mit. Wir haben uns daran gewöhnt.

Tatsache ist: Vor allem das politische Entertainment ist mitunter an einem Punkt angekommen, an dem es unerträglich geworden ist: Schlichte Verdummungs-Slogans wie »Ein Land, in dem wir gut und gerne leben«; im Nachbarland Österreich wird ein telegener, konservativer junger Mann zum Kanzler gewählt, der mit Plakaten warb, auf denen stand: »Es ist Zeit!« Zeit wozu? Wofür?

Dass sich Herr Kurz mit dem rechtslastigen Herrn Strache ins politische Bett legte, ist besonders unappetitlich. Man will sich nicht vorstellen, wie es mit der AfD hierzulande laufen würde, wenn sie statt des miesepetrigen Gauland einen Schwiegermutter-Strahlemann wie diesen Sebastian Kurz hätte. Das alles sind überschaubare Zorn-Beschleuniger. Aber es gibt natürlich auch die volle Dröhnung – gewissermaßen im XXL-Format. Für die konstante Belieferung unseres Zorn-Depots wird gesorgt: die politische Klasse, die globalen Finanzjongleure, allerlei beseelte Ideologen und religiösen Fundamentalisten liefern beständig.

Hier ein kleiner Abriss der laufenden Zumutungen: Zornig macht die beschämende Nicht-Aufklärung der NSU-Mordserie, die fragwürdige Rolle des Verfassungsschutzes, die diese »Dienste« etwa in Hessen und Thüringen dabei gespielt haben. Zornig machen die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, vor allem deren jahrzehntelange Vertuschung. Täter wurden »kirchenintern« gedeckt, allenfalls versetzt – anstatt die Staatsanwaltschaft zu informieren.

Zorn kommt auch auf, wenn ausgerechnet Exministerpräsident Koch – verliehen vom jetzigen Ministerpräsidenten Bouffier – einen Preis bekommt, der nach Wilhelm Leuschner benannt ist: der Gewerkschafter, Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer Leuschner war nach einem Volksgerichtshof-Schauprozess 1944 in Berlin hingerichtet worden. Der Preis soll an ihn und sein mutiges Eintreten gegen die Nazis erinnern und Personen würdigen, die sich »im Geiste Leuschners hervorragende Verdienste um die demokratische Gesellschaft« erworben hätten. Herr Koch, der einst in der Affäre um CDU-Schwarzgelder von »jüdischen Vermächtnissen« geschwindelt hat, bekommt den Preis und die braven Partei-Claqueure applaudieren. Eine Groteske.

Halten wir fest: Widerstand beginnt dort, wo sich die Bürger gegen Ignoranz und Arroganz, die Verwandlung von Politik in Verwaltung oder Therapie auflehnen. Dann kann es mitunter laut und gewalttätig werden. Aus Empörung wird militante Attacke, flammender Protest, gewalttätige Revolte. Aus Wut zerstörende Gewalt. Ob »Links« oder »Rechts«, ob sogenannte internationale »Antifa« oder nationale »Pegida«: Wut ist lagerübergreifend unbeherrscht. Ein allzu alltäglicher Reflex und nicht selten auch sicht- und hörbarer Beleg für ein reduziert-redundantes Weltbild, für ein einfaches Zurechtrücken komplizierter Wirklichkeiten und vor allem: Verweigerung des politischen Streits.

LOB DES ZORNS

Volks-Zorn, Wähler-Zorn, Götter-Zorn – der Zorn erscheint in vielerlei Gestalt.
Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann nur Attitüde und Pose?
Höchste Zeit, den guten Ruf des Zorns zu verteidigen – gegen selbsternannte
Heimatschützer und irrlichternde Verschwörungs-Erzähler
.

Der Zorn hat keinen guten Ruf. Wenn bis vor kurzem davon die Rede war, erweckte das Wort in uns allenfalls antiquierte Assoziationen wie den »Zorn Gottes« oder wir haben das Wort im Sinn von Jähzorn gebraucht, einer Unbeherrschtheit, die wir allenfalls widerspenstigen Kindern zubilligen. Mitunter haben wir es in Zusammenhang mit wütenden, altersgereiften Wutbürgern oder empörten, jungen Querköpfen gebraucht, die gegen den Abriss von Bahnhöfen, bedrohliche »Überfremdung« oder die »Merkel-Diktatur« demonstrieren. Zu beobachten ist: wo es zu individuellen und kollektiven Zornesausbrüchen kommt, treten häufig Begriffe wie Wut und Empörung an die Stelle des Zorns. Wut und Empörung – so etwas wie die mutlosen Schwestern des Zorns?

Der Gebrauch des Wortes Zorn bleibt häufig unscharf. Da hilft vielleicht, die Sache selbst etwas schärfer zu fassen. Zorn ist zunächst ein Stellvertreter für ein weites Feld von Emotionen. Wie kann man aber dieses Feld einteilen? Wie verhalten sich zum Beispiel Wut, Hass und Zorn zueinander? Sind es Synonyme oder bezeichnen sie klar definierbare Unterschiede im Gefühl? Stehen Ärger, Empörung, Wut und Zorn vielleicht in einem Steigerungsverhältnis zueinander?

Was ist mit all den zivilgesellschaftlichen Initiativen, den Protesten für Nachtflugverbot und gegen Autobahntrassen, für mehr Bienenschutz und gegen Massentierhaltung, all diesen landesweiten Protest-Ritualen, die, nicht selten begleitet von düsterer Untergangs-Rhetorik, die Bürger-Demokratie beschwören und lebendig halten? Was ist mit der jungen Fridays for Future-Bewegung, den Seenot-Rettungs-Akteuren, den Aktivisten von Amnesty International – und was mit den »Querdenkern« und den diversen Polit-Hooligans? Handelt es sich hierbei um »gemeinsame Zorn-Erfahrungen« oder sind sie allenfalls Ausdruck einer »schimpfenden Weltbetrachtung«, wie Nietzsche es nannte? Einigen wir uns darauf: Zorn ist ein komplexes und manchmal auch widersprüchliches Phänomen, das sich aus den unterschiedlichsten Quellen speist. Ob Volks-Zorn, Wähler-Zorn, Götter-Zorn – der Zorn kommt in vielerlei Gestalt. Wann aber ist der Zorn ein gerechter? Wann ist er blind und destruktiv? Wann nur Attitüde und Pose – wann Ausdruck einer Haltung?

Zorn ist allgegenwärtig. Er ist ein Bestandteil unserer Existenz. Solange er individuell daherkommt, mag er für die Nächsten eine Plage sein, aber er erschöpft sich im Privaten. Anders verhält es sich mit dem kollektiven Zorn: Seine Dynamik hat die Kraft der Rebellion, die nicht unbedingt auf Ausgleich und ein friedliches Ende aus ist. Jede Gesellschaft – die politische Herrschaft ohnehin – bemüht sich um die Zähmung des Volks-Zorns. Riskant wird es für die Mächtigen dort, wo das gemeinsame Erlebnis den Zorn aus dem Käfig der privaten Einsamkeit befreit, wo sich Protest und Parolen verdichten, wo Rufe lauter und Forderungen radikaler werden. Wo der Zorn des Einzelnen sich bündelt und zum Zorn der Menge anschwillt.

Zahllos sind die Anlässe, die Menschen in Rage versetzen, wütend und zornig machen. Betrachtet man das Gefühlsfeld der Unzufriedenheit auf seine Intensität hin, so reicht es von mildem Ärger über stark lodernde Wut bis hin zu einem Hass, der fest in die Individuen eingefressen ist. Fragt man nach seiner Zeitstruktur, kann Zorn ein punktueller Ausbruch unterdrückter Gefühle bleiben oder sich verstetigen und zur Charaktereigenschaft werden (»ein aggressiver Mensch…!«).

Wie aber entsteht der Zorn? Baut er sich langsam auf oder schlägt er ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel? Wenn er sich langsam aufbaut, wie kann man diesen Prozess beschreiben? Geht dem eigentlichen Zorn zum Beispiel eine milde Form der Verärgerung voraus? Ist Hass Kennzeichen des langanhaltenden Zorns, wie Thomas von Aquin behauptete? Ist Zorn die Leidenschaft und Wut der Affekt, also das eine das langsam Anschwellende, das andere der plötzliche Ausbruch? Und wäre dann nicht Hass im Gefolge des Ressentiments das moralisch Negative, während der Zorn mit der Empörung verschwistert ist und damit ein moralisch positives Gefühl?

Schon das Verhältnis zwischen Empörung und Zorn ist eindeutig schwer zu bestimmen. Beide Gefühle sind eng benachbart und können ineinandergreifen. Christoph Demmerling und Hilge Landweer, die sich in ihrem Buch »Philosophie der Gefühle« mit dem Zorn und anderen Aggressionsaffekten beschäftigt haben, nennen einige hilfreiche Kriterien zur Differenzierung: »Das Gefühl des Zorns muss ein personales Objekt besitzen, es muss jemanden geben, dem gezürnt wird. Sodann sind es im Fall des Zorns häufig der Zürnende selbst oder zumindest ihm Nahestehende, die durch das Unrecht geschädigt wurden, um derentwillen Zorn empfunden wird. Beide Bedingungen gelten für Empörung nicht unbedingt.« Während also Empörung noch vage sein kann in der Zuschreibung von Verantwortung und kausaler Zuständigkeit, übertroffen nur noch von einer diffusen »Betroffenheit«, muss im Zorn – so die Autoren – der Gegner bereits identifiziert sein. »Gezürnt werden kann nur jemandem.«

Was aber die Empörung auslöst, die Wut aufkommen lässt und den Zorn mobilisiert, das wiederum scheint auch mit unseren jeweilig gesellschaftlich grundierten Erfahrungen von Moral verbunden zu sein. Und die Moral, das wissen wir, ist eine prekäre Angelegenheit. Sicher: jeder Begriff von Norm setzt bereits eine Generalisierung voraus, aber für den Einzelnen können diese ganz unterschiedliche Autorität besitzen. Voraussetzung ist die subjektive Handlungsfreiheit, die Fähigkeit eines Menschen, zu erkennen, zu beurteilen, ob etwas seinen Moralvorstellungen zufolge richtig ist, und entsprechend zu handeln. Es ist die Fähigkeit, Nein zu sagen.

Die subjektiven Gefühle und Handlungsmaximen freilich sind kaum zu vereinheitlichen: wo der eine augenblicklich in Wut gerät, ein anderer sich öffentlich lauthals empört, konstituiert sich bei einem weiteren nichts als kühler Zorn. Wütend darf der Mensch sein, aber das Recht zum großen Zorn kommt – das haben wir bereits festgestellt – allenfalls den Göttern, niemals aber dem Menschen zu. Denn Wut, darauf weist auch Wolfgang Sofsky in seinem »Buch der Laster« hin, mag ungestüm, laut und maßlos sein, aber sie verpufft oder verraucht auch rasch. »Wut ist ein Ereignis, eine Eruption. Sie reißt mit großer Geste alles um, schlägt blind um sich, behilft sich notfalls auch mit Ersatzobjekten.« Wut ist wie ein heftiger innerer Überfall.

Anders der Zorn. Er hat einen langen Atem. »Die Zeit des Zorns beginnt mit einer Verärgerung, die sich nach und nach zu einer grundlegenden Missstimmung ausweitet. Die Kraft der Gedanken wird zum Werkzeug des Zorns. Er behält sein Ziel im Auge, verfolgt es bis zum bitteren Ende«, analysiert Sofsky scharfsinnig, Seine Betrachtungen bescheinigen dem Zorn eine zähe Destruktivität. »Im Gegensatz zur Wut, die sich selbst erschöpft, hat der Zorn einen definitiven Schlusspunkt. Er ist erreicht, wenn der Bösewicht bestraft, der Feind für immer geschlagen ist. Zorn erstrebt kein friedliches Ende und keinen gütlichen Ausgleich.« Man mag dem Autor hier gerne widersprechen, denn die Bewertung des Zorns hat historisch und kulturell stets variiert. In unserem Kulturkreis ist durchaus eine klare Zuordnung erkennbar: Hass gilt »fast immer als schlecht, Wut als unbeherrscht, Zorn dagegen kann ›gerecht‹ sein«. Im allgemeinen Werteempfinden wird dieser »gerechte Zorn« durchaus akzeptiert.

Klima-Katastrophe, Kriege, Flucht, Hunger – an Zorn-Anlässen besteht kein Mangel. Es findet sich eine neue Art von Volkszorn, von den politischen und wirtschaftlichen Eliten gerne als zerstörerische Energien junger Menschen missverstanden – oder denunziert. Wer den Protest-Bewegungen das Politische und das Soziale abspricht und auf eine tiefenpsychologische Grundkraft reduziert, der ignoriert freilich die produktive Potenz des Zorns – individuell und gesellschaftlich. Gilt das auch für die gegenwärtige Randale militanter Polit-Hooligans, die in Washington, Berlin, Stuttgart und anderen Städten als neuer Prototyp des Zornigen die politische Arena betreten? Ob Capitol-Erstürmung, Antifa-Radau, Pegida-Pöbelei oder Querdenker-Demos – »der Wutmensch ist der politische Phänotyp der Stunde«, konstatiert Manfred Schneider in der NZZ