Gibt es die übernatürliche Dimension, an die religiös und spirituell orientierte Menschen glauben, tatsächlich? Bauer führt ein in die Kontroversen um diese Frage in Wissenschaft, Theologie, Nahtodforschung, Sterbebegleitung sowie zwischen Pa-rapsychologen und ihren Gegnern. Eine spannende Entscheidungs-hilfe für alle, die sich mit den Argumenten für und gegen die Realität des Übernatürlichen auseinandersetzen wollen.
studierte Germanistik und Latinistik in Bamberg, unterrichtete Deutsch am Prager Goethe-Institut und arbeitete als Texter für Agenturen in Stuttgart, München und Köln. Seit 2016 unterrichtet er Deutsch in Kursen für Migrantinnen und Migranten. Er ist der Autor von „Das Rätsel von Hagalil. Eine Reise in die Welt der Bibel“ (Pattloch Verlag, München 2008, besondere Empfehlung des Borromäusvereins Bonn 03/2009). Sein neuestes Werk „Das Übernatürliche – Fakt oder Fake?“ erscheint nun im Weltbuch Verlag, Sargans/Schweiz.
Liebe Leserin, lieber Leser,
Gott ist für die einen der Urgrund allen Seins, für die anderen eine Illusion. In diesem Buch mute ich beiden Seiten einiges zu.
Aber ich versichere Ihnen: Ich respektiere Ihre Überzeugung und freue mich auf den Austausch mit Ihnen.
Ihr Gregor Bauer
© 2021
WELTBUCH Verlag GmbH
Sargans/Schweiz
www.weltbuch.com
1. Auflage, Deutsch, 05/2021
ISBN 978-3-906212-82-1
eISBN 978-3-906212-83-8
Idee Coverdesign: Elisabeth Bauer
Cover/Buchdesign, Buchsatz, Korrektorat: Weltbuch Verlag
Gesamtproduktion: Weltbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Für meine Eltern
1.Zur Einstimmung
2.Wissenschaftsgeschichte: Was haben Naturwissenschaft und Religion einander angetan?
3.Gottesbeweise: Hat Kant sie widerlegt?
4.Evolution: Was kann sie erklären, was nicht?
5.Hirnforschung: Widerlegt sie den Glauben an die Unsterblichkeit?
6.Quantenmechanik: Taugt sie als Brücke von der Physik zur Spiritualität?
7.Naturwissenschaft als Segen und Alptraum: Wohin steuert die Menschheit?
8.Moderne Theologie: Was bleibt von der Religion, wenn sie das heutige naturwissenschaftliche Weltbild übernimmt?
9.Parapsychologie: Kann sie das heutige naturwissenschaftliche Weltbild erschüttern?
10.Nahtoderfahrungen: Sind sie nur Illusion?
11.Im Angesicht von Leid und Tod: Was trägt, wenn es ernst wird?
12.Nachwort
Danksagung
Weiterführende Hinweise
Hinweise zu den einzelnen Kapiteln
Literatur
„Stellen Sie sich vor, Sie liegen schwer krank in der Klinik. Ein Arzt hat Ihnen eben gesagt, dass Ihre Operation kurzfristig vorgezogen wurde. Sie ist unvermeidlich, aber hochriskant: Entweder sie wird Ihr Leben retten, oder Sie werden aus der Narkose nicht mehr aufwachen. Die Chancen stehen 50:50. Vor der Operation haben Sie noch eine Stunde Zeit. Vor Ihnen liegen ein Stift und ein Schreibblock. Was schreiben Sie an wen?“
Mit dieser Frage wurde ich in einem Seminar konfrontiert, das mich auf meine ehrenamtliche Arbeit als Hospizbegleiter vorbereiten sollte. Was würde ich in dieser Situation tun? Würde ich es schaffen, meinen Lieben etwas Tröstendes zu schreiben? Oder würde meine Hand zu sehr zittern vor lauter Angst? Angst wovor? Vor dem, was nach meinem Tod auf meine Hinterbliebenen zukommen würde – oder vor dem, was mich selbst erwarten würde, sei es das ewige Nichts oder ein anderes Leben in einer völlig unbekannten Dimension?
Erwartet uns denn etwas nach diesem Leben? Was glauben Sie, mal ganz im Ernst? Gibt es jemanden oder etwas, das alles durchdringt, alles übersteigt, allem Sinn gibt und das unsere Seelen erhält, über den Tod hinaus?
Viele halten diese Fragen für unbeantwortbar. In diesem Buch setze ich mich dennoch damit auseinander. Lassen Sie mich skizzieren, warum ich es geschrieben habe und wie ich diese Fragen angehe.
Als ich ein Kind war, verstand sich die Sache noch von selbst: Natürlich gibt es einen Himmel, in den der liebe Gott alle lieben Menschen nach ihrem Tod aufnimmt – und hoffentlich auch meinen Wellensittich. Dass es einen Gott vielleicht gar nicht gibt – dieser Gedanke kam mir erst, als ich bereits in der Pubertät war. Dann aber traf er mich umso heftiger.
Bald änderten sich die Vorzeichen: Die Ablehnung eines Gottes verband sich mit der Auflehnung gegen erstarrte gesellschaftliche Konventionen – oder gegen das, was ich dafür hielt. Aber nicht an einen Gott zu glauben blieb eine düstere Angelegenheit: Es bedeutete, der schrecklichen Realität ins Auge zu sehen, dass alles sinnlos ist.
Erst später habe ich gelernt, dass man auch auf optimistische Weise Atheist sein kann. „Neue Atheisten“ wie Richard Dawkins (*1941) und Susan Blackmore (*1951) begreifen die Überwindung der Religion als Chance, unbelastet von irrationalen Ängsten das Leben zu genießen. Sie sind überzeugt, dass die Menschen glücklicher wären, wenn sie ihre religiösen Vorstellungen aufgeben würden. Deshalb gehen sie auf Konfrontationskurs zur Religion. Dabei setzen sie vor allem auf Argumente aus den Naturwissenschaften.
Als Jugendlicher konnte ich mir nicht vorstellen, dass Naturwissenschaften oder Mathematik zu der Frage nach einem Gott und dem Sinn des Lebens irgendetwas beitragen könnten. Sich mit Biologie zu befassen, um dem Rätsel des Lebens auf die Spur zu kommen: Das erschien mir so abwegig, wie sich mit der Papierqualität eines Buches zu beschäftigen, statt es zu lesen.
Als sich gegen Ende meiner Pubertät der Glaube an einen Gott wieder durchsetzte, geschah das nicht durch logische Argumentationsfiguren, sondern durch starke Erlebnisse, die ich religiös deutete. Eines dieser Schlüsselerlebnisse entzündete sich an einem Bändchen, von dessen Umschlag mich ein gesammelter Blick durchdringend anblickte: „Ich und Du“, eine Schrift des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965).
Das Buch aufzuschlagen und die ersten Zeilen zu lesen war eine Offenbarung. Ich war so ergriffen, dass mir gar nicht auffiel, dass Buber nicht etwa argumentierte oder begründete, sondern behauptete: So ist es. Er tat das so überzeugend, dass ich ihm unwillkürlich glaubte.
Wie konnte das geschehen? Später dachte ich mir: Offenbar haben wir Menschen ein tiefes Bedürfnis zu glauben. Wenn wir zur richtigen Zeit und in der richtigen Weise darauf angesprochen werden, dann geben wir alle Bedenken auf und glauben, auch ohne Gründe.
Ich fragte mich: Wie soll ich mit diesem Verlangen nach Glauben umgehen? Soll ich mich ihm überlassen, um zu Gott zu finden? Oder soll ich diesem Bedürfnis widerstehen, um keinen Wahnvorstellungen zu erliegen?
Nach einer chaotischen Pubertät wollte ich mich neu sortieren und dabei alles richtig machen. Ich wurde sehr fromm, auf eine unnatürlich bigotte Art, wie ich es heute sehe. Überzeugt, dass ich die Existenz Gottes beweisen könne, begann ich, Philosophie zu studieren. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1787) überzeugte mich jedoch davon, dass man Gott nicht beweisen kann. Ich gewann den Eindruck, dass die Philosophie sich heute nicht mehr mit der Frage nach Gott beschäftigt, und verlor deshalb das Interesse an ihr.
Als meine Tochter und mein Sohn heranwuchsen, erlebte ich erneut, dass in der Religion Kräfte schlummern, denen rational nur schwer beizukommen ist: Eine Sehnsucht wurde in mir übermächtig, meine Kinder in denselben katholischen Traditionen aufwachsen zu sehen, mit denen ich selbst als Kind glücklich gewesen war. Aber was mir damals Geborgenheit gegeben hatte, ließ sich nicht mehr wiederherstellen.
Die Bindekraft religiöser Traditionen erlebte ich erneut, als ich 2016 aus dem Texter- in den Lehrberuf wechselte, um Geflüchtete in Deutsch zu unterrichten. Aber ich erfuhr auch, dass sich nicht wenige Geflüchtete von dem Glauben ihrer Vorfahren abwenden. Oft sind sie aufgebracht wegen des entmündigenden religiösen Zwangs, dem sie in ihren Heimatländern ausgesetzt waren.
Unsere Religionsfreiheit ist äußerst attraktiv für Menschen, die das Gegenteil kennenlernen mussten. Aber wie frei sind wir wirklich in unserer Entscheidung? Bin ich durch meine Erziehung nicht viel zu stark vorgeprägt, als dass ich die Argumente der Gegenseite überhaupt noch aufnehmen könnte?
Falls es so sein sollte, würde mein Glaube auf tönernen Füßen stehen. Deshalb wollte ich der Sache auf den Grund gehen: Schaffe ich es, die Argumente, die gegen meine Überzeugung sprechen, mindestens genauso ernst zu nehmen wie die Argumente, die mich bestätigen? Die Frage, ob es etwas Übernatürliches gibt, ist mir zu wichtig, als dass ich beiseite schieben dürfte, was dagegen spricht. Zumal wenn es von Wissenschaftlern kommt. Ob Pro oder Contra, alles muss auf den Tisch. Dieses Buch ist mein Versuch, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Mit welchen Traditionen sind Sie aufgewachsen? Wie stehen Sie heute dazu? Falls Ihre Traditionen Sie mittlerweile nicht mehr überzeugen sollten: Könnten Sie es sich leisten, mit ihnen zu brechen? Oder würden Ihre Lieben Ihnen das nicht verzeihen – sei es Ihre Familie, seien es Freunde oder Kolleginnen? Vielleicht haben Sie auch bereits zu viel für Ihre Religion geopfert, um noch an ihr zweifeln zu können?
Falls Sie aber bereits mit Ihrer Familientradition gebrochen haben sollten: Haben Sie das wirklich? So mancher – oder manche – wechselt zwar seine Weltanschauung, bemerkt aber nicht, dass er in seiner neuen Überzeugung genauso verbissen intolerant ist wie die Autoritäten, die er meint überwunden zu haben.
Machen wir uns nicht alle Illusionen über unsere Chancen, zu einer eigenen, rational begründeten Weltanschauung zu kommen? Zu viel steht auf dem Spiel. Nicht nur für religiöse Menschen: Auch im Atheismus kann man sich wohl fühlen und Halt finden. Dann muss man einen hohen Preis zahlen, wenn man seinen Atheismus aufgibt.
Religiöse Menschen, die zweifeln, bekommen es mit der Angst zu tun, dass mit dem Tod alles aus sein könnte. Atheistinnen, die zweifeln, erschrecken vielleicht genauso vor dem Gegenteil: dass die Seele nach dem Tod weiterleben könnte. So oder so binden wir das Urvertrauen, ohne das wir nicht leben können, an die Weltanschauung, die uns liegt.
Wie steht es also? Gibt es eine transzendente Dimension? Oder haben die Atheisten Recht, die diese Zuversicht für vorwissenschaftlich und überholt halten?
Ich möchte diese Alternative etwas genauer formulieren und die Begriffe klären, die ich in diesem Buch verwenden werde:
Auf der einen Seite stehen alle, die an die Existenz einer Seele glauben, die nach dem Tod weiterlebt, sei es mit oder ohne Wiedergeburt. Dieser Glaube geht fast immer einher mit weiteren Überzeugungen:
•dass der Mensch einen freien Willen hat, sich also für oder gegen das Böse entscheiden kann,
•dass die Welt und das Leben einen Sinn haben, den wir nicht willkürlich selbst setzen können,
•dass es jenseitige Wesen gibt, wie Gott oder Engel.
Einige dieser Menschen hängen einer Religion an, andere bezeichnen sich als spirituell, jedoch religiös ungebunden. Einige glauben als Monotheisten an einen persönlichen Gott, andere haben von der transzendenten Dimension andere Vorstellungen. Ich werde all diese Menschen gelegentlich als „Gläubige“ bezeichnen, obwohl genau genommen auch Atheisten „Gläubige“ sind: Auch Atheisten glauben etwas, nur eben etwas anderes. Mit „spirituell“ bezeichne ich Menschen, die an etwas Übernatürliches glauben, ob sie sich nun einer bestimmten Religion verpflichtet fühlen oder nicht. „Spirituell“ klingt also offener als „religiös“ und schmeckt mehr nach Freiheit, doch schließen die beiden Begriffe einander nicht aus.
Auch Atheisten nennen sich selbst gelegentlich „spirituell“. Aber wenn ich diesen Begriff in diesem Buch verwende, dann meine ich Menschen, die an etwas Übernatürliches glauben. Statt „das Übernatürliche“ könnte ich auch sagen „das Transzendente“ oder „das Transzendentale“: Diese Begriffe haben in diesem Buch dieselbe Bedeutung.
Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die alle religiösen und vergleichbaren spirituellen Vorstellungen ablehnen. Sie vertreten stattdessen ein Weltbild, in dem die Physik restlos alles erklärt. Gegen die erste Partei halten fast alle von ihnen fest:
•Es gibt keine Seele. Das Bewusstsein ist vielmehr vollständig durch hirnphysiologische Prozesse erklärbar. Ein Leben nach dem Tod ist deshalb ausgeschlossen.
•Der Mensch hat die Aufgabe und die Chance, den Sinn seines Lebens selbst zu setzen.
•Es mag Wesen auf anderen Planeten geben, aber jenseitige Wesen und eine transzendentale Dimension gibt es nicht.
Für diese Partei ist die Bezeichnung „Atheistinnen“ gebräuchlich. Deshalb werde ich sie auch so nennen, obwohl das etwas ungenau ist. Denn es gibt sehr wohl Menschen, die zwar an etwas Übernatürliches glauben, nicht jedoch an einen Gott. Sie gehören zur ersten Gruppe der religiös oder spirituell Orientierten. Deshalb verwende ich statt „Atheisten“ auch den präziseren Ausdruck „Naturalisten“. Naturalistinnen und Naturalisten sind überzeugt, dass alles Teil der physischen Natur ist, auch der Geist oder das Bewusstsein.
Der Konflikt zwischen diesen beiden Weltbildern treibt mich um. Ich werde ihn darstellen, umfassend, themenübergreifend und aus wechselnden Perspektiven.
Die Zuspitzung auf den Gegensatz zwischen Naturalismus und Transzendentalismus ist nicht unproblematisch. So gibt es sehr wohl auch Naturalistinnen und Naturalisten, die sich als spirituell bezeichnen. Es gibt Atheistinnen und Atheisten, die an übernatürliche Phänomene glauben, besonders in China, wo im 17. und 18. Jahrhundert unsensible Kirchenmänner den Gottesbegriff in Misskredit brachten. Und es gibt die Unentschiedenen, die „Agnostiker“, die den Konflikt für unlösbar halten.
Umso mehr werde ich darauf achten, dass die Zwischentöne nicht verloren gehen. Beispielsweise werde ich den katholischen Theologen Hans Küng (*1928) vorstellen, der den Naturwissenschaften so weit entgegen kommt, dass sich manche Gläubige fragen mögen: Was ist an diesem Weltbild eigentlich noch religiös? Und es wird von Nobelpreisträgern die Rede sein, die über die Wunder der Quantenwelt neue Verbindungen zur Religion herstellen.
Wie gehe ich nun das Thema an? Beginnen wir mit der Frage nach Gott.
Unter Theologen ist die Beschäftigung mit folgender Frage beliebt: Wie kann Gott gleichzeitig allmächtig und gut sein? Wenn Gott das wäre, dann würde er das Leid auf der Erde nicht zulassen. Nun gibt es aber unsägliches Leid, auch von offensichtlich unschuldigen Wesen, von kleinen Kindern beispielsweise, oder auch von Tieren. Wie kann Gott da existieren?
Diese so genannte „Theodizee“-Frage hat zur Voraussetzung, dass wir uns Gott als gleichzeitig allmächtig, gütig und gerecht vorstellen, in einem für uns Menschen begreifbaren Sinn. Das aber ist keineswegs selbstverständlich. Deshalb ist fraglich, ob heute noch gilt, was der Schriftsteller Georg Büchner (1813–1837) noch behaupten konnte: dass das Leid der „Fels des Atheismus“ sei.
Natürlich kann es auch heute noch geschehen, dass ein Mensch über einem unerträglichen Schmerz oder angesichts des unermesslichen Leids auf der Welt seinen Glauben an Gott verliert. Aber insgesamt ist das Leid eher der Fels des Glaubens als des Atheismus. Gerade dann, wenn es den Menschen schlecht geht: In Zeiten von Not, Krieg, Armut und Vertreibung, gerade dann nehmen sie ihre Zuflucht zum Glauben. Wo – wie in Nigeria, Mali oder den USA – große Teile der Bevölkerung in Armut leben oder ständig von Armut bedroht sind, da sind die Gotteshäuser voll. Wo jedoch – wie in den skandinavischen Ländern – ein starker Sozialstaat für allgemeinen Wohlstand und materielle Sicherheit sorgt, dort ist das Interesse am Glauben erheblich geringer.
Nein: Der Fels des Atheismus ist heute nicht das Leid, es sind die Naturwissenschaften. Die Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlich argumentierenden Atheismus zieht sich deshalb wie ein roter Faden durch das gesamte Buch.
Hier nun ein Überblick über unsere Themen:
Wissenschaftsgeschichte: Warum ist es eigentlich zu dem Zerwürfnis zwischen Naturwissenschaft und Glauben gekommen? Um das besser zu verstehen, blicken wir zunächst in die Kirchengeschichte. Lange hat die Kirche versucht, den wissenschaftlichen Fortschritt zu verhindern, auch mit Gewalt. Aber ist der Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion nicht viel grundsätzlicher?
Gottesbeweise: Philosophen und Theologen haben immer wieder versucht, zwingende Beweise für den Glauben an Gott vorzulegen. Offensichtlich konnten sie damit nicht alle Menschen überzeugen. Seit der Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) sich die Gottesbeweise vorgeknöpft hat, gelten sie als erledigt. Zu Recht? Und selbst wenn es so ist: Vielleicht ist dennoch der eine oder andere Gedanke darunter, der Sie beeindruckt?
Evolution: Der Biologe Richard Dawkins ist überzeugt: Die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882) macht den Glauben an einen Gott überflüssig. Warum ist er sich da so sicher? Wie geht er damit um, dass so viele Menschen unbeeindruckt weiter an einen Gott glauben? Und gelten die Prinzipien der Evolution absolut, wie Dawkins lehrt, oder stoßen sie an Grenzen?
Hirnforschung: Hirnforscher fühlen sich jeden Tag mehr darin bestätigt, dass unser Bewusstsein ausschließlich physiologische Ursachen hat. So sieht das auch Daniel C. Dennett (*1942). Er glaubt erklären zu können, wie sich das Bewusstsein aus unbewussten Anfängen heraus entwickelt hat. Wie macht er das? Und würde das wirklich bedeuten, dass wir keine unsterbliche Seele haben?
Quantenmechanik: Der Geist ist nichts als ein Nebenprodukt komplexer Materie? Widerspruch gegen diese These kommt auch aus den Naturwissenschaften selbst: Was meinen wir, wenn wir „Materie“ sagen? Besteht Materie überhaupt aus Materie? Warum verhalten sich Elementarteilchen anders, wenn sie beobachtet werden? Wie kann es sein, dass verschränkte Teilchen unabhängig von Zeit und Raum miteinander kommunizieren? So fragen Quantenmechaniker. Religiös und spirituell orientierte Menschen knüpfen daran große Erwartungen. Zu Recht?
Naturwissenschaft als Segen und Alptraum: Niemand will auf Naturwissenschaft und Technik verzichten. Aber durch sie sind wir auch bedroht von Atomwaffen, Klimawandel, Artensterben, digitaler Überwachung, Genmanipulation und Künstlicher Intelligenz. Dürfen wir den Wissenschaftlern noch vertrauen? Müssen wir ihrem Einfluss Grenzen setzen? Auch ihrem Einfluss auf unsere Glaubensentscheidungen?
Theologie: Sind Evolutionstheorie und der Glaube an ein ewiges Leben Gegensätze? Nein, sagen moderne Theologinnen. Sie halten die Naturwissenschaften und die Religion für vereinbar. Das meint auch Hans Küng (*1928), einer der meistgelesenen Theologen der Gegenwart. Wie argumentiert er? Und was bleibt von der transzendenten Dimension, wenn man das heutige naturwissenschaftliche Weltbild uneingeschränkt akzeptiert?
Parapsychologie: Wenn eine Weltanschauung so selbstsicher auftritt wie die naturwissenschaftliche, dann liegt die Frage nahe: Gibt es Phänomene, die mit diesem Weltbild in Widerspruch stehen, sei es tatsächlich oder scheinbar? Parapsychologen arbeiten daran, solche Phänomene aufzuspüren. Was ist ihnen bisher gelungen? Wie reagieren anerkannte Wissenschaftler darauf? Und wie verhalten sich parapsychologische Forschung und religiöse Wunder zueinander?
Nahtoderfahrungen: Viele Menschen machen an der Grenze zum Tod tiefe seelische Erfahrungen. Danach ist für sie nichts mehr wie zuvor: Materielle Ziele werden unwichtig, die Liebe wird zum zentralen Lebensinhalt, und an einem Leben nach dem Tod gibt es für diese Menschen keinen Zweifel mehr. Wie begründen sie ihre Zuversicht? Und was sagt dazu ihre schärfste Gegnerin, die Ex-Parapsychologin Susan Blackmore?
Tod: Was bleibt von all unseren Argumenten für oder gegen den Glauben an Gott, wenn wir eines Tages im Sterben liegen? Werden wir dann immer noch sicher sein, was danach kommt – sei es, dass uns das erlösende Nichts erwartet, sei es, dass unsere Seele weiterlebt? Natürlich können wir das vorher nicht wissen. Aber ich möchte Ihnen doch weitergeben, was mir Hospiz-Mitarbeiterinnen dazu gesagt haben, die schon viele Menschen in ihren letzten Tagen und Stunden begleitet haben. Und ich stelle Ihnen Christopher Hitchens (1949–2011) vor. Der Autor hat, schwer an Krebs erkrankt, bis kurz vor seinem Tod geschrieben und ist bis zuletzt ein Atheist geblieben.
Nicht beschäftigen werde ich mich mit Atheisten, die gegen einen Gott vor allem moralisch argumentieren, wie Friedrich Nietzsche (1844–1900) oder Albert Camus (1913–1960). Denn uns interessiert hier weniger, ob Gott etwas vorzuwerfen sei, sondern ob Gott – oder wie immer wir das Transzendente nennen wollen – tatsächlich existiert.
Beiseite lasse ich auch Atheisten, die die Religion pathologisieren, also als etwas Krankhaftes betrachten, wie Ludwig Feuerbach (1804–1872), Karl Marx (1818–1883) oder Sigmund Freud (1856–1939). Denn auch sie tragen wenig zu der Frage bei, die uns hier vor allem beschäftigt: ob es eine transzendente Wirklichkeit gibt oder nicht.
Nicht eingehen werde ich auch auf die spezifischen Vorstellungen der verschiedenen Religionen. Was die christlichen Kirchen voneinander unterscheidet, warum Muslime den Ramadan begehen oder welche buddhistischen Schulen es gibt: All das wird uns hier nicht beschäftigen.
Ich konzentriere mich auf das, was die Transzendenz-Gläubigen gemeinsam haben, und auf das, was die Naturalisten dagegen einzuwenden haben.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Gregor Bauer
Düren, im April 2021
„Engel haben an der Universität nichts zu suchen.“ So hat mein Philosophie-Professor klargestellt, was er davon hält, wenn die Religion Einfluss nehmen will auf die Wissenschaft: nichts.
Und dafür hat er gute Gründe, wie die Geschichte der Naturwissenschaften zeigt. Hat die Religion der Wissenschaft nicht lang genug Knüppel zwischen die Beine geworfen? Waren es nicht die Mythen der Frommen, die der Einsicht in die Naturgesetze im Weg standen? Hat sich der Glaube an einen Schöpfergott und Unsterblichkeit nicht mit Evolutionstheorie und Hirnforschung erledigt?
Dieser Eindruck liegt nahe. Aber seien wir nicht voreilig: Wie wir das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion sehen, ist auch eine Frage der Perspektive. Deshalb möchte ich die Geschichte der Naturwissenschaften zweimal knapp skizzieren, von gegensätzlichen Standpunkten aus.
Zur Skizze 1: Hier orientiere ich mich vor allem an:
•Lars Jaeger (2015): Die Naturwissenschaften. Eine Biographie
Jaeger (*1969), Physiker und Unternehmer, ist ziemlich sauer auf die Kirche, weil sie seinen Kollegen immer wieder das Leben schwer gemacht hat. Für ihn als Naturalist ist klar: Religion ist als vorwissenschaftliches Denken zu überwinden und durch Wissenschaft zu ersetzen.
Die Geschichte der Naturwissenschaften konnte, so Jaeger, überhaupt erst beginnen, als Menschen zum ersten Mal religiöse Mythen als Erklärung für natürliche Vorgänge ausschlossen. So gesehen, war Anti-Religiosität von Anfang an ein Merkmal der Naturwissenschaften.
Die frühesten Überlieferungen einer solchen Geisteshaltung stammen aus der „Achsenzeit“: So bezeichnete der Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) die Zeitspanne von etwa 800 bis 200 vor Christus. Damals wurden in China, Indien, Palästina, Persien und Griechenland die geistigen Grundlagen gelegt, die die Menschheit heute noch prägen. Für das Verhältnis von Religion und Wissenschaft besonders wichtig wurde die ionische Revolution der „Vorsokratiker“ in den griechischen Kolonien des sechsten Jahrhunderts.
Der erste von ihnen, Thales von Milet (ca. 624–547 v. Chr.), ist auch der erste, von dem wir wissen, dass er die Welt rational erklärte: Alles, was es gibt, führte er auf nur eine einzige Grundsubstanz zurück – auf Wasser. Weitere vorsokratische Entmythologisierer waren:
•Anaximander (ca. 610–545 v. Chr.). Er führte Gewitter nicht mehr auf einen blitzeschleudernden Zeus zurück, sondern erklärte sie als Folge platzender Druckluftwolken.
•Heraklit (ca. 544–484 v. Chr.) verachtete den überlieferten Volksglauben und hielt sich stattdessen an seine eigenen Sinne.
•Parmenides (ca. 540–470 v. Chr.) setzte radikal auf den bloßen Verstand.
•Demokrit (ca. 460 – ca. 370 v. Chr.) und sein Vorgänger Leukipp (5. Jh.) erklärten alles, was überhaupt existiert, mit unterschiedlich zusammengesetzten Atomen im leeren Raum.
Die Anhänger der Religion haben solche Auffassungen schon sehr früh als bedrohlich empfunden und erbittert bekämpft:
•Anaxagoras (ca. 500–428 v. Chr.) entging nur knapp der Hinrichtung. Sein Verbrechen: Er hatte behauptet, dass die Sonne nicht ein Gott sei, sondern ein glühender Steinhaufen.
•Sokrates (469–399 v. Chr.) wurde als Lehrer des kritischen Denkens zum Tod verurteilt.
•Aristoteles (384–322 v. Chr.) floh aus Athen, als er wegen angeblicher Gotteslästerung mit dem Todesurteil rechnen musste.
Das wissenschaftliche Denken war jedoch nicht mehr aufzuhalten – jedenfalls zunächst nicht: Nach Aristoteles und bis ins späte zweite Jahrhundert nach Christus hinein kam es zu einer wahren Explosion des Wissens in der gesamten griechischsprachigen Welt, also von Sizilien über Südosteuropa, Kleinasien, Ägypten und Syrien bis ans Schwarze Meer.
Es war die Zeit des Hellenismus. Ob Seefahrt, Ackerbau, Bergbau oder Militär: Überall wurde ein erstaunlich hoher technologischer Stand erreicht. Naturforscher kamen modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Methoden bereits sehr nahe:
•Aristarchos von Samos (310 bis um 230 v. Chr.) lehrte, dass sich die Erde um die Sonne drehe. Die Kirche sträubte sich gegen diese Einsicht noch 19 Jahrhunderte später mit Händen und Füßen.
•Archimedes von Syrakus (287–212 v. Chr.) kombinierte schon Experimente mit mathematischen Methoden.
Damit wurde Archimedes zum Vorläufer der wissenschaftlichen Revolution, die noch 1700 Jahre auf sich warten ließ.
Auch andere hellenistische Forscher betrieben bereits Wissenschaft im heutigen Sinn: Sie experimentierten und schlossen von Einzel-Phänomenen auf allgemeine Erkenntnisse (Induktion).
Auch anatomische Untersuchungen an menschlichen Leichen gab es damals schon, wenn auch gegen die religiösen Verbote der Zeit. Auf diese Weise entdeckte der Mediziner Herophilos von Chalkedon (ca. 330–255 v. Chr.) zusammen mit Erasistratos von Keos (ca. 305–250 v. Chr.) den Unterschied zwischen Arterien und Venen. Der geriet im christlichen Mittelalter (ca. 500–1500 n. Chr.) wieder in Vergessenheit, wie viele andere wissenschaftliche Erkenntnisse des Hellenismus. Warum wohl?
In der mittelalterlichen Medizin wurden Herophilos und Erasistratos ersetzt durch Galen (129 oder 131 bis 205 oder 215 v. Chr.). Medizinisch war das ein Rückschritt, denn Galens Anatomiekenntnisse basierten auf der Untersuchung von Tierkörpern, nicht von menschlichen Leichen. Aber Galen passte besser zur herrschenden religiösen Ideologie. Denn er betrachtete den menschlichen Körper als Ausdruck göttlicher Macht und Perfektion.
Die christliche Religion, seit dem vierten Jahrhundert nach Christus im Römischen Reich tonangebend, wurde bald zur alles beherrschenden Ideologie. Vom Wesen her autoritär und dogmatisch, war ihr kritisches Denken nicht in die Wiege gelegt. Zur wissenschaftlichen Forschung verhielt sie sich immer wieder gleichgültig bis feindselig.
Besonders vernichtend fällt Jaegers Urteil über die Zeit vom fünften bis zum frühen elften Jahrhundert aus: Er charakterisiert sie als Epoche des kompletten intellektuellen Zerfalls und des Vergessens antiken Wissens. Andere Denktraditionen als die platonische blieben für Jahrhunderte unbekannt.
Erst ab dem 13. Jahrhundert konnte der Verfall des wissenschaftlichen Denkens aufgehalten werden. Selbstständiges naturwissenschaftliches Denken und Forschen gab es in Westeuropa erst wieder ab dem 15. Jahrhundert, als die Kirche bereits ziemlich schwächelte.
An der deprimierenden Situation intellektuellen Stillstands änderte sich erst etwas, als Europa im zwölften Jahrhundert in direkten Kontakt mit arabischen Gelehrten kam. Ist die islamische Religion also wissenschaftsfreundlicher als die christliche?
Jahrhundertelang sah es so aus. Von 750 bis 1250, während ihres „goldenen Zeitalters“, waren arabische Gelehrte den westeuropäischen in Wissenschaft und Technologie weit überlegen.
•Algorismi (ca. 780 bis 835 oder 850) entwickelte das heute noch gültige arabische Zahlensystem.
•Alhazen (ca. 965 bis ca. 1040) war der erste, der im Mittelalter wieder Experimente durchführte. Unter anderem schuf er Grundlagen für die perspektivische Malerei der frühen Renaissance.
•Avicenna (980–1037) wurde – neben Hippokrates und Galen – zur dritten medizinischen Lehrautorität des späten Mittelalters.
•Averroës (1126–1198) übte als Übersetzer und Kommentator des Aristoteles sowie als Verfasser einer medizinischen Enzyklopädie großen Einfluss auf die mittelalterliche Scholastik aus.
Nur dank arabischer Übersetzungen, die ins Lateinische übertragen wurden, war Aristoteles seit dem 12. und 13. Jahrhundert westlichen christlichen Gelehrten zugänglich. Und ohne die Vorleistungen arabischer Astronomen hätte Nikolaus Kopernikus (1473–1543) wohl kaum seine kopernikanische Wende vollzogen, hin zu einem Weltbild, in dem die Erde sich um die Sonne dreht.
Diese wissenschaftlichen Leistungen der arabischen Welt waren möglich, solange im Islam die wissenschaftsfreundliche Mu’tazili-Schule tonangebend war. Mit der Zeit gewann jedoch die rigoros orthodoxe Ash’ari-Schule die Oberhand. Sie begegnete den Wissenschaften mit Misstrauen.
Im arabischen Raum wurde die Religion also strenger, während sie gleichzeitig im christlichen Westeuropa schwächer wurde. Damit hängt es zusammen, dass sich die großen naturwissenschaftlichen und technischen Umwälzungen ab dem 17. Jahrhundert im christlichen Abendland abspielten.
Merke also: Je schwächer die Religion ist, egal welche, desto besser steht es um die Wissenschaft.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war die Kirche bereits so schwach, dass die wissenschaftliche Revolution ihren Lauf nehmen konnte: In Europa hatte Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest gewütet. Etwa 25 Millionen Menschen hatte sie getötet, ein Drittel der damaligen Bevölkerung. In dieser dramatischen Lage hatte sich die Kirche als überfordert erwiesen. Ihre Gebete und Bußübungen hatten dem Schwarzen Tod nichts anhaben können. Deshalb begannen die Ärzte nun, sich mit den körperlichen Ursachen der Krankheit zu beschäftigen.
Das Massensterben dünnte die Hierarchien aus, auf denen sich die Macht der Kirche gegründet hatte. So konnten neue wirtschaftliche und politische Kräfte an Boden gewinnen, die Wissenschaft und Technik schätzten und förderten. Die Erfindung des Buchdrucks um 1450 eröffnete neue Möglichkeiten des Gedankenaustauschs an der kirchlichen Kontrolle vorbei.
Nun schlug in Westeuropa die Stunde der wissenschaftlichen Schriften aus der Zeit des Hellenismus. Vermittelt wurden sie unter anderem durch griechische Flüchtlinge aus Byzanz, das ab 1453 im Osmanischen Weltreich aufging. Ihre wiederentdeckten Erkenntnisse und Methoden beflügelten die westlichen Gelehrten. Unterdessen wurde 1485 bei den Osmanen der Buchdruck verboten: eine religiös motivierte Entscheidung mit fatalen Folgen für die Konkurrenzfähigkeit der islamischen Welt.
So ereignete sich in Westeuropa von 1500 bis 1700 einer der bedeutendsten Umbrüche der Menschheitsgeschichte.
Die Macht der Kirche war freilich noch lange nicht überwunden. Zwar war sie durch die Auszehrungen der Pestzeit sowie – seit dem frühen 16. Jahrhundert – durch die Kirchenspaltung bereits angezählt. Aber das machte sie zunächst eher noch gefährlicher. Denn noch lange versuchte die Kirche, das Rad der Geschichte zurückzudrehen und ihre alles beherrschende Stellung zurückzuerlangen.
Dabei schreckten die geistlichen Autoritäten auch vor äußerster Brutalität nicht zurück – in bester Absicht, wohlgemerkt: Sie waren überzeugt, dass alle Andersgläubigen in der Verdammnis enden würden. Deshalb mussten sie verhindern, dass der Irrtum noch mehr Menschen anstecken und in die Hölle ziehen würde. So glaubten die Inquisitoren auch verantwortlich zu handeln, als sie 1633 den Astronomen Galilei unter Androhung der Folter zwangen, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zu widerrufen.
Die kirchliche Ideologie rechtfertigte also die Folterung und Hinrichtung von Menschen, die sich nichts anderes hatten zuschulden kommen lassen, als wissenschaftliche Forschung zu betreiben. Brauchen wir uns da zu wundern, wenn Wissenschaftler auf Kirche und Religion nicht gut zu sprechen sind?
Galilei (1564–1642) hatte bestritten, dass die Erde der unbewegliche Mittelpunkt der Welt sei, wie die Kirche lehrte. Vielmehr drehe sich die Erde um die Sonne. Das durfte nicht sein. Denn dadurch hätte der Mensch seine zentrale Stellung im Kosmos verloren.
Dass die Idee mit der Sonne als Zentralgestirn nicht neu war, haben wir gesehen: Sie war in hellenistischer Zeit von Aristarchos vertreten worden. Die mittelalterliche Kirche hielt es jedoch mit dem Weltbild des Claudius Ptolemäus (100–160 n. Chr.), der – wie Aristoteles – die Erde als Mittelpunkt des Alls betrachtete.
Als 1543 Kopernikus die Erde wieder auf die Reise um die Sonne schickte, war die Kirche davon zunächst sogar angetan. Denn anhand seiner Berechnungen ließ sich auch der kirchliche Kalender genauer bestimmen. Erst 1616 ließ sie sein Werk „De revolutionibus orbium coelestium“ verbieten. Da hatte der Protestant Johannes Kepler (1571–1630) bereits festgestellt, dass die Planetenbahnen elliptisch verlaufen – zur Bestürzung der frommen Astronomen, die durch die unschönen Ellipsen den christlichen Glauben an die Perfektion der Schöpfung gefährdet sahen.
Seit 1609 konnte Galilei den Himmel durch ein Fernrohr beobachten. Was er sah, bestätigte, dass die Erde sich um die Sonne drehte. Da es der Kirche an Argumenten fehlte, nötigte sie ihren renitenten Sohn schließlich zum Einlenken durch eine Warnung vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen.
Mit der Zeit akzeptierte aber auch die Kirche die unbestreitbaren kosmologischen Tatsachen. Sie passte ihr Weltbild an und besann sich darauf, dass mathematisch derart präzise Naturgesetze doch nur von ihrem Gott eingerichtet sein konnten.
Das sahen auch die Wissenschaftler lange so. Bis hin zu Galilei und Newton glaubten sie noch, dass hinter den Naturgesetzen eine höchste göttliche Instanz stecke, die mit der Natur auch ihre Gesetze erschaffen habe. Sie hatten sich eben noch nicht ganz von den kirchlichen Dogmen der Vergangenheit befreit, meint Jaeger. Doch je mehr die Wissenschaftler erkannten, umso weniger erschien ihnen eine Rückführung natürlicher Phänomene und Gesetze auf einen Gott überzeugend.
Im 19. Jahrhundert änderten Naturwissenschaft und Technik das Leben der Menschen Schlag auf Schlag. Am Ende des Jahrhunderts wurden Waren in der Massenproduktion hundertmal schneller gefertigt als zu seinem Beginn. Die Städte waren nachts von elektrischem Licht erleuchtet, die Menschen konnten telefonieren, mit der Eisenbahn oder in den ersten Autos fahren. Auch die Nahrungsproduktion wurde durch neue Agrartechnologien komplett umgewälzt. All das lässt sich verstehen als Triumph des naturwissenschaftlichen über das religiöse Denken: Die Kirche hatte während des gesamten Mittelalters nichts Vergleichbares zustande gebracht.
Um Arbeit zu finden, zogen die Menschen scharenweise aus ihren Dörfern in die Nähe der Fabriken. Der Kirche gelang es nicht, die Verbindung zu den entwurzelten Menschen aufrechtzuerhalten: Die Proletarier gaben dem harten Realismus eines Karl Marx den Vorzug vor den rückwärts gewandten Träumen der Romantik mit ihrem verklärenden Blick auf das katholische Mittelalter.
Derweil bereitete ein Biologe den schärfsten Angriff auf das christliche Menschenbild vor, den die kirchliche Lehre seit dem Aufkommen der Naturwissenschaften hatte verkraften müssen: Charles Darwin (1809–1882).
Die Vorarbeit hatten die Geologen geleistet: Sie hatten zunehmend erkannt, dass die Erde viel älter sei als in der Bibel behauptet. Lange hatte man der Bibel entnommen, dass die Erde vor wenigen tausend Jahren von einem Gott erschaffen worden sei, komplett in ihrer heutigen Gestalt. Noch 1654 errechnete der Theologe James Usher die Entstehung der Erde auf den Vormittag des 23. Oktober 4004 vor Christus. Da hätte das Leben gerade mal ein paar tausend Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln.
Nun also machten die neuen erdgeschichtlichen Dimensionen den Weg frei für Darwins Evolutionstheorie. Unter anderem auf einer Weltreise hatte er unzählige Belege dafür zusammengetragen: Die Lebewesen sind nicht von einem Gott fertig erschaffen worden, sondern sie haben sich unabhängig voneinander entwickelt, in unzähligen kleinen Schritten. Die verschiedenen Arten lassen sich auf gemeinsame Vorfahren zurückführen.
Darwin zögerte lange, diese neuen Ideen zu veröffentlichen. Als er sie schließlich 1859 in seinem Werk „Über die Entstehung der Arten“ ausführlich darlegte, wusste er, dass er ein gesellschaftliches Erdbeben auslösen würde. Denn nun waren die unterschiedlichen Pflanzen- und Tierarten nicht länger von einem Gott erschaffene Geschöpfe. Stattdessen waren sie ohne göttliches Zutun allein aus ihren Lebensbedingungen heraus natürlich erklärbar. Und wenn sich dies für Farne, Schildkröen und Affen zeigen ließe: Warum dann nicht auch für den Menschen?
Tatsächlich legte Darwin 1871 noch einmal nach und beschrieb auch den Menschen als ein evolutionär sich stetig weiterentwickelndes Tier, mit Vorfahren, die es mit den Affen teilte, und nahen Verwandten, die ausgestorben waren. Der Mensch, in der Bibel das Werk Gottes und der einsame Höhepunkt seiner Schöpfung, war geschrumpft zu einem Tier, dessen Entstehung rein natürlich erklärbar war.
Lars Jaeger schildert den gewaltigen Widerstand aus religiösen Kreisen gegen diese Theorie, aber auch gegen andere wissenschaftliche Erkenntnisse. Immer wieder hat die Kirche den wissenschaftlichen Fortschritt behindert, bis sie nach heftiger Gegenwehr schließlich doch einsehen musste, dass die Wissenschaft Recht hat. Stück um Stück musste sie vor der Wissenschaft zurückweichen.
Der Widerstand gegen Darwins Evolutionstheorie ist bis heute nicht verstummt. Im christlichen Raum sind es vor allem evangelikale Kreise, die sie nach wie vor bekämpfen. Unter Muslimen weltweit wird sie wohl mehrheitlich abgelehnt.
Die Beunruhigung über die Evolutionstheorie in konservativ-religiösen Kreisen ist berechtigter, als moderne Theologen zugeben mögen.
Viele Gläubige fragen: Folgt aus der Evolution, dass der Mensch keine Seele hat und damit auch kein ewiges Leben? Und tatsächlich wird die Evolutionstheorie von Biologinnen und Biologen sehr wohl verstanden als Angriff auf den Glauben an eine Seele und ein ewiges Leben.
Wie der Schöpfergott, so ist aus Sicht der Biologen auch die Seele ein religiöser Mythos, der der naturwissenschaftlichen Erkenntnis im Wege steht und früher oder später weichen muss. An seine Stelle treten die Erkenntnisse der Evolutionstheorie. Mit ihr wird längst nicht mehr nur die Entstehung der Arten erklärt. Sie ist auch mehr als der aussichtsreichste Kandidat für die Erklärung von Leben und Bewusstsein: Inzwischen gilt die Evolution als das umfassendste Prinzip überhaupt. Sie ist grundlegend geworden für die Erklärung des gesamten Kosmos.
An der Widerlegung des Glaubens an die Seele arbeiten heute viele Hirnforscher. Sie sind überzeugt, dass das Bewusstsein keiner übernatürlichen Erklärung bedarf, sondern ausschließlich ein Produkt physikalischer und chemischer Prozesse ist. Täglich sammeln sie mehr Erkenntnisse, die diese Hypothese bestätigen. Noch steht der Beweis aus, doch früher oder später, so sind sie überzeugt, wird er genauso kommen wie einst der Beweis der elliptischen Planetenbahnen.
Wie wird es weitergehen? Wird sich die Religion, von überholten Vorstellungen befreit, im Angesicht der Wissenschaft behaupten können? Sind nur rückständige Fundamentalismen in Gefahr, die wir vielleicht ohnehin nicht wollen? Oder wird die Wissenschaft irgendwann die Religion selbst widerlegen? Und mit ihr überhaupt jede Hoffnung auf einen transzendenten Sinn und auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod? Ist es vielleicht heute schon so weit, und es hat sich nur noch nicht überall herumgesprochen?
So weit Skizze 1. Nun zu Skizze 2: Gibt es Gründe, Religion und Spiritualität in einem positiveren Licht zu sehen?
Zurück zu den Naturphilosophen der griechischen Antike: Haben sie wirklich die Religion verworfen, um die Welt aus rein natürlichen Ursachen zu erklären?
Im Grunde lässt sich das von keinem einzigen der Vorsokratiker behaupten:
•Thales, der früheste unter den ionischen Revolutionären, bekannte, dass alles erfüllt von Göttern sei.
•Anaximander – der mit den platzenden Druckluftwolken – sah in der Natur ein religiöses Grundgesetz am Werk: das nicht menschengemachte moralische Prinzip von Schuld und Sühne.
•Xenophanes (ca. 570–475) attackierte zwar die überlieferten Götter, bekannte sich aber zum Glauben an eine unveränderliche Gottheit.
•Pythagoras (ca. 570 bis nach 510) galt als der Begründer einer zahlenmystischen Heilslehre.
•Heraklit (ca. 544–484) lehrte einen Gott, der „sich wandelt wie das Feuer“.
•Parmenides (ca. 540–470) glaubte, hinter den trügerischen Sinnestäuschungen das ewige Sein zu erkennen.
•Empedokles (*ca. 494) sah in Liebe und Hass elementare Kräfte des Weltalls und lehrte die Seelenwanderung.
•Demokrit, angeblich ein Materialist, lehrte, dass die Menschen alles Gute den Göttern verdankten, während sie das Schlechte sich selbst zuzuschreiben hätten.
•Anaxagoras hielt den Geist nicht – wie heutige Naturalisten – für ein spätes Nebenprodukt komplexer Materie, sondern für ewig: „Alles hat der Geist angeordnet, wie es werden sollte, war und ist“.
Grundsätzlich skeptisch gegenüber der Religion waren wohl erst die Sophisten (ca. 450 bis ca. 380 v. Chr.), eine Gruppe pragmatischer Gebildeter, die nützliche Kenntnisse gegen Geld weitergaben. Doch auch sie haben die Existenz der Götter nicht ausgeschlossen.
Ihr Zeitgenosse Sokrates (469–399) war zwar berüchtigt für seine Methode, alles zu hinterfragen und in Zweifel zu ziehen, auch das Weiterleben nach dem Tod. Dennoch bekannte er sich bis zuletzt zum Glauben an die Götter. Und Epikur (um 341 bis 271 oder 270) glaubte zwar nicht an ein Leben nach dem Tod, aber eben doch an Götter – die sich freilich für die Schicksale der Menschen nicht interessieren.
Aber warum erwähnen wir das hier überhaupt? Versteht es sich nicht von selbst, dass die Philosophen der Antike keine Atheisten waren? Damals war nun mal der Glaube an Götter so selbstverständlich wie heute das Vertrauen in die Wissenschaften. Kann uns das nicht egal sein? Der religiöse Glaube der Naturphilosophen ist heute überholt. Worauf es ankommt, ist das Neue: die Beiträge, die sie zu einer wissenschaftlichen Welterklärung geleistet haben, die ohne Götter auskommt.
Stimmt das? Oder steckt auch in dem Teil des antiken Erbes, den wir als vorwissenschaftlich abtun, ein Schatz, der uns verloren gegangen ist und den es wieder zu finden gilt?
Warum eigentlich sollten wir nicht nach den Erfahrungen fragen, auf denen die religiöse Zuversicht der Menschen in früheren Zeiten gründete? Denn so erfolgreich moderne Naturwissenschaft und Technik auch sind: Vielleicht ist es ja gerade ihr Erfolg, der sie so sehr berauscht, dass sie die Defizite ihres Welt- und Menschenbildes gar nicht mehr wahrnehmen können?