Sophia ist gerade einmal zehn Jahre alt, als das letzte bisschen ihrer Welt aus den Fugen gerät. Der geliebte Bruder kann sie nicht vor dem Unheil bewahren. Und auch nicht ihre Großmutter, der es sonst immer gelang, den gewalttätigen Vater mit verzweifelten Mitteln zu besänftigen.

Die wahre Brutalität des Mannes offenbart sich an Sophias letztem Morgen auf dem verwahrlosten Bauernhof.

Klaus Zeh, Jahrgang 1965, ist Schriftsteller, Musiker und Liedermacher. Er lebt in Reutlingen.

Der Autor hat sich schon seit Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit gegen die Veröffentlichung im herkömmlichen Verlagswesen entschieden. Ihm ist es ein großes Anliegen, seine künstlerische Unabhängigkeit sowie die Rechte an seinen Werken zu behalten.

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© 2021 Klaus Zeh
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
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ISBN: 9783753474571

Der gesamte Erlös aus dem Verkauf dieses Buches wird an:

Bono-Direkthilfe
Esther-Ministries
Karo e.V.

gespendet.

Und das Licht leuchtet in der Finsternis,
und die Finsternis hat es nicht begriffen.

Joh. 1,5

Erde, Erde, bist du eine Blinde geworden.

Nelly Sachs

Den Geschändeten
gewidmet.

Und
den sehend Blinden,
allerdings aus anderen Gründen.

Inhaltsverzeichnis

Eins

Du musst keine Angst haben, sagte die Frau lächelnd, ohne dabei zu lächeln.

Das Kind weinte, doch ganz still.

Schaute dabei aus dem Fenster des fahrenden Autos.

Zitternd vor Angst.

Du musst keine Angst haben, sagte die Frau noch einmal.

Diesmal lächelte sie nicht. Ihr Gesicht passte nun zu der kalten Stimme.

Du wirst nicht mehr hungern müssen oder frieren, erklärte sie.

Doch das Kind fror.

Vor Angst.

Es erschauderte.

Warum werde ich weggebracht?, fragte es sich.

Wo bringt man mich hin?

Ich möchte zu Großmutter ...

Zu Sorin. Zu Papa. Und zu Mischka.

Ich möchte nach Hause.

Mama, flüsterte es leise.

So leise es konnte.

Warst du schon einmal fort von zuhause?, fragte die Frau.

Das Kind nickte.

Wo?

Es zuckte mit den Achseln.

Corbasca?

Wieder zuckte es nur mit den Achseln.

Lipova?

Achselzucken.

Pogana?

Das Kind schüttelte den Kopf.

Iana?, fragte die Frau erwartungsvoll.

Kopfschütteln.

Gut, sagte die Frau nach einer Weile und wendete sich ab.

Zwei

Als sie erwacht, schnurrt Mischka laut neben ihrem Ohr.

Oder vielleicht erwacht sie auch, weil Mischka so laut neben ihrem Ohr schnurrt.

Nur Sorin, ihr Bruder, schnarcht noch lauter.

Sie steht leise auf und versucht, nicht auf das eine knarrende Dielenbrett zu treten. Mucksmäuschenstill schleicht sie mit Mischka davon.

Sie hat die Katze auf dem Arm, damit sie nicht miaut und Sorin weckt.

Er hat einen leichten Schlaf.

Das Miauen einer Katze, das Hecheln eines Hundes, das Zwitschern eines Vogels in den Bäumen, das Quaken eines Frosches unten am Teich, der Gesang des Windes über dem Wald, der Flügelschlag eines Schmetterlings im Sommer, all das vermag ihren Bruder aufzuwecken.

Oder eben dieses eine knarrende Brett im Boden in ihrer beider Kinderzimmer.

Im Treppenhaus ist noch einmal Vorsicht geboten.

Eine bestimmte Stufe der hölzernen Treppe knarrt ebenso laut wie die Holzdiele im Kinderzimmer.

Ist es die Vierte oder die Fünfte?

Wenn sie es nur nicht immer vergessen würde.

Hühnerdreck!, schimpft sie im Innern.

Wie sie sich über sich selbst ärgern kann … weil sie es halt immer wieder aufs Neue vergisst.

Sie tapst mit nackten Füßen voran.

Kalt sind die Stufen.

Es ist November.

Unten knistert laut das Holzfeuer im Ofen. Ein herrliches Geräusch.

Nur Mischka wird schwer auf dem Arm.

Eins, zwei, drei … jetzt muss sie aufpassen.

Wenn es die vierte Stufe ist, von oben nach unten gezählt, dann muss sie sie auslassen.

Oder ist es die Vierte, von unten nach oben gezählt?

Hühnerdreck!

Nein, es ist die Fünfte, von oben nach unten gezählt!, korrigiert sie sich.

Sie kann also noch ein Mal auftreten, ohne eine Stufe auslassen zu müssen, was nicht leicht ist mit der Katze auf dem Arm, die ganz schön dick geworden ist über den Sommer.

Es muss eine Menge Mäuse auf dem Hof geben, denkt sie und tritt auf die nächste Stufe.

Es knarrt!

Nein, es knarrt nicht nur, die Treppe quietscht geradezu, sie schreit förmlich.

Man möchte sich die Ohren zuhalten.

Sophiaaaaaaaaaaa!, ruft es aus dem Kinderzimmer.

So ein Hühnerdreck, jetzt ist Sorin also aufgewacht.

Sie wollte doch alleine aus dem Haus schleichen und nach der verletzten Eule sehen, die sie beide im Schuppen versteckt haben.

Wehe, du gehst alleine!, ruft Sorin.

Schon gut, nein, wollte ich doch gar nicht!, ruft sie enttäuscht zurück.

Großmutter steht plötzlich am Treppenabsatz.

Wirst du wohl Schuhe anziehen, Sophiska, schimpft sie mit drohendem Zeigefinger.

Sophia liebt es, wenn Großmutter sie so nennt. So hat sie auch ihre Mutter immer genannt.

Wo sind deine Schuhe, mein Kind?, murrt die Großmutter.

Sophia lächelt, denn Großmutters Strenge ist nur gespielt.

Großmutter kann gar nicht wirklich wütend auf jemanden sein.

Nicht einmal auf Papa, und der hätte es manchmal sogar verdient.

Aber Papa ist stark.

Und wenn er getrunken hat, wird er böse.

Dann schlägt er Sorin.

Sophia hat Angst, dass der Vater ihn totschlagen könnte.

So wie er Jascha, den Hund, im Sommer totgeschlagen hat.

Nur weil er das ewige Gebelle nicht mehr ertragen hat.

Nun komm schon herunter und schlüpf in deine Pantoffeln, schimpft die Großmutter und wedelt mit der Hand. Papa ist im Wald, komm, Frühstück ist fertig, sagt sie und wischt die Hände an der Schürze ab.

Großmutters Frühstück ist das Schönste am ganzen Tag.

Das ganze Haus duftet danach.

Duftet nach heißer Schokolade, warmem Brot und Apfelspalten.

In der Küche ist Sophia am Liebsten, es ist das einzige beheizte Zimmer im Haus.

Nur dort darf ein Feuer im Ofen brennen.

Wenn es Holz gibt.

Ist Papa schon lange weg?, will Sophia wissen.

Noch nicht lange genug, wenn du mich fragst, aber ja, schon eine ganze Weile, antwortet die Großmutter.Ist er auf die Jagd gegangen?, fragt Sorin, der im Schlafanzug in der Küchentüre aufgetaucht ist.

Nun ist aber genug mit euch beiden, Sorinschi, nun schau sich einer mal den Bengel an, beschwert sich die Großmutter und schiebt sich eine Strähne ihres grauen Haares zurück unter das rotgetupfte Kopftuch, nun steht der Bengel auch noch im Schlafanzug und barfuß herum!

Sophia lächelt, weil Großmutter wie immer in der dritten Person von Sorin spricht.

Ab, ab, ab!, entrüstet sich die alte Frau, rasch nach oben, hol Socken und einen Pulli für jeden von euch, husch, husch!

Sie macht einen Schritt auf Sorin zu.

Der macht kehrt und poltert die Holztreppe hoch.

Und trödle nicht herum, Sorinschi, ruft die Großmutter ihm nach, dein Kakao wird sonst kalt!

Währenddessen sitzt Sophia schon am Küchentisch, hat den ersten Bissen des Marmeladenbrotes im Mund und kaut genüsslich.

Und hat auch schon Mischka ein Schälchen Milch hingestellt.

Das ist alles, was die Katze bekommt, ihr Fressen muss sie sich selbst fangen.

Selbst das eine Schälchen Milch am Tag möchte der Vater ihr verweigern.

Doch die Großmutter hat es tatsächlich geschafft, ihn umzustimmen.

Wie, wissen Sorin und Sophia nicht.

Dann hören sie den hustenden und vor sich hin schimpfenden Vater über den Hof schlürfen und zucken vor Schreck zusammen.

Drei

Hör auf zu weinen, sagte die Frau, sonst bekommst du ganz geschwollene Augen.

Sophia erschrak.

Du wirst mit anderen Kindern in einem Haus wohnen, das wird eine Zeitlang dein neues Zuhause sein.

Ein neues Zuhause?

Sophia spürte Tränen aus ihren Augen rinnen. Sie brannten heiß auf ihren Wangen.